13 Röntgeninterferenzen an Einkristallen

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13
13.1
Röntgeninterferenzen an Einkristallen
Röntgenstreuung an Atomen
Elastische Röntgenstreuung in Materie erfolgt hauptsächlich durch Wechselwirkung mit Elektronen; der Kernbeitrag ist vernachlässigbar. Zwischen freien und gebundenen Elektronen
besteht kein großer Unterschied, sofern die Energie der Röntgenphotonen nicht in der Nähe
einer Absorptionskante der gebundenen Elektronen liegt.
In der klassischen Vorstellung bewirken elektromagnetische Wellen eine erzwungene Schwingung der Elektronen in der Richtung des einfallenden elektrischen Feldes Eo . Die mit der
Frequenz der einfallenden Strahlung oszillierenden Dipole emittieren wieder elektromagnetische Strahlung der gleichen Energie (Hertzscher Dipol).
Für kleine Beugungswinkel ist die Amplitude der an einem Atom (elastisch) gestreuten Röntgenstrahlung proportional zur Anzahl der Elektronen (Ordnungszahl); zu größeren Beugungswinkeln nimmt sie wegen Interferenzeffekten zwischen den Elektronen des Atoms monoton ab.
Die Streuamplitude (Atomformfaktor; Symbol fo ) aller Elemente und der wichtigsten Ionen
ist in den IT Vol. III (1962), Vol. IV (1974) und Vol. C (1992) tabelliert.
Gebundene Elektronen zeigen Resonanzen bei ihren Eigenfrequenzen. Diese Resonanzen
führen zu den bekannten Absorptionskanten und zu resonanter Röntgenstreuung, die oft
(nicht ganz korrekt) als anomale Dispersion bezeichnet wird. Ganz im Gegensatz zu diesem Namen ist anomale Streuung eigentlich etwas ganz Normales für Röntgenphotonen im
Energiebereich um 1 Å Wellenlänge. In der Nähe von K- und L-Absorptionskanten wird der
Atomformfaktor deshalb komplex:
f = fo + f ′ + i f ′′ .
(58)
Die energieabhängigen Dispersionskorrekturen f ′ und f ′′ bewirken eine zusätzliche
Amplituden- und Phasenänderung beim Streuprozeß am Atom. Sie sind normalerweise relativ
klein, zeigen aber an Röntgenabsorptionskanten sprunghafte Änderungen und liegen dort in
der Größe einiger Elektronen. Sie sind für gängige Röntgenwellenlängen ebenfalls in den IT
tabelliert.
13.2
Geometrie der Röntgeninterferenzen an Kristallen
Eine Kristallstruktur besteht aus einer 3-dimensional periodisch gitterhaften Atomanordnung. Mit Röntgenstrahlung beobachtet man Interferenzeffekte ähnlich wie die an einem
optischen Strichgitter.
Es seien so und s Einheitsvektoren in Richtung des einfallenden und des gestreuten Strahls.
Dann ist die Wegdifferenz zwischen Strahlen, die am Ursprung bzw. am Ort r in Richtung s
gestreut werden
g = (s − so ) · r ,
d.h. gleich der Differenz der Projektionen von s und so auf den Ortsvektor r. Das entspricht
einem Gangunterschied g/λ bzw. einer Phasendifferenz
φ = 2πg/λ = 2π
s − so
r = 2πSr
λ
S = (s−so )/λ ist der sog. Streuvektor (der Länge 2 sin θ/λ), der den Impulsübertrag zwischen
einfallendem (Richtung so ) und gestreutem Strahl (Richtung s) beschreibt.
52
Wenn es in einem Kristall ein Atom mit dem Ortsvektor ro gibt, dann gibt es identische
Atome an den Orten
r = ro + ua + vb + wc , u, v, w ∈ G ,
die sich um Gittertranslationen
t = ua + vb + wc ,
u, v, w ∈ G ,
unterscheiden. Die Summe über alle Atome im Kristall wird daher zu einer Summe über alle
Atome in der Elementarzelle, verschoben um alle Gittervektoren t = ua + vb + wc:
E = Eth
X
fj exp[ 2πiS rj ]
XXX
u
j
= ET h · F (S) · G(S)
v
exp[ 2πiS(ua + vb + wc) ]
(59)
w
(60)
Der Faktor
Eo
cos 2θ
(61)
R
(re = 2.8 · 10−12 cm; R: Abstand zum Detektor; 2θ: Streuwinkel) beschreibt das an einem
punktförmigen Elektron (sog. Thomsonstreuer) unter dem Winkl 2θ elastisch gestreute elektrische Feld. Der zweite Term
ET h = −re
F (S) =
X
fj exp[2πiSrj ]
(62)
j
ist der sog. Strukturfaktor der Elementarzelle (s.u.). Der dritte Term (der sog. Gitterfaktor )
G(S) =
X
exp[ 2πiuSa ]
u
X
exp[ 2πivSb ]
v
X
exp[ 2πiwSc ]
(63)
w
verschwindet wegen der Orthogonalität der komplexen exp-Funktionen nur dann nicht, wenn
die
S·a=h
Laue-Bedingungen:
S·b=k
(s − so ) · a = h · λ
bzw.
