IDENTITÄT UND MACHT Eine theoretische Auseinandersetzung mit

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IDENTITÄT UND MACHT
Eine theoretische Auseinandersetzung mit der Soziologie
gesellschaftlichen Außenseitertums
DISSERTATION
zur Erlangung
des akademischen Grades
eines Doktors der Philosophie
(Dr. phil.)
am Fachbereich
Kultur- und Sozialwissenschaften der
FernUniversität in Hagen
vorgelegt von
BERNHARD FISCHER
aus Ludwigshafen am Rhein
Diese Arbeit wurde von Herrn Professor Dr. Dr. Abels,
Lehrgebiet Soziologie I der FernUniversität Hagen, betreut.
2
Inhaltsverzeichnis
1.
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
1.5.
2.
2.1.
2.2.
2.3.
2.4.
2.5.
2.6.
2.6.1.
2.6.2.
2.6.3.
2.6.3.1.
2.6.4.
2.6.5.
2.6.6.
2.7.
2.8.
Vorwort
Identitätsentwicklung in der psychoanalytischen Theorie Eriksons
Persönliche und soziale Identität
in der Psychoanalyse
Der Weg zur „gesunden“ Persönlichkeit
Identitätsdiffusion und negative Identität
Persönlichkeitsentwicklung
und Gesellschaft
Wissenschaftstheoretische Betrachtungen
und kritische Anmerkungen
Identität als Sozialisationsergebnis
in der strukturfunktionalen Theorie
Die Bedeutung der Familie als gesellschaftliche Instanz der Wertevermittlung
Handlungsalternativen und Motivation
zu angepasstem Verhalten
Der normativ orientierte Akteur –
Homo Sociologicus
Zur Kritik der strukturfunktionalistischen
Sozialisationstheorie
Die strukturfunktionale Perspektive zur
Abweichung
Die Bezugnahme auf die Anomietheorie
Mertons
Die Ziel-Mittel-Diskrepanz
Konformistische Anpassung
Innovative Anpassung
Desintegration und Jugendgewalt
Ritualistische Anpassung
Rückzug
Rebellion
Die formelle Analyse der Devianz
Desintegrationstheorem
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3
3.
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
3.5.
3.6.
4.
4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
4.5.
4.5.1.
4.5.2.
4.6.
5.
5.1.
5.2.
6.
6.1.
6.2.
7.
7.1.
4
Identität im interpretativen Paradigma –
das Individuum als Subjekt
Die Theorie des Selbst - einführende
Bemerkungen zu George Herbert Mead
Kommunikation, Identität und
Gesellschaft
Die Ontogenese der Identität
Innen- und Außenperspektive sowie
theoretische Einwände
Identitätsprobleme
Weiterentwicklung des Identitätskonzeptes im Rahmen des interpretativen
Paradigmas
Identität und ihre Präsentation in der
Soziologie Goffmans
Identität und Fassade
Gefährdete Darstellung und Identität
Die Theorie des Abweichens
Identität und „Stigma“
Diskreditierbare Menschen
Etikettierung
Abweichung als Folge gesellschaftlicher
Normsetzung
Diskreditierte Menschen
Identität und das Problem des „doppelten
als-ob“
Die horizontale Perspektive der sozialen
Identität
Die vertikale Perspektive der personalen
Identität
Die Antinomie der Paradigmen
Der Habitus als Identitätskonzept
Der „Kleinbürger“ – Außenseiter und
dennoch Mehrheitsmitglied?
Identitätsentwicklung im Einklang mit
der sozialen Umwelt – die dogmatischen
Positionen der klassischen Theorielinien
Ethik und Gesellschaft
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7.2.
7.3.
7.4.
7.5.
7.6.
8.
8.1.
8.2.
8.3.
8.4.
8.5.
9.
9.1.
9.2.
10.
Die ethische Konstruktion der Identität
(G.H. Mead)
Die soziale Konstruktion der Ethik
(E. Durkheim)
Institutionen
Institutionen und Unterdrückung
Institutionen und Identität
Macht
Die Macht der Symbole (P. Bourdieu)
Die symbolisch erzeugte Legitimität von
Ausgrenzung
Negatives symbolisches Kapital
Die vorklinische Phase
Totale Institutionen
Sozialer Wandel durch Umwertung der
Kapitalien
Legitimationsprobleme
Hysteresiseffekte
Das „postmoderne" Selbst –
die Krise der Identität
Literaturliste
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„Die Welt hat die Freiheit verkündet,
besonders in letzter Zeit, aber was sehen
wir denn in dieser ihrer Freiheit? Nichts
als Sklaverei und Selbstmord! Denn die
Welt sagt: ‚Du hast Bedürfnisse, also
befriedige sie auch, denn du hast ja dieselben Rechte wie die angesehensten und
reichsten Leute. Scheue dich bloß nicht,
sie zu befriedigen, sondern vermehre sie
lieber noch, - das ist die gegenwärtige
Lehre der Welt. Eben darin sehen sie die
Freiheit. Was ergibt sich als Folge aus
diesem Recht auf Vermehrung der Bedürfnisse? Bei den Reichen Vereinsamung und
geistiger Selbstmord, bei den Armen aber
Neid und Totschlag, denn die Rechte hat
man zwar gegeben, aber die Mittel zur
Befriedigung der Bedürfnisse nicht
überwiesen. (...) Und da ist es denn auch
kein Wunder, dass sie, statt wahrhaft frei
zu werden, nur in Sklaverei geraten, und
statt der Bruderliebe und der Einigkeit der
Menschen zu dienen, im Gegenteil der
Absonderung und Vereinsamung verfallen.“ (aus Dostojewski: „Die Brüder
Karamasoff“, Sechstes Buch: Ein russischer Mönch)
7
Vorwort
Am 26.April 2002 ist ein 19-jähriger Mann in Erfurt in seine
ehemalige Schule während der dort anhängigen Abiturprüfungen
eingedrungen und hat siebzehn Menschen erschossen und sich
anschließend selbst das Leben genommen.
Sofort nach der Tat hat in Deutschland die Debatte über gesellschaftliche Versäumnisse eingesetzt. In der Folge wurden Verschärfungen des Waffenrechts, Maßnahmen gegen Gewaltdarstellungen in den Medien und gegen Aggressivität an den
Schulen diskutiert. Die kritische Öffentlichkeit war sich sehr
schnell darin einig, dass es damit aber nicht sein Bewenden
haben kann, dass also ein singulärer gesetzgeberischer Akt im
Bereich des Waffenrechtes und eine freiwillige Selbstbindung
der Medien nicht ausreichen, das Problem der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen in den Griff zu bekommen.
Die soziologische Fachdiskussion hat sich schon seit Längerem
ausgiebig mit der Gewaltthematik befasst1. In diesen Ansätzen
wird stets vor den Wirkungen der Medien, insbesondere im
Hinblick auf grenzenlose Gewaltszenarien in trivialen Actionfilmen gewarnt. Es ergeht aber auch der sorgenvolle Hinweis der
Fachleute auf die Tatsache, dass es nichts in der Lebenswelt der
jungen Menschen gibt, was den negativen Einfluss solcher
Medien kompensieren könnte, so dass sie Gefahr laufen, den nur
virtuellen Charakter solcher Medienprodukte nicht zu durchschauen und der in ihnen kommunizierten Wirklichkeitsdeutung
eine universelle Gültigkeit beizumessen. Diese Darstellungen
propagieren eine Ethik der Gewalt und des Rechts des Stärkeren,
im günstigsten Fall noch eine Einteilung der Welt in „Gut“ und
„Böse“, wobei nicht immer die Guten gewinnen.
Die Tatsache, dass es kein Regulativ beim Medienkonsum gibt,
ist dem Umstand geschuldet, dass soziale Bindungen in den
Familien, die eine zuverlässige innere Orientierung des jungen
Menschen gewährleisten könnten, schwächer geworden sind.
Und es trifft nicht mehr nur junge Menschen aus belasteten
Milieus, deren Delinquenz man gerne mit hinlänglich bekannten
Theorien über abweichendes Verhalten erklärt. Diese Entwicklung hat Zugang in den Bereich der Mittelschichten gefunden,
1
8
so z.B. Heitmeyer 1992
wie die Bluttat von Erfurt zeigt. So ist der Tatort, das GutenbergGymnasium in Erfurt, als „gute Schule“ bekannt. In unmittelbarer Nachbarschaft des Bundesarbeitsgerichtes ist diese Schule
und ihr Umfeld weit von jenen sozialen Brennpunkten entfernt,
aus deren Umfeld ansonsten eine solche Gewalthandlung erwartet worden wäre. Entsprechend rekrutiert sich die Schülerschaft,
aus deren Mitte der Täter kam, eher aus den bürgerlichen
Schichten der Stadt. Es ist also keinesfalls zu erwarten gewesen,
dass ausgerechnet an dieser Schule siebzehn Menschen zu
Gewaltopfern eines Schülers werden.
Von dem Täter ist bekannt geworden, dass er zwar als intelligent
galt, sich aber renitent gegenüber den Lehrern verhielt, weshalb
er kurz vorher der Schule verwiesen wurde. Er soll bei seinen
Großeltern gelebt haben. Ansonsten waren keine Auffälligkeiten
über ihn bekannt gewesen. Man kann sogar unterstellen, dass der
ehemalige Schüler bis zu seiner Tat ein absolut „normales“
Leben führte, das keinerlei Anlass zur Aufmerksamkeit bot:
Schulversagen ist weit verbreitet, und der Täter hätte sogar noch
eine Möglichkeit gehabt, den bisher versäumten Schulabschluss
nachzuholen. Auch die Tatsache, dass der Täter nicht bei seinen
Eltern lebte, ist nicht ungewöhnlich. Immerhin war er schon
volljährig und konnte daher durchaus seine eigene Lebensführung gestalten. Der Umstand, dass er keinen oder wenig
Kontakt zu seinen Eltern hatte, ist keiner besonderen Erwähnung
wert, denn es ist nicht mehr unnormal, dass Familien in
Deutschland auseinanderbrechen und Sprachlosigkeit unter den
Familienmitgliedern herrscht.
Und damit bin ich bei einer Problematik unserer Gesellschaft
angelangt, der Deutung von Normalität, bzw. der Frage, was als
normale Handlungs- oder Seinweise angesehen werden kann und
wie daraus folgend gesellschaftliche Abweichung definiert wird,
das heißt ein Sein oder ein Handeln, das Normalitätskriterien
verletzt.
Zu den bekanntesten Konzepten, die diese Unterscheidung in
systematischer Weise gewährleisten, gehören die von Goffman
analytisch unterschiedenen drei „Stigmatypen“, nämlich „physische Deformationen“, „individuelle Charakterfehler“ sowie
9
„phylogenetische Stigmata“2.
Goffman hat das Gemeinsame der Stigmatypen herausgestellt,
indem er Folgendes schrieb: „Ein Individuum, das leicht im gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden
können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und bewirken kann, dass wir uns bei der Begegnung mit
diesem Individuum von ihm abwenden, wodurch der Anspruch,
den seine anderen Eigenschaften an uns stellen, gebrochen wird.
Es hat ein Stigma, das heißt, es ist in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten.“3
Ein wesentlicher Teil des Außenseitertums in unserer Gesellschaft ist immer noch mit dem Stigmakonzept erfasst. Und dennoch ist festzustellen, dass es Menschen gibt, die sich subjektiv
als Außenseiter empfinden, obwohl sie kein sozial wahrnehmbares Zeichen tragen, das sie wie ein Stigma zu Außenseitern
machen könnte. Und so wie ihnen geht es immer mehr Gesellschaftsmitgliedern. Das ihnen Gemeinsame ist die Tatsache, dass
sie zu Außenseitern geworden sind, weil sie zunehmend außerhalb sozialer Zusammenhänge leben, weil in zunehmendem
Maße gesellschaftliche Institutionen, die Inklusion und Zugehörigkeit und damit auch Wertebezug und gesellschaftliche Moral vermittelten, an Bedeutung verloren haben.
Die scheinbare Normalität dieses Zustandes liegt darin begründet, dass die Zahl der Betroffenen immer mehr zunimmt. So
kann man z.B. feststellen, dass immer mehr Kinder und Jugendliche außerhalb „funktionierender“ Familien aufwachsen. Immer
mehr Erwachsene arbeiten in unsicheren und temporären
Beschäftigungsverhältnissen, die ein hohes Maß an Flexibilität
fordern und soziale Unsicherheit beinhalten. Immer mehr Menschen können dauerhafte und stabile Partnerschaften nicht mehr
durchhalten.
Diese Umstände machen den Normalitätsbegriff so ambivalent,
denn je mehr Menschen unter diesen Unsicherheitsbedingungen
leben, in ihnen sozialisiert werden, desto eher können die Aussagen der Soziologie zu angeblich „normalen“ Identitätsentwürfen unglaubwürdig werden, denn die Identität einer Person
ist „deren Interpretation der eigenen Existenz in der Gesell2
3
Goffman 1963, S. 12f.
Goffman 1963, S. 13
10
schaft“4, und wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für die
Bildung und für das Durchhalten einer Identität nicht mehr vorliegen, kann es auch keine Identität im klassischen Sinne geben.
Vor dem Hintergrund dieser Normalitätsproblematik der soziologischen Theorie möchte ich folgende Thesen formulieren:
• Es gibt in der fortgeschrittenen Moderne keine universale
und verbindliche Wirklichkeitsdeutung, die eine objektive
Unterscheidung von normalem im Gegensatz zu abweichendem Sein oder Tun zulässt.
• Insofern ist eine Definition gesellschaftlichen Außenseitertums problematisch. Die diesbezüglichen Aussagen
der klassischen Theorien der Soziologie (z.B. der Stigmaansatz von Erving Goffman, die Etikettierungstheorie von
Howard Becker oder die Anomietheorie von Robert Merton)
erscheinen nur noch als hilfreiche Konstruktionen zur
Beschreibung idealtypischer Handlungsbedingungen im
Sinne abweichenden versus konformistischen Handelns. Sie
beschreiben indes nicht die Lebenswirklichkeit der Menschen in den Gesellschaften der fortgeschrittenen Moderne,
die durch eine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten und
gesellschaftlich lizenzierten Seinsweisen gekennzeichnet ist.
• Das Fehlen gesellschaftlicher Normalitätsdeutungen ist jedoch nicht mit einer generellen Verbesserung der Lebenssituation der Menschen verbunden. Außenseitertum und
gesellschaftliche Marginalisierung lassen sich zwar nicht
mehr, wie früher, an bestimmten und abgrenzbaren gesellschaftlichen Gruppen festmachen. Vielmehr ist es so, dass
eine Vielfalt von Lebensformen nebeneinander existieren
und sich – eine ökonomische Basis vorausgesetzt - auch verfestigen können. Bei dieser Vielfalt gibt es keine Besonderheit des Körpers, des Charakters, der Herkunft, der Einstellung usw., die, sofern sie nicht einem Legalitätsprinzip
entgegensteht, weitgehend problemlos existieren könnte.
Innerhalb einer Gruppe Gleichartiger ist das, was ihre Mitglieder im Verhältnis zur Majorität besonders sein lässt,
„normal“. Die Gruppenmitglieder laufen keine Gefahr,
gesellschaftlich sanktioniert zu werden, wenn sie ihre
4
Schimank 2002, S. 15
11
Besonderheit nach außen bekennen. Dies gilt umso weniger,
je ausgeprägter das ökonomische Potenzial der Gruppe bzw.
ihrer Mitglieder ist.
Mit diesem letzten Gedanken spreche ich ein Phänomen an, das
in den klassischen Theorien über gesellschaftliche Außenseiter
von untergeordneter Bedeutung ist.
Ich bin bei der Rezeption der Schriften Pierre Bourdieus auf die
Bedeutung jedweden Kapitals für die gesellschaftliche Positionierung von Individuen und Gruppen gestoßen. Dabei habe
ich erkannt, dass in unserer Gesellschaft eine, wie auch immer
geartete Außenseitereigenschaft, ein Stigma, an Schärfe und
Bedeutsamkeit einbüßt, wenn ihr Träger über genügend Kapital
verfügt, um möglichen gesellschaftlichen Sanktionen zu begegnen. Allerdings ist diese Sicherheit ziemlich prekär und im
Wesentlichen an den Besitz gesellschaftlicher Macht gebunden.
Sobald die Kapitalien schwinden, und das kann bereits erfolgen,
wenn nur eine ideologische Neubewertung z.B. des kulturellen
Kapitals einsetzt, wird sich die als überwunden geglaubte Stigmaeigenschaft in den Handlungsbezügen der Individuen wieder
manifestieren. Die Geschichte kann viele Bespiele liefern, bei
denen Emanzipationsprozesse wieder rückgängig gemacht wurden.
Die Bildung der Identität ist in einen gesellschaftlichen Kontext
gestellt. Dabei geht es um die Übernahme gesellschaftlicher
Handlungsmuster mit der Zielsetzung, das Individuum selbst zu
einem handlungsfähigen Gesellschaftsmitglied werden zu lassen.
Die klassischen Autoren hatten eine recht statische Vorstellung
von Gesellschaft, die auf der Grundlage scheinbar unveränderlicher Werte funktionierte, und eine „Identität im Sinne von
Einzigartigkeit, Wahrhaftigkeit und Konsequenz“5 hervorbrachte. Damit konnte das Individuum auch in krisenhaften Umbrüchen einheitlich und handlungsfähig bleiben und in
verschiedenen Situationen unverwechselbar und konsistent
handeln. Die Menschen der fortgeschrittenen Moderne sind
jedoch keine ausschließlichen Rollenträger, die ein bestimmtes,
eine gesellschaftlich geprägte Identität generierendes Verhal5
Abels 2001 (Bd. 2), S. 230
12
tensrepertoire abspulen. Ihre Lebenswelt unterliegt vielmehr
einer fortwährenden Dynamik, und das Individuum, das soziale
Anerkennung begehrt, muss auf der Hut sein, dass es die konkreten Erwartungen immer richtig deutet. Und da die
Gesellschaft nicht statisch ist, kann auch die individuelle
Antwort des Individuums nicht immer dieselbe sein.
Die Identität kann nur problemlos existieren, wenn das Individuum seine persönlichen Züge, die sich als persönliche Identität artikulieren, in ein Arrangement mit den sozialen Zumutungen bringt. Man kann das als ein dynamisches, sich immer
wieder selbst stabilisierendes Gleichgewichtssystem ansehen.
Krappmann hat dies auch als „balancierende Identität“ bezeichnet. Das Herstellen der Balance liegt in der Fähigkeit begründet,
einerseits den sozialen Anforderungen gerecht zu werden und
somit ein akzeptiertes Gesellschaftsmitglied zu sein, andererseits
seinem eigenen Bedürfnis nach Einzigartigkeit und Authentizität
Rechnung zu tragen. Dies allein ist schon eine schwierige Aufgabe, der sich das Individuum zu stellen hat. Sie wird jedoch
noch dadurch erschwert, dass dem Individuum der fortgeschrittenen Moderne keine einheitlichen Erwartungen gegenübertreten. Vielmehr ist es ein Zeichen der Zeit, dass die Gesellschaft mit ihren Anforderungen und Erwartungen uneinheitlich
erscheint. Und wenn dies noch immer nicht genug wäre, so ist
noch zusätzlich festzustellen, dass immer mehr Individuen, die
unter diesen Bedingungen sozialisiert wurden, keine Gewissheit
besitzen, welche der von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Verhaltensoptionen die Richtige wäre. Eine haltgebende
Erziehung, in der Werte vermittelt werden und die auf der Basis
sozialer und emotionaler Absicherung erfolgt, haben sie nämlich
nicht erfahren, weil sie, wie schon erwähnt, ihre Erfahrungen
außerhalb sozialer Zusammenhänge (wie z.B. Familien, Verwandtschaftsnetzwerken, kirchlichen Jugendorganisationen)
machen mussten.
13
Die Institutionen, die in der Lage sind, Stabilität zu vermitteln,
wie die Familie, haben an Bedeutung verloren, so dass die
Sozialisation vieler Menschen unter keinen günstigen Vorzeichen geschieht.
Der Verlust an Stabilität ist auch ein Kennzeichen der
Erwachsenenwelt. Viele Menschen leben zunehmend vereinzelt.
Sie erleben ihr Dasein als zum großen Teil fremdbestimmt und
sind gezwungen, ihr Leben ausschließlich nach den Dispositionen ihrer Erwerbsarbeit auszurichten.
Viele Menschen müssen noch um das geringste Maß an mitmenschlicher Zuwendung kämpfen, da prinzipiell nichts mehr
selbstverständlich, nichts mehr beständig ist.
So gesehen betrachte ich den vereinzelten Menschen als den
Außenseiter der fortgeschrittenen Moderne.
Stigmata im klassischen Sinn haben an Relevanz verloren, weil
in dieser Gesellschaft der unausgesprochene Konsens besteht,
dass jegliche Abweichung irgendwie „normal“ sei und nicht
weiter störe. Wenn Menschen ehedem, durch irgendwelche biographischen Handikaps, in Bezug auf ihre soziale Selbstverwirklichung benachteiligt waren (z.B. weil sie „nichtehelich“
geboren wurden), so sind solche Stigmata in den Zeiten der
fortgeschrittenen Moderne vergleichsweise bedeutungslos geworden. Wie ein massiver Befreiungsschlag hat die Pluralisierung und Vervielfältigung gesellschaftlicher Werteoptionen
dazu geführt, die Kontingenz moralischer Urteile hervorzuheben. Immer mehr Menschen bekennen sich zu bestimmten
Einstellungen, Haltungen, aber auch Gebrechen, die ihnen in
früheren Zeiten, noch vor zehn Jahren vielleicht, zu Ausgrenzung und Marginalisierung verholfen hätten. Dies konnte
aber nur gelingen, weil sich der Außenseiter tendenziell außerhalb der imperativen Ordnungsfunktion sozialer Institutionen bewegt. Der Preis, den er oft genug zu zahlen hat, ist neben der
allgemeinen Verunsicherung im Hinblick auf mögliche Lebensrisiken die Vereinsamung.
Nicht jeder, der von solchen Entwicklungen betroffen ist, neigt
zu solchen drastischen Reaktionen wie der Täter von Erfurt.
