RALF BEIDERWIEDEN Rahel-Varnhagen-Weg 14 D-26131 Oldenburg Telefon: 0049-441-486977 [email protected] www.ralfbeiderwieden.de Ralf Beiderwieden an Lars Oberhaus Mehr eine Glosse als pure Wissenschaft „... der Charakter der Redlichkeit, des gemeinschaftlichen Forschens mit dem Leser, welchen die Schriften aller früheren Philosophen tragen, ist hier verschwunden; nicht belehren, sondern betören will der Philosphaster dieser Zeit seinen Leser; davon zeugt jede Seite.“ Arthur Schopenhauer Wissenschaft ist, wenn Autoritäten zitiert werden. Dann zitiert die erste Autorität eine zweite, die zweite eine dritte und die dritte die erste. Das nennt man ein selbstreferentielles System. Es gibt auch empirische Unterrichtsforschung, aber die ist noch ganz in den Anfängen. Eine empirische Musikdidaktik gibt es nicht. Ihr Forschungsfeld kennt die Unterrichtswissenschaft vom Hörensagen. Das kann spannend und faszinierend sein, wenn's gut gemacht wird, so wie wenn uns Karl May vom wilden Kurdistan erzählt oder Jean Paul von Italien. Es gibt auch Autoritäten, die entwickeln aus dem Nichts, durch bloßes und Hin- und Herzitieren, was im Musikunterricht gemacht werden muss und wie. Das ist dann so, wie wenn Wissenschaft ganz genau das Leben auf Beteigeuze erklärt, wenn es nur erst entdeckt wäre. Das wird dann ganz kompliziert, und unten kommt Null heraus, oder zweiundvierzig. Und manchmal, aber nur manchmal vielleicht begegnet sie einer richtigen Autorität. Einer, die die Straßen kennt und sogar die verlassenen, vergessenen Weg; einer, die gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ins Neuland hinausgewandert ist, auf das noch keiner den Fuß gesetzt hat. Die Gelegenheit, so einer zu begegnen, sollte die Wissenschaft nicht verstreichen lassen. Es könnte lange dauern, bis sie sich wieder bietet. * * * Herzlich habe ich gelacht, als ich in einer einst traditionsreichen Zeitschrift von einem Stück neuerer Musik im Unterricht las (ich such es Ihnen demnächst noch einmal heraus). Zuerst wurde die linke Biographie des Komponisten skizziert, glaube ich, dann die antifaschistische Botschaft des Werkes, schließlich kreisten Jugendliche mit Taschenlampen im Dunkeln. Das wurde fotografiert und sah hübsch aus. Gab es auch ein Wort darüber, wie das Stück komponiert ist? Ob irgendetwas dieses Stück musikalisch bedeutsam macht? Ob die Schüler im Unterricht irgendetwas Musikalisches geschaffen oder gelernt haben? Der Autor des Artikels war ein gewisser Lars Oberhaus. So gerüstet, zieht er in der (Online-)„Zeitschrift für kritische Musikpädagogik“ aus, um gleich, „QUO VADIS, MUSIKPÄDAGOGIK!“, zwei Methodenbücher, von Norbert Heukäufer und von Ralf Beiderwieden, mutig aufzuspießen. Fünf tapfere Schwerthiebe, wider Klippert, Fishbowl und den ganzen Methodenboom, entliehen aus „Gruschka 2002“, und schon ist alles geklärt. Aktionismus, Formalismus, Herbartianismus! Bringt uns die Inhalte, die Gegenstände zurück! Primat der Didaktik! Wir wollen Lehrer, die lehren! Keine Methoden ohne Inhalte! Wuchtig, wuchtig tritt er bei beiden Autoren die sperrangelweit offenen Türen ein. In beiden Büchern, besonders in einem, wird Methode als der Weg entwickelt, AUF DEM EIN FACH SEINE PROBLEME UND AUFGABEN LÖST. „Methode“, die Frage nach dem WIE ist in „Musik unterrichten“ nicht ein Gegensatz zur Fachlichkeit, nicht eine Fachvermeidungsstrategie, sondern die eine Seite der Fachlichkeit selbst. (So wie das Wissen, WIE man einen Zahn zieht, ein Teil der Zahnmedizin ist.) Wissenschaftlichkeit ist, wenn mein Urteil über ein Buch feststeht, bevor ich es aufschlage. Das Problem, vor dem die jungen Lehrerinnen und Lehrer verzweifelt stehen (und nicht nur die jungen), ist, dass sie nicht wissen, WIE sie es morgen früh anstellen sollen. Oder dass sie erst gar nicht wissen, WIE sie einen Plan fassen können, WAS sie in diesem Halbjahr eigentlich wollen. Auch didaktische Planung nämlich erfordert Methode, „know HOW“. All diejenigen, die mit diesen Problemen mühselig und beladen sind, finden in „Musik unterrichten“ ziemlich viel Antwort auf fast alle gängigen Fragen. Und darum gehen alle fünf Hiebe aus der Introduktion weit, weit an „Musik unterrichten“ vorbei. Wissenschaftlichkeit Unserem mutigen Streiter ist das alles nicht „wissenschaftlich“ genug. Bei Heukäufer stellen „akademisch unbekannte Musikpädagogen“ (S. 17) die verschiedenen Bereiche dar? Da wird ein Hartmut Kretzer zitiert, Fußnote 11, „dessen Publikationen nur noch antiquarisch erhältlich sind“? Da schreiben welche Bücher, die beide „als Musiklehrer und Fachseminarleiter tätig und ... langjährige Berufserfahrung“ mitbringen“, Fußnote 10? Schlimm, schlimm. Dass in Heukäufers „Musik-Methodik“ ein Peter Boch zu dem Thema nicht zu Wort kommt, zu dem er wirklich etwas zu sagen hätte, stattdessen zur Solmisation, wo er weniger zu sagen hat, mag der Leser bedauern. Aber einer, der diesem Pionier der Streicherklassenarbeit in Deutschland begegnet und nicht weiß, wen er vor sich hat, sollte noch reichlich Lehrstunden nehmen, bevor er sich das nächste Mal im Kreise ‘akademisch bekannterer Musikpädagogen’ zu Wort meldet. Da glaubt sich einer darüber mokieren zu sollen, dass mehrfach ein Hartmut Kretzer zitiert wird? Der, zum Beispiel, ist so einer. Einer, der sein Leben lang nie einen Computer zu berühren brauchte, weil er einen Text wie diesen hier freihändig seiner Sekretärin diktiert. 2 Der einen didaktischen Fachvortrag, eine politische Philippika, eine Tischrede aus dem Stegreif und druckreif so hält, dass Gegner den Unterstand aufsuchen und die Freunde sich kugeln. Der in jungen Jahren Assistent von Wolfgang Klafki war, in über drei Jahrzehnten Fach- und Seminarleitertätigkeit Lehrerausbildung in Niedersachsen und weit darüber hinaus geprägt hat, 2011 einen Abschiedsvortrag von Hilbert Meyer erhielt und eine Festschrift mit Wolfgang Klafkis vermutlich letztem Text und einem Publikationsverzeichnis. Es enthält 149 Titel. „... dessen Arbeiten nur noch antiquarisch zugänglich sind, hat sich allerdings eher mit historischen Fragen auseinandergesetzt. Vgl. Kretzer 1988“, steht in Fußnote 11? So kommt es, wenn ein „Wissenschaftler“ seine Literaturrecherche auf die „Overnight Express“-Seite eines Buchversenders beschränkt. Vielleicht sollte er mal eine Bibliotheksführung mitmachen. Ich kenne da ein paar sehr nette Leute. Auch diesem gewissen Hartmut Kretzer ist es zu verdanken, dass ein systematisches und umfassendes Methodenbuch „Musik unterrichten“ entstehen konnte, das - als eines von zwei Werken aus dem Verlagshaus Bärenreiter-Bosse - neben der neuen „Musik in Geschichte und Gegenwart“ mit dem Preis des Deutschen Musikverleger-Verbandes „Best Edition 2009“ ausgezeichnet worden ist. (Dieser Platz, zugegeben, ist etwas schmeichelhaft.) Da glaubt sich einer mokieren zu sollen über unwissenschaftliche Diktion, Wortschöpfungen gar? Über die „Luftbrücke“ zum Beispiel. Erst spät zeigte mir eine Referendarin: in Heinz Lemmermanns „Musikunterricht“ findet sich, mit ganz ähnlicher Bedeutung, der Begriff der „Themenbrücke“. So sind die Fachleute nun einmal: Wenn ein musikalischer Sachverhalt über den Tag hinaus wichtig wird, prägen sie einen Begriff dafür. Oder „Fehlerstartvermeidungsübungen“? Steht dieses Unsinnswort tatsächlich da? Nein, auf Seite 34 findet sich das Wort „Fehlstartvermeidungsübungen“. Es geht um müden Start beim Singen; das sind dann wohl Übungen, mit denen man einen Fehlstart vermeidet. Wir verschreiben uns alle mal. Aber bevor ich einen Autor an einem Wort aufzuspießen versuche, lese ich’s erstmal richtig und schreibe es richtig ab. Ein anderes Beispiel: „Die theoretisch-verbale Ausrichtung wird durch eine ‘frontal und autoritär’ geleitete Unterrichtsführung gewährleistet“ (S. 22)? Lesen wir noch einmal nach. Nein, an dieser Stelle auf Seite 147 geht es gerade nicht um WortUnterricht, sondern die Orchesterprobe (nebst Chorprobe usw. usw.). Und die, gerade im Gegensatz zum offenen Unterrichtsgespräch, geht nach dem Prinzip von Anweisung und Ausführung, also frontal und autoritär. (Das hat nichts damit zu tun, dass die Orchesterleiter alle ganz freundlich sind, und gilt übrigens auch für Sambakurse und Pop-Chor-Kurse auf Fortbildungen, Bundesschulmusikwochen usw. usw..) - Und weil das dem eigentlich anerkannten Primat der Selbsttätigkeit des Lernens zunächst widerspricht, entsteht ein didaktisches Problem, das reflektiert werden will. Kommen Sie gern einmal zu uns ins Oldenburger Fachseminar: Die Referendare erklären es Ihnen noch einmal. Seite 23 schäumt dem Höhepunkt der Wissenschaftlichkeit entgegen: „Im Rahmen vieler ironischer Kommentare wird das Fachwissen des Lesers abgewertet: ‘Dass auf 1 Akkord C steht, 3 wussten Sie sofort. Dass aber das die sP ist, darüber mussten sie einen Augenblick nachdenken, oder ?’“ Was daran sollte das Wissen des Lesers abwerten? Es geht an der Stelle darum, dass alles, was in der harmonischen Analyse eines Bach-Chorals nicht unmittelbar offensichtlich ist, für Schüler methodisch abgestützt werden muss: „Wenn Sie das in einer Schulklasse unterlassen, haben Sie augenblicklich die Mehrzahl der Schüler abgehängt“. Steht da klar und deutlich. In beiden hier genannten Beispielen wird hier eine Wertung einfach unbegründet neben ein Zitat gestellt, ein unverstandenes obendrein, in purer Setzung. Wissenschaft wäre das Gegenteil davon. Das gilt auch für die unmittelbare Fortsetzung: „Einige Kommentare sind anmaßend und stellen die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit der Thematik in Frage: ‘Auch hierzu habe ich noch keinen Arbeitsbogen. Vielleicht haben Sie ja Lust, mal einen zu machen.’“ Es fehlt dem Kapitel nicht an Ernsthaftigkeit. Die Arbeitsbögen auf den umliegenden Seiten zu erstellen hat Geist und Fleiß gekostet; es ist dem Autor nur noch nicht gelungen, die drei gängigen Prinzipien der Modulation für Schüler einfach und verständlich genug in einer Synopse zusammenzubringen, die Aufgabe steht noch aus. Frei von aller Anmaßung demonstriert die Formulierung eben das, was im Vorwort schon gesagt wurde: „Methodenlehre steht nicht still. Neues wird erfunden, Bestehendes weiterentwickelt.“ Nokturngasse Ein Quell der Fröhlichkeit, wie dieser Lars Oberhaus Formulierungen aus dem Zusammenhang reißt oder paraphrasiert und einfach so hintereinanderhängt, dass sinnentlehrter Gulasch dabei herauskommt. Ist das Absicht? Wie bei Augusto Boal im „Theater der Unterdrückten“, im „Zeitungstheater“? Stochert hier ein Anfänger in einem viel zu großen Buch herum? Verlässt sich einer darauf, dass es schon schmuddlig klingen wird, wenn es nur von seiner Hand abgeschrieben wird? Oder ist das pure Wissenschaft? So geht das zum Beispiel auf Seite 121: „Die Formulierung ‚Ich kann nicht singen’ wird als „faule Ausrede“ oder „negative Begabungsattributierung“ (ebd., S.37) bezeichnet. Die Ursache des Konzentrationsabfalls beim Singen kommentiert der Autor mit der Bemerkung ‚Kann viele Ursachen haben’ (ebd., S.37). Über transponierende Instrumente lässt sich als Regel festhalten: ‚Instrument in X heißt: Wenn C da steht, kommt X heraus’ (ebd., S.121).“ Das ist nicht etwa ein Potpourri aus Lars’ Oberhaus Rezension, sondern das steht im Fluss so da. Der erste Satz kommt aus dem Kontext, dass Musikunterricht - es geht um Singen - nicht vermeintlich „unmusikalische“ Kinder fallen lassen darf. „Negative Begabungsatribuierung“ ist kein Beiderwieden-Wort, sondern so heißt das: der Begriff aus der kognitiven Psychologie wird an eben der Stelle erklärt und nachgewiesen. („Ich 4 konnte die Aufgabe nicht, weil ich unbegabt bin.“) Der zweite Satz bedeutet: Bei vielen Problemen mit dem Singen im Klassenzimmer ist eine Ursache identifizierbar, beim Konzentrationsabfall nun einmal nicht. Kann sein, die Übephase ist überdehnt oder die Kinder mögen das Lied nicht oder sie sind müde, weil es viertel vor drei ist. Im Buch ist das alles klar genug. Der dritte Satz, an völlig anderer Stelle des Buches, hundert Seiten weiter, ist eine einfache Arbeitsregel für ein Problem, das Schüler oft mit transponierenden Instrumenten haben. Klarinette in A? Saxophon in Es? WIE liest man das? WIE soll sich das einer merken? Vielleicht kennt ein Lars Oberhaus das Problem ja gar nicht. Aber das wäre dann ja auch schon eine Aussage. Fehler hat „Musik unterrichten“? Die Adresse des afs ist falsch? Es geht um Edwin, nicht Noah Gordon? Drollig genug, finden sich genau diese und fast keine anderen Fehlermeldungen auch in einer anderen Rezension im Internet. Sollte ein Buch von 200 DIN-A-4Seiten quer (entspräche 400 A-5-Seiten) tatsächlich nur diese zwei, drei, vier Fehler haben? Nein, das Buch enthält noch mehr, ein paar davon durchaus unangenehmer als diese beiden. Was aber schließen wir daraus, wenn in zwei Kritiken die gleichen wenigen Fehler bemerkt werden (und die anderen nicht)? Hat da der eine vom anderen abgeschrieben, oder haben sich zwei verabredet? Man kann ein Buch besser oder schlechter beurteilen. Auch ich finde von den beiden besprochenen Büchern das eine besser, das andere schlechter. Aber darum geht es Lars Oberhaus nicht. Hier geht es darum, jemanden vom Bürgersteig zu rempeln. Flashmobbing, lasse ich mir sagen, heißt gerade eine Lehrveranstaltung bei Lars Oberhaus. Eben. Da wollte einer seinen Studentinnen und Studenten wohl mal zeigen, wie man einen Shitstream organisiert. Kunstwerkorientierung „Ein Großteil der aufgeführten Methoden dürfte zudem nur für die Sekundarstufe II geeignet sein“, sagt Oberhaus. Ob das ein „Großteil“ ist, darüber ließe sich diskutieren. Aber es wäre ein schlechtes Methodenbuch, wenn spezifische Herausforderungen der Oberstufe ausgeklammert blieben. Eine „unbegründete Verkürzung“, dass im Begriff der musikalischen Produktion auf Seite 16 „Formen des Musizierens“ fehlen? Doch, es steht genau dort, gar nicht zu übersehen, im Schaubild Abb. 1: „Produktion: Komposition, Realisation, singen, spielen, komponieren“. Kann dieser Mann nicht mal einen einzigen Sachverhalt richtig wiedergeben? Es werde auch nicht erklärt, was an „Musik unterrichten“ systematisch sein solle (S. 18)? Wieder falsch, es steht gleich im Anschluss 7 f. da und wird demjenigen, der zu lesen vermag, auf Schritt und Tritt deutlich - für den anderen, wohl wahr, ist das alles nur ein wirbelndes „Sammelsurium“ (S. 17). Er findet keine Methode darin, wie man Kindern das Notenlesen beibringt oder mit ihnen den Guss der sieben Kugeln in der 5 Wolfsschlucht klärt. Ihm fehlt die „Methode des Tanzens“ (S. 18)? Seltsam – bisher habe ich Tanzen immer für eine eigenständige künstlerische Ausdrucksform gehalten, durchaus der Musik ebenbürtig. Nur ein einziges Beispiel Popmusik komme zur Sprache, „Hey Joe“ von Jimi Hendrix? Schon wieder falsch. In Kapiteln über Singen, Gesprächsführung, Vergleich finden sich Hinweise auf Neil Young und Annie Lennox, Kelly Clarkson, die Stimme Paul McCartney, den Vergleich des Gesangs von Tina Turner und Maria Callas, als Beispiel für Abschied „Bye Bye Baby“ von den Bay City Rollers (ein etwas schauerliches Stück Musik, aber späterhin unsterblich geworden im Soundtrack von „Tatsächlich Liebe“), und so geht das weiter und weiter, wagen wir ruhig den Satz: durch so ziemlich alle Kapitel. Wer lesen will, wird’s finden. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Nicht nur ein Kapitel, sondern ein ganzer von neun GroßAbschnitten des Buches wird auf ein prominentes Beispiel Popmusik aufgebaut, auf den Smash Hit „Hey Joe“ von Jimi Hendrix. Da kommt auch ein Vergleich Verdi-Britten dran und ein Beispiel Schönberg, aber im Zentrum steht „Hey Joe“. Wer Strategien der Stundenplanung und Durcharbeitung beherrscht, die am europäischen Kunstwerk entwickelt wurden - in diesem Buch heißen sie erstmals „Stunden-Design“, kann damit auch Popmusik zum Thema machen. Umgekehrt wird’s schwierig: Wenn ich nicht weiß, wie ich ein Themendesign für eine Unterrichtsreihe, eine Unterrichtsstunde gewinne, nützen alle Schwadronierereien über die Wichtigkeit von Popmusik im Unterricht nichts. Popmusik werde gegenüber der Kunstmusik abgewertet? Knallhart belegt: „Manche großartige Popmusik lässt sich genauso gut oder besser mit einem symphonischen Orchester spielen“ (S. 22). „Manche großartige Popmusik“? Wenn das eine Abwertung ist, wie klingt dann bei Beiderwieden eine Aufwertung? Außerdem seien die eingeführten Analyseverfahren charakteristisch für Kunstwerkorientierung? Mal umgekehrt: Über 10 Seiten findet sich in Lars Oberhaus’ Tirade kein Hinweis darauf, dass er der Arbeit an einem Haydn-Streichquartett oder einem Monteverdi-Madrigal etwas abgewinnen könnte, das wäre ja „antiquiert wirkende Orientierung am musikalischen Kunstwerk“ (S. 22). In Musik unterrichten geht es aber so notenlastig nicht zu. Das Musiklehre-Kapitel hilft ja gerade, dass Musikunterricht NICHT MEHR VON THEORIEKURSEN ÜBERWUCHTET wird: „Wie viel Musiklehre braucht der Musikunterricht? Nur so viel, wie nötig ist, um einen musikalischen Sachverhalt zu besprechen“ (S. 102). Nur wer einen Musiklehre-Sachverhalt einfach, schlank, mit System und in Kürze klären kann, gewinnt Zeit, um über Sinn zu sprechen. Nur im Groß-Abschnitt über die Organisationsphase (zugegeben, dem Lieblingsabschnitt des Autors, mit Zeitleisten, Suchbild-Aufgaben, Schnipseltechnik und Klangspektralanalyse) wird so richtig intensiv im Teig des Notentextes geknetet, so, dass es richtig schön panscht und spritzt. Wehe dem Musiklehrer, der daran keine Freude findet. Was aber, wenn Oberhaus in diesem einen Punkt Recht hätte: wenn „Literacy“ im Fach Musik, das Abarbeiten am Notentext, ziemlich stark gebunden wäre an das europäische Kunstwerk – wäre das dann nicht ein ziemlich starkes didaktisches Argument, den Stellenwert des europäischen Kunstwerks noch einmal zu überdenken? 6 Soeben erscheinen in Niedersachsen die Kerncurricula für die Mittelstufe, ein gemeinsames Werk für Gymnasien und Gesamtschulen. Soeben werden in Niedersachsen die Haupt- und die Realschule abgeschafft, zusammengefasst in einer Restschule, „Oberschule“ genannt - es ist die einzige verbleibende Schulform u n t e r h a l b aller anderen -, mit einer absehbaren Restlaufzeit. Soeben erscheinen in Niedersachsen die Vorgaben für das Zentralabitur 2015. Sie enthalten die Beatles und Tosca. Für 2014 sind Sinfonie, Palestrina und Wozzeck dran. Jugendliche baden voller Wonne in den Klängen des großen Symphonieorchesters im Herrn der Ringe und im Krieg der Sterne, derweil verpasst Musikdidaktik die Rückkehr des symphonischen Klanges in den Hörhorizont der Jugendlichen. Also nochmals, von uns beiden, wer ist jetzt antiquiert? Tanzen komme nicht dran? Doch, ein ganzes Kapitel „Bewegen“ im letzten Abschnitt (S. 183 ff.). Berührungen zwischen den Künsten werden nicht explizit erwähnt? Doch. Analogievergleich, Analogtransformation, wenn Kinder Opern schreiben und immer so fort: die gesamte „rechte“die „analoge“ Säule des Musikunterrichts (s. Kapitel “Vergleich“) geht darum, nicht nur im Sprechen, sondern auch in der Musikpraxis. Nur wäre ein Beiderwieden etwas zurückhaltend mit den „KÜNSTEN“: wollten wir nicht gerade eine Eingrenzung auf KUNSTwerk vermeiden? Weiß Oberhaus in all diesem Durcheinander noch, was er eigentlich will? „Machte ICH, glaube ich, erstmals Sprechen in Musik zum Hauptthema von Musikunterricht“? Oh Schreck, das, so S.24, soll Beiderwieden gesagt haben? Nein, auf S. 21 steht: „Machte, glaube ich, erstmals Sprechen in Musik zum Hauptthema von Musikunterricht“. Es geht um den Aufsatz von ULRICH GÜNTHER von 1965, eine Pionierarbeit. Und so geht das weiter und weiter. Jede einzelne Seite der denkwürdigen „Rezension“ von Lars Oberhaus dürfte mehr Fehler haben als „Musik unterrichten“ im ganzen Buch. * * * Schulmusik hat etwas damit zu tun, dass Jugendliche ihr musikalisches Talent entdecken und entwickeln. Keineswegs wollen die alle Berufsmusiker werden. Aber alle wollen ein schönes nächstes Schulkonzert auf die Bühne bringen. Die Vorbereitung soll Spaß machen, und hinterher wollen sie sagen: Wow, das hat gut geklungen. Und diejenigen, die weit fortgeschrittene Musiker oder sogar Berufsmusiker werden wollen, müssen in der Schule Gestaltungsraum, Förderung und Ermutigung und finden. Schulmusik ereignet sich in Musikstunden, in Proben, in Schulkonzerten. Dazu braucht es Lehrerinnen und Lehrer mit schulmusikalischer Schaffenskraft und dem Wissen, wie es gelingen kann: Methode eben. Wissenschaft im Musikunterricht versucht, im Sprechen über Musik aus einem Musikstück soviel Erkenntnis zu gewinnen wie möglich, Schüler, Klang und Notenbild 7 zusammenzubringen („S-K-N“), mit Sachkenntnis, Scharfsinn und dem ganzen Rüstkasten der musikalischen Analyse und Interpretation; und mit Kreativität. Sie ist nicht dasselbe wie künstlerische Gestaltung, aber sie hat viel Ähnlichkeit damit. Sie verlangt Wertschätzung, Offenheit, geistiges Sich-Einlassen und das, was früher einmal als „wissenschaftliche Redlichkeit“ gelehrt wurde. Von der Lehrerin, vom Lehrer verlangt sie auch wohl unbändigen Willen, etwas vom Reichtum des Geistes in der Musik an die Jugendlichen weiterzugeben und das Wissen, wie das gelingen kann: Methode eben. Solche Methode gibt das Buch „Musik unterrichten. Eine systematische Methodenlehre“. Ralf Beiderwieden hat es in der Tat nicht in einer aufgeblähten Wissenschaftssprache geschrieben, sondern klar verständlich, etwa so, wie wir gemeinsam am Lehrerzimmertisch über Musikunterricht sprechen. Durchaus nicht ohne Strenge; aber da gibt es auch manches zum Schmunzeln und zum Lachen, es soll Spaß machen, dieses Buch zu lesen und zu studieren, und dazu reizen, die Dinge auszuprobieren. Aber man kann auch das machen, was sich Lars Oberhaus unter Wissenschaft vorstellt. Der Grundgütige schenke uns Jahre schulmusikalischer Schaffenskraft, er erhalte uns ein fröhliches Gemüt und behüte uns vor dieser Art von Wissenschaft. Dies und viel Inspiration beim Lesen von „Musik unterrichten“ wünscht auch weiterhin allen Leserinnen und Lesern Ralf Beiderwieden 2. August 2012 Zurück zur Buchschreiber-Seite von Ralf Beiderwieden Zur Startseite von Ralf Beiderwieden 8