S·c=l
(s − so ) · b = k · λ
(s − so ) · c = l · λ
erfüllt sind. Diese drei Gleichungen mit den ganzen Zahlen h, k, l beschreiben drei Ebenenscharen senkrecht zu a, b und c, in denen erlaubte Streuvektoren S enden. Diese drei
Ebenenscharen schneiden sich in einem dreidimensionalen Gitter, dem reziproken Gitter der
Kristallstruktur. Folglich bedeuten die Laue-Bedingungen, daß in den Interferenzmaxima der
Streuvektor S zu einem reziproken Gittervektor H wird. Konstruktive Interferenz tritt nur
dann auf, wenn der Streuvektor (Impulsübertrag)
S=
s − so
,
λ
|s| = |so | = 1
zwischen der Richtung des einfallenden Strahls so und der Richtung des gebeugten Strahls s
mit einem reziproken Gittervektor
H = ha∗ + kb∗ + lc∗
zusammenfällt. Für alle anderen Streuvektoren wird F (S) = 0. Die ganzen Zahlen h, k, l sind
die (Millerschen) Indizes von Netzebenen des Abstands d = n/|H|, wobei n die Beugungsordnung ist.
53
s − so
= S ≡ H = ha∗ + kb∗ + lc∗
(64)
λ
Die Länge und Orientierung der reziproken Basisvektoren a∗ , b∗ und c∗ ist im Einklang mit
den Laue-Bedingungen:
a · a∗ = b · b∗ = c · c∗ = 1
a · b∗ = a · c∗ = b · a∗ = b · c∗ = c · a∗ = c · b∗ = 0
Aus |H| = |S| = 2 sin θ/λ und |H| = n/d folgt sofort die Braggsche Gleichung
n · λ = 2d sin θ ,
(65)
die als skalare Form der Laue-Gleichungen anzusehen ist. Mit ihr läßt sich in der kinematischen Theorie die Beugung und Interferenz einer ebenen Röntgenwelle an einer gitterförmigen Struktur formal als Reflexion der Röntgenstrahlung an Netzebenenscharen (genauer:
an Scharen paralleler Atomebenen) interpretieren (Bragg, 1912). Die an den Atomen einer
solchen Ebene (mit dem Normalenvektor H) gestreuten Wellen addieren sich genau dann
phasengleich, wenn für den in der Richtung so einfallenden Strahl und den in der Richtung
s reflektierten“ Strahl die
”
Reflexionsbedingung:
s − so = λ · H
erfüllt ist, wobei H in Richtung der Netzebenennormalen zur Netzebenenschar (hkl) zeigt. Die
genaue Verteilung der Atome innerhalb der reflektierenden“ Ebenen senkrecht zu H spielt
”
keine Rolle; die Reflexionsbedingung reagiert nur auf die Periodizität (den sog. d-Wert“) der
”
Kristallstruktur parallel zum Normalenvektor H.
Mit den Wellenvektoren K = 2πs/λ und Ko = 2πso /λ wird daraus die
Laue-Gleichung:
K − Ko = 2πH .
Geometrisch wird die Laue-Gleichung in der sog. Ewald-Konstruktion dargestellt, die bei
gegebenem reziproken Gitter für eine passende“ Primärstrahlrichtung die Konstruktion der
”
Richtung des Interferenzstrahls erlaubt.
Der Wegunterschied g der an zwei benachbarten identischen Atomebenen gebeugten Strahlen ist g = 2d sin θ, wobei θ der Winkel zwischen einfallendem Strahl und Netzebenenschar
ist (sog. Glanzwinkel ). Ist nun g = nλ ein ganzzahliges Vielfaches der Wellenlänge λ, dann
addieren sich die an allen Netzebenen (eigentlich identischen Atomebenen) gestreuten Strahlen in Phase; es tritt dann in der betreffenden Richtung ein Interferenzmaximum auf. Die
Bedingung dafür ist die schon oben gefundene
Braggsche Gleichung:
n · λ = 2d sin θ .