Gewalthandlungen sind auch eher typisch für bestimmte jugendliche Subkulturen. Aber andere Reaktionsformen sind weit verbreitet und würden für sich schon genügen, um unter eine von
14
Goffmans Stigmakategorien zu fallen, am ehesten wahrscheinlich in die Kategorie, der „individuellen Charakterfehler“.
Sie sind aber, da sie so häufig auftreten und in manchen Fällen
vielleicht sogar so erwünscht sind (nach der Maxime, dass ein
„Spleen“ nicht schaden kann, sondern dazu geeignet ist, den
Menschen erst interessant zu machen), absolut „normal“ geworden. Die Gesellschaft hat sich an solche Entwicklungen gewöhnt und duldet es, dass z.B. anlässlich von „Love-Parades“
Menschen im öffentlichen Raum ein Verhalten zeigen, das ihnen
noch in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts Verfahren
wegen Ordnungswidrigkeit bis hin zu Haftstrafen eingebracht
hätte. Von ihrer ursprünglichen Intention sollen diese Auftritte
den Nonkonformismus und die Originalität der Beteiligten in
ihrem subkulturell geprägten Lebensstil einer verblüfften Öffentlichkeit unter Beweis stellen. Aber die schiere Masse der Beteiligten macht deutlich, dass es sich um nichts weniger als um
Originalität und Einzigartigkeit handelt, die im Rahmen solcher
Veranstaltungen paradiert wird. So scheitert der Wunsch nach
Einzigartigkeit kläglich an der unausgesetzten Bereitschaft der
Gesellschaft, Einzigartiges zu kopieren und zu vermassen.
Leider ist es aber nicht so, dass die Überwindung von Stigma als
Instrument der Exklusion dazu beitragen würde, dass die Gesellschaft keine Außenseiter mehr hätte. Die Kriterien, die Menschen zu Außenseiter werden lassen, haben sich gewandelt und
orientieren sich fast ausschließlich an materiellen Gesichtspunkten. Dies ist die Folge des relativen Bedeutungsverlustes moralisch determinierter Werte und damit einhergehend der
Schwächung gesellschaftlicher Institutionen: die Schwächung
der inkludierenden Institutionen hat es mit sich gebracht, dass
immer mehr Menschen zu Außenseitern werden.
Im ersten Teil des folgenden Textes findet sich der Versuch,
anhand verschiedener theoretischer Ansätze zu erforschen, was
das Kennzeichnende von Außenseiteridentitäten ist. Dabei handelt es sich zunächst um klassische Konzepte, die in nahezu dogmatischer Weise gelingende Identitätsentwicklung in einen Zusammenhang von Konformität mit gesellschaftlichen Vorgaben
stellen. Dies gilt für die psychoanalytische Theorie Eriksons und
die identitätstheoretischen Aspekte der strukturfunktionalis15
tischen Theorie von Parsons. Dies gilt auch für die Sozialisationstheorie George Herbert Meads, jedoch mit der Einschränkung, dass Mead dem Individuum einen Rest an Individualität
zugesteht, der als Persönlichkeitsinstanz des „Ich“ die Gewähr
dafür liefert, dass gesellschaftliche Vorgaben und individuelle
Regungen nicht absolut deckungsgleich sind.
Die klassischen Identitätskonzepte sind vielfach von anderen
Autoren aufgenommen und vor dem Hintergrund verschiedener
Weiterentwicklungen in der theoretischen Diskussion reformuliert worden. Ich habe exemplarisch auf theoretische Aussagen
von Merton (hinsichtlich des Zusammenhanges von Identität und
abweichendem Verhalten), Goffman (hinsichtlich der Identitätskonzepte aus der interaktionistischen Perspektive und damit verbundene Stigmakonzepte) und Krappmann (hinsichtlich des
Konzeptes der balancierenden Identität als Identitätserfordernis
in der Moderne) Bezug genommen.
Die Habitustheorie von Bourdieu liefert einen alternativen
Erklärungsansatz für die Übernahme von Vorgaben der sozialen
Umwelt in das Selbstkonzept des Individuums. Sie widerspricht
damit interaktionistischen Postulaten, wonach das Individuum in
Reaktion und Antizipation der Folgereaktionen seine Identität
fortwährend neu entwirft und liefert damit eine Erklärung, weshalb Individuen einen Außenseiterstatus, der sich in ihrem Bewusstsein verfestigt hat, oft nicht überwinden wollen, obwohl sie
es möglicherweise könnten.
Im zweiten Teil der Arbeit wird die Perspektive der gesellschaftlichen Einflussnahme auf die Identitäten der Gesellschaftsmitglieder vertieft. Sozialisation bedeutet eine Prägung des Individuums nach gesellschaftlichen (Wert)vorgaben. Dies geschieht
in Institutionen. Und wenn diese Prägung nicht problemlos verläuft, etwa über Mechanismen der Internalisierung, wie Parsons
und Mead behaupten, erfolgt die Anwendung von Machtmitteln.
Da sich jedoch die Pluralität von Bewertungen als Perspektive in
der fortgeschrittenen Moderne durchsetzt, sind die Mechanismen
der Aufrechterhaltung einer einheitlichen gesellschaftlichen Ordnung und damit der Generierung integrierter Identitäten geschwächt.
16
1. Identitätsentwicklung in der psychoanalytischen Theorie
Eriksons
Die klassische Psychoanalyse ist nicht nur eine theoretische
Konzeption zur Erforschung des psychischen Apparates und des
Zusammenspiels seiner Instanzen sowie eine therapeutische Methode zur Behandlung von Neurosen und Psychosen.
Die psychoanalytische Theorie beinhaltet auch ein theoretisches
Sozialisationsmodell, soweit es um die phasenweise Genese des
seelischen Apparates geht. Dabei wird die Triebenergie im Laufe
der Entwicklung zunehmend moduliert, so dass am Ende, mit
der Ausbildung des „Über-Ich“, die natürliche Triebhaftigkeit
einer inneren Instanz begegnet, die die Werte und Normen der
Gesellschaft repräsentiert und dem Individuum Triebverzicht gebietet.
Das Modell einer phasenbezogenen Entwicklung des Individuums (orale, anale, genitale Phase, Latenz und Adoleszenz)
wird auch in Eriksons Sozialisationstheorie benutzt. Im Vergleich zum Sozialisationsmodell in der klassischen Psychoanalyse folgt in der psychoanalytischen Theorie Eriksons die Entstehung von Ich-Identität zwar ebenfalls einem innerpsychischen
Prozess, der jedoch nachhaltiger von kulturspezifischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Beeinflussungen geprägt ist.
Somit ist diese Theorie nicht rein psychoanalytisch, denn die
soziologische Komponente der psychischen Beeinflussung
behält ihre Bedeutung, wenn auch nur in dem Sinne, dass sie den
vorhandenen endogenen Potentialen eine bestimmte Richtung
gibt. Von dieser äußeren Beeinflussung im Sinne von Werten
und Normen hängt es auch ab, ob sich ein Individuum regelrecht
entwickelt, oder ob es zum gesellschaftlichen Außenseiter wird.
Erikson geht davon aus, dass das menschliche Leben in acht
Phasen unterteilt ist, die jeweils verschiedene Lebensabschnitte
mit den für sie spezifischen psychosozialen Merkmalen umfassen.
Die Lebensabschnitte sind durch bestimmte Aufgaben gekennzeichnet. Erikson beschreibt sie auch als Krisen, die Wandel und
Veränderung zeitigen. Diese phasenbezogene Folge des Lebens-
17
zyklus wird von Erikson in einem „epigenetischen Diagramm“
zusammengefasst.6
Die folgende tabellarische Darstellung habe ich um die von
Erikson so genannten „Tugenden“ ergänzt, das heißt um die
Qualifikationen, die das Individuum erwirbt, wenn es die
phasenspezifische Krise erfolgreich bewältigt, sowie die Handlungsorientierung, die das Individuum als phasenspezifische
Fähigkeit erlernen muss:
Phase
Krisen
Säuglingsalter, entspricht der
oralen Phase
Kleinkindalter, entspricht der
analen Phase
Spielalter, entspricht der
infantil-genitalen Phase
Schulalter, entspricht der
Latenzzeit
Urvertrauen gegen Misstrauen
Autonomie gegen Scham und
Zweifel
Initiative gegen Schuldgefühl
Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl
Adoleszenz, entspricht der
Pubertät
Frühes Erwachsenenalter,
entspricht der Genitalität
Erwachsenenalter
Identität gegen Identitätsdiffusion
Intimtität gegen Isolierung
Reifes Erwachsenenalter
Generativität gegen
Selbstabsorption
Integrität gegen Lebensekel
Tugenden/psychosoziale
Handlungsorientierungen
Hoffnung (gegeben bekommen und geben)
Wille (halten und lassen)
Zielstrebigkeit (tun und „tun
als ob“)
Tüchtigkeit (etwas
„Richtiges“ machen, etwas
mit anderen zusammen
machen)
Treue (wer bin ich, und wer
bin ich nicht)
Liebe (sich im anderen
verlieren und finden)
Fürsorge (schaffen und
versorgen)
Weisheit (sein, was man
geworden ist und wissen, dass
man einmal nicht mehr sein
wird)
Bis zur fünften Phase entsprechen die von Erikson postulierten
Lebensphasen den psychosexuellen Entwicklungsstufen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie Freuds. Als krisenhaft erweisen sich jeweils die phasenspezifisch bedeutendsten Entwicklungsprobleme, deren Lösung im günstigen Fall zu der
Überwindung der bisherigen Phasenzugehörigkeit und dem
Erreichen eines neuen Niveaus führt. Bei de Levita heißt es mit
Bezug auf diesen Entwicklungsprozess, der zum Erwerb der IchIdentität führt, dass „jede neue Fähigkeit des Kleinkindes nicht
nur eine undifferenzierte ‚Funktionslust‘ involviert, sondern dass
damit die Verbindung zwischen dem Kind und der Gesellschaft
6
vgl. Erikson 1959, S. 151 und 214f.
18
fester geknüpft wird.“7 Dies ist der sozialisationstheoretische
Gehalt der Entwicklungstheorie Eriksons.
Die Identitätsgenese des Menschen ist eine wesentliche Herausforderung der fünften Phase, der Adoleszenz. Sie baut dabei auf
davorliegende Entwicklungsphasen auf. Identitätsbildung ist ein
Ergebnis des Erreichens einer bestimmten Stufe einer ontogenetischen Entwicklungsfolge. Erikson schreibt über diesen
Zusammenhang Folgendes: „(Mit „Ich-Identität“) sollte ein
spezifischer Zuwachs an Persönlichkeitsreife angedeutet werden,
den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner
Kindheitserfahrungen entnommen haben muss, um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein.“8
Jede der zu durchlaufenden Phasen ist durch die Auseinandersetzung des Individuums mit seiner sozialen Umwelt bestimmt,
also durch die Dialektik endogener (psychosexueller) und exogener (psychosozialer) Faktoren. Somit kann sich Identität, wenn
sie am Ende der Adoleszenz geschaffen wurde, in späteren
Lebensphasen wandeln, aber immer auf der Grundlage des als
Ergebnis der Adoleszenz gebildeten Identitätsentwurfs.
Damit wird die sozialisationstheoretische Dimension der Theorie
deutlich: Identität ist unter anderem abhängig von den äußeren
sozialisatorischen Einflüssen auf das Individuum und den damit
verbundenen Konflikten, den Selbstidentifikationen mit wichtigen Bezugspersonen und der Art, wie Problemlösungsstrategien angeeignet und soziale Verhaltensmuster verinnerlicht werden, die dazu führen, dass das Individuum, dessen Identitätsgenese „erfolgreich“ im Sinne der Theorie verlaufen ist, als
Mitglied der Gesellschaft integrierbar ist.
Im Unterschied zu der klassischen psychoanalytischen Theorie
sind die exogenen Faktoren der sozialen Umwelt zumindest
gleichwertig. Ohne sie nimmt der Entwicklungsprozess nicht
den gewünschten Verlauf bzw. kommt zum Stillstand, oder es erfolgt sogar eine Regression. Während Freud die Entwicklung der
Persönlichkeit in den ersten Lebensphasen als quasi somatisch
induzierten Automatismus beschrieben hat, ist von Erikson die
Bedeutung der sozialen Umwelt in besonderer Weise hervorgehoben worden.
7
8
de Levita 1965, S. 71
Erikson 1959, S. 123
19
Ein weiterer Unterschied zur Psychoanalyse Freuds liegt darin
begründet, dass Erikson erkannt hat, dass die menschliche
Persönlichkeit im Laufe ihrer Entwicklung nicht an einem
bestimmten Punkt stehen bleibt, sondern dass es bis ins Alter
Weiterentwicklungen gibt, die stets in Auseinandersetzung und
Wechselwirkung mit der sozialen Umwelt stattfinden.
1.1. Persönliche und soziale Identität in der Psychoanalyse
Erikson unterscheidet zwischen persönlicher Identität und sozialer bzw. Gruppen-Identität.
Bei dem Konzept der persönlichen Identität handelt es sich um
die „unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und
Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.“9 An diesem Zitat wird deutlich, wie hoch Erikson den Einfluss der sozialen Umwelt auch auf den psychischen Apparat des
Individuums gewichtet. Im engeren Sinne manifestiert sich die
soziale Komponente der Identität in der Mitgliedschaft in einer
Gruppe und den damit verbundenen Identifikationen auf der
Seite des Individuums und den sozialen Erwartungen auf der des
Kollektives. Diesen Zusammenhang bezeichnet Erikson als
„soziale oder Gruppen-Identität“. Dafür steht das folgende Zitat:
„Menschen, die derselben Volksgruppe angehören, in derselben
geschichtlichen Zeit leben oder auf dieselbe Art und Weise ihr
Brot verdienen, werden auch von gemeinsamen Vorstellungen
von gut und böse geleitet. Diese Vorstellungen spiegeln in unendlicher Variation das Unbegreifbare des historischen Wandels
wider, und dennoch nehmen sie für die Ich-Entwicklung jedes
Einzelnen in Gestalt der herrschenden soziologischen Modelle
und Leitbilder von Gut und Böse sehr konkrete Formen an.“10
Erikson teilt eine soziologische Annahme, die auf Durkheim
zurückgeht, wonach die Gruppe oder das Kollektiv als gesellschaftliche Institution, in der Menschen mit einem Teil ihrer
Identität geprägt werden, von wesentlicher Bedeutung ist, kurz:
Identitätsbildung geschieht im Kollektiv.
Das Kollektiv induziert eine bestimmte Haltung, die von Durkheim als Kollektivbewusstsein bezeichnet wurde. Ohne späteren
9
Erikson 1959, S. 18
Erikson 1959, S. 11
10
20
Ausführungen dazu in dieser Arbeit vorgreifen zu wollen, sei an
dieser Stelle Folgendes angemerkt: das Kollektivbewusstsein ist
die „Summe der sozialen Vorstellungen“11, die für die Gesellschaftsmitglieder handlungsleitend sind. Sie sind die Grundlage
gesellschaftlicher Ordnung und damit auch der Sozialisationsinhalte, die im Prozess der Identitätsgenese von maßgeblicher
Bedeutung sind. Die Elemente des Kollektivbewusstseins entstehen aus der Erfahrung der Solidarität, die sich Gesellschaftsmitglieder entgegenbringen müssen, wenn sie in einer arbeitsteiligen Welt überleben wollen. So wachsen die Menschen in
gesellschaftliche Strukturen hinein, die ihnen vorgegeben sind.
Ihre Erziehung erfolgt in ausdrücklicher Beachtung und Respektierung gesellschaftlicher Vorgaben.
Erikson bezeichnet diesen Erziehungsprozess als „Erziehung zur
Gruppen-Identität“ und als „die Art und Weise, wie eine Gruppe
ihre grundlegenden Formen der Organisierung von Erfahrung“
dem Individuum vermittelt.12 Und bei de Levita liest man über
die Funktion der Gruppen-Identität: „Solange eine Gruppenidentität dazu in der Lage ist, die verschiedenen und widersprüchlichen Elemente der Kultur zu ‚decken‘, kann das Individuum
seinem Leben durch seine Teilhabe an der Gruppenidentität
einen Sinn geben, durch die es geformt wird und die es formen
hilft, die es von seinen Eltern empfangen hat und seinen Kindern
weitergeben wird. Wenn die Gegensätze und Widersprüche so
groß werden, dass die Identität, weil sie keine synthetische
Funktion mehr hat, verkümmern muss, folgt eine Existenzkrise
mit Abwendung von der Realität.“13
Die Gesellschaft prägt aufgrund spezifischer sozialer Gegebenheiten die Interaktionsformen der Gesellschaftsmitglieder und
definiert die sozialen Rollen. Die Gesamtheit dieser Strukturprinzipien umfasst die Gruppen-Identität des Kollektivs.
Die Erziehung, die dazu beiträgt, das Individuum im Sinne
dieser Gruppen-Identität zu sozialisieren, orientiert sich an den
von dem Kollektiv definierten Werten. Folglich ist die Reproduktion dieser gesellschaftlichen Definitionen im Handeln des
Individuums „eine erfolgreiche Variante einer Gruppenidentität“,
11
vgl. Abels 2001, Bd. 1, S. 130
Erikson 1959, S. 15
13
de Levita 1965, S. 70
12
21
die „im Einklang mit der Raum-Zeit und dem Lebensplan der
Gruppe steht (aus der) das heranwachsende Kind ein belebendes
Realitätsgefühl ableiten können (muss).“14
Solche Konzepte werden in anderen Theorien ähnlich beschrieben, worauf ich weiter unten noch zu sprechen komme.
1.2. Der Weg zur „gesunden“ Persönlichkeit
Nach Eriksons Theorie ist die Entwicklung zu diesem positiven
Identitätszustand (Erikson bezeichnet ihn auch als Kennzeichen
einer „gesunden Persönlichkeit“) durch ein allmähliches Reifen
und der damit verbundenen allmählichen Überwindung der
bisher maßgeblichen Identifikationen aus der Kindheit geprägt.
Der daraus resultierende Zuwachs an Kompetenzen ist von
krisenhaften Entwicklungen begleitet, die nach der psychoanalytischen Theorie mit dem Erreichen der nächsten Entwicklungsstufe vorerst enden. Dabei werden ältere Identifikationen
und Problemlösungsmuster scheinbar unbrauchbar, neue Verhaltensmodi und Strategien werden ausprobiert und handlungsleitend. Dieser Verlauf wird als „Ich-Wachstum durch Krisenbewältigung“ bezeichnet. Erikson schreibt dazu: „Das menschliche
Wachstum soll hier unter dem Gesichtspunkt der inneren und
äußeren Konflikte dargestellt werden, welche die gesunde
Persönlichkeit durchzustehen hat, und aus denen sie immer
wieder mit einem gestärkten Gefühl innerer Einheit, einem Zuwachs an Urteilskraft und der Fähigkeit hervorgeht, ihre Sache
‚gut zu machen‘, und zwar gemäß den Standards derjenigen Umwelt, die für diesen Menschen bedeutsam ist.“15
Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen, der durch das
„Niemandsland“16 der Adoleszenz führt, ist von einer physiologischen und psychologischen Metamorphose des Individuums
begleitet, aus der auch eine veränderte Positionierung in der
Gesellschaft folgt: „in der Pubertät werden alle Identifizierungen
und alle Sicherungen, auf die man sich früher verlassen konnte,
erneut in Frage gestellt, und zwar wegen des raschen Körperwachstums, das sich nur mit dem in der frühen Kindheit vergleichen lässt und dem sich jetzt die gänzlich neue Eigenschaft
14
Erikson 1959, S. 17
Erikson 1959, S. 56
16
Erikson 1959, S. 208
15
22
der physischen Geschlechtsreife zugesellt. Der wachsende und
sich entwickelnde Jugendliche ist nun, angesichts der physischen
Revolution in ihm, in erster Linie damit beschäftigt, seine soziale Rolle zu festigen.“17
Die Rollenfindung des jungen Menschen bedeutet in den hochentwickelten Gesellschaften, dass Jahre des Lernens und Geschultwerdens einsetzen, bevor eine endgültige gesellschaftliche
Rollenfestlegung erfolgt. In dieser Zeit darf der junge Mensch
mit verschiedenen Rollen experimentieren, damit seine soziale
Entwicklung möglichst optimal verläuft. Gesellschaftliche Erwartungen, die einengend wirken könnten, treten in den Hintergrund. So schreibt Erikson: „Die einzelnen Kulturen gestatten
und die einzelnen jungen Menschen brauchen eine mehr oder
weniger anerkannte Karenzzeit zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, institutionalisierte psychosoziale Moratorien,
während welcher ein nunmehr endgültiger Rahmen für die
‚innere Identität‘ vorgezeichnet wird. (...) Man kann diese
Periode als ein psychosoziales Moratorium bezeichnen, während
dessen der Mensch durch freies Rollen-Experimentieren sich in
irgendeinem der Sektoren der Gesellschaft seinen Platz sucht,
eine Nische, die fest umrissen und doch wie einzig für ihn gemacht ist. Dadurch gewinnt der junge Erwachsene das sichere
Gefühl innerer und sozialer Kontinuität, das die Brücke bildet
zwischen dem, was er als Kind war, und dem, was er nunmehr
im Begriff ist zu werden; eine Brücke, die zugleich das Bild, in
dem er sich selber wahrnimmt, mit dem Bilde verbindet, unter
dem er von seiner Gruppe (...) erkannt wird.“18 Diese Synthese
ist die Basis für die Ich-Identität. Wenn dieses Experimentieren
damit endet, dass der junge Mensch es vermag, sich in seiner
sozialen Umwelt einen zu ihm passenden Platz zu erobern, wenn
er also am Ende der Adoleszenz in einen Zustand gelangt ist, der
ihm das Gefühl von Gleichheit und Kontinuität im Umgang mit
den Anderen und in Bezug auf seine eigene Person verspüren
lässt, erfährt er ein positives „Identitäts-Gefühl“. Dazu schreibt
Erikson: „(Das Selbstgefühl) erstarkt zu der Überzeugung, dass
das Ich wesentliche Schritte in Richtung auf eine greifbare
kollektive Zukunft zu machen lernt und sich zu einem defi17
18
Erikson 1959, S. 106
Erikson 1959, S. 137f.
23
nierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt. Dieses
Gefühl möchte ich ‚Ich-Identität‘ nennen.“19
Das Erreichen dieses Zustandes gilt Erikson als Voraussetzung
dafür, dass aus dem Individuum eine „gesunde Persönlichkeit“
wird. Die Funktion der Ich-Identität für das Individuum liegt
darin, dass das mit ihr verbundene positive Identitätsgefühl als
Voraussetzung für psychisches Wohlbefinden anzusehen ist, und
diesem entspricht auch die Chance zu sozialer Eingebundenheit:
„Psychologisch gesprochen ist eine allmählich sich anreichernde
Ich-Identität das einzige Bollwerk gegen die Anarchie der Triebe
wie gegen die Autokratie des Gewissens, das heißt der grausamen Gewissensstrenge, die das innere Residuum der einstigen
Unterlegenheit des Kindes gegenüber seinen Eltern ist. Jeder
Verlust an Identitätsgefühl setzt das Individuum wieder seinen
alten Kindheitskonflikten aus.“20
In Anlehnung an die klassische Psychoanalyse könnte man „IchIdentität“ im Sinne Eriksons auch als den Besitz einer funktionierenden Ich-Instanz innerhalb des psychischen Apparates deuten. Freud hat dies als Voraussetzung für psychische Gesundheit
und Stabilität definiert, da nur damit übermäßige Impulse des Es
und des Über-Ich zurückgehalten werden können und eine problemlose Interaktion in der Gesellschaft möglich erscheint. Denn
nur wenn das Individuum dieses positive Identitätsgefühl besitzt,
kann es eine höhere Entwicklungsstufe erklimmen und zu für ein
Menschenleben so wesentlichen und wichtigen sozialen Leistungen wie psychosozialer (nicht notwendig sexueller) Intimität und
Vertrautheit mit Lebenspartnern, Familienmitgliedern und
Freunden fähig sein.
Die Identitätsbildung ist letztlich ein gesellschaftlicher Prozess,
und das Individuum, das eine Ich-Identität im Sinne Eriksons
besitzt, vereinigt seine psychischen Impulse mit gesellschaftlichen Forderungen in Abhängigkeit von den Möglichkeiten und
Impulsen, den Freiräumen aber auch den Zwängen, die die Gesellschaft ihm gibt.
19
20
Erikson 1959, S. 17
Erikson 1959, S. 112f.
24
1.3. Identitätsdiffusion und negative Identität
Im Rahmen seiner psychoanalytischen Studien beschreibt
Erikson nicht nur die positiv verlaufende Identitätsentwicklung.
Erikson hat auch als Therapeut negative Verläufe systematisch
beschrieben, um Therapieansätze entwickeln zu können.
Als negative, normabweichende Persönlichkeitsentwicklungen
werden von Erikson insbesondere zwei Zustände benannt.
Bei dem einen handelt es sich um eine komplexe Symptomatik,
die mit dem Begriff Identitätsdiffusion zusammengefasst wird.
Die andere Variante der negativen Identitätsentwicklung bildet
die Hinwendung zu einer negativen Identität.
Erikson beschreibt die Identitätsdiffusion als „vorübergehende
oder dauernde Unfähigkeit des Ichs zur Bildung einer Identität“
sowie als „Zersplitterung des Selbstbildes (...), ein Verlust der
Mitte, ein Gefühl von Verwirrung und in schweren Fällen die
Furcht vor völliger Auflösung.“21
Dieser Zustand kann durch eine Überforderung des Individuums
durch widersprüchliche und daher belastende Verhaltens- und
Rollenerwartungen seiner Umwelt bewirkt sein: „Ein Zustand
akuter Identitätsdiffusion wird gewöhnlich manifestiert, wenn
der junge Mensch sich vor eine Häufung von Erlebnissen gestellt
sieht, die gleichzeitig von ihm die Verpflichtung zur physischen
Intimität (...), zur Berufswahl, zu energischer Teilnahme am
Wettbewerb und zu einer psychosozialen Selbstdefinition
fordern.“22
Die psychosoziale Überforderung, zumal wenn gesellschaftliche
Haltungen disparat erscheinen, kann eine integrative Ich-Synthese und Identitätsbildung erschweren oder unmöglich machen.
Nach dem Kernkonflikt „Identität gegen Identitätsdiffusion“23
folgt der Konflikt „Intimität gegen Isolierung“24. Diesen Zusammenhang beschreibt Erikson folgendermaßen: „Dass viele unserer Patienten ihren Zusammenbruch in einer Lebensphase erleiden, die eigentlich mehr dem frühen Erwachsenenalter als der
späten Adoleszenz angehört, erklärt sich aus der Tatsache, dass
oft erst der Versuch, sich in eine intime Freundschaft oder Riva21
Erikson 1959, S. 154 Fußnote 6
Erikson 1959, S. 155
23
Erikson 1959, S. 150f. Feld V/5
24
ebd. Feld VI/6
22
25
lität oder auch in sexuelle Intimität und Liebesverhältnisse einzulassen, die latente Schwäche der Identität enthüllt. Ein wirkliches ‚Engagement‘ an andere ist das Ergebnis und zugleich die
Prüfung der festumrissenen Selbst-Abgrenzung. Wo sie noch
fehlt, hat der junge Mensch gelegentlich ein eigentümliches
Gefühl von Spannung, als ob ein solches Probe-Engagement zu
einer Fusion und damit zum Verlust von Identität führen könnte.
Daraus folgt eine krampfhafte innere Zurückhaltung, ein vorsichtiges Vermeiden von Verpflichtungen.“25 Erikson bezeichnet
diesen Zusammenhang auch als Identitäts-Problem und meint
damit, dass „die Entwicklung psychosozialer Intimität nicht
möglich ist ohne ein gesichertes Identitätsgefühl.“26
Neben der Unfähigkeit zur Intimität zeigt sich auf dieser
psychoanalytisch-individualistischen Ebene die Diffusion der
Zeitperspektive.27 Sie ist gekennzeichnet durch den Verlust des
Zeitgefühls und Verlangsamung aller Lebensvollzüge und der
Tendenz zur „Fristgewinnung durch Unterlassung“, die jeglicher
sozialen Rollenerwartung zuwiderläuft.28
Weiterhin zeigt sich nach Erikson eine Diffusion des Werksinnes, die sich in einer Arbeitslähmung äußert29: „Patienten mit
schwerer Identitätsdiffusion leiden regelmäßig auch an einer
akuten Störung ihrer Leistungsfähigkeit, und zwar entweder in
der Form, dass sie unfähig sind, sich auf irgendwelche Arbeit zu
konzentrieren, oder in Gestalt einer selbstzerstörerischen, ausschließlichen Beschäftigung mit irgendwelchen einseitigen
Dingen.“30 Und an anderer Stelle schreibt Erikson: „Die extreme
Arbeitslähmung ist die logische Folge eines starken Minderwertigkeitsgefühls; in Fällen der Regression bis zum Ur-Misstrauen erstreckt es sich auf alles, was man mitbekommen hat.
Dieses Minderwertigkeitsgefühl entspricht natürlich fast niemals
einem wirklichen Mangel an Begabung, sondern eher den unrealistischen Forderungen eines Ich-Ideals, das nur durch Allmacht oder Allwissen zu befriedigen wäre. Es kann aus der Tatsache entsprungen sein, dass das Individuum in seiner un25
Erikson 1959, S. 156f.
Erikson 1959, S. 186
27
Erikson 1959, S. 150f Feld V/1
28
vgl. Erkson 1959, S. 159f.
29
Erikson 1959, S. 150f. Feld V/4
30
Erikson 1959, S. 161
26
26
mittelbaren sozialen Umwelt keinen Platz für seine wahren
Gaben findet.“31
Aus diesen Beobachtungen ist der Schluss zu ziehen, dass eine
Entwicklung, die zu keiner geglückten Überwindung des
phasenspezifischen Problems der fünften Phase führt, neben den
psychischen Problemen auch einen problematischen Eingang in
ein eigenverantwortliches Leben als erwachsenes Gesellschaftsmitglied mit sich bringt. Jedenfalls können die zuletzt beschriebenen Defizite eine optimale Erfüllung der Rollenerwartungen verhindern. Eine Person, deren Identitätsentwicklung
nicht „zu sich selbst“ führt, die es nicht vermocht hat, das zu
erkennen, was sie ist und was ihr zusagt, wird es auch schwer
haben, selbst wenn ihr ein psychosoziales Moratorium gewährt
wird, einen für sie passenden Platz in der Gesellschaft zu finden.
Dies gilt vor allem bei der Suche nach der passenden Berufsrolle
und einer passenden Partnerschaftsrolle.
Eine andere Variante negativer Identitätsentwicklung bildet die
Hinwendung zu einer negativen Identität. Bei diesem Sachverhalt geht es nicht darum, dass das Individuum „nur“ Probleme
mit einer von der Gesellschaft zugedachten Identität hat, die sich
als behandlungsbedürftige Identitätsdiffusion manifestiert.
Vielmehr handelt das Individuum auf der Grundlage eines
Identitätskonzeptes, das ihm von seiner sozialen Umwelt gerade
nicht zugedacht wurde. Das Individuum erwählt sich eine Identität als gesellschaftlicher Außenseiter: „(die Patienten) wählen
eher eine negative Identität, das heißt eine Identität, die pervers
nach denjenigen Rollen und Identifikationen greift, die ihnen in
kritischen Entwicklungsstadien als höchst unerwünscht und gefährlich und doch bedrohlich naheliegend gezeigt worden
waren.“32
Erikson beschreibt Fälle aus seiner therapeutischen Praxis, bei
denen er die Hinwendung zu negativer Identität beobachtet hat
und bemerkt, dass in besonderem Maße junge Menschen von
einer solchen Entwicklung betroffen sind, die an den
übertriebenen Erwartungen ihrer Eltern gescheitert sind. Die
Wahl einer negativen Identität, etwa als Prostituierte oder als
31
32
Erikson 1959, S. 184f.
Erikson 1959, S. 165f.
27
Drogenkonsument, ist nach Eriksons Ansicht Ausdruck einer
„Rachsucht“ gegenüber den Eltern. Das Individuum rächt sich
an seinen Eltern, weil es genau zu dem wird, wovor es von
seinen Eltern stets gewarnt wurde.
Oft geht dieser Entwicklung ein jahrelanges Bemühen voraus, es
den Eltern oder der Familie irgendwie recht zu machen, bis zu
einem Punkt, an dem das Individuum merkt, dass ihm die notwendigen Eigenschaften für dieses aufgestülpte Identitätskonzept fehlen, und es im Hinblick auf die Erwartungen seiner
Familie resigniert: „Solche rachsüchtigen Entscheidungen zugunsten einer negativen Identität stellen natürlich den verzweifelten Versuch dar, mit einer Situation fertig zu werden, in welcher die vorhandenen positiven Identitätselemente einander aufheben.“ Denn unter solchen Bedingungen ist es leichter, „ein
Identitätsgefühl aus der völligen Identifikation mit dem von der
Umwelt am wenigsten Gewünschten oder Erwarteten zu gewinnen, als um ein Realitätsgefühl in jenen Rollen zu kämpfen,
die zwar von der Umwelt anerkannt, aber dem Patienten mit
seinen inneren Reserven nicht erreichbar waren.“33
Der therapeutische Ansatz wird in Eriksons Arbeit um einen
sozialpsychologischen Aspekt erweitert, da Erikson beschreibt,
wie sich die Hinwendung zu negativer Identität auch im Rahmen
von Gruppenprozessen vollziehen kann. Das Individuum kann
sich bestimmte sozial abweichende Ideen, Ideale und Ideologien
aneignen und dabei auf Menschen stoßen, die seine Haltungen
teilen. Wenn sich das Individuum mit den Zielen bestimmter abweichender Gruppierungen identifiziert und in ihnen aufgenommen wird, spricht Erikson von der Aneignung einer „negativen Gruppenidentität“, die er sogar als „bösartig“ bezeichnet.34
Gemeint ist die Mitgliedschaft in bestimmten subkulturellen
Cliquen und Banden, die Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus
und die Übernahme der dort propagierten Gesinnung. Erikson
bezeichnet diese Gruppen als „Pseudo-Gesellschaften“, die auf
ihre Art und Weise es erreichen wollen, ihren Mitgliedern so
etwas wie ein verlängertes psychosoziales Moratorium zu ermöglichen. Jedenfalls ersparen sie ihren Mitgliedern, dass sie
33
34
Erikson 1959, S. 167
Erikson 1959, S. 209
28
sich als „einsame Leidende“ in ihrer Identitätslosigkeit verlieren:
es wird eine Konstituierung einer Identität angeboten. Diese ist
jedoch abweichend von dem, was von der Gesellschaft mit ihren
vorherrschenden Wertstrukturen erwartet wird.
1.4. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft
Eriksons Theorie geht über den psychoanalytischen Ansatz
hinaus, denn er fragt nach den Strukturbedingungen der sozialen
Umwelt und deren Wirkung auf die Identitätsbildung des
Menschen. So ist bei Erikson Folgendes zu lesen: „Es könnte
sein, dass die Beziehung zwischen den Wertsetzungen und Institutionen der Kulturen einerseits und den Mechanismen der IchSynthese andererseits doch eine systematischere ist und dass,
jedenfalls vom psychosozialen Gesichtspunkt aus, die grundlegenden sozialen und kulturellen Prozesse nur als das gemeinsame Bemühen der erwachsenen ‚Iche‘ betrachtet werden kann,
durch vereinte Organisationsleistung ein Maximum konfliktfreier Energie in einem sich wechselseitig stützenden psychosozialen Gleichgewichtssystem zu schaffen und zu erhalten. Nur
eine solche Organisation ist imstande, dem jungen Ich bei jedem
Entwicklungsschritt einen festen Halt zu geben.“35
Die Entwicklung des Individuums orientiert sich an der Bewältigung der psychosozialen Krisen. Das Individuum kann die
positiven Qualitäten der Persönlichkeitsentwicklung (z.B. Intimität, Generativität und Integrität) aber nur in sozialen Zusammenhängen erwerben. Damit sind z.B. soziale Verbindungen wie
Partnerschaft, Elternschaft und Familie gemeint. In der Isolation
kann das Individuum die Tugenden der Lebensphasen jedenfalls
nicht erreichen.
In diesen sozialen Verbänden werden gesellschaftlichen Werte
vermittelt, die von Erikson als „grundlegend und universal“36
bezeichnet werden. Dazu zählt er Liebe, Glaube, Wahrheit,
Recht, Ordnung und Arbeit.
Die verschiedenen Generationen, wie sie vor allem in den Familien zusammenkommen und miteinander interagieren, können
einander im Idealfall davor bewahren, dass ihre jeweiligen
psychosozialen Krisen negative Verläufe nehmen, dass also an35
36
Erikson 1959, S. 197f.
vgl. Erikson 1959, S. 199
29
statt Identität eine Identitätsdiffusion greift, anstatt Intimität Isolierung, anstatt Generativität Selbstabsorption und anstatt Integrität der Lebensekel: „So braucht die ältere Generation die jüngere genauso, wie die jüngere von der älteren abhängig ist; und
es scheint, als sei es gerade diese Wechselseitigkeit der Entwicklung von älteren und jüngeren Generationen, in der bestimmte grundlegende und universale Werte (...) mit ihrer ganzen
Abwehr-, Kompensations- und Schöpferkraft, als wichtige gemeinsame Leistungen der individuellen Ich-Entwicklung und
des sozialen Prozesses entstehen.“37
Erikson misst der Familie bzw. familienähnlichen Strukturen, in
denen mehrere Generationen vertreten sind, eine besondere Bedeutung bei, zum einen, weil in dieser sozialen Struktur alle Beteiligten die Chance haben, ihre jeweiligen psychosozialen
Krisen zu einem positiven Abschluss zu bringen, und zum anderen, weil in dieser sozialen Struktur die Weitergabe universaler
gesellschaftlicher Werte erfolgt.
In diesem Zusammenhang kommt eine dritte Perspektive zum
Tragen, nämlich die Bedeutung der psychosozialen Entwicklung
der Individuen für die Gesellschaft: „Es müssen sinnvolle Korrespondenzen zwischen den institutionalisierten Werten und den
großen Krisen der Ichentwicklung bestehen, damit eine Gesellschaft ein Maximum konfliktfreier Energie für ihre besondere
Gruppenidentität zur Verfügung hat.“38
Die Individuen werden also in Familien oder vergleichbaren
sozialen Strukturen auf der Grundlage universaler gesellschaftlicher Werte sozialisiert. Die Gesellschaft wiederum ist darauf
angewiesen, dass in ihr Individuen leben, die die universalen
Werte der Gesellschaft verwirklichen. Nur auf dieser Basis erscheint Erikson ein weitgehend konfliktfreies Zusammenleben
der Menschen möglich.
Erikson zeigt sich in seinen Schriften von der Rechtmäßigkeit
der Wertestrukturen der Gesellschaft überzeugt. Gleichwohl ist
Erikson kritisch genug, den Zusammenhang von Wertorientierung und Identität als zumindest problematisch zu begreifen.
Dies ergibt sich aus folgendem Zitat: „Bei der Suche nach den
gesellschaftlichen Werten, die die Identität lenken, trifft man auf
37
38
Erikson 1959, S. 198f.
Erikson 1959, S. 199f.
30
das Problem der Aristokratie, in der weitesten Bedeutung des
Wortes, die die Überzeugung einschließt, dass die Besten eines
Volkes regieren und dass diese Regierung das Beste in einem
Volk entwickelt. Wenn der Jugendliche nicht zynisch oder apathisch werden soll, muss er auf seiner Suche nach einer Identität
sich irgendwo überzeugen können, dass diejenigen, die empor
gekommen sind, auch die Verpflichtung der Besten auf sich
nehmen, nämlich die Ideale der Nation zu verkörpern.“39
Dennoch geht er davon aus, dass die Erziehung in der amerikanischen Gesellschaft grundsätzlich ihr sozialisatorisches Ziel
erreicht, und zwar die wertbezogene Qualifizierung des Individuums zur Teilnahme an den gesellschaftlichen Prozessen.
1.5. Wissenschaftstheoretische Betrachtungen und kritische
Anmerkungen
Während die klassische Psychoanalyse abweichende Handlungstendenzen hauptsächlich mit aberranten Triebstrukturen oder ungelösten Konflikten der seelischen Instanzen, die zu psychotischen oder neurotischen Tendenzen führen, expliziert, bezieht
Erikson mögliche Ursachen mit ein, die außerhalb des Individuums begründet sind, also einen gesellschaftlichen Ursprung
haben.
Erikson argumentiert in diesem Zusammenhang in einer Weise,
die von soziologischen Theorien über soziale Abweichung verwendet wird, die als „interaktionistisch“ bezeichnet werden.
Kennzeichnend für diese Theorien ist deren subjektorientierter
Ansatz, das heißt, dass eine ausdrückliche Bezugnahme auf handelnde Individuen in einer sozialen Welt erfolgt.
Deren mögliche soziale Abweichung wird nicht mit triebtheoretischen Besonderheiten o.ä. begründet, sondern ausschließlich
mit bestimmten Interaktionsstrukturen. So nimmt Erikson bei
seinem Identitätskonzept ausdrücklich auf G. H. Mead, dem Begründer dieser theoretischen Tradition Bezug40.
Über jugendliche Außenseiter schreibt Erikson Folgendes:
„Viele Jugendliche kommen mit der übernommenen, ihnen
durch die unerbittliche Standardisierung der amerikanischen Jugend aufgezwungenen Rolle nicht zurecht und flüchten: lassen
39
40
Erikson 1959, S. 113f.
vgl. Erikson 1959, S. 188
31
Schule oder Arbeitsplatz im Stich, bleiben nächtelang fort oder
verkriechen sich in ausgefallene oder unzugängliche Stimmungen. (...) So mancher Jugendliche, der von seiner Umgebung zu
hören bekommt, er sei ein geborener Strolch, ein komischer
Vogel oder Außenseiter, wird erst aus Trotz dazu.“41
Der interaktionistische Aspekt der Theorie Eriksons liegt in dem
aus dem „labeling approach“ ableitbaren Konzept, wonach die
Devianz, die von einem Individuum praktiziert wird, eine
Konsequenz der Anwendung von Regeln und Sanktionen auf
den Täter ist und damit zusammenhängend der These, wonach
man zum Außenseiter durch das gesellschaftliche Umfeld gemacht wird, sobald man erkennbar gegen bestimmte Erwartungen verstößt.
Damit liegt ein Teil der theoretischen Aussagen, die Erikson im
Zusammenhang mit der Entstehung von Außenseiteridentitäten
trifft, scheinbar außerhalb psychoanalytischer Erklärungszusammenhänge, denn die ausschließlich soziale und interpretative Rekonstruktion gesellschaftlicher Zuweisungen, die eine
Zuschreibung einer Außenseiteridentität bewirkt, ist mit
endogenen Ursachen im Sinne psychischer Dysfuktionalität
nicht zu erklären. Diese gehen vielmehr davon aus, dass
Abweichung eine Folge einer Anomalie im Funktionsprozess des
seelischen Apparates darstellt. Eine normativ-psychoanalytische
Erklärung von Abweichung orientiert sich also an Kriterien, die
objektiv gegeben sind und nicht sozial konstruiert werden.
Es muss aber bewusst bleiben, dass erst eine Störung der endogenen Entwicklungsabläufe dazu führt, dass soziale Beeinflussungen dafür maßgeblich sein können, dass ein Individuum
ein abweichendes Verhalten zeigt. Ein Mensch mit einer labilen
Identitätsstruktur kann sich schwer gegen ungünstige soziale Bedingungen behaupten und ist in stärkerem Maße gefährdet, deviant zu werden, als ein Individuum mit einer stabilen Persönlichkeit.
Erikson geht in seiner weiteren Argumentation auf Konzepte der
Selbstetikettierung aufgrund der Zuschreibung bestimmter negativer Eigenschaften ein. Wenn negative äußere Zuschreibungen
auf eine labile Identität, die nicht aufgrund eines konstruktiven
41
Erikson 1959, S. 110
32
Entwicklungsprozesses in sich ruht, treffen, werden diese äußeren Konzepte in die eigene Identität aufgenommen und von
dem Individuum anerkannt, was einer Verfestigung einer Außenseiterposition gleichkommt und daher für diese Thematik von
besonderer Relevanz ist: „Sowohl in psychotherapeutischen Behandlungen als auch in sozialen Reformbestrebungen enthüllt
sich immer wieder die traurige Wahrheit, dass in jedem auf
Unterdrückung, Ausstoßung und Ausbeutung beruhenden System der Unterdrückte, Ausgestoßene und Ausgebeutete unbewusst an das negative Leitbild glaubt, das zu verkörpern er von
der herrschenden Gruppe gezwungen wird.“42 Bei diesen Gedanken hatte Erikson die Judenverfolgung in Europa in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Sinne,
die er als Zeitzeuge miterlebte und die ihm, nicht zuletzt, da er
selber der nicht-eheliche Sohn einer jüdischen Mutter war, der in
die USA emigrierte, ein massives Bewusstsein für die Nöte einer
Existenz als gesellschaftlichem Außenseiter vermittelt hat. So
spricht er von einer „jüdischen Identität“, deren „negatives Bild,
(...) so wie es ein Julius Streicher gezeichnet hatte, kaum
schlimmer sein kann (...) als das Bild, das mancher Jude von sich
selbst in sich trägt.“43.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass Ich-Identität als
Integrationsleistung der Persönlichkeit zu begreifen ist. Sie steht
am Ende der krisenhaften Entwicklung der Identitätsgenese, in
der das Individuum in der Auseinandersetzung mit seinen
organisch begründeten Entwicklungsprozessen und den damit
korrespondierenden sozialen Erwartungen steht. Letztere gerinnen im Laufe der Entwicklung des Individuums als Ergebnis
wertbezogener Erziehungserfahrungen zu sozialen Rollen und
gewinnen somit zunehmend an Bedeutung.
Umgekehrt ist zu vermuten, dass Desintegration der Identität
dazu beiträgt, dass ein Individuum zum gesellschaftlichen
Außenseiter wird. Denn aufgrund seines Versagens, die Integration gesellschaftlicher Ansprüche in der Persönlichkeit zu
erreichen, entsteht ein Zustand, in dem die persönliche und die
soziale (Gruppen-)Identität auseinanderfallen. Dann droht anstatt
42
43
Erikson 1959, S. 29
Erikson 1959, S. 30
33
einer positiven Identitätsentwicklung eine Identitätsdiffusion bis
hin zur Annahme einer negativen Identität mit all den Konsequenzen, die eine Teilhabe an den gesellschaftlichen Prozessen
erschweren. So wird nach Eriksons Theorie das Individuum zum
gesellschaftlichen Außenseiter.
Der „Automatismus“ der Identitätsentwicklung, der gewissen
Verläufen, ob konformistisch oder deviant, eine Zwangsläufigkeit unterstellt, ist in dieser Theorie unübersehbar. Eriksons
Theorie ist daher nicht ohne Kritik geblieben.
Zu den gravierendsten Kritikpunkten zählt, dass Erikson die Differentiale des sozioökonomischen Umfeldes, in denen Kinder
und Jugendliche sozialisiert werden, nicht ausreichend berücksichtigt. So wird der Eindruck erweckt, als wären die sozioökonomischen Randbedingungen in ihren je spezifischen Auswirkungen gleichsam unbeachtlich und eine Entwicklung zur Normalität oder Devianz jeweils gleichermaßen möglich. Dadurch
wird eine Gesetzmäßigkeit der Normalitätsentwicklung unterstellt, die, wenn das Individuum an derselben scheitert, dazu
führt, dass das Scheitern stets nur mit der Unzulänglichkeit
seines psychischen Apparates erklärt werden kann und niemals
mit den Widersprüchen der Gesellschaft selbst.
Auf eine andere Schwachstelle weist Krappmann hin, derzufolge
Eriksons Identitätskonzept zu einseitig auf Konformität ausgerichtet sei und nicht genug berücksichtige, dass es bisweilen für
eine gesunde Identitätsentwicklung auch erforderlich sein kann,
dass man gegen gesellschaftliche Erwartung verstößt.
So schreibt Krappmann Folgendes: „Gewiss wünscht Erik H.
Erikson nicht eine starre Identitätsstruktur, die es dem Individuum unmöglich macht, auf sich verändernde Verhältnisse einzugehen. Aber er grenzt sein Identitätskonzept programmatisch
nur gegen die Gefahr der Identitätsdiffusion ab, nicht gegen die
der Starrheit.“44
In der Tat hat Erikson die Möglichkeit einer zu konformistischen
Identitätsausprägung nicht thematisiert. Eine Person, deren Identität eine extrem konformistische Ausprägung besitzt, ist nicht in
der Lage, Ambivalenzen und Widersprüche auszuhalten und gegebenenfalls im Dienste der eigenen Identität zu nutzen: „Erik44
Krappmann 1969, S. 91
34
sons Identitätskonzept weist auf keine Kraft hin, die Verhältnisse
mitzugestalten. Es läuft letztlich auf Unterwerfung unter die
herrschenden Verhältnisse hinaus.“45
Die Erkenntnis, dass sich das Individuum im Umgang mit den
gesellschaftlichen Widersprüchen als flexibel erweisen muss,
legt ein anderes Konzept von Ich-Identität nahe, als ein solches,
das sich als distanz- und widerspruchslos im Verhältnis zur
Gruppenidentität bzw. zur Gesellschaft per se erweist. Vielmehr
kann ein Individuum gerade aus seiner Abweichung von gesellschaftlichen Erwartungen ein hohes Maß an Persönlichkeitsstärke beziehen und die psychosozialen Krisen konstruktiv
bewältigen. Auf diese Zusammenhänge werde ich weiter unten
im Rahmen der Diskussion zur Identitätsbehauptung nochmals
eingehen.
Eine andere Kritik hängt mit der theoretischen Fortentwicklung
der kognitiven Psychologie zusammen. Dabei ist besonders die
Theorie über Entwicklung moralischer Urteile von Lawrence
Kohlberg hervorzuheben, die sich mit der handlungsleitenden
Funktion der Entwicklungsstufen des moralischen Urteils befasst. Kohlberg geht davon aus, dass einhergehend mit der somatischen und der kognitiven Entwicklung des Menschen, eine
sozialisationsgebundene Moralentwicklung besteht. Kohlberg
postuliert drei Niveaus mit je zwei Stufen der Moralentwicklung:
- ein vormoralisches Niveau, mit einer hedonistischen
Orientierung;
- ein konventionell-konformistisches Niveau mit einer
Orientierung an wichtigen Partnern in Primärgruppen oder
an den moralischen Geboten der Gesellschaft;
- ein postkonventionelles Niveau mit vorherrschender
Orientierung an Prinzipien, „die zwischen den Betroffenen
entweder im Sinne eines Sozialkontraktes vereinbart oder
unter Anlegung bestimmter Gerechtigkeitsgrundsätze autonom konstruiert werden.“46
45
46
Krappmann 1969, S. 92
Montada 1982, S. 752
35
Im Falle des vormoralischen Niveaus wird eine als moralisch
unbedenkliche anzusehende Entscheidung nur durch den
Wunsch nach Vermeidung drohender Strafen, der Angst vor
mächtigen Autoritäten oder dem Zusammengehen mit eigenen
Interessen begründet. Diese Orientierung ist nach Kohlbergs
Auffassung typisch für Kinder, die noch nicht im Pubertätsalter
sind.
Die moralische Orientierung des zweiten Niveaus (konventionell-konformistisch) ist auf die Interessen wichtiger Sozialpartner und auf das übergreifende soziale System gerichtet: „Die
Erfüllung eines gegebenen Ordnungs- und Rechtssystems, das
die Rechte, Pflichten und Ansprüche aller regelt, wird zum obersten Gebot.“47.
Das postkonventionelle Niveau liefert die Orientierung, die dazu
geeignet ist, soziale Beziehungen und Systeme, deren moralische
Gebote und insbesondere deren Herrschaftsverhältnisse kritisch
zu hinterfragen.
An den Ansprüchen der kognitiven und subjekttheoretischen
Psychologie gemessen, kommt der „gesunde“ Persönlichkeitstyp
im Sinne Eriksons, also jener Mensch, der eine erfolgreiche Persönlichkeitsentwicklung genommen hat, nicht über das konventionell-konformistische Niveau hinaus, da er ja gesellschaftliche
Bewertungen unhinterfragt übernimmt und die möglicherweise
damit zusammenhängenden Konflikte in krisenhaften Phasen
immer im Interesse der Gesellschaft bewältigt.
Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass das
Individuum, das eine „gesunde“ Identitätsentwicklung im Sinne
Eriksons durchlaufen hat, als in moralischer Hinsicht nicht sehr
reflektiert und viel zu unkritisch im Umgang mit gesellschaftlichen Widersprüchen angesehen werden muss. Auf diese kann
das Individuum nur mit einer als pathologisch beschriebenen
Identitätsentwicklung reagieren. Aber sind es nicht immer genau
diejenigen gewesen, die sich um den Preis ihrer sozialen
Integrität gegen gesellschaftliche Verhältnisse aufgelehnt haben
und denen im Nachhinein ein hohes Maß an Moralität zugebilligt wurde? Andererseits kann man aus psychoanalytischer
Sicht behaupten, dass mit der Ausbildung der Über-Ich-Instanz
47
Montada 1982, S. 753
36
der gesellschaftliche Standpunkt internalisiert wird und die
gesellschaftskonforme Handlung somit zum eigenen Antrieb
wird. Damit wird die Bedeutung gesellschaftlicher Sanktionen
relativiert, weil die Sanktionsinstanz im Individuum selbst wirkt.
Vor dem Hintergrund dieser Dialektik wird jedoch erneut
deutlich, wie zweifelhaft die Theorie Eriksons gerade im
Hinblick auf gesellschaftliche Widersprüche erscheint.
37
2. Identität als Sozialisationsergebnis in der strukturfunktionalen Theorie
Die strukturfunktionale Theorie ist wesentlich von dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons entwickelt worden. Dabei
geht es um die systematische Rekonstruktion der Bedeutung und
Auswirkung sozialer Phänomene als Komponenten der Gesellschaft. Diese wird als ein sich selbst regulierendes System
beschrieben, welches von den Wechselwirkungen der jeweils
aufeinander bezogenen Strukturelemente geprägt ist.
Jede Handlung der Gesellschaftsmitglieder hat eine funktionale
Bedeutung für das System und ist in übergreifende Systemzusammenhänge eingebettet.
Es gibt verschiedene Systemebenen (personales System, soziales
System und kulturelles System), die jeweils eigene Systemprobleme besitzen, sich jedoch im Verhältnis einer Interdependenz befinden. So kann die Bildung von Identität nach der
strukturfunktionalistischen Theorie in diesen interdependenten
Systemzusammenhängen thematisiert werden:
1. als ontogenetische Entwicklungsfolge des Individuums als
personalem System,
2. unter dem sozialisatorischen Einfluss des sozialen Systemes,
in dem das Individuum lebt,
3. geprägt durch die gesellschaftlichen Werte und Normen des
jeweiligen kulturellen Systems.
Parsons stützt sich bei der Explikation des Sozialisationsprozesses auf die psychoanalytische Entwicklungstheorie von
Freud: aus den primären Bedürfnissen des Kindes im Sinne einer
motivationalen Energiequelle werden erste Objektbeziehungen,
die sich wiederum im Verlauf der Sozialisation, unter dem
Einfluss der sozialen Umwelt, zu sekundären Bedürfnisdispositionen bzw. Handlungsmotiven entwickeln.
Die Bedürfnisse, die eine Folge der organischen Triebenergie
sind, werden sozial überformt und gestaltet. In dieser Aussage
weicht Parsons von Freuds triebtheoretischer Konzeption der
„Es“-Instanz ab und macht damit das Primat des gesellschaftlichen Einflusses auf das Individuum deutlich.
Der Entwicklungsprozess der Sozialisation wird auch von
Parsons als eine Phasenfolge begriffen, wobei er das Phasen38
modell der klassischen Psychoanalyse in sein Theoriekonzept
implementiert. Dabei erfolgt während der ersten Entwicklungsphasen (orale, anale, ödipale/genitale Phase) eine zunehmende
Verinnerlichung kognitiver Elemente auf der Grundlage von
bereits jeweils vorher internalisierten motivationalen Strukturen
und emotionalen Objektbeziehungen. Im Verlaufe dieses Prozesses werden die wichtigsten Motive und Einstellungen geprägt
und dabei die Verinnerlichung sozialer Objekte und die Internalisierung sozialer Werte und Normen vorgenommen. Die
Psychoanalyse definiert diesen Prozess als die Konstitution der
Ich-Instanz des Kindes und den Aufbau des Über-Ichs. Parsons
bezeichnet diese Phase als „primäre Sozialisation“.
In dem Entwicklungsabschnitt von der Latenzphase bis zur Adoleszenz erfolgt die Internalisierung von Objekten, Motiven und
Einstellungen. Dabei entwickeln sich kognitive Kategorien und
Begriffe. Parsons bezeichnet die Phase als „sekundäre Sozialisation“.
Die Dynamik der ontogenetischen Entwicklung ergibt sich aus
dem Zuwachs von Kompetenzen, wobei dieser Zuwachs jeweils
phasengebunden in krisenhaften Entwicklungen kulminiert und
eine Reorganisation auf höherer Ebene mit sich bringt. Parsons
beschreibt diese Entwicklungfolge als: „first, that of disturbance
of a previous stable state; second, that of integration into a new
‘plateau‘ state.“48
Die Stabilität der oralen Phase wird erschüttert durch den Zuwachs autonomer Selbstkontrolle des Kindes über seinen Körper: „This phase of the process, we presume, leads up to a new
relatively stable plateau in which the child comes to play a more
autonomous role in interaction with the mother.”49 Diese
Autonomie führt zu einer besonderen Zuneigung zur Mutter, die
sich von der der frühen Mutter-Kind-Symbiose der oralen Phase
dadurch unterscheidet, dass das Kind die Mutter aktiv liebt.
Dieser Stabilität der Beziehung folgt die ödipale Phase, als
Reaktion auf die erlebte Gefährdung der Liebe zur Mutter durch
die Rivalität mit dem Vater. Ihre Lösung erfolgt vorerst in der
Latenz „as the assumption of a new level of integration in the
family of orientation as a system in which an independent and
48
49
Parsons und Bales 1955, S. 42
Parsons und Bales 1955, S. 43
39
autonomous role is played not only toward mother, but toward
father and siblings.”50
Schließlich endet auch die Latenzphase mit einer Krise, wonach
das Kind im Rahmen der Entwicklung auch Bezüge außerhalb
des partikularen familiären Systems finden muss. Dies ist
gleichzusetzen mit dem Fortgang der sekundären Sozialisation:
neue Erwartungen werden an das Individuum herangetragen,
neue Rollen und damit neue Komponenten der Identität des
Individuums.
2.1. Die Bedeutung der Familie als gesellschaftliche Instanz
der Wertevermittlung
Die sozialen Kontakte mit Eltern und Geschwistern, die das
Interaktions- und Rollensystem der Gesellschaft repräsentieren,
sind grundlegend für die beginnende Entwicklung eigener
Handlungsstrukturen im psychischen System des Kindes.
Parsons hebt die zentrale Bedeutung der Familie als
Sozialisationsinstanz hervor: „the human personality is not
‘born’ but must be ‘made’ through the socialization process that
in the first instance families are necessary. They are ‘factories’
which produce human personalities.”51
Das Kind verinnerlicht die sich komplementär ergänzenden
Interaktionssysteme; die eigenen Handlungen und die seiner
sozialen Umwelt werden zu wechselseitigen Interaktionszusammenhängen, aus denen sich gegenseitige Verhaltenserwartungen ergeben. Dies ist die Grundlage sich stabilisierender
reziproker Verhaltenserwartungen im Sinne fester Rollenbezüge:
„there are the expectations which concern and in part set
standards for the behavior of the actor, who is taken as the point
of reference; these are the ‘role-expectations‘. (...) A role then is
a sector of the total orientation system of an individual actor
which is organized about expectations in relation to a particular
interaction context, that is integrated with a particular set of
value-standards which govern interaction with one or more alters
in the appropriate complementary roles.”52
50
Parsons und Bales 1955, S. 44
Parsons und Bales 1955, S. 16
52
Parsons 1951, S. 38f.
51
40
In den Rollen, die von Kiss als „Interaktionsverdichtung“ im
Sinne von „Schaltstellen zwischen Individuum und Gesellschaft“53 bezeichnet werden, manifestieren sich gesellschaftliche
Erwartungen, wie z.B. Wertorientierungen des kulturellen
Systems. Für Parsons sind Werte „an element of a shared
symbolic system which serves as a criterion or standard for
selection among the alternatives of orientation which are
intrinsically open in a situation.”54
Eine Rolle erfolgreich auszufüllen bedeutet, sowohl äußerlich
als auch innerlich den Erwartungen und damit Werten der
Gesellschaft entsprechend zu handeln: „A role is only possible as
a unit of an integrated system of social interaction in so far as,
the incumbent internalizes the value system which is constitutive
of the relevant collectivity or other subsystem and held in
common by its members.”55
Die Familie ist ein solches soziales Subsystem der Gesellschaft.
Sie bringt dem Individuum gesellschaftliche Werte nahe: „The
family then has a value-system which is a differentiated derivate
of the common value system of the society as a whole, but which
defines its system-goals and norms in a relatively specialized
way relative, for instance, to a business firm, a political
organization or a church.”56
So sind verbindliche Erwartungen und damit auch, in ihrer
handlungsbezogenen Verdichtung, entsprechende Rollenstrukturen bereits in der Kernfamilie ausgeprägt.
Parsons beschreibt vier idealtypische Status-Rollen in der
Familie: Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Es erfolgt dabei eine
funktionale Differenzierung, die von Parsons folgendermaßen
beschrieben wird: „the structure of the nuclear family can be
treated as a consequence of differentiation on two axes, that of
hierarchy or power and that of instrumental vs. expressive
function.”57
Parsons ordnet die familialen Rollen in einer Vier-Felder-Matrix
an und sieht in Bezug auf die Familie, wie bei allen anderen
53
vgl. Kiss 1973, S. 176
Parsons 1951, S. 12
55
Parsons und Bales 1955, S. 167f.
56
Parsons und Bales 1955, S. 163
57
Parsons und Bales 1955, S. 45
54
41
sozialen Systemen, die Notwendigkeit, in Abgrenzung von der
jeweiligen Systemumwelt, sich bestimmten systemimmanenten
Problemen zu stellen, um das System am Leben zu erhalten.
Diese Systemprobleme sind:
- Adaption, das heißt Anpassung an die Systemumwelt,
Bereitstellung von Ressourcen
- Goal-Attainment, das heißt Anstreben, Verwirklichen der
Ziele des Systems
- Integration, das heißt Verknüpfung der Systemkomponenten
und Kontrolle des Zusammenhalts
- Latent pattern maintenance, das heißt Aufrechterhaltung und
Bewahrung der Grundstruktur.
Aus den Anfangsbuchstaben der einzelnen Aufgaben bildet sich
die Kurzbezeichnung dieses Konzeptes, das von Parsons
entwickelte „AGIL-Schema“, das Geltung im Hinblick auf die
Funktionsfähigkeit aller sozialen Systeme besitzen soll.
Die Vier-Felder-Matrix, die die Funktionen der Familienmitglieder und deren Handlungsorientierungen wiedergibt, sieht
folgendermaßen aus:
Superior +
(Power)
Inferior –
(Power)
Instrumental
Priority
Expressive
Priority
Instrumental
Superior
Expressive
Superior
Father
(husband)
Instrumental
Inferior
Mother
(wife)
Expressive
Inferior
Son
(brother)
Daughter
(sister)
(Quelle: Parsons, Family..., S.46)
„Instrumentalität“ im Sinne der o.a. Matrix beinhaltet eine
Leistungs- und Problemlösungsorientierung, die mit der Rolle
des Mannes einhergeht. Auf dieser Seite der Matrix sind der
idealtypische Vater und der idealtypische Sohn angesiedelt: sie
arbeiten Hand-in-Hand (unter der Präpotenz des Vaters) an der
Lösung der materiellen und sozialen Zielsetzungen der Familie
als sozialem System. Bezogen auf ihre Funktionen im „AGIL“Schema repräsentieren die männlichen Familienmitglieder
42
sowohl die A-(Problemlösungs-)Funktion: Anpassung an die
Systemumwelt, Bereitstellung von Ressourcen, als auch die G(Problemlösungs-) Funktion: Zielerreichung.
„Expressivität“ obliegt den weiblichen Mitgliedern der Familie.
Nach Parsons’ Deutung besteht ihre Funktion darin, die von den
Männern sekurierten materiellen und sozialen Mittel so einzusetzen, dass das soziale System der Familie Bestand hat und sich
zu reproduzieren vermag.
Die Rolle der Mutter ist von Dominanz geprägt. Parsons
bezeichnet sie als „expressive virtuoso“ und „cultural expert.“
Die Tochter hat ihr und all den anderen in der Familie zu
gehorchen. Ihre Rolle ist „willing and accomodating person“ und
„loyal member.”
Aus der Problemlösungsperspektive fällt den weiblichen
Familienmitgliedern die I- und L-(Problemlösungs-)Funktion zu,
das heißt Integration im Sinne von Zusammenfügen und
Zusammenhalten der Systemkomponenten und Aufrechterhaltung und Bewahrung der Organisationsstrukturen des Systems.
Die strukturfunktionalistische Theorie betont, innerhalb der
Logik des normativen Paradigmas, die Beeinflussung des
Entwicklungsprozesses „von Außen“. Es sind gesellschaftliche
Werte und Normen und die hinter ihnen stehenden Sanktionsmechanismen, die sich zu gesellschaftlichen Normalitätserwartungen verdichten und unter Bezugnahme auf ein gesellschaftliches Rollensystem über Rollendefinitionen den Sozialisationsprozess maßgeblich beeinflussen.
Parsons versteht Gesellschaft als ein vielfältiges System, dessen
Mitglieder mehrere Rollen besitzen: „With increasing emphasis
recent analytical work has borne in upon us the extreme
importance of the fact that any large-scale social system (a
society) should be considered not in a ‘monolithic‘ way, but as
an intricate network of interdependent and interpenetrating
subsystems. This has been one of the most important
contributions of the concept of the role, to throw into relief the
fact that the same individual participates in many social systems,
not merely one; he has multiple roles.”58
58
Parsons und Bales 1955, S. 36
43
Aus der Perspektive des gesellschaftlichen Systems vollzieht
sich der Rollenerwerb auf der Grundlage einer Allokation gesellschaftlicher Aufgaben in Form von Rollen. Das bedeutet
zunächst, dass die Gesellschaftsmitglieder an die gesellschaftlichen Rollen herangeführt werden, soweit sie ihnen nicht
„automatisch“ zufallen, wie z.B. die Geschlechtsrollen. Der
Zuteilungsprozess erfolgt im Rahmen der Sozialisation und ist
darauf gerichtet, dass die nachwachsenden Gesellschaftsmitglieder derart sozialisiert werden, dass sie sukzessive frei
werdende soziale Rollen und gesellschaftliche Positionen von
der älteren Generation übernehmen und positiv ausfüllen
können.
Als Aufgabe von Erziehung und Sozialisation betrachtet Parsons
die Übernahme des Standpunktes des kulturellen Systems (das
heißt die Werte und aus diesen abgeleitet die Normen der
Gesellschaft) über das soziale System der Familie in das
personale System des zu sozialisierenden Individuums. Man
kann es auch so formulieren: Die Bildung der Persönlichkeit
vollzieht sich, indem das Individuum immer mehr in das
gesellschaftliche System integriert wird, indem es zunehmend
mehr Rollen übernimmt.
Parallel zu seinem physiologischen und kognitiven Entwicklungsprozess stehen immer mehr gesellschaftliche Erwartungen
dem Individuum gegenüber und wandeln sich entsprechend
seiner ontogenetischen Entwicklung. Da dies jedoch ein zweiseitiger Prozess ist, ist darauf hinzuweisen, dass sich umgekehrt
auch dem Individuum immer mehr Möglichkeiten bieten, die
seine Lebenswelt zunehmend ausweiten und die Enge und
partikulare Strukturierung des Lebens in der Familie mit einer
universaleren Orientierung ersetzen: „as he grows up, his
changing place in the society resembles the successively
widening waves which radiate from his initial position in his
family of orientation. The process is inherently time-bound (...)
He cannot participate in wider circles until he has fullfilled
certain of the conditions official participation in the narrower
ones.”59
59
Parsons und Bales 1955, S. 37
44
2.2. Handlungsalternativen und Motivation zu angepasstem
Verhalten
Parsons hat die Handlungsorientierungen, die Menschen besitzen
können, in ein System gebracht. Er geht davon aus, dass kulturelle Wertorientierungen sich in den alternativen Handlungsmustern (pattern variables) niederschlagen. Diese werden
allmählich im Verlauf der Sozialisation zu den für die Individuen
maßgeblichen, von gesellschaftlichen Werten determinierten
Orientierungsalternativen des Handelns, die sich aus den
sozialen Rollen und deren Kontexten ergeben. In der Theorie
handelt es sich um Alternativen, die sich auf der Handlungsebene auf einem Kontinuum wiederfinden. Parsons benennt
fünf zueinander gehörende Variabeln, die jeweils alternative
Endpunkte des Kontinuums darstellen.
1. Affektivität oder affektive Neutralität (handelt das Individuum in einer persönlichen Rolle, z.B. als Vater/Mutter
oder Freund/Freundin, oder handelt es als Träger einer Berufsrolle, z.B. als Polizist)
2. Kollektivorientierung oder Selbstorientierung (handelt das
Individuum im Interesse einer Gruppe, z.B. als Mitglied
eines religiösen Ordens, oder nur in eigenem Interesse,
z.B. als Kaufmann mit Gewinninteresse).
3. Partikularismus oder Universalismus (handelt das Individuum in einer Rolle, die seine Persönlichkeit nur teilweise umfasst, oder die umfassend ist, wie z.B. eine Berufsrolle im Gegensatz zu einer Mutterrolle)
4. Diffusität oder Spezifität (handelt das Individuum in undefinierten Interaktionszusammenhängen oder innerhalb
fester Interaktionsstrukturen, wie z.B. geselliges Beisammensein im Gegensatz zu einer Arbeitssitzung)
5. Traditionelle Zuschreibung oder tatsächliches Leistungsverhalten (handelt das Individuum z.B. in seiner Berufsrolle als Priester oder als Akkordarbeiter).
Die unterschiedlichen Handlungsorientierungen ergeben sich aus
den sozialen Zusammenhängen, in denen das Individuum sozialisiert wurde, und dem aktuellen sozialen Zusammenhang, in
dem sich das Ergebnis dieser Sozialisation zu bewähren hat.
Man kann das mit Kiss als „funktional erforderliche
Rollenerfüllung“ bezeichnen, deren Qualität von dem Ergebnis
45
der Wahl einer passenden Alternativlösung abhängt. Diese Wahl
wird von den verinnerlichten Wertmustern beeinflusst, die sich
im Persönlichkeitssystem nicht nur im Sinne einer Adaption an
vorwaltende gesellschaftliche Handlungsorientierungen niederschlagen. Sie wirken auch auf die Emotionen des Individuums.
Hinsichtlich der Bedeutungsfolge der pattern variables gibt es
eine aufsteigende Rangfolge, die mit der sozialisatorischen Entwicklung des Individuums konvergiert und der Funktionalität
des sozialen Systems dient. So kann man eine „Tendenz ausmachen, nach der Orientierungsalternativen letztlich entschieden
werden sollen: damit das soziale System funktioniert, müssen
partikulare in universelle, zuschreibende in leistungsbezogene,
spezifische in diffus-allgemeine, affektive in neutrale und
selbstbezogene in kollektive Orientierungen umgewandelt werden!“ 60 Man kann also feststellen, dass es der Gesellschaft dient,
wenn die in ihr lebenden Individuen im Verlauf ihres Sozialisationsprozesses z.B. eine partikularistische Orientierung hinter
sich lassen können und einen weiteren Horizont bei ihrem Handeln einbeziehen. Auf diese Weise handeln Gesellschaftsmitglieder auf der Grundlage gemeinsamer Werte und kommen in
umfassender Weise den Erwartungen nach, die die Gesellschaft
an sie richtet.
In Ergänzung dazu erfolgt die Eingliederung des Individuums in
die Gesellschaft nach Parsons’ Ansicht in der Art, dass der
Sozialisationsprozess eine Motivation zur Integration erzeugt.
Dies erfolgt, indem auf den Sozialisationprozess gerichtete
Mechanismen sich ergänzen. So schreibt Parsons: „The first task
is to set up a classification of the motivational mechanisms of
the social system and to relate this systematically to the
mechanisms of personality.“61
Als Mechanismen des personalen Systems, die die Sozialisation
des Individuums gewährleisten, benennt Parsons Lernen, Verteidigung und Anpassung. Dazu schreibt er: „Learning is defined
broadly as that set of processes by which new elements of
action-orientation are acquired by the actor, new cognitive
orientations, new values, new objects, new expressive
60
61
Abels 2001 Band 2, S. 142
Parsons 1951, S. 203
46
interests.”62 Parsons formuliert an dieser Stelle den Gedanken,
dass das Lernen ein lebenslanger Prozess ist. Der Sozialisationsprozess ist also nicht nur auf die frühen Phasen des Lebens beschränkt: „Learning is not confined to the early stages of
the life cycle, but continues throughout life.“63
Zum Verteidigungs-Mechanismus schreibt Parsons: „The
mechanisms of defense are the processes through which
conflicts internal to the personality, that is between different
need-dispositions and sub-systems of them, are dealt with.”
Damit verweist Parsons auf die Konflikte zwischen den seelischen Instanzen, die in der klassischen Psychoanalyse in sozialisationstheoretischer Hinsicht überwunden werden, wenn es der
“Ich”- Instanz gelingt, Impulse des “Es” und des „Über-Ich“ solange zurück zu drängen oder zu modifizieren, bis eine gesellschaftlich erlaubte Form der Triebabfuhr möglich ist. Parsons
zielt in seiner Argumentation auch auf einen sozial erlernbaren
Umgang mit den „need-dispositions“, denn: „In the cases of
complete resolution of such conflicts the mechanisms of defense
merge into those of learning.“64
Der Anpassungsmechanismus umfasst die Prozesse, „by which
the individual actor deals with elements of strain and conflict in
his relation to objects, that is to the situation of action.”65
Wenn ein Individuum negative Erfahrungen macht - Parsons
spricht von Spannungen und Konflikten - dient es der sozialen
Integration, wenn das personale System diesen Mechanismus der
Anpassung beherrscht, der darin zum Tragen kommt, dass die
negativen Affektionen, die mit der Frustrationssituation einher
gehen, irgendwann überwunden sein werden und das Individuum
auch eine affektive Anpassung an seine Situation erreicht.
Die Beherrschung der von Parsons benannten Mechanismen ist
eine grundsätzliche Voraussetzungen für die soziale Integration
des Individuums. Wenn sie nicht beherrscht werden, kann dies
nur zur Folge haben, dass sich das Individuum außerhalb des
sozialen Systems stellt, das heißt wiederum diejenigen Mecha-
62
Parsons 1951, a.a.O
Parsons 1951, a.a.O.
64
Parsons 1951, a.a.O.
65
Parsons 1951, a.a.O.
63
47
nismen des sozialen Systems, die seine gesellschaftliche Integration verheißen, für sich nicht nutzbar machen kann.
Die „need-dispositions“ sind eine bestimmte Motivation zu
einem bestimmten Handeln im Interesse von letzlich körperlich
definierten Bedürfnissen. Deren soziale Modifikation beinhaltet
unter Verwendung der o.a. Mechanismen ein Überführen der ursprünglichen und ungeformten Impulse in sozial akzeptable
Regungen, so dass das Individuum bei der Übernahme gesellschaftlicher Rollen nicht scheitern kann, weil abweichende
Motivationen „verlernt“, abgewehrt und angepasst werden.
Somit ist der Sozialisationsprozess mit der allmählichen Übernahme gesellschaftlicher Wertsysteme in die individuelle
Bedürfnisstruktur zu erklären: „The central focus of the process
of socialization lies in the internalization of die culture of the
society into which die child is born. The most important part of
this culture from this focal point consists in die patterns of value
which in another aspect constitute die institutionalized patterns
of the society.”66
Die Sozialisation des Individuums, die die gesellschaftskonforme Modifikation seines personalen Systems umfasst, befähigt
und motiviert dieses zur Integration in das soziale System und
seine Einbindung in die sozialen Mechanismen, die für die
Zuteilung sozialer Rollen verantwortlich sind. Das gelingt aber
nur, wenn das Individuum die Spielregeln der Gesellschaft
verinnerlicht hat und sie insoweit auch akzeptiert und in seinem
Handeln reproduziert. Diese Spielregeln sind wiederum im
Rahmen der Erziehung und Ausbildung als gesellschaftliche
Werte und Normen vermittelt worden und finden ihren Niederschlag in der Definition der sozialen Rollen.
Kiss schreibt über den Zusammenhang von Sozialisation und
Wertebezug: „Die Grundannahme des strukturfunktionalistischen Ansatzes basiert also auf dem ‚Willen zur Ordnung‘: So
wie das Individuum ein originäres Interesse an der Stabilisierung
seiner Beziehung zur Umwelt hat, hat auch ‚das System‘ ein
originäres Interesse daran, sich funktionsfähig gestalten zu
können. Das System setzt ‚standards‘ als Wegweiser für den
geordneten Verlauf zwischenmenschlicher Beziehungen und
66
Parsons und Bales 1955, S. 17
48
Wertmuster als ‚Leitbilder‘ für die Chance der Internalisierbarkeit gewünschter Zielorientierungen. Angesichts der Grundannahme eines anthropologisch verstandenen und universal gültigen Strebens aller Menschen nach einem biologischen und normativen Gleichgewichtszustand müsste individueller ‚Wille‘ zu
einer zieltendierten Handlung führen, die ‚normalerweise‘ die
Übereinstimmung mit den kollektiv gesetzten Wertmaßstäben
sucht.“67
Die Wertmuster des kulturellen Systems werden mit Hilfe des
Sozialisationsprozesses, der zu ihrer Internalisierung führt, für
das Individuum akzeptierbar und damit problemlos handlungsleitend, selbst wenn sie Handlungsfolgen erzwingen, die zunächst den Interessen des Individuums entgegenstehen.
In die Bedürfnis- und Motivationsstruktur des Individuums werden im Verlauf des Sozialisationsprozesses alle primären organischen Bedürfnisse und Antriebe des Individuums vollständig
integriert und damit auch die vollständige Integration des
Persönlichkeitssystemes in das Sozialsystem erreicht. Hier überlagern sich mithin die Systemebenen des personalen und des sozialen Systemes. Und aufgrund des Gratifikationsinteresses des
Kindes wird es zunehmend wahrscheinlich, dass gesellschaftlich
erwünschtes Verhalten auftritt, so dass schließlich mit fortschreitender Sozialisation des Individuums dieser funktionale
Verhaltensmodus zur ausschließlichen Verhaltensdisposition
wird.
Nach der Theorie verbleibt also kein Rest: Bedürfnisdispositionen werden mit Hilfe der sozialen Objektsysteme kanalisiert. In ihnen gehen die Wertorientierungen und auch die internalisierten Rollenmuster auf. Somit sind auch die normativen
Verhaltenserwartungen der Rollenstruktur des sozialen Systems
eingebunden und integriert, und der Vergesellschaftungsprozess
erfolgt letztlich umfassend; sein Ergebnis wird von Parsons als
„modaler Persönlichkeitstyp“ bezeichnet. Der modale Persönlichkeitstyp ist jener, der den Rollenerwartungen optimal nachzukommen vermag und die gesellschaftlichen Werte am besten
verinnerlicht hat. Aus dieser Perspektive beziehen gesellschaftliche Institutionen ihre Stabilität, wenn sie darauf ver67
Kiss 1973, S. 165f.
49
trauen können, dass die kollektive Akzeptanz der gesellschaftlichen Werte, die sich auf der Handlungsebene in Verhaltenserwartungen übersetzen, gleichsam automatisch zu einer
Befolgung der Werte und Normen führt, ohne dass es besonderer
Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen bedarf.
Stabilität im Sinne von Identität bezieht aus diesem Prozess jedoch auch das Individuum selbst: Internalisierte Werte leiten das
Individuum relativ stabil durch sein Leben. Sie gewährleisten
selbst unter wechselnden und inkonsistenten Handlungsbedingungen eine Kontinuität des Selbst, ein inneres Richtmaß, an
dem es sein Handeln orientieren kann. Somit werden Werte und
Normen und die damit zusammenhängenden Rollenerwartungen
zur Grundlage des Handelns. Wenn diese internalisiert sind, sind
sie auch die verinnerlichten Kontrollmechanismen, die dem
Individuum Konformität gebieten und Devianz verbieten, und
zwar unabhängig von der konkreten Handlungssituation.
Eine „soziokulturelle Persönlichkeit“ ist dann entstanden, wenn
das Individuum gesellschaftlich integriert ist und in Konformität
mit gesellschaftlichen Werten im gesellschaftlichen Arbeitsprozess involviert ist und diesen z.B. in einem neuen familiären
Rahmen reproduziert. Dies gelingt nur, wenn die interagierenden
Individuen die kulturell vorgegebenen Werte in ihren sozialen
Zusammenhängen verwirklichen und dabei selbst eine individuelle Kontinuität in der Befolgung und Einhaltung der Werte
aufrechterhalten, wenn sie also eine Identität gewonnen haben.
Im Folgenden wird ein theoretisches Modell eines Individuums
vorgestellt, das in umfassender Weise gesellschaftlichen Erwartungen nachkommt, indem es seine verschiedenen Rollen in
adäquater Weise spielt. Das Konzept des Homo sociologicus ist
somit ein theoretisches Modell des Rollenträgers, das wesentliche Aussagen der strukturfunktionalistischen Rollentheorie
beinhaltet.
50
2.3. Der normativ orientierte Akteur – Homo sociologicus
Das normative Paradigma behauptet, dass Menschen auf der
Grundlage Ihrer Rollen handeln und sich in gesellschaftlichem
Sinne bewähren, wenn sie dies möglichst konform tun. Die
strukturfunktionalistische Theorie hat die Integration der
Motivationsstrukturen personaler Systeme in die Strukturen aus
Werten, Normen und Rollen der sozialen Systeme behauptet.
Dahrendorf hat eine idealtypische Konzeption eines Akteurs entworfen, der sich ausschließlich als Träger von Rollen definiert.
Allerdings ist der Homo sociologicus nicht in dem Maße mit
dem System seiner Rollen konform, wie dies von Parsons
behauptet wird. Vielmehr erlebt er die gesellschaftliche Wirklichkeit als eine „ärgerliche Tatsache“68, denn „Ethik, Moral,
Recht, Wahrheit einerseits, personale Motivstrukturen andererseits kongruieren keineswegs selbstverständlich in einer Art
prästabilisierter Harmonie.“69
Dahrendorf nimmt ausdrücklich darauf Bezug, dass Zugehörigkeiten zu bestimmten sozialen Kategorien nicht nur Halt und
Orientierung vermitteln, sondern auch als Zwänge erlebt werden
können: „Soziale Rollen sind ein Zwang, der auf den einzelnen
ausgeübt wird – mag dieser als eine Fessel seiner privaten
Wünsche oder als ein Halt, der ihm Sicherheit gibt, erlebt werden. Dieser Charakter von Rollenerwartungen beruht darauf,
dass die Gesellschaft Sanktionen zur Verfügung hat, mit deren
Hilfe sie die Vorschriften zu erzwingen vermag. Wer seine Rolle
nicht spielt wird bestraft, wer sie spielt, wird belohnt, zumindest
nicht bestraft.“70
Dem Homo sociologicus begegnet die Gesellschaft mit einer
Fülle von Erwartungen. Wenn er diesen Erwartungen nicht gerecht wird, reagiert die Gesellschaft mit Sanktionen. Je nachdem,
wie erheblich Konformität gewichtet wird, bemisst sich auch das
Maß an Verbindlichkeit. Und damit korreliert auch die Härte der
Sanktion.
- Muss-Erwartungen besitzen das höchste Maß an Verbindlichkeit. Ihnen nachzukommen ist zumeist gesetzlich kodifiziert. Ihnen nicht nachzukommen, löst Sanktionsmechanis68
Dahrendorf 1958, S. 17
Schimank 2002, S. 16
70
Dahrendorf 1958, S. 36
69
51
men des Gesetzes und der Rechtsinstitutionen aus. Diese
Erwartungen werden von Muss-Vorschriften getragen. Diese
sind „der harte Kern jeder sozialen Rolle; sie sind nicht nur
formulierbar, sondern ausdrücklich formuliert; ihre Verbindlichkeit ist nahezu absolut; die ihnen zugeordneten Sanktionen sind ausschließlich negativer Natur.“71
- Soll-Erwartungen besitzen ein geringeres Maß an Verbindlichkeit. Ihnen nachzukommen bildet jedoch die Basis für
eine gesellschaftliche Akzeptanz, als Voraussetzung dafür, um
überhaupt im sozialen Leben, wie z.B. in der Berufswelt bestehen zu können. Das Individuum, das den Soll-Erwartungen
seines Rollensystems nicht nachkommt, wird mit sozialem
Ausschluss sanktioniert. Umgekehrt hat das Individuum die
Chance, nicht nur sozial integriert zu sein, wenn es den
Erwartungen gerecht werden kann. Es kann auch noch die
Sympathie seiner sozialen Umwelt erlangen, z.B. als eine
Person, die sich „anständig zu benehmen weiß“.
- Kann-Erwartungen besitzen keine Verbindlichkeit. Wer ihnen
entspricht, spielt die „Kür“ des sozialen Handelns aus und
erntet dafür Anerkennung seiner sozialen Umwelt. Wer den
Kann-Erwartungen nicht entspricht, muss mit keinen manifesten negativen Sanktionen rechnen. Umgekehrt ist es so,
dass ein Mensch, der in seinen verschiedenen Rollen immer
nur das Allernötigste tut, kein soziales Fortkommen erwarten
kann.
Der Homo sociologicus handelt rollenkonform, um nicht negativ
sanktioniert zu werden. Er hat über den Erziehungsprozess die
Werte der Gesellschaft internalisiert, so dass es ihm grundsätzlich möglich ist, rollenkonform zu handeln. Das geht sogar
soweit, dass es in der Regel keiner besonderen Sanktionen bedarf, um rollenkonform zu handeln. Den Muss-Erwartungen entspricht das Individuum in der Regel quasi automatisch. Und da,
wo es dies nicht tut, folgt die Sanktion zumeist aufgrund einer
verinnerlichten Bestrafungsinstanz. Der personifizierte Homo
sociologicus, er soll hier als „Studienrat Schmidt“ benannt sein,
würde es sich nie erlauben, betrunken im Unterricht zu erscheinen. Und sollte dies aus Indolenz doch mal geschehen, so wäre
71
Dahrendorf 1958, S. 37
52
er, wenn die Sanktion nicht von außen käme, von gewaltigen
Gewissensbissen geplagt und gepeinigt.
Diese verinnerlichte gesellschaftliche Instanz wirkt höchst funktional und ist insofern völlig in Übereinstimmung mit strukturfunktionalen Aussagen. Und dennoch ist auf einen Unterscheid
hinzuweisen. Der Homo sociologicus internalisiert den Standpunkt der Gesellschaft nicht in dem Maße, dass es zu einer gänzlich bruchlosen Assimilation der Persönlichkeit mit der Gesellschaft käme. Wenn dies so wäre, hätte sich Studienrat Schmidt
mit großer Wahrscheinlichkeit selbst beim zuständigen Oberschulamt ob seines Vergehens angezeigt, um dem Standpunkt der
Gesellschaft Genüge zu tun.
Vielmehr zeichnet sich Homo sociologicus dadurch aus, dass er
fortwährend in der Gefahr ist, mit Rollenkonflikten kämpfen zu
müssen. Dies ist für ihn der Preis der Konformität und der
Hintergrund der Dahrendorfschen Feststellung, dass Gesellschaft
eine ärgerliche Tatsache sei.
So gesehen überwindet dieses Akteurmodell strukturfunktionalistische Identitätskonzepte.
Nach der strukturfunktionalistischen Theorie handelt das Individuum grundsätzlich rollenkonform. Gemäß der oben referierten
Kritikpunkte kann dies aber nur dann ohne Probleme möglich
sein, wenn
- Rollenerwartungen verschiedener Bezugsgruppen ohne
weiteres miteinander vereinbar sind;
- Erwartungen der verschiedenen Rollen, die eine Person besitzt, ohne weiteres miteinander vereinbar sind;
- die Rollenerwartungen hinreichend klar definiert sind;
- die Person über ausreichende Ressourcen verfügt, um ihre
Rollen angemessen spielen zu können;
- die Rolle mit den persönlichen Interessen, Bedürfnissen und
Zielen der Person vereinbar ist.72
Die ersten beiden Perspektiven wurden bereits weiter oben bei
der Vorstellung des Akteurmodells Homo sociologicus angesprochen. Wenn die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt
sind, liegt bei dem Individuum ein Rollenkonflikt vor: „Ein für
72
vgl. Schimank 2000, S. 55
53
die Untersuchung der Sozialstruktur von Gesellschaft besonders
wichtiger Bereich der Rollenanalyse liegt in der Ermittlung von
Erwartungskonflikten innerhalb sozialer Rollen (intra-role
conflict). (...) In diesen Fällen kennen verschiedene Bezugsgruppen (...) widersprüchliche Erwartungen, die den Träger der
Position vor eine unlösbare Aufgabe stellen und daher einerseits
zu einem sozialen Strukturwandel zwingen, andererseits aber,
solange ein solcher Wandel nicht eintritt, jeden Träger der Position zum ‚Gesetzesbrecher’ machen bzw. von den Bezugsgruppen keineswegs beabsichtige Verhaltensweisen hervorbringen (...).“73
Der intra-role conflict liegt vor, wenn die verschiedenen Segmente einer Rolle miteinander konfligieren, wenn man z.B. in
der Rolle des Lehrers mit antagonistischen Erwartungen der
Schulleitung einerseits, der Schüler andererseits und schließlich
der Eltern konfrontiert ist.
Eine andere Kategorie von Rollenkonflikten liegt da vor, „wo
auf eine Person mehrere Rollen mit widersprechenden Erwartungen entfallen. Solche Konflikte zwischen Rollen (inter-role
conflict) sind strukturell vor allem dann wichtig, wenn sie nicht
auf der zufälligen Wahl von Individuen, sondern auf Gesetzlichkeiten der Positionszuordnung beruhen.“74
Die Konflikte manifestieren sich immer dann, wenn eine Person
zwei oder mehrere Rollen mit jeweils unterschiedlichen Anforderungen besitzt. Dies trifft z.B. den Familienvater, der gleichzeitig Lehrer ist und von dem erwartet wird, einen Klassenausflug durchzuführen, der zeitlich nur in der Woche stattfinden
kann, in der auch seine Tochter Geburtstag hat.
Rollenkonflikte werden meistens so gelöst, dass den Erwartungen der jeweils mächtigeren Bezugsgruppe gefolgt wird. Das
bedeutet jedoch, dass in dem Rollensegment bzw. der Rolle, die
im Bezug zu der schwächeren Gruppe oder Person steht, die bestimmte Erwartungen an das Individuum richten, den Erwartungen bewusst und vorsätzlich nicht entsprochen wird.
Rollenkonflikte zwingen das Individuum zu einem Handeln, das
es nach der strukturfunktionalistischen Theorie streng genommen gar nicht geben dürfte. Das Individuum hat Rollen nicht nur
73
74
Dahrendorf 1958, S. 76ff.
Dahrendorf 1958, S. 77
54
gezwungenermaßen anzunehmen und gemäß eines Funktionalitätserfordernisses zu spielen: das Individuum ist vielmehr gezwungen, seine Rollen zu gestalten. So schreibt Schimank: „Die
Auseinandersetzung mit den möglichen Komplikationen des
Rollenhandelns, die immer dann auftreten, wenn mindestens
eine der aufgeführten Voraussetzungen des strukturfunktionalistischen Rollenmodells nicht gegeben ist, fordert dem
Akteur also kreative Eigenleistung des ‚role making’ ab.“75
Dies bedeutet, dass das Individuum von bestimmten Erwartungen seiner sozialen Umwelt abweicht, um dennoch in ihr bestehen zu können, dass sich das Individuum der umfassenden
Definitionsmacht der Gesellschaft entwindet. Das ist eine kreative Eigenleistung, die dazu verhilft, das Dogma des normativen
Paradigmas, nämlich des außengeleiteten und restlos sozial
determinierten Menschen zu überwinden.
Schimank weist darauf hin, dass die zunehmende Komplexität
der Gesellschaft eine Zunahme von Intra- und Inter-Rollenkonflikten mit sich bringt. Dies ist mit der zunehmenden Widersprüchlichkeit der normativen Ordnung der Gesellschaft begründet. Immer öfter sind Menschen in der Situation, dass gesellschaftliche Erwartungen nicht mehr kompatibel sind. So sollen
Eltern für ihre Kinder da sein und ihnen familiäre Geborgenheit
vermitteln. Gleichzeitig sollen sie potente Konsumenten sein, die
in der Lage sind, ein hohes Maß sozio-ökonomischer Leistungsfähigkeit aufzuweisen. Dies geht aber nur, wenn sie ihre Arbeitskraft, auch die der Frauen, umfassend und flexibel ausschöpfen.
Dies wiederum geht zu Lasten der familiären Strukturen.
Eine weitere Bedingung, die ein zunehmendes Maß an rolemaking erfordert, ist die zunehmende Rollendifferenzierung in
der postmodernen Gesellschaft: „Sowohl die Anzahl als auch die
Verschiedenartigkeit der gesellschaftlich vorhandenen Rollen ist
immer größer geworden. Während in vormodernen Gesellschaften eher diffuse, kaum getrennte Gemengelagen unterschiedlichster Betätigungen in wenigen Rollen konzentriert
waren, tendieren moderne Gesellschaften zu immer spezialisierteren Rollen.“76
75
76
Schimank 2000, S. 55
Schimank 2000, S. 65
55
Diese spezialisierteren Rollen stehen in immer größerem Antagonismus zu anderen Rollen und die standardisierten Korrekturmöglichkeiten der Gesellschaft erfassen die Vielzahl der
möglichen neuen Komplikationen nicht mehr. Insofern ist der
Akteur selbst gefragt, der das Funktionieren und das Zusammenspiel seiner Rollen und Rollensegmente mit den Strukturen
seiner sozialen Umwelt managen muss. Hierzu bedarf es des
Erlernens besonderer Fähigkeiten, wie Empathie, Frustrationsund Ambiguitätstoleranz sowie Takt und Geduld: „Soziale Kompetenzen dieser Art sind es, die die Person in die Lage versetzen,
soziale Ordnung nicht länger bloß als gleichsam mechanische
Anwendung fertiger Regeln zu exekutieren, sondern situativ
intersubjektiv herzustellen.“77
Dies steht in scheinbarem Gegensatz zum strukturfunktionalistischen Rollenmodell. Es sollte jedoch nicht vergessen werden,
dass es noch immer eine Fülle von Rollenerwartungen gibt,
denen man nicht nur folgen muss, sondern auch folgen darf.
Damit ist gemeint, dass Normierungen in der Gesellschaft nach
wie vor in großer Zahl existieren und die Individuen bei ihren
Handlungserfordernissen entlasten. Somit ist Dahrendorfs These
von der „ärgerlichen Tatsache“, die die Gesellschaft darstellen
soll, indem sie das Individuum nur mit einengenden Rollenerwartungen konfrontiert, relativiert. Es ist für das Individuum
durchaus von Nutzen, wenn sein Leben über Rollenerwartungen
strukturiert ist und es seine soziale Identität nicht ständig von
neuem rekonstruieren muss.
2.4. Zur Kritik der strukturfunktionalistischen Sozialisationstheorie
Habermas hat bei seiner Kritik an der strukturfunktionalistischen
Rollentheorie einen interaktionistischen Standpunkt eingenommen. Die von Parsons behauptete Übereinstimmung zwischen Wertorientierungen und Rollennormen einerseits und Bedürfnisdispositionen andererseits bezeichnet er als „Integrationstheorem“, dem er eine Gültigkeit abspricht, denn: „empirisch besteht eher Anlass zu der Annahme, dass in allen bisher
bekannten Gesellschaften ein fundamentales Missverhältnis zwi77
Schimank 2000, S. 66
56
schen der Masse der interpretierten Bedürfnisse und den gesellschaftlich lizenzierten, als Rollen institutionalisierten Wertorientierungen bestanden hat. Unter dieser Voraussetzung gilt das
‚Repressionstheorem’: Dass vollständige Komplementarität der
Erwartungen nur unter Zwang, auf Basis fehlender Reziprozität,
hergestellt werden kann.“78
Die Kongruenz von Wertorientierungen und Rollennormen
einerseits und Bedürfnissen andererseits, die nach Parsons‘ Ansicht als Ergebnis eines gelungenen Sozialisationsprozesses entsteht, wäre eigentlich nur dann denkbar, wenn das Individuum
restlos in den gesellschaftlichen Strukturen aufgeht. Dies erscheint nur dann möglich, wenn sich entweder gesellschaftliche
Bedingungen und individuelle Bedürfnisstruktur niemals ändern
oder sich zueinander in einem Verhältnis ständiger Isomorphie
bewegen. Diese Annahme erscheint in höchstem Maße unrealistisch.
Zur weiteren Kritik wendet sich Habermas gegen die Unterstellung Parsons‘, dass die Rollenerwartungen der Interaktionspartner aufgrund gemeinsamen Sozialisationserlebens in
derselben gesellschaftlichen Formation jeweils übereinstimmten.
Habermas bezeichnet dies als „Identitätstheorem“ und wendet
dagegen ein, dass „die Ebenen der Rollendefinition und der
Rolleninterpretation auseinander(ge)halten (werden müssen, Anmerkung des Verfassers). Empirische und sprachphilosophische
Gesichtspunkte sprechen für die Geltung eines Diskrepanztheorems: eine vollständige Definition der Rolle, die die
deckungsgleiche Interpretation aller Beteiligten präjudiziert, ist
allein in verdinglichten, nämlich Selbstrepräsentation ausschließenden Beziehungen zu realisieren.“79
Die interaktionistische Perspektive lässt keinen Zweifel, dass in
interaktiven Rollenbeziehungen „spontane Ich-Leistungen und
aktive Rolleninterpretationen“80 an der Tagesordnung sind. Die
Festschreibung von Rollenstrukturen in den Interaktionen, die
eine Komplementarität der jeweiligen Erwartungen unterstellt,
erscheint unrealistisch.
78
Habermas 1973b, S. 125
Habermas 1973b, S. 126
80
ebd.
79
57
Schließlich wendet sich Habermas gegen die theoretische Annahme der vollständigen Verinnerlichung gesellschaftlicher
Wertorientierungen und Rollenerwartungen durch die Individuen, so als würde die Erfüllung des Gesollten zu einem Bedürfnis des Individuums. Mit dieser Annahme Parsons’ ist die
Komplementarität von Bedürfnissen und gesellschaftlichen Werten sichergestellt, so dass – rein theoretisch – das Individuum gar
nicht anders als rollenkonform handeln kann. Dieses Konzept
wird von Habermas als „Konformitätstheorem“ bezeichnet. So
schreibt Habermas: „Das Konformitätstheorem ist vor allem von
Goffman kritisiert worden. Denn normenkonformes Verhalten ist
nicht einfach eine Verkörperung des normativen Gehalts auf der
Ebene beobachtbaren Verhaltens im Sinne einer Projektion von
einer Ebene auf die andere. Vielmehr hängt es vom Grad und
von der Art der Internalisierung ab, wie das handelnde Subjekt
selbst zu seinen Rollen sich verhält.“81 Damit ist gemeint, dass
nach der interaktionistischen Sicht Rollennormen mit unterschiedlicher Intensität internalisiert werden, so dass es durchaus
auch Rollendistanz bei gleichzeitiger Rollenerfüllung geben
kann: „Autonomes Rollenspiel setzt beides voraus: die Internalisierung der Rolle ebenso wie eine nachträgliche Distanzierung von ihr.“82
Die von Habermas so bezeichneten Theoreme der strukturfunktionalistischen Sozialisationstheorie (das „Integrations-, Identitäts- und Konformitätstheorem“) unterstellen „einen Normalfall
eingespielter Interaktion, der in Wahrheit ein pathologischer
Grenzfall ist (...)“, denn „die volle Komplementarität der Erwartungen und des Verhaltens“ sei „nur um den Preis der Unterdrückung von Konflikten zu erzwingen“ (...), die „Deckung von
Definition der Rolle und Interpretation der Handelnden“ sei (...)
„nur um den Preis des Verzichts auf Individuierung zu
erreichen“, und die „Abbildung der Norm auf der motivationalen
Ebene verinnerlichter Rollen“ sei „nur um den Preis einer
zwanghaft automatischen Verhaltenskontrolle“ zu verwirklichen.83
81
Habermas 1973b, S. 126f.
Habermas 1973b, S. 127
83
ebd.
82
58
Nach meiner Ansicht stellt Habermas dennoch nicht in Frage,
dass Sozialisation in gesellschaftlichen Institutionen, das heißt
Rollensystemen, dazu führen kann, dass bestimmte gesellschaftliche Wertstrukturen internalisiert werden. Ob sie im Handeln
des Individuums implementiert werden (können), ist eine andere
Frage. Jedenfalls kann nicht bestritten werden, dass Gesellschaftsmitglieder in der Regel zumindest versuchen, sich so zu
verhalten, dass eine zielgerichtete Evolution ihrer Identität und
gesellschaftlichen Integration möglich ist.
Da diese Versuche nicht immer erfolgreich sind, haben die
Individuen die psychischen und sozialen Kosten ihres Versagens
zu tragen, und das ist eine Fragestellung, mit der sich Parsons
nicht auseinandergesetzt hat. Ich sehe sie jedoch ansatzweise in
der Anomietheorie von Merton beantwortet: Menschen versuchen sich demnach wertkonform zu verhalten, weil sie gesellschaftliche Werte durchaus verinnerlicht haben. Da ihnen dies jedoch nicht vollständig gelingt, weil die Gesellschaft ihnen die
Möglichkeiten dazu nicht gibt, sind sie dazu bereit, deviante
Verhaltensweisen zu realisieren. Darauf werde ich weiter unten
zurückkommen.
2.5. Die strukturfunktionale Perspektive zur Abweichung
Zum Verständnis der Parsonsschen Sozialisationstheorie ist es
wichtig anzumerken, dass die Ausrichtung von Verhalten in
direktem Zusammenhang zum Willen des Individuums stehen
soll. Das heißt, konformes Verhalten entsteht nicht nur, weil das
Individuum möglicherweise verinnerlicht hat, dass es sich konform verhalten soll. Das Verhalten soll ihm auch in irgendeiner
Weise dienlich sein. Soweit Abweichung vorliegt, trifft sie auf
soziale Kontrollen, die darauf gerichtet sind, in negativer Weise
zu sanktionieren und konformes Verhalten zu gratifizieren. Dies
ist in der Sozialisationsphase die effektivste Methode, gesellschaftliche Sollgeltungen in individuelle Bedürfnisdispositionen
zu transformieren.
Abweichung ist in der strukturfunktionalen Theorie eher ein
Randphänomen, wie z.B. Krankheit, das einem von Parsons
unterstellten anthropologischen Grundbedürfnis nach Integration
und Konformität entgegensteht. So schreibt Kiss: „Generell kann
gesagt werden, dass nach systemtheoretischem Verständnis ab59
weichendes Verhalten aus der Nichtangepasstheit der motivationalen Orientierung an die Systembedürfnisse und speziell
an die Rollenerwartungen resultiert, das Spannungen im Hinblick auf den gleichgewichtigen Verlauf eingefahrener Interaktionsbeziehungen hervorruft.“84
Von alltäglichen Interaktionssituationen nimmt Parsons an, dass
es sich um einen stabilen interaktiven Prozess handelt, der sich
grundsätzlich in einem Gleichgewicht befindet und dazu neigt,
sich nicht zu verändern. Dazu gehört: „the interaction is
integrated with a normative pattern of value-orientation, both
ego and alter, that is, have internalized the value pattern.”
Die Internalisierung der Wertmuster, die für alle an der Interaktion Beteiligten unterstellt wird, ist die Grundlage des Funktionierens der Interaktion: „such an interaction system is
characterized by the complementarity of expectations, the
behavior and above all the attitudes of alter conform with the
expectations of ego und vice versa.”
Aus dieser Situation heraus analysiert Parsons das Entstehen von
Devianz: „Let us assume that, from whatever source, a
disturbance is introduced into the system, of such a character
that what alter does leads to a frustration, in some important
respects, of ego’ s expectation-system vis-a-vis alter.”85
Devianz wirkt sich aus, wenn Erwartungen im Rahmen der
Interaktion durch die handelnden Personen durchbrochen
werden. Welche Erwartungen können damit gemeint sein?
Nach Wiswede unterscheidet Parsons drei Aspekte des Erwartungssystems86:
a) Erwartungen werden Bestandteil der Bedürfnisstruktur und
verlangen nach Befriedigung.
b) Erwartungen schließen Zuneigung zu Personen als einem
libidobezogenen Objekt ein.
c) Erwartungen sind wertmäßig internalisiert, Normverletzung
führt zu Frustration.
Damit korrespondieren drei Lösungs- bzw. Anpassungsmöglichkeiten für den Fall der Abweichung:
ad a) Anpassung der Bedürfnisstruktur wie z.B. Verdrängung,
84
Kiss 1973, S. 170
Parsons 1951, S. 252
86
vgl. Wiswede 1973, S. 46
85
60
Versagung, Triebverzicht.
ad b) Übertragung auf ein neues Objekt der Zuneigung.
ad c) Umdefinieren der Wertorientierungsmuster, mit denen sich
die abweichende Person nicht mehr im Einklang befindet.
Dies wären „glatte“ Lösungen, die eine Wiederherstellung der
Homöostase, gegebenenfalls in einer neuen Sozialbeziehung, bewirken könnten.
Aber auch andere Ausgänge sind möglich: „Es könnte z.B. sein,
dass die Zuneigung bestehen bleibt, dass sie aber gestört ist.
Diese Ambivalenzbeziehung impliziert einen emotionalen Konflikt. Es entsteht eine ambivalente Motivationsstruktur, wobei
das perzipierende Individuum die ‚Kosten‘ des Konflikts zu
tragen hat.“87
Letztlich kommt es in solchen Fällen darauf an, mit der ambivalenten motivationalen Struktur umzugehen, indem immer nur
eine Seite betont wird. Je nachdem, ob die negative Seite oder
die positive Seite verdrängt wird, nennt Parsons dies
„conformative“ oder „alienative need-disposition.“88
So impliziert die konforme Komponente zwanghafte Konformität, Ritualismus, krankhafte Sorgfalt usw.; die deviante
Komponente bedeutet ein Überwiegen der negativen Seite, das
heißt Ablehnung konformer Verhaltensmuster. Daraus ergeben
sich verschiedene Formen abweichenden Verhaltens.
2.6. Die Bezugnahme auf die Anomietheorie Mertons
Parsons bezieht sich zur weiteren Explikation ausdrücklich auf
Mertons Anomietheorie: „What Merton calls ‘conformity’ is
clearly what we here mean by the equilibrated condition of
interactive system without conflict on either side or alienative
motivation. Merton’s ’innovation’ and ‘ritualism’ are our two
compulsively conformative types, while ‘rebellion’ and
‘retreatism’ are clearly the two alienative types.”89 Schematisch
sind diese Zusammenhänge folgendermaßen dargestellt:
87
Wiswede 1973, S. 46
Parsons 1951, S. 254
89
Parsons 1951, S. 257f.
88
61
Activity
Passivity
Conformative
Dominance
Compulsive Performance
Orientation
(Mertons Innovationskonzept,
Anmerkung des Verfassers )
Compulsive Acquiescence
in Status Expectations
(Mertons Ritualismuskonzept,
Anmerkung des Verfassers)
Alienative
Dominance
Rebelliousness
(Mertons Rebellionskonzept,
Anmerkung des Verfassers)
Withdrawal
(Mertons Rückzugskonzept,
Anmerkung des Verfassers)
Quelle: Parsons 1951, S. 257
Mit der Bezugnahme auf Mertons Anomietheorie wird auch im
Rahmen der strukturfunktionalen Theorie der Zusammenhang
zwischen gesellschaftlichen Werten und Außenseitertum
deutlich.
Merton schreibt in der Einleitung zu Teil II seines Buches
„Soziologische Theorie und soziale Struktur“ über das dortige
Kapitel 4 („Sozialstruktur und Anomie“)90, dass dort „die theoretische Orientierung des funktionsanalytischen Sozialwissenschaftlers, der das sozial abweichende Verhalten genauso als ein
Produkt der sozialen Strukturen ansieht wie das konformistische
Verhalten“91, gezeigt wird. Er bringt damit zum Ausdruck, dass
die funktionale Analyse die soziale Struktur als „etwas Aktives“
ansieht, die zwar Handlungspositionen beschränkt, aber auch
Neues hervorzubringen vermag. Er wendet sich ausdrücklich
gegen einen biologistischen Determinismus von Abweichung
und Außenseitertum, wie er z.B. von Cesare Lombroso propagiert wurde („der geborene Verbrecher“) oder auch in der etwas differenzierteren Weise der Psychoanalyse.
Mit biologistisch-psychoanalytischen Erklärungsansätzen sind
nach Mertons Ansicht die Variabilität und die sozialen Entstehungszusammenhänge abweichenden Verhaltens nicht zu erklären: „Stattdessen versucht (der Funktionalismus, Anmerkung
des Verfassers) zu bestimmen, wie die soziale und kulturelle
90
91
Merton 1995, S. 127ff.
Merton 1995, S. 117
62
Struktur Druck zu sozial abweichendem Verhalten auf Menschen
in unterschiedlichen Positionen in dieser Struktur erzeugt.“92
Merton bewog die Einsicht, dass Abweichung durch eine Störung der sozialen Ordnung verursacht sein könnte, die von Durkheim als Anomie bezeichnet wurde. Dabei ist für Merton von
besonderem Erkenntnisinteresse, „warum die Häufigkeit des
abweichenden Verhaltens in unterschiedlichen Sozialstrukturen
variiert, und wie es kommt, dass in unterschiedlichen Sozialstrukturen Abweichungen in unterschiedlicher Gestalt und nach
unterschiedlichen Mustern auftreten.“93
Merton sieht den Ansatz zu der Analyse der vorwaltenden sozialen und kulturellen Ursachen in der Tatsache, dass „soziale
Strukturen ausgesprochenen Druck auf bestimmte Personen in
der Gesellschaft ausüben, sich eher nichtkonform als konform zu
verhalten.“94 Je höher der Druck in einer bestimmten sozialen
Gruppe ist, desto höher ist die zu erwartende Devianzrate, und
zwar nicht etwa in der Folge einer abweichenden Triebstruktur,
was die o.a. biologistischen Ansätze nahelegen, sondern weil die
Menschen auf die soziale Lage, in der sie sich befinden, einfach
so reagieren, wie es ihnen in ihrer aktuellen Lebenssituation am
naheliegendsten erscheint.
Der Druck zu abweichendem Verhalten resultiert nach Mertons
Ansicht aus der allgemeinen, intersubjektiv geteilten Orientierung auf die kulturell definierten Ziele hin: „Diese Ziele sind
mehr oder weniger integriert (...) und grob in einer bestimmten
Wertehierarchie geordnet. In unterschiedlichem Maße mit Gefühl und Bedeutung besetzt, bilden die herrschenden Ziele den
Bezugsrahmen der Ansprüche. Sie sind das, was ‚erstrebenswert‘
ist.“95
Die Ziele, die solchermaßen mit dem Wertesystem einer Gesellschaft zusammenhängen, mit ihm konvergieren, leiten sich aus
diesem im Sinne einer Verhaltensorientierung sozial sanktionierter, kulturell typisierter und psychisch internalisierter
Standards selektiver Orientierung in einem soziokulturellen Bereich ab.
92
ebd.
Merton 1995, S. 127
94
ebd.
95
Merton 1995, S. 128
93
63
Für Merton gehört zu den Zielen zuvörderst materieller Erfolg.
2.6.1. Die Ziel-Mittel-Diskrepanz
Die Grundannahme der Theorie besteht in einer soziokulturellen
Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und institutionalisierten
Mitteln der Zielerreichung. Unter diesen Bedingungen können
Menschen abweichende Verhaltensmuster wählen, um kulturelle
Zielvorgaben in ihrem Verhalten zu verwirklichen. Merton führt
in seiner theoretischen Begründung aus, dass das Erreichen kultureller Ziele an bestimmte Regeln (Sitten, Institutionen) gekoppelt ist. Diese Regeln beziehen sich auf die Möglichkeiten
der legitimen Zielerreichung und dienen somit der Festlegung
der zulässigen Verfahren zur Erreichung der Ziele. Daher ist ein
weiteres Element (neben den Zielen) die Kontrolle und Regulierung und Definition der zulässigen Formen der Zielerreichung.
In integrierten Gesellschaften (z.B. unter der Bedingung allgemeinen materiellen Wohlstandes) ist die Zielerreichung mit
den gesellschaftlich lizenzierten Mitteln möglich. Dann besteht
ein Gleichgewicht, wenn die mit beiden Arten des kulturellen
Zwanges (das heißt Zielorientierung und Mittelkontrolle)
konform gehenden Individuen daraus Befriedigung beziehen,
dass sie zum einen Chancen haben, die Ziele zu erreichen, und
weiters dennoch die institutionell akzeptierten Methoden der
Zielerreichung einhalten können.
Merton schreibt dazu: „Die von der Anpassung an die institutionellen Ziele gelegentlich (...) geforderten Opfer müssen
durch Belohnungen kompensiert werden.“96 Viele möglicherweise effizientere Verfahren, die Ziele zu erreichen, sind aus
dem institutionellen Bereich des erlaubten Verhaltens ausgeschlossen. Die Wahl der Mittel hat sich nach den Normen zu
richten - sie ist insoweit durch institutionalisierte Normen eingeengt.97
Die Gesellschaft schränkt jedoch bisweilen die Möglichkeit der
Zielerreichung weitgehend ein, so dass es für einige Mitglieder
fast unmöglich wird, die kulturell definierten Ziele zu erreichen.
Wenn aber die Erreichung der kulturell vorgegebenen Ziele als
besonders wichtig angesehen wird, wenn dies zur Voraussetzung
96
97
Merton 1995, S. 130
vgl. Wiswede 1973, S. 41
64
für soziale Anerkennung und Aufstieg gemacht wird und gleichzeitig die Zielerreichung nicht möglich erscheint, geraten die
Menschen unter den Druck, unter Umständen auch illegitime
Mittel zur Zielerreichung anwenden zu müssen.
Ein gesellschaftlicher Zustand, in dem die beschriebenen Dissoziationsbedingungen bestehen, wird von Merton als Anomie bezeichnet. Dies bedeutet „a breakdown in the cultural structure,
occurring particularly when there is an acute disjunction
between the cultural goals and the socially structured capacities
of members of the group to act in accord with them.”98
Merton entwirft aus heuristischen Gründen idealtypische Gesellschaftskonzeptionen, wobei die im Rahmen der Anomietheorie
interessanteste Konzeption eine Gesellschaft darstellt, in der eine
extrem starke Betonung bestimmter Ziele ohne eine entsprechende Betonung der institutionellen Verfahren vorliegt. So
formuliert Merton seine Hauptthese: „anomales Verhalten (ist)
soziologisch ein Symptom der Dissoziation von kulturell vorgeschriebenen Ansprüchen und sozial strukturierten Wegen zur
Realisierung dieser Ansprüche.“99
Für Merton ist eine solche Konstellation in den USA gegeben:
„Die heutige amerikanische Kultur scheint sich jenem Extremtypus zu nähern, bei dem ohne entsprechende Akzentuierung der
institutionellen Mittel, ein sehr starker Akzent auf bestimmten
Erfolgszielen liegt.“100 Somit besteht ein Konflikt, eine Dissoziation, zwischen den sich aus den kulturellen Werten ableitenden Zielen und den damit verbundenen sozialen Ansprüchen
und den sozio-ökonomischen Möglichkeiten, genauer: dem beschränkten Zugang benachteiligter sozialer Schichten zu den zugelassenen Mitteln der Zielerreichung. Daraus entsteht der Gesellschaftstypus der nicht- oder wenig integrierten Gesellschaft.
Die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen sind schier unbegrenzt. Aber zumindest für die Angehörigen der benachteiligten Sozialschichten sind die Erfolgschancen beeinträchtigt.
Gleichwohl bewirken die kulturellen Zielvorgaben, dass die Mitglieder der schlechtintegrierten Gesellschaften mit Erwartungen
konfrontiert werden, die sowohl das Recht als auch die Pflicht
98
Merton 1957, S. 162
Merton 1995, S. 130
100
Merton 1995, S. 131
99
65
betonen, an der Erfolgsorientierung, selbst angesichts wiederholter Rückschläge, unbedingt festzuhalten. Jegliche Sozialisationsinstanz (Elternhaus, Schule, Hochschule usw.) wirkt
kräftig mit, wenn es darum geht, die maßgeblichen Wertorientierungen aufzupolieren. Diese unbedingte positive Betonung der Bereitschaft zur Pflichterfüllung (im Sinne einer
unausgesetzten Zielorientierung) ist mit einem nachdrücklichen
Hinweis auf drohende Sanktionen gekoppelt, die das Individuum
ereilen, das erkennbar seine Bemühungen zurücknimmt. Merton
deutet solche kulturellen Axiome folgendermaßen:
1.
Alle, denen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position die
volle Chancengleichheit versagt bleibt, haben ihre Kritik
von der sozialen Struktur weg und auf das eigene Selbst
hin zu lenken.
2.
Die gesellschaftliche Machtstruktur ist aufrecht zu erhalten, indem Individuen in den unteren sozialen Schichten zur Identifizierung nicht mit ihresgleichen, sondern
mit jenen „ganz oben“ veranlasst werden.
3.
Alle, die mit dem kulturellen Diktat des nicht nachlassenden Ehrgeizes nicht konform gehen, werden unter
Konformitätsdruck gesetzt, indem ihnen mit dem Entzug
der Vollmitgliedschaft in der Gesellschaft gedroht wird.101
Als Folge dieser Grundsätze sieht Merton die Möglichkeit, dass
innerhalb der benachteiligten Bevölkerungsgruppen abweichende Verhaltensweisen entstehen: „It is only when a system of
cultural values extols virtually above all else, certain common
success-goals for the population are large while the social
structure rigorously restricts or completely closes access to
approved modes of reaching these goals for a considerable part
of the same population, that deviant behavior ensues on a large
scale.”102 Merton entwirft eine Typologie der individuellen Anpassung. Deren schematische Darstellung sieht folgendermaßen
aus:
101
102
66
vgl. Merton 1995, S. 134
Merton 1957, S. 146
Anpassungsformen
1. Konformität
2. Innovation
3. Ritualismus
4. Rückzug
5. Rebellion
kulturelle Ziele
institutionelle Mittel
+
+
–
–
+–
+
–
+
–
+–
Quelle: Merton, 1995, S.135
2.6.2. Konformistische Anpassung
Der konformistische Anpassungsmodus impliziert die Akzeptanz
sowohl der Ziele als auch der institutionellen Mittel und
Methoden zur Zielerreichung. Individuen, die diese Form der
Zielerreichung praktizieren, sind grundsätzlich nicht davon
bedroht, Außenseiter zu werden. Merton stellt fest, dass in dem
Maße, in dem eine Gesellschaft stabil und integriert ist, dieser
Konformitätstypus die üblichste Form der Anpassung bildet:
„Das Netzwerk der Erwartungen, aus dem jede soziale Ordnung
besteht, wird von jenem Modalverhalten ihrer Mitglieder getragen, das in der Konformität mit den etablierten, wenngleich
vielleicht langfristig wandelbaren kulturellen Mustern besteht.“103
Fraglich bleibt nur, inwieweit ein Individuum in einer schlecht
integrierten Gesellschaft, insbesondere im Falle der Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppierung, diesen Anpassungsmodus erträgt.
2.6.3. Innovative Anpassung
Die Individuen, die den innovativen Anpassungsmodus praktizieren, akzeptieren einerseits vorwaltende kulturelle Ziele und
erstreben deren Erreichung. Andererseits praktizieren sie im
Hinblick darauf abweichendes Verhalten. Die innovative Anpassung liegt dann vor, wenn sich der Einzelne die kulturelle Betonung des Ziels zu eigen macht, ohne die institutionellen Normen,
die die Mittel und Wege zur Zielerreichung bestimmen, gleicher-
103
Merton 1995, S. 136
67
maßen zu verinnerlichen.104 Dieser Anpassungsmodus bildet den
klassischen Fall des Mertonschen Anomiekonzeptes: In ihm
finden sich all jene Formen abweichenden Verhaltens, die von
Menschen praktiziert werden, die mit ihrer gegenwärtigen sozialen Situation unzufrieden sind, diese überwinden möchten,
jedoch wenig oder keine gesellschaftlich lizenzierten Mittel besitzen, dies zu verwirklichen.
Ich subsumiere unter diese Kategorie all jene Außenseiter, die zu
einer Gruppe oder einer Gesellschaft bzw. zu einer bestimmten
Lebensform dazugehören wollen, denen jedoch die Zugehörigkeit verweigert wird, weil es ihnen eines bestimmten dahingehend qualifizierenden Merkmals gebricht. Dies allein schon
macht sie zu Außenseitern. Wenn sie dann noch abweichendes
Verhalten praktizieren, gewinnt ihr Außenseiterstatus einen anderen Charakter: aus dem Nicht-Besitz eines qualifizierenden
Merkmales wird durch abweichendes Verhalten ein Stigma,
wenn die soziale Umwelt von der Abweichung Notiz nimmt und
sich daran stört.
Als Beispiel soll hier die Verhaltensabweichung bestimmter
Jugendlicher thematisiert werden, die ein spezifisches Verständnis gesellschaftlicher Ziele besitzen und diese mit falschen
Methoden zu erreichen versuchen.
2.6.3.1. Desintegration und Jugendgewalt
Heitmeyer stellt die These auf, dass Desintegration des Individuums eine zentrale Bedeutung für Gewaltphänomene hat.
Heitmeyer ist der Ansicht, dass junge Menschen in der postmodernen Gesellschaft gleich in mehrfacher Hinsicht desintegriert sind, d.h. von der Einbindung in gesellschaftliche Institutionen herausgelöst. Diese Auflösungsprozesse betreffen:
1. die Auflösung von Beziehungen zu anderen Personen oder
Institutionen;
2. die Auflösung der faktischen Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen;
3. die Auflösung der Verständigung über gemeinsame
Norm- und Wertvorstellungen.
104
68
vgl. Merton 1957, S. 141
Die Auflösung von Integrationszuständen kann bisweilen als Befreiung empfunden werden. Sie ist es indes dann nicht, wenn
„eingelebte, aber nicht mehr befriedigend erlebte Formen der
Sozialintegration durch keine adäquaten neuen Formen abgelöst
werden. Dies bedeutet Ausgrenzung und Vereinzelung.“105
Heitmeyer beschreibt, wie die sozialisatorischen Rahmenbedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft von Modernisierungsfolgen geprägt sind, die eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaftsmitglieder mit sich bringen.
Gerade mit Blick auf Heranwachsende können solche Entwicklungen nur als sehr ambivalent beurteilt werden, denn einerseits verheißt die Lösung von sozialen Institutionen, wie z.B. der
Familie, eine Befreiung von Festlegungen und Kontrollen. Die
Verantwortung für das Handeln des Individuums ist aber in
vollem Umfang diesem zugerechnet und damit auch die Handlungsfolgen: „(Die) Ausweitung von Entscheidungsfreiheit hat
den Preis des Verlustes der Sorglosigkeit eines kindlichen
Alltags.“106 Zwar wird die Gestaltbarkeit des individuellen
Lebensweges größer. Aber der Zwang, etwas gestalten zu
müssen und dabei nicht auf den Rückhalt stabiler Vergemeinschaftungsformen zurückgreifen zu können, bedeutet auch
ein höheres Maß an Gefährdung. Eine negative Folge solcher
Entwicklungen für Jugendliche sieht Heitmeyer in dem Entstehen besonderer Desintegrationspotentiale, die nach seiner Ansicht zunehmende Gewalt erklären können. Typische Erscheinungsformen sind:
a) Auflösung von Beziehungen zu anderen Personen und Lebenszusammenhängen,
b) Auflösung der Verständigung über gemeinsame Wert- und
Normvorstellungen,
c) Auflösung der faktischen Teilnahme an gesellschaftlichen
Institutionen.
ad a)
Desintegrationspotentiale finden sich vor allem in den Familien
aufgrund zunehmender Instabilität der Beziehungen. Ehedem
selbstverständliche Zugehörigkeiten lösen sich auf. Damit einher
105
106
Heitmeyer 1992, S. 77
Heitmeyer 1992, S. 78
69
gehend verändern sich auch die Interaktionsstrukturen: „Die
affektive, expressive Gewalt in den Familien unter anderem
durch physische Attacken durch Väter hat eher abgenommen,
während die instrumentelle, rationale Gewalt eher zugenommen
hat.“107 Diese Umgangsformen beziehen sich auf irgendwelche
instrumentell konstruierte Verhaltens- bzw. Leistungsstandards,
dazu gehören unter anderem:
1.
leistungsabhängige Zuwendung
2.
willkürliche, stimmungsabhängige Beziehungen
3.
materialistische Zuwendung („Freikaufen von sozialemotionalen Anstrengungen“)
4.
Zuwendung unter bestimmten Zeitvorbehalten.
Weiter schreibt Heitmeyer: „In diesen instrumentalistischen Umgangsweisen wird deutlich, dass es neben den offenen auch verdeckte Desintegrationspotentiale gibt, denn hinter den Fassaden
‚äußerlicher‘ Intaktheit verbergen sich Auflösungen sozialer Beziehungen, da instrumentalistische Umgangsweisen auf die Verfügung über andere hinauslaufen, und nicht auf die Anerkennung
des anderen und seiner Integrität.“108
Neben den familieninternen Desintegrationspotentialen erweisen
sich Veränderungen in der demographischen Struktur der Gesellschaft als zusätzlich desintegrierend. Dazu zählt Heitmeyer die
Tatsache, dass Kinder heute in zunehmendem Maße in geschwisterlosen, großelternlosen, verwandtschaftslosen Kernfamilien aufwachsen, die eine relativ isolierte und kontaktarme
Sozialisationsumwelt darstellen.
Ein weiteres Desintegrationspotential stellen für Heitmeyer
Trennungs- und Verlustängste im Fall von Scheidungsfamilien
dar.
Schließlich ist noch ein inkonsistentes Elternverhalten maßgeblich, das keine regelhaften Erziehungsmaßstäbe erkennen
lässt.
Die Flexibilisierung der Arbeitswelt fordert heute die Bereitschaft, sein Leben nach den Bedürfnissen der Erwerbsarbeit
bzw. des Arbeitsmarktes auszurichten und Kinder in den zunehmend kontingent anfallenden arbeitsfreien Phasen zu be107
108
70
ebd.
ebd
treuen. Somit wird Betreuung und Fürsorge für Kinder zu einem
Gut, dessen sie sich nicht mehr sicher sein können. Heitmeyer
folgert daraus, dass es eine Tendenz zur „Ent-gesellschaftung“
gibt. Die Labilität der sozialen Beziehungssysteme untergräbt
Verlässlichkeit und Stabilität: „Neue Freiräume lassen sich aber
ohne Verlässlichkeit nicht ‚genießen‘, sondern sind angstbesetzt.
Angst aber muss in einer auf Durchsetzung getrimmten Gesellschaft zunehmend verborgen werden.“109 Vor allem die männlichen Jugendlichen verbergen ihre Ängste hinter einer Fassade
des Cool-Seins und bedienen sich dabei der Mitgliedschaft einer
Gruppe. Gewalthandlungen Jugendlicher sind in erster Linie in
einem Gruppenkontext zu beobachten, da die Gruppenzugehörigkeit das Maß an Sicherheits- und Souveränitätsempfinden vermittelt, das dem vereinzelten Jugendlichen so
sehr fehlt.
ad b)
Labile Sozialbeziehungen, sind dadurch gekennzeichnet, dass
signifikante Bezugspersonen einen Vorbildcharakter verlieren.
Diese Entwicklung flankiert den Individualisierungsprozess der
fortgeschrittenen Moderne. Durch eine zunehmende Subjektivierung der Lebenswelt wird eine Bindung an Traditionen,
Milieus, Glaubensvorschriften usw. immer schwächer. Damit
schwindet aber auch das Bewusstsein für übergeordnete Wertstrukturen. Das Desintegrationspotential liegt also in der Ambivalenz einer Entwicklung, die bei einer Ausweitung der Freiheitsgrade ein Ansteigen kollektiver Verständigungsdefizite mit
sich bringt.
ad c)
Letzteres muss zunächst nicht heißen, dass es zu einer Reduktion
von Interaktionen käme. Heitmeyer konstatiert eher das Gegenteil. Demnach steigt die Anzahl der sozialen Kontakte, aber es
vermindert sich ihre Intensität. Die Gefahr der Vereinzelung besteht dann, wenn die Chance zu kollektiven Gemeinsamkeiten
aufgrund der Verständigungsdefizite sinkt. In der Folge entsteht
109
Heitmeyer 1992, S. 79
71
eine zunehmende Distanz zu gesellschaftlichen Institutionen,
wie Vereinen und organisierten Jugendgruppen.
Desintegrationspotentiale müssen nicht gleich in Desintegrationserfahrungen umschlagen. Wenn man bestimmte soziale
Kontexte überwunden hat, kann man das als ein hohes Maß an
Befreiung erleben, zumal sich oft neue soziale Zusammenhänge
ergeben, die das drohende Desintegrationserleben auffangen und
kompensieren. Aber Desintegrationspotentiale können sich zu
manifesten Desintegrationserfahrungen wandeln, vor allem,
wenn die Desintegration zu Vereinzelung und sozialer Unsicherheit führt. Heitmeyer nennt als typische Beispiele EinKind-Familien oder Ein-Eltern-Familien.
Viele Jugendliche versuchen die drohende Bindungslosigkeit mit
der Zugehörigkeit zu Gleichaltrigengruppen zu kompensieren.
Heitmeyer unterscheidet jedoch zwischen Gleichaltrigengruppen, die er auch „Wir-Gruppen“ nennt, die sich durchaus durch
kollektive Aktivitäten auszeichnen und denen „ansatzweise ein
zeitbegrenzter sozialer Verankerungsversuch“110 gelingt. Davon
grenzt er die Gleichaltrigenszene in den Städten ab, in denen
kein „Wir“-Bewusstsein im Sinne einer kollektiven organisierten
Identitätskonzeption entstehen kann. Statt dessen werden in
diesen sozialen Systemen „industriewirtschaftliche Prämissen“111 reproduziert, indem die gesellschaftlichen Konsumwertorientierungen (z.B. „Markenklamotten“) hoch gehalten werden
und das Individuum zum Außenseiter wird, das im Hinblick auf
die Verwirklichung von Konsumzielen versagt. Was besonders
desintegrativ wirkt, ist der Umstand, dass die das System
tragenden Werte grundsätzlich auch von den Jugendlichen
geteilt werden, insbesondere Werte, die Durchsetzungsfähigkeit,
soziale Kompetenz und Konsumfähigkeit beinhalten. Hier zu
versagen ist gerade für männliche Jugendliche und junge
Männer eine schmerzhafte und enttäuschende Erfahrung.
Desintegration wird von Jugendlichen nach der Maßgabe ihres
Bildungsniveaus verarbeitet. Vor allem bei Jugendlichen mit
niedrigem Bildungsniveau herrscht ein Gefühl, „mit dem
Rücken zur Wand“ zu stehen. Die Folge ist eine „Wir“-Suche in
sozialen Verbänden Gleichartiger. In diesen Gruppen, das macht
110
111
72
Heitmeyer 1992, S. 80
ebd.
sie sozial bedenklich, herrscht eine verminderte individuelle Kritikbereitschaft, da ein Druck zur kollektiven Solidarität in ausdrücklicher Orientierung an den gemeinsam getragenen Selbstbehauptungszielen herrscht. So schreibt Heitmeyer weiter: „Bei
der Gruppe mit niedrigem Bildungsgrad, in der Selbstbehauptung dominiert, geht es häufig um Anschluss an die Konsumwelt, das heißt, es liegen vor allem im weitesten Sinne konsumistische Motive vor. Anschluss heißt auch Statussuche, um
derentwillen Werte und Normen, die offiziell noch hochgehalten
werden, verletzt bzw. überschritten werden.“112 Dies ist die
Rekapitulation des klassischen Konzeptes der Anomietheorie
Mertons: Die Suche nach gesellschaftlichem, konsumistisch
definiertem Anschluss beinhaltet die Bejahung bestimmter gesellschaftlicher Wertorientierungen, nämlich das Gebot, stets
über ausreichende ökonomische und soziale Mittel zu verfügen,
um den gesellschaftlichen Konsumimperativen folgen zu
können. Das Ganze mündet in einem unbewussten Bedürfnis
nach Selbstbehauptung und Durchsetzung. Da die Gesellschaft
vor allem den Jugendlichen aus der Unterschicht, die oft genug
in den Sozialisationsinstanzen der gesellschaftlichen Auslese
versagt haben, die Möglichkeiten zur Selbstbehauptung und
Durchsetzung verweigert, bleibt ihnen scheinbar nichts anderes
übrig, als sich in Gruppierungen zu organisieren, die diesen
Mangel zu kompensieren scheinen, da sie plötzlich eine Macht
entwickeln, und zwar als Gruppe, die sich gegen bestimmte
gesellschaftliche Außenseiter richtet und die deshalb so heikel
ist, weil sie sich illegitimer Methoden, nämlich krimineller
Gewalt, bedient.
Die Labilität familiärer Bezüge und der Mangel an sozialer
Orientierung im Rahmen gesellschaftlich lizenzierter Institutionen bringt eine zunehmende Indifferenz in Bezug auf moralische Kategorien mit sich.
Heitmeyer beschreibt in diesem Zusammenhang einen Stufenprozess, der von Gewaltbilligung über Gewaltbereitschaft hin zu
Gewalttätigkeit führt.
Bei diesem Prozess ist zu bedenken, dass der Verlust sozialer
Beziehungen auch ein Verschwinden von Verantwortlichkeit mit
112
ebd.
73
sich bringt. In einer Situation, in der Menschen fehlen, denen
man sich moralisch verbunden fühlt, fallen auch die inneren
Barrieren für unmoralisches Handeln: „Wenn es dem einzelnen
gleichgültig ist, was andere von ihm denken, dann wird bereits
Gewalt (…) in das eigene Handlungsspektrum einbeziehbar, um
(...) sich selbst zu behaupten.“113
Aus dieser Kombination der Erfahrungen der Aushöhlung von
Werten und Normen im Sinne einer Verbreitung einer „utilitaristisch-kalkulativen“ Orientierung und der Erfahrungen der
„anomischen Ziel-Mittel-Diskrepanz“ im Sinne der Mertonschen
Anomietheorie kann es nach Heitmeyer zu einer Verdichtung
von Tendenzen der Gewaltbilligung zu Gewaltbereitschaft
kommen.
Um den theoretischen Bezug zu Parsons Sozialisationstheorie
wieder aufzugreifen, kann man bezüglich dieser Jugendlichen
feststellen, dass die Internalisierung bestimmter gesellschaftlicher Wertmuster, wie z.B. Solidarität, Rücksicht, Fürsorge, im
Rahmen der Sozialisation nicht erfolgt ist.
Andere Wertorientierung wurden jedoch sehr wohl verinnerlicht,
jene, deren gesellschaftliches Gratifikationspotential unmittelbar
erfahren werden kann und gerade in den benachteiligten
Schichten so rar ist: Macht, Reichtum, Durchsetzungsfähigkeit,
Erfolg. Heitmeyer schreibt daher: „Wir haben es daher auf der
einen Seite (...) mit der Aushöhlung durch Ökonomisierung zu
tun und auf der anderen Seite mit einer immer schärferen
Aufpolierung der schon genannten Werte wie Erfolg, Durchsetzung, Stärke. An der Etablierung der beiden Prozesse wirken
Jugendliche nicht mit, sondern setzen sich nur damit auseinander, was sie vorfinden und suchen – zum Teil erheblich unter Erwartungsdruck stehend, nach Anschluss und Aufstieg.“114
Schließlich folgert Heitmeyer, dass aus dieser Anomiesituation
heraus Gewaltbilligung entstehen kann, die sich bei Vorliegen
zusätzlicher Antezedenzbedingungen zu Gewaltbereitschaft bzw.
Gewalttätigkeit verdichtet.
Die soziale Abweichung, die von Heitmeyer beschrieben wurde,
manifestiert sich in Gruppen. In Ergänzung dazu soll noch
113
114
74
Heitmeyer 1992, S. 81
ebd.
darauf hingewiesen werden, dass Merton selbst eine Konzeption
einer „sozialen Ansteckung“ aus den Folgen gesellschaftlicher
Anomie entwickelt hat.115 Er entwirft dabei ein Szenario,
wonach das abweichende Verhalten „nicht nur die Individuen,
die es als erste (erfolgreich, Anmerkung des Verfassers)
praktizieren (betrifft), sondern in gewissem Maße auch die
anderen Individuen, mit denen sie im System in einer
Wechselbeziehung stehen.“116 Weiter schreibt Merton, dass eine
Zunahme abweichenden, aber erfolgreichen Handelns die
Legitimität institutioneller Normen tendenziell schwächt, mit der
Folge, dass die bestehende Anomie des jeweiligen sozialen
Systems verstärkt wird und andere Individuen auf diesen
Zustand ihrerseits mit abweichendem Verhalten reagieren: „Auf
diese Weise sind Anomie und zunehmende Devianzraten als
Faktoren anzusehen, die sich im Prozess der sozialen und
kulturellen Dynamik wechselseitig beeinflussen, und zwar mit
kumulativ zerstörerischen Folgen für die normative Struktur,
sofern nicht Kontrollmechanismen aufgeboten werden, die dem
entgegensteuern.“117
2.6.4. Ritualistische Anpassung
Die ritualistische Anpassung beinhaltet die Aufgabe hochgesteckter kultureller Ziele (z.B. es im Leben zu „etwas“ zu
bringen) oder die Reduktion dieser Zielorientierung bis zu einem
Punkt, ab dem die Ansprüche erfüllbar werden. Dabei werden
die institutionellen Normen nahezu zwanghaft weiter verfolgt.
Die Menschen, die Merton mit seinem Konzept der ritualistischen Anpassung beschreiben wollte, zeichnen sich dadurch
aus, dass sie aus Angst vor Frustrationen und Misserfolgen nur
kleinere Ziele verfolgen. Der Konkurrenzkampf und die relative
Labilität eines erreichten Status führen zu akuter Statusangst, die
die Menschen vorsichtig und risikoscheu werden lässt. In der
Folge wird in routinehafter Weise ein Minimum an sozialen Verpflichtungen abgespult, um den Rollenerwartungen wenigstens
gerecht zu werden.
115
Merton 1995, S. 171ff. („der soziale Prozess als Bindeglied zwischen Anomie und
abweichendem Verhalten.“)
116
Merton 1995, S. 172
117
Merton 1995, S. 172f.
75
Für Merton ist die ritualistische Anpassung „jener Anpassungsmodus, bei dem Menschen, indem sie diese Ziele aufgeben
und sich umso zäher an die gesicherten Abläufe und institutionellen Normen klammern, individuell und privat den Gefahren und Frustrationen zu entgehen suchen, die ihnen der Konkurrenz um die wichtigsten kulturellen Ziele inhärent scheinen.“118
Was macht diese Menschen zu gesellschaftlichen Außenseitern?
Es ist Weigerung, sich ständig aufs Neue in einem Konkurrenzkampf bewähren zu müssen, die offenkundige Ablehnung einer
gesellschaftlichen Moral, die darauf gerichtet ist, dass man nur
dann ein akzeptables Gesellschaftsmitglied ist, wenn man zu den
Gewinnern zählt. Es ist die Kapitulation vor einer gesellschaftlichen Erwartung, derzufolge ein bestimmtes Ziel gegebenenfalls trotz wiederholter Rückschläge, und wenn es sein
muss, ein Leben lang, zu verfolgen sei.
Merton bezweifelt, dass hier gesellschaftlich relevante Abweichung vorliegt. Das Verhalten ist nach außen hin nicht das kulturell bevorzugte, aber dennoch institutionell erlaubt.
2.6.5. Rückzug
Der Rückzug als Anpassungsmodus kann uneingeschränkt zur
Explikation von Außenseiterphänomenen benutzt werden. Es ist
eine Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse, die vollständig
als widersprüchlich gedeutet werden. Dahinter steht die
Ablehnung der kulturellen Ziele und der institutionellen Mittel,
diese zu erreichen. Die Mitglieder dieser Gruppe gehören
genaugenommen in die Gesellschaft, aber nicht zu ihr. Merton
bezeichnet sie als „richtige Außenseiter“. Und dazu gehören für
ihn z.B. Psychotiker, Autisten, Vagabunden, Tramps, Alkoholiker, Junkies usw. – im Grunde genommen all jene, die die
Schwelle der Sichtbarkeit ihres sozialen Mangels überschritten
haben und der Gesellschaft unerwünschte Eigenschaften
präsentieren.
Dieser Anpassungsmodus findet Anwendung bei den Individuen,
die unfähig oder unwillig sind, legitime oder illegitime Mittel
zur Zielerreichung zu praktizieren, bzw. bereits versucht haben,
118
76
Merton 1995, S. 145
ihre Ziele mit legitimen oder illegitimen Mitteln zu erreichen,
aber auch hierin gescheitert sind. Die daraus folgende
Unzufriedenheit schlägt sich im Sinne eines intrapersonalen
Konfliktes nieder: „Einmal steht die verinnerlichte moralische
Verpflichtung zur Einhaltung der institutionellen Mittel und
Wege in Widerspruch zu dem Druck zum Rückgriff auf
unerlaubte (aber vielleicht zum Ziel führende) Mittel, und
außerdem sind dem Einzelnen die Mittel und Wege, die sowohl
legal als auch erfolgreich sind, versperrt. (...) Der Konflikt wird
gelöst, indem beide auslösenden Elemente aufgegeben werden,
die Ziele und die Mittel.“119 Das ist der Typus abweichenden
Verhaltens, der von den etablierten Mitgliedern der Gesellschaft
am meisten verachtet wird. Die bisher diskutierten Verhaltensabweichungen und Außenseiterpositionen kommen in der
öffentlichen Beurteilung allesamt besser weg: dem
Innovationisten billigt man eine Lebenstüchtigkeit zu, die man
mit der Formel „man darf alles, sich nur nicht erwischen lassen“
umschreiben kann. Ritualisten lässt man für gewöhnlich in
Ruhe, solange sie keinen allzu großen Schaden für das soziale
System anrichten. Zur Not werden sie in den vorgezogenen
Ruhestand geschickt. Von diesen unterscheidet sich der
„Retreatist“, indem er die Ziele nicht teilt, und von jenen
unterscheidet er sich, indem er die Mittel nicht anwendet. Er ist
also ein unproduktiver Passivposten, dessen Daseinsberechtigung nur darin gesehen werden kann, dass seine bloße Existenz
zur Hebung von Moral und Selbstachtung der übrigen,
konformistischeren Gesellschaftsmitglieder beiträgt, indem er
„vorführt, was mit einem Menschen geschieht, der die
herrschenden Ideale ablehnt und mit Verachtung straft.“120
2.6.6. Rebellion
Der Anpassungsmodus „Rebellion“ zeichnet sich dadurch aus,
dass eine Entfremdung von herrschenden Normen und Zielen
vorliegt. Aber während der „Retreatist“ zwar auch die
kulturellen Vorgaben ablehnt, so unterscheidet er sich doch
dadurch von dem „Rebellen“, indem er sie durch nichts ersetzt.
Der „Rebell“ hingegen will eine andere Sozialstruktur schaffen:
119
120
Merton 1995, S. 148
Merton 1995, S. 149
77
„Rebellion bedeutet eine echte Umwertung, bei der die direkt
oder stellvertretend erlebte Frustration zur vollkommenen
Absage an die früher hochgeschätzten Werte führt.“121
Im Gegensatz zu dem Innovationstypus, bei dem es ja bisweilen
auch um Veränderungen des sozialen Systems gehen kann, ist
das Vorgehen in dieser Kategorie volitional, das heißt, dass es im
Wesentlichen intellektuell bzw. ideologisch motiviert ist. Merton
fährt daher fort: „Wenn das Institutionensystem als die Barriere
angesehen wird, an der die Befriedigung der legitimen Ansprüche scheitert, ist damit der Boden für die Rebellion als
Anpassungsreaktion bereitet. Soll daraus ein organisiertes
politisches Handeln werden, muss nicht nur der herrschenden
Gesellschaftsstruktur die Gefolgschaft verweigert, sondern diese
auch auf neue Gruppen übertragen werden, die im Besitz eines
neuen Mythos sind.“122
2.7. Die formelle Analyse der Devianz
Die Bezugnahme auf Mertons Anomietheorie im Rahmen der
strukturfunktionalen Theorie über Abweichung war erforderlich,
da Mertons Anomiekonzept von Parsons als Erklärung für die
Motivation zu abweichendem Verhalten verwendet wird: „This
classification is of interest, not only because of its direct
derivation from the analysis of the interaction paradigm, but
because it restates, from the motivational point of view, in
essentials the classification put forward some years ago by
Merton in his wellknown paper on Social Structure and
Anomie.”123
Auf dieser Grundlage können nunmehr weitere Ausführungen zu
Parsons’ komplexen Überlegungen bezüglich sozialer
Abweichung erfolgen.
Zunächst unterscheidet Parsons zwischen aktiver und passiver
Devianz, die sich jeweils im Rahmen von Interaktionsprozessen
manifestiert.
Bei der aktiven Devianz besteht ein größeres Maß an Initiative
und mehr Kontrolle über den Interaktionsprozess (hierzu zählen
in der Terminologie von Merton „Innovation“ und „Rebellion“).
121
Merton 1995, S. 150f.
Merton 1995, S. 151
123
Parsons 1951, S. 257
122
78
Bei der passiven Variante von Abweichung fehlt die o.a.
Initiative und Definitionsmacht (hierzu zählen die Konzepte
„Ritualismus“ und „Rückzug“).
Die Matrix, die Devianz nach den Dimensionen Aktivität/
Passivität versus Konformität/Entfremdung aufschlüsselt, wurde
weiter oben bereits vorgestellt. Hinzuzufügen ist noch, dass die
Aktivitätsdimension der Zielorientierung bei Merton entspricht,
wohingegen die passive Dimension den Nachdruck auf
Mittel/Methoden i.S. von Merton setzt.
Eine dritte Unterscheidung wird von Parsons noch eingeführt,
und zwar die der Bezugnahme auf soziale Objekte (z.B.
Personen) oder auf Normen: „the possibility of differentitation
between focussing on one or the other of the two fundamental
components of the interactive system beside ego´s own needdisposition system, namely alter as a person, i.e. a social object
and the normative pattern which integrates their interaction.“124
Die Integration der Dimensionen Konformität/Entfremdung,
Aktivität/Passivität und soziale Objekte/Normen zeigt Parsons in
der nächsten Matrix. Damit entwickelt Parsons ein schematischtabellarisches Instrument, mit dem sämtliche Formen von
Abweichung und Devianz (in Anlehnung, aber auch Erweiterung
des Anomiekonzeptes von Merton) erklärbar sein sollen:
Conformative
Dominance
Alienative
Dominance
Activity
Compulsive Performance Orientation
Focus on Social
Focus on Norms
Objects
Dominance
Compulsiv
Enforcement
Rebelliousness
Aggressiveness
toward Social
Objects
Passivity
Compulsive Acquiescence
Focus on Social
Focus on Norms
Objects
Submission
Perfectionistic
Observance
(Merton’s ritualism)
Withdrawal
Compulsive
Evasion
Independence
Independence
Quelle: Parsons 1951, S.259
Wenn die Konformitätskomponente (conformative dominance)
überwiegt und die Entfremdungskomponente (alienative
dominance) unterlegen ist, liegt erzwungene Konformität vor
(compulsive conformity).
124
Parsons 1951, S. 258
79
Im umgekehrten Fall liegt erzwungene Entfremdung
(compulsive alienation) vor. Die Gründe für diese Bezeichnungen liegen darin, dass ego nicht nur unter der inneren Zerrissenheit aufgrund der Beziehung mit alter leidet, sondern auch
noch aufgrund des inneren Konfliktes in seinem eigenen
Bedürfnissystem: ego hat zwar ein negatives Gefühl gegenüber
alter, aber auch ein machtvolles Bedürfnis, seine Beziehung zu
alter zu erhalten, und auch zu dem maßgeblichen normativen
Muster. Ego muss sich bemühen, seine negativen Gefühle nicht
zu äußern, die Beziehung nicht zu gefährden. Um also das
Verhältnis nicht weiter zu stören, wird zwanghaft konform
agiert. Zwanghafte Ablehnung erfolgt indes, wenn ego unbedingt
verhindern will, dass seine Position nach der Entfremdungskomponente aufgeweicht wird. In diesen zwanghaften Verhaltensmustern sieht Parsons einen Teufelskreis im Sinne der
Genesis abweichender Identitäten, wie z.B. in den Fällen der
Psychopathologie, Neurosen und Kriminalität.
Zusammenfassend folgende fiktive Fallkonstellation: Es möge
der Fokus des Konfliktes auf der sozialen Norm (dem
normativen Muster) liegen unter der Aktivitätsbedingung und bei
Dominanz von Konformität: Ego empfindet den zwanghaften
Willen, Normerwartungen gegenüber alter zu verschärfen und
praktiziert perfektionistische Observanz. Dabei kann ego auch
einen zwanghaften Leistungsdruck bei sich selbst entwickeln:
damit wäre z.B. das soziale „Psychogramm“ eines gnadenlosen
Vorgesetzten entworfen.
Parsons beschreibt in „Sozialstruktur und Persönlichkeit“ einen
Typus passiver Devianz, der für die Außenseiterthematik dieser
Arbeit fruchtbar herangezogen werden kann: Krankheit.
Wie schon Merton festgestellt hat, sind „richtige“ Außenseiter
unter der Rückzugsbedingung als Anpassungsalternative zu
finden. Folglich gilt auch bei dem oben dargestellten Schema,
dass Kranksein einzuordnen ist:
1. unter der Bedingung der Dominanz von Abweichung
(Alienative Dominance) als eine passive Form des
Verhaltens,
2. der Fokus bzw. der Akzent der Abweichung liegt auf dem
Verhältnis zu den sozialen Objekten.
80
Parsons bezeichnet diesen Verhaltensmodus als „Compulsive
Independence“. Er begründet dies folgendermaßen: „Das
strukturelle Muster der Krankheit sollte den drei Kriterien der
Entfremdung, Passivität und Objektorientierung zufolge somit
als ein Fall „zwanghafter Unabhängigkeit“ (hier Compulsive
Independence)125 betrachtet werden. Zwanghafte Unabhängigkeit kann hier als ein Phänomen verstanden werden, das
eine Reaktionsbildung gegen tieferliegende Abhängigkeitsbedürfnisse enthält.“126
Das Ziel seiner Arbeit ist „der Versuch, die soziokulturellen
Definitionen von Gesundheit und Krankheit (...) im Lichte der
amerikanischen Werte zu untersuchen.“127
Parsons geht davon aus, dass es „ein relativ kohärentes,
geschlossenes und im ganzen stabiles, gesellschaftlich institutionalisiertes Wertsystem in Amerika gibt.“128 Dieses Wertesystem
wird von ihm auch als „instrumentaler Aktivismus“ bezeichnet:
„Instrumental bedeutet in diesem Zusammenhang, dass weder
die Gesellschaft als Ganzes noch irgendeiner ihrer Aspekte (etwa
der Staat) zu einem ‚Zweck an sich‘ erhoben, sondern als
instrumental für ‚lohnende‘ Dinge betrachtet werden.“129
Nach Parsons sind in der amerikanischen Gesellschaft folgende
Werte besonders betont: Aktivismus, Weltlichkeit und Instrumentalismus.130
Unter Aktivismus versteht er, „dass die Gesellschaft in Bezug
auf ihre Situation oder Umwelt an der Beherrschung ihrer
Umwelt im Namen von Idealen und Zielen orientiert sein
soll.“131 Das heißt: die Zielrichtung soll nicht auf Anpassung an
unbefriedigende Verhältnisse gerichtet sein.
Mit Weltlichkeit meint Parsons, dass „der Bereich der primär als
positiv bewerteten Tätigkeiten in praktischen, weltlichen Zielen
liegt, nicht in Kontemplation usw.“132
125
Parsons 1951, S. 259
Parsons 1964, S. 359 (in der Fußnote)
127
Parsons 1964, S. 323
128
Parsons 1964, S. 299f.
129
ebd.
130
vgl. Parsons 1964, S. 348
131
Parsons 1964, S. 349
132
ebd.
126
81
Und unter Instrumentalismus versteht Parsons einen ungebrochenen Optimierungswillen: „(Es) gibt eine unbegrenzte
Perspektive möglicher Verbesserung, die des ‚Fortschritts‘, der
das Ideal verwirklicht, indem er sich Schritt für Schritt in der
wünschenswerten Richtung bewