Kapitel 2 Differentialrechnung in einer Variablen 2.1 Folgen und Grenzwerte 2.1.1 Definition Eine Folge ist eine Zuordnung N → R, n 7→ an , geschrieben als Liste (a1 , a2 , . . .) oder in der Form (an )n∈N . Hier sind ein paar Beispiele: 2, 4, 6, 8, . . . 1, 4, 9, 16, . . . 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, . . . 1, 21 , 31 , 41 , . . . 1 1 , − 32 ,... − 21 , 14 , − 18 , 16 1 1 1 , , ,... 1 1·2 1·2·3 an an an+2 an an an = 2n = n2 = an+1 + an = n1 n = (−1) n 2 = n!1 2.1.2 Definition Man sagt, dass eine Folge (an )n∈N gegen 0 konvergiert, wenn zu jedem ǫ > 0 ein n0 ∈ N existiert mit |an | < ǫ für alle n ≥ n0 . Anders gesagt: Tragen wir sämtliche Punkte (n, an ) (für n ∈ N) in ein kartesisches Koordinatensystem ein, so gilt: In jedem noch so dünnen Streifen um die x-Achse liegen alle markierten Punkte bis auf endlich viele Ausnahmen. an n 2.1.3 Beispiele 1. Die Folge der Stammbrüche ( n1 )n∈N konvergiert gegen 0. Denn aus der archimedischen Eigenschaft der reellen Zahlen folgt, dass zu jedem ǫ > 0 ein Index n0 ∈ N existiert mit n10 < ǫ. Daraus folgt n1 ≤ n10 < ǫ für alle n ≥ n0 . 2. Auch an = (−1) konvergiert gegen 0, allerdings werden die Werte nicht immer 2n kleiner, sondern sie oszillieren immer enger um den Wert 0. n 3. Die Folge ( n!1 )n∈N konvergiert ebenfalls gegen 0, da n!1 < n1 für alle n. Diese Folge geht also noch schneller gegen Null, als die Folge der Stammbrüche. 2.1. Folgen und Grenzwerte 19 Schauen wir uns genauer an, was die Definition für das folgende Beispiel bedeutet. 2 2.1.4 Beispiel Auch die Folge der Zahlen an = nn! ist eine Nullfolge. Das heisst also, dass Fakultäten im Vergleich zu Quadratzahlen viel schneller wachsen. Beweis. Für alle n ≥ 2 gilt offenbar die folgende Abschätzung: n2 n n 1 1 1 = = · ··· · < 2· n! (n − 1)! n−1 n−2 2 1 n−3 1 16 = n. 2 2 Wählt man jetzt zu einer vorgegebenen positiven Zahl ǫ eine natürliche Zahl n0 , so dass 2n0 > 16ǫ , dann folgt 16 n2 < n <ǫ n! 2 für alle n ≥ n0 . Konkret ist für ǫ = 10−9 die verlangte Abschätzung erfüllt ab n0 = 34, denn 234 = 17′ 179′ 869′184 > 16 · 109 . q.e.d. 2.1.5 Definition Man sagt, eine Folge (an )n∈N konvergiere gegen einen Grenzwert a ∈ R, wenn die Folge der Differenzen an − a gegen 0 konvergiert. Ist dies der Fall, schreibt man lim an = a . n→∞ 2.1.6 Beispiele n+1 n • Die Folge an = − 1 = n1 . • Die Folge an = n+1 konvergiert gegen 1, denn |an − 1| = n 2n2 − 1 konvergiert gegen 2. Denn: n2 + 1 2 2n − 1 = 3 < ǫ ⇔ n2 > 3 − 1 . − 2 n2 + 1 n2 + 1 ǫ Zu vorgegebenem ǫ > 0 findet man sicher eine Quadratzahl n20 , die dies erfüllt, und die gewünschte Ungleichung gilt dann erst recht für alle n ≥ n0 . Konkret ist zum Beispiel für ǫ = 10−6 die Zahl n0 = 2′ 000 gross genug. 2.1.7 Bemerkung Der Grenzwert der Summe der Potenzen einer festen Zahl wird auch als geometrische Reihe bezeichnet. Für q ∈ R, |q| < 1 gilt: n X 1 q = 1 + q + q + · · · = lim n→∞ 1−q k=0 2 k und lim n→∞ n X k=1 qk = q . 1−q 20 Kapitel 2. Differentialrechnung in einer Variablen Beweis. Wir haben bereits durch Induktion folgende Formel für die geometrische Summe bewiesen: n X q n+1 − 1 q = q−1 k=0 k und n X qk = k=1 q n+1 − 1 q n+1 − q −1 = . q−1 q−1 Ausserdem ist limn→∞ q n+1 = 0 (Begründung folgt später). Daraus folgt sofort die Behauptung. q.e.d. Hier einige konkrete Beispiele: • Für q = 1 2 erhalten wir 1 + 1 2 + 14 + 81 · · · = 2. • Für q = − 12 ergibt sich 1 − 21 + 41 − 18 · · · = • Für q = 1 3 ergibt sich 1 + 13 + 91 + 1 27 ··· = 1 1−(− 12 ) 1 1− 13 = 32 . = 23 . • Ist |q| ≥ 1, so konvergiert die zugehörige geometrische Reihe nicht. Denn ist q > 1, so wachsen die Teilsummen über jede Schranke hinaus. Pn 1 falls n gerade Für q = −1 lauten die Teilsummen sn = k=0 (−1)k = . 0 falls n ungerade Sie konvergieren also ebenfalls nicht. Ist schliesslich q < −1, so wachsen jedenfalls die Beträge der Teilsummen über alle Schranken hinaus. Jede periodische Dezimalentwicklung ist eigentlich nichts anderes als eine geometrische Reihe. Konkret zum Beispiel: n 1 X 1 1 10 0, 1 = lim = 1 = k n→∞ 10 9 1 − 10 k=1 n 1 X 12 12 100 und 0, 12 = lim = 12 1 = k n→∞ 100 99 1 − 100 k=1 Jede Dezimalentwicklung einer positiven reellen Zahl a liefert eine monoton anwachsende Folge mit Grenzwert a, wenn wir jeweils die Angabe der Zahl bis auf n Kommastellen als Folgenglied an auffassen. Hier wiederum ein Beispiel: n X 1 0, 1001000010000001 . . . = lim n→∞ 10k2 k=1 Bei einer monoton wachsenden Folge stimmt der Grenzwert mit dem Supremum der Menge der Folgenglieder überein. Oszilliert dagegen die Folge um den Grenzwert, ist dies nicht der Fall.