Die ganze Zahl n heißt Ordnung der Interferenz, λ ist die Röntgenwellenlänge, d der Netzebenenabstand und θ der Glanzwinkel.
Die Geometrie der Röntgeninterferenzen an Kristallen hängt vom Kristallgitter ab.
Die Kristallstruktur beeinflußt die Intensität der einzelnen Röntgenreflexe.
54
Das schon in der Einleitung vorgestellte und in Teil I weiter entwickelte Modell der Kristallstruktur als periodische Stapelung von (identischen) Atomebenenscharen eignet sich hervorragend zur geometrischen Interpretation der Röntgeninterferenzen in Kristallen.
• Das Braggsche Gesetz beschreibt eine konstruktive Interferenz der an den einzelnen
Atomebenen der Periode d reflektierten Röntgenstrahlen mit Gangunterschied 2d sin θ.
• Die Laue-Bedingungen betonen stärker die auf diesen Atomebenen senkrecht stehenden reziproken Gittervektoren H der Länge 2 sin θ/λ.
• Die Ewald-Konstruktion kombiniert eigentlich beide Bilder. Sie wird aber (leider)
oft nur im Sinne der Laue-Gleichung K − Ko = 2πH interpretiert.
13.3
Strukturfaktor der Elementarzelle
Der Gitterfaktor G(H) (s. Abschnitt (13.2)) beschreibt die Form der Interferenzmaxima. Der
Strukturfaktor
F (H) =
X
fj exp[2πiHrj ] =
j
X
fj exp[2πi(hxj + kyj + lzj )]
(66)
j
enthält die Überlagerung der an allen N Atomen (mit Ortskoordinaten rj und Formfaktor
fj ) der Elementarzelle gestreuten Elementarwellen in Form einer Fourierreihe. Er ist im allgemeinen eine komplexe Zahl F = A + iB, und durch Amplitude |F (H)| und Phase φ(H)
eindeutig beschrieben.
F (H) = A(H) + iB(H)
tan(φ) = B(H)/A(H)
A(H) =
X
fj cos[2πirj H]
j
B(H) =
X
fj sin[2πirj H]
j
13.4
Elektronendichte der Elementarzelle
Auch die Elektronendichte ρ(r) der Elementarzelle lässt sich in Form einer Fourierreihe schreiben (das ist naheliegend, weil die Elektronendichte eines Kristalls periodisch ist). Fourierkoeffizienten sind die Strukturfaktoren F (H)/V (V ist das Elementarzellvolumen):
ρ(r) =
ρ(r) =
1 X
F (H) exp[−2πirH]
V H
1 X
F (hkl) exp[−2πi(hx + ky + lz)]
V hkl
(67)
(68)
Wenn ρ(r) reell ist, gilt F ∗ (H) = F (−H). Daraus folgt der
|F (H)| = |F (−H)| .
Satz von Friedel:
Der reziproke Raum hat folglich immer ein Inversionszentrum und ist zentrosymmetrisch.
Ist auch die Kristallstruktur zentrosymmetrisch und legt man den Ursprung in eines der
Inversionszentren, dann kann man die Atome bei r und −r in der obigen Summation paarweise
zusammenfassen und F (H) wird reell.
55
13.5
Intensität der Röntgeninterferenzen an Kristallen
Die Intensität der Röntgenreflexe ist proportional zum Strukturfaktorquadrat. Da wir nur
Intensitäten
I(H) ∝ F F ∗ = |F (H)|2
(69)
messen, erhalten wir direkt nur die Strukturamplitude |F (H)|. Die Phase φ(H) des Strukturfaktors ist (zunächst) unbekannt (Phasenproblem). Weil sie komplexe Größen sind, lassen
sich Strukturfaktoren grundsätzlich nicht messen; beobachtbar sind nur ihre Beträge (Strukturamplituden |F (H)|; I(H) ∝ |F (H)|2 ), nicht jedoch die Phasen φ(H). Deshalb kann die
Elektronendichte ρ(r) der Elementarzelle nicht direkt mit Gl. (67) gewonnen werden, weil
dazu nach
1 X
ρ(r) =
|F (H)| exp[iφH ] exp[−2πirH]
V H
die Phasen der Strukturfaktoren erforderlich sind. Das ist das sog. Phasenproblem der
Kristallstrukturbestimmung. Für zentrosymmetische Strukturen vereinfacht sich das Phasenproblem zum einfacheren“ Vorzeichenproblem.
”
Zur Strukturbestimmung an Einkristallen werden verschiedene Techniken verwendet, darunter Pattersonsynthesen und direkte Methoden. Die daraus erhaltenen Strukturmodelle werden
anschließend in einem weiteren Schritt durch Anpassung eines Strukturmodells und Strukturverfeinerung optimiert. Pulverdiagramme dienen im wesentlichen zur qualitativen und
quantitativen Phasenanalyse sowie zur Verfeinerung nicht zu komplexer Kristallstrukturen
mit der Rietveld-Technik, bei der dem gemessenen Pulverdiagramm gemeinsam mit Geräteparametern ein Strukturmodell angepaßt wird.
13.6
Beugungsverfahren
Eine fest vorgegebene Richtung so ergibt mit monochromatischer Röntgenstrahlung bei unbewegtem Kristall eher nur zufällig Richtungen s, die die Laue-Gleichung erfüllen. In der
Praxis verwendet man folgende Meßverfahren:
• Monochromatische Röntgenstrahlung mit bewegtem Kristall (so variabel, λ fest):
Drehkristall-, Weißenberg- und Präzessions-Verfahren. Anwendung zur Untersuchung der Kristallqualität, zur Kristalljustierung und zur Intensitätsmessung (früher
mit Röntgenfilm, heute mit Flächendetektoren).
• Einstellung jedes einzelnen Reflexes in der Braggposition (so variabel, λ fest): Diffraktometerverfahren. Anwendung hauptsächlich zur Intensitätsmessung für Kristallstrukturbestimmungen und zur Probencharakterisierung.
• Monochromatische Röntgenstrahlung mit feststehender oder beweglicher Pulverprobe (so fest oder variabel, λ fest): Debye-Scherrer-, Guinier- und GoniometerVerfahren. Anwendung zur Identifikation und zur Chakterisierung von Pulverproben;
Strukturverfeinerung nach der Rietveld-Methode.
Alternativ kann man weiße (polychromatische) Röntgenstrahlung verwenden, aus der sich
der Kristall sozusagen die jeweils passende Wellenlänge aussucht“:
”
56
• Weiße Röntgenstrahlung mit feststehendem Kristall (so fest, λ variabel): LaueVerfahren. Die Ewaldsche Konstruktion erfolgt entweder nach (s − so )/λ = H oder
besser nach s − so = λ · H. Anwendung zur Kristalljustierung, zur Symmetriebestimmung und zur Intensitätsmessung an Proteinkristallen.
Zur praktischen Durchführung sind verschiedene Röntgenkameras und Diffraktometer entwickelt worden. Der Trend geht heute zu rechnergesteuerten vollautomatischen Goniometern
mit Flächendetektorsystemen, die in kurzer Zeit große Datenmengen produzieren können.
13.7
Beispiel: Strukturfaktor und Elektronendichte des Kupfertyps
(a) Kupfer kristallisiert bei Raumtemperatur in der kubisch dichtesten Kugelpackung mit
Raumgruppe Fm3̄m. Cu besetzt die Punktlage 4a und bildet ein [F]-Baumuster mit den
Lagekoordinaten:
1
1
1 1
1 1
, 0, ;
, ,0.
0, 0, 0; 0, , ;
2 2
2
2
2 2
Der Strukturfaktor dieser gitterhaften Kristallstruktur lautet
F (hkl) = fCu {1 + exp[iπ(k + l)] + exp[iπ(h + l)] + exp[iπ(h + k)]}
= fCu {1 + (−1)k+l + (−1)h+l + (−1)h+k }
Dieser Ausdruck hängt von der Paritätsklasse der Indizes h, k, l ab:
F (hkl) =
(
0
: h, k, l gemischt (ggu, uug)
4fCu : h, k, l nicht gemischt (ggg, uuu)
Reflexe der Klassen ggu und uug (g: gerade, u: ungerade) sind systematisch ausgelöscht.
(b) Zur Berechnung der Elektronendichte des Kupfertyps reicht eine eindimensionale Projektion der Elementarzelle auf eine der Achsen aus. Nehmen wir die Projektion auf die a-Achse:
ρ(x) =
=
1 X
F (h00) exp[−2πihx]
a h
2 X
F (h00) cos(2πhx)
a h>0
Der Reflex 200 ist wesentlich stärker als alle anderen h00-Reflexe und dominiert deshalb diese
Fourierreihe. Daher ist
2
F (200) cos[2π(2x)]
ρ(x) ≈
a
eine gute Approximation für die Projektion der Elektronendichte auf die a-Achse. Diese cosWelle der Periode a/2 hat Maxima bei x = 0 und x = 1/2. Diese Elektronendichtemaxima
entsprechen den mit Cu besetzten Atomebenen in x = 0 und x = 1/2 (Anmerkung: die
Projektion auf [100] hat eine halbierte Translationsperiode a/2).
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