3 3.1 Die komplexen Zahlen Die rein imaginären Zahlen Die Gleichung x2 = −1 hat keine reelle Lösung x ∈ R. Wir erweitern daher den Körper (R, +, ·) um eine nicht-reelle Zahl i ∈ / R, die sog. imaginäre Einheit, mit der Eigenschaft i 2 ≡ i · i = −1. (72) Die entstandene Menge R i := R∪{ i } ist bezüglich + und · natürlich nicht abgeschlossen. Mit y ∈ R folgt nach Kommutativ- und Assoziativgesetz etwa für z = i · y ≡ i y z 2 = ( i y)2 = i 2 y 2 = −y 2 ≤ 0. (73) Für y 6= 0 ist z also sicherlich keine reelle Zahl, z ∈ / R. Für y 6= ±1 folgt außerdem z 6= i , also z ∈ / R i . Die Elemente der Menge I = { i y | y ∈ R, y 6= 0} (74) heißen rein imaginäre Zahlen. Die Menge (R ∪ I)\{0} bildet bezüglich · eine Gruppe. 3.2 Die Menge C als Körper Um auch Abschluß unter der Addition + zu erreichen, müssen wir allgemein Zahlen der Form z = x + i y (mit x, y ∈ R) erklären, C := {x + i y | x, y ∈ R}. (75) Nun gilt mit z1 = x1 + i y1 ∈ C und z2 = x2 + i y2 ∈ C stets auch z1 + z2 = (x1 + i y1 ) + (x2 + i y2 ) = (x1 + x2 ) + i (y1 + y2 ) ∈ C. (76) Insbesondere ist C aber auch unter der Multiplikation · abgeschlossen: Mit z1 · z2 = (x1 + i y1 ) · (x2 + i y2 ) = x1 x2 + i (x1 y2 + x2 y1 ) + ( i 2 ) · y1 y2 (77) folgt wegen i 2 = −1 nämlich z1 · z2 = (x1 x2 − y1 y2 ) + i (x1 y2 + x2 y1 ) ∈ C. Wie man leicht zeigen kann, ist (C, +, ·) tatsächlich sogar ein Körper. 16 (78) C ist also die kleinstmögliche Erweiterung der Menge R i zu einem Körper. Mit y = 0 sind die reellen Zahlen z = x eingeschlossen, R ⊂ C. Die reellen Zahlen x und y heißen Real- bzw. Imaginärteil der komplexen Zahl z = x + i y, in Zeichen: z = x + iy : Re [z] = x, Im [z] = y. (79) Es handelt sich um die kartesischen Koordinaten des Punktes, der die Zahl z in der sog. Gaußschen Zahlenebene repräsentiert. Diese Ebene ist die natürliche Erweiterung der reellen Zahlengerade, welche die x-Achse der Zahlenebene darstellt. 3.3 3.3.1 Geometrische Deutung der Rechenoperationen Addition Ordnet man den komplexen Zahlen Ortsvektoren zu, die vom Ursprung der Zahlenebene, also der Zahl z = 0 ausgehen, so ist die Addition (76) zweier Zahlen nichts anderes als die Vektoraddition ihrer Ortsvektoren. Um auch für die Multiplikation (78) eine geometrische Deutung zu finden, führen wir eine neue Darstellung komplexer Zahlen ein: 3.3.2 Polardarstellung komplexer Zahlen Das Produkt der Zahl z = x + i y mit der zu ihr komplex-konjugierten Zahl z ∗ := x − i y, zz ∗ ≡ (x + i y)(x − i y) = x2 + y 2, ist immer reell und nicht-negativ. Die positive Wurzel daraus, p √ zz ∗ = x2 + y 2 =: |z|, (80) (81) ist die Länge des Ortsvektors der Zahl z in der Zahlenebene, also ihr geometrischer Abstand von der Zahl 0. Dieser Abstand heißt der Betrag |z| von z. Der Winkel φ, den dieser Ortsvektor (im mathematisch positiven Gegenuhrzeigersinn) mit der positiven x-Achse einschließt, heißt das Argument arg(z) von z. Es gilt also |z| = r, arg(z) = φ ⇒ z = r cos φ + i r sin φ ≡ r cos φ + i sin φ . (82) | {z } | {z } =x =y Diese sog. Polardarstellung ist die Alternative zur kartesischen Darstellung z = x + i y einer komplexen Zahl. 17 3.3.3 Multiplikation In der Polardarstellung ergibt sich für das Produkt zweier komplexer Zahlen z1 · z2 ≡ r1 cos φ1 + i sin φ1 · r2 cos φ2 + i sin φ2 h i = r1 r2 cos φ1 cos φ2 − sin φ1 sin φ2 + i cos φ1 sin φ2 + sin φ1 cos φ2 .(83) Nach den Additionstheoremen für Sinus und Cosinus gilt also i h z1 z2 = r1 r2 cos(φ1 + φ2 ) + i sin(φ1 + φ2 ) . (84) Das letzte Resultat läßt sich zusammenfassen wie folgt. Satz: Bei der Multiplikation (78) zweier komplexer Zahlen z1 und z2 multiplizieren sich die Beträge der Faktoren, während sich deren Argumente addieren, |z1 z2 | = r1 r2 ≡ |z1 ||z2 |, arg(z1 z2 ) = arg(z1 ) + arg(z2 ). (85) Wir führen eine Exponentialschreibweise ein, cos φ + i sin φ =: e i φ . (86) Dann ergibt sich die Addition der Argumente φ1 und φ2 bei der Multiplikation von z1 mit z2 formal aus den Gesetzen der Potenzrechnung, z1 · z2 ≡ r1 e i φ1 · r2 e i φ2 = r1 r2 e i (φ1 +φ2 ) . (87) Am Rande sei bemerkt, daß e i φ ∈ C für beliebige φ ∈ R eine Zahl vom Betrag 1 ist, q iφ |e | = cos2 φ + sin2 φ = 1. (88) Im Zusammenhang mit Potenzreihen und der Taylor-Entwicklung werden wir sehen, daß Gl. (86) die natürliche Erweiterung der Exponentialfunktion f (x) = ex , mit der Eulerschen Zahl e = 2.718... als Basis, auf komplexe Zahlen ist. 3.4 3.4.1 Wurzeln komplexer Zahlen Definition Jede Lösung w ∈ C der Gleichung w n = z heißt eine n-te Wurzel der komplexen Zahl z. Aus der geometrischen Deutung der Multiplikation ergibt sich der 18 Satz: Jede komplexe Zahl z = |z|e i φ mit |z| = 6 0 hat genau n paarweise verschiedene n-te Wurzeln. Unter ihnen heißt die Zahl p w1 =n |z| e i φ/n (89) der Hauptwert der n-ten Wurzeln. Die übrigen n-ten Wurzeln bilden zusammen mit dem Hauptwert in der Zahlenebene ein reguläres n-Eck mit Mittelpunkt im Ursprung. 3.4.2 Fundamentalsatz der Algebra Eine Verallgemeinerung des letzten Satzes ist der Satz (FS der Algebra): Die allgemeine komplexe algebraische Gleichung z n + an−1 z n−1 + ... + a1 z + a0 = 0 (90) hat genau n Lösungen z1 , ..., zn , die allerdings nicht paarweise verschieden sein müssen. Genauer gesagt: Jedes komplexe Polynom n-ten Grades zerfällt über C in genau n Linearfaktoren, n z + an−1 z n−1 + ... + a1 z + a0 = (z − z1 ) · · · (z − zn ) = 19 n Y (z − zk ). k=1 (91)