Dr. Eva Hirtler, StD’, Fachberaterin Musik am RPK Zitate zur Entwicklung der Sonatenhauptsatzform <Der frühe Sonatensatz> Reiter (2000: S.17 ff) „Ursprünglich ist das Sonatensatzprinzip keine Form, sondern Emanation des klassischen Stils, <...>. Die Essenz eines Sonatensatzes besteht in der Polarisierung zweier tonaler Ebenen durch die artikulierte Wendung zur Dominante innerhalb der Exposition, womit sich in Rosens1 Diktion eine ‚large-scale dissonance’ bildet. Sie zielt auf ihre Lösung in der Reprise, während die modulierende Durchführung eine auf den Repriseneintritt als Wiedererreichung tonaler Stabilität hinzielende Steigerung umfasst. <...>. Im Gegensatz zu einem barocken Suitensatz, der sich im Laufe seines ersten Teils ebenfalls zur Dominante wendet und im zweiten Teil wieder zurückmoduliert, ist der ‚Sonatenstil’ genuin dramatisch. Er basiert auf dem fundamentalen Prinzip Spannung – Auflösung. Das thematische Material ist nicht eigentlicher Inhalt, sondern dient lediglich dazu, den tonalen Kontrast zu artikulieren. Voraussetzungen dieses Stils sind die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte kurze, gegliederte Phrase, die Periode. Sie sorgt für die Unterbrechung und Gliederung des rhythmischen Flusses, der im Barock sich ständig gleichmäßig fortzeugt. Mit der Vorliebe für deutliche Gliederung und der mit ihr verbundenen rhythmischen Vielfalt steht das ausgeprägte klassische Symmetrieempfinden im Zusammenhang. Die klassische Phrasengliederung beruht im Großen wie im Kleinen auf der Korrespondenz entsprechender Teile, die sich deutlich voneinander abheben. Die harmonische Polarisierung, die auf die Etablierung deutlich unterschiedener harmonischer Ebenen zielt, bedingt eine Verlangsamung des harmonischen Rhythmus und die Reduktion auf einfache Kadenzformeln. Das im klassischen Satz in vorher nicht gekanntem Maße benützte „Füllwerk“, d.h. nicht thematisches, eher konventionelles Figurenwerk, hat seinen Grund in der dramatischen Konzeption. <...>“ <Das 19. Jahrhundert> Reiter (2000: S. 18f.) „Die Essentialia des Sonatenstils gerieten im 19. Jahrhundert in Verfall. Die Empfindlichkeit der Romantiker gegen die klassische Periodik liegt wohl weniger im Zwang zum melodischen Füllwerk <-...-> als in der tongetreuen Wiederholung von Themenbestandteilen und der als formelhaft empfundenen Kadenzharmonik, die Basis des vielfältigen rhythmischen Gewebes und der tonalen Polarisierung war. Die Verschiebung des Akzents von der harmonischen Konzeption auf das thematische Material, die Dahlhaus für das 19. Jahrhundert konstatiert, <...>, beginnt mit Beethoven, dessen Hauptproduktion sich in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts erstreckt und dieses nachhaltig prägt. Beethoven perfektionierte Haydns Methode, das gesamte Material eines Satzes aus einem thematischen Urkern herauswachsen zu lassen. <...> Die im 19. Jahrhundert weitgehend aus dem Gesamtoeuvre Beethovens abstrahierte ‚Sonatenform’, kulminierend in Czernys Schule der praktischen Tonsetzkunst und A. B. Marx’ Lehre von der musikalischen Komposition, ist nicht nur als Kompositionsanleitung, sondern auch als Versuch einer Beethoven-Analyse zu werten. Vor allem Marx legte auf thematishe Aspekte, in erster Linie die kontrastierende Natur der beiden Themen, erheblich mehr Gewicht als auf den tonalen Plan.“ 1 Gemeint ist: Charles Rosen: Der klassische Stil, deutsche Übersetzung München, Kassel 1983 <E. Hirtler> Dahlhaus (1965: S. 7f) „’Dramatisch’ ist die Sonatenform <...>: durch ihren ‚finalen’ Charakter, der den einzelnen musikalischen Augenblick vor allem als Voraussetzung des folgenden erscheinen lässt und alle Details einem Ziel zuordnet, auf das der Verlauf gerichtet ist. Der ‚dramatischen Ungeduld’ steht eine ‚epische Gelassenheit’ gegenüber, die bei Einzelheiten um ihrer selbst willen zu verweilen vermag, ohne dass der formale Zusammenhalt gefährdet wäre. <...> Der Bau einer Exposition ist nach den Regeln der Formenlehre zweifach bestimmt: thematisch und harmonisch. Dem Hauptthema wird ein Seitenthema entgegengesetzt, der Grund- eine Nebentonart, in Dur im allgemeinen die Dominant-, in Moll die Paralleltonart.“ <Sonatensatz bei Brahms> Reiter (2000: S. 20) <Es liegt nahe,> „anzunehmen, dass Brahms’ Sonatensätze das Resultat einer eigenständigen Auseinandersetzung mit der klassischen Tradition, vor allem mit Beethoven sind. Dass Brahms die Aversion seiner Zeitgenossen gegen unmelodisches Füllwerk teilte, dass die ‚Logik’ und ‚Ökonomie’ des Materials, die Schönberg ihm attestierte, und der daraus resultierende ‚organische Zusammenhang’ zu seinen kompositorischen Grundprinzipien gehört, muss nicht erst aus dem Werk geschlossen werden, sondern ist einer Fülle überlieferter Äußerungen zu entnehmen. Berühmt geworden ist seine Äußerung, Komponieren sei nicht schwer, schwer sei nur das Wegstreichen der vielen überflüssigen Noten.“ Hauschka (2005, S. 294f.) „Obwohl die Sonate seit etwa 1830 bereits als veraltete Form galt, die sogar Robert Schumann bereits totgesagt hatte, hielt Brahms unbeirrbar an ihr fest, <...>. <..> Bis in die 1860er Jahre hinein ließ sich Brahms in seiner Auseinandersetzung mit der ‚Sonatenform’ durch Modelle inspirieren und orientierte sich hauptsächlich an Beethoven und Schubert; er gelangte dabei zu Lösungen, in denen die Sätze allmählich formal bis an die Grenzen des Überschaubaren ausgedehnt und extremen Spannungen ausgesetzt wurden, um sie durch harmonische Konzepte und motivisch-thematische Verknüpfungen dennoch formal auszubalancieren. <...> Ein Dreh- und Angelpunkt der Brahmsschen Kompositionsweise ist das Verfahren der ‚motivisch-thematischen Arbeit’, bei dem durch Bildung von motivischen Ableitungen und Varianten neue, zugleich verwandte und weiterführende Gestalten entstehen. <...> Die Anwendung des grundlegenden Gestaltungsmoments der motivisch-thematischen Arbeit, das anders als noch bei Beethoven weniger von der rhythmischen Prägung eines Motivs ausgeht, vielmehr bei Brahms eher von der intervallischen Konstellation, beschränkt sich in seinen Sonatensätzen nicht auf den historisch ‚angestammten’ Platz der Durchführung, sondern greift auf den gesamten Satzverlauf über und kommt insbesondere schon in der Themenbildung und damit in der Exposition zum Tragen.“ Pfisterer (1989, S. 77f.) „...eine ausgesprochene Abneigung gegen unveränderte Wiederholungen <-...-> charakterisiert Brahms’ Musik nicht weniger als ihr Hang, an einem Gleichen festzuhalten. Die ununterbrochene Erneuerung der Erfindung war ihrem Komponisten ein Bedürfnis ebenso wie das Bestreben, in einem Stück aus Gründen des Zusammenhangs auf derselben motivischen oder thematischen Substanz zu beharren. <...> Der Widerstreit der divergierenden Tendenzen teilt sich dem Hörer mit als Konflikt, aus dem Brahms’ Musik ihre spezifische Spannung bezieht. Ausgetragen wird er speziell im Bereich der Metrik und Rhythmik, indem die musikalische Sprache Brahms’ Einspruch erhebt gegen die gleichförmigen, am Takt orientierten Betonungsverhältnisse der klassischen Syntax. Anstatt die Regelmäßigkeit und Symmetrie der klassischen Formmuster unverändert zu reproduzieren (...), zielt Brahms’ Musik darauf, deren reglementierten Ablauf durch Unregelmäßigkeiten aufzubrechen und zu verändern. Nicht dass bei ihm regelmäßig gebaute Perioden nicht weiterhin Gültigkeit hätten, unverkennbar jedoch ist Brahms’ Absicht, das regelmäßig gebaute Modell bei seiner Wiederholung so zu variieren, dass die Akzente nicht im gleichen Abstand und symmetrisch, sondern unerwartet unregelmäßig aufeinander folgen. Die Taktordnung aus ihrer starren Verankerung zu lösen und das Verhältnis des thematischen Geschehens zu ihr zu einem eigenen Gegenstand der Komposition zu machen, scheint den Komponisten offensichtlich besonders fasziniert zu haben. Entsprechend vielfältig sind die Mittel, deren sich Brahms bedient, um seine Vorstellungen zu realisieren. Um einige Verfahrensweisen zu nennen: die rhythmische Veränderung und metrische Umdeutung melodischer oder diastematischer Gestalten, synkopische Bildungen jeder Art, die metrische Umdeutung taktischer Einheiten, hemiolische Bildungen, die metrische Verschränkung, Erweiterung und Verkürzung von Satzgliedern und ihre Verschiebung auf alle möglichen Taktzeiten, rhythmische und metrische Diminution und Augmentation, die Aneinanderreihung unregelmäßiger metrischer Einheiten und polymetrischen Bildungen ... usw.“ Dahlhaus (2003, S. 621) „Musik erscheint bei Brahms als Gedankenentwicklung, als tönender Diskurs. Jacques Handschin sprach geradezu von ‚logischer’ Form im Gegensatz zur ‚architektonischen’ Form, die auf dem Gleichgewicht charakteristisch verschiedener Teile beruht. ‚Logische’ Form ist weniger aus Teilen zusammengefügt als aus einem Anfangsgedanken herausgesponnen. Und es war die Brahmssche Methode einer differenzierten und nahezu pedantischen musikalischen Gedankenentwicklung, die um 1900, nach dem Zerfall des ‚architektonischen’ Prinzips, das mit der tonalen Harmonik eng zusammenhing, überhaupt noch Form im emphatischen Sinne zu konstituieren erlaubte. Die Akzentverlagerung vom ‚architektonischen’ auf das ‚logische’ Prinzip – bei Beethoven herrschte noch ein Gleichgewicht – ist einer der ‚progressiven’ Züge bei Brahms, die einerseits für die Neue Musik von Bedeutung waren, andererseits aber als Folgerungen aus der klassischen Überlieferung zu begreifen sind. <...> In die Entwicklung der Harmonik griff Brahms, <...> durch den Versuch ein, entlegene Akkorde in die Tonart zu integrieren, also einen unerwarteten Reichtum an Zusammenklängen auszubreiten, ohne die Einheit der Tonart preiszugeben.“ Literatur: Aringer, Klaus: Deutsche Romantik, in: Handbuch der musikalischen Gattungen Bd. 5 (Hg. Siegfried Mauser), Laaber 2005. Dahlhaus, Carl: Johannes Brahms Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll , op. 15. München 1965 (Meisterwerke der Musik Heft 3). Ders.: Brahms und die Idee der Kammermusik, in: Gesammelte Schriften Bd. 6, Laaber 2003. Dittrich, Marie-Agnes: Tradition und Innovation im Klavierquintett in f-Moll op. 34, in: Die Kammermusik von Johannes Brahms. Tradition und Innovation (Hg. Gernot Gruber).Laaber 2001 Hauschka, Thomas: Der kammermusikalische Beitrag von Johannes Brahms: Singuläre Formlösungen für das Sonatenprinzip, in: Handbuch der musikalischen Gattungen Band 5, Laaber 2005. Kleinheins, Frank: Handreichung zum Schwerpunktthema Johannes Brahms Klavierquintett fMoll op. 34 Teil I Analyse (Landesbildungsserver Baden-Württemberg 2012). Kühn, Clemens: Formenlehre der Musik. Kassel u.a. 9/2010. Michels, Ulrich: dtv-Atlas zur Musik Bd. 1, Kassel 1977. Oechsle, Siegfried: Klaviertrios, Klavierquartette, Klavierquintett, in: Brahms Handbuch (Hg. W. Sandberger), Stuttgart / Weimar 2009. Pfisterer, Manfred: Eingriffe in die Syntax. Zum Verfahren der metrisch-rhythmischen Variation bei Johannes Brahms, in: Musikkonzepte Bd. 65 München 1989. Reiter, Elisabeth: Sonatensatz in der späten Kammermusik von Brahms, Tutzing 2000 Rosen, Charles: Der klassische Stil, München u.a. 1983. Schmidt, Christian Martin: Johannes Brahms und seine Zeit. Laaber 2/1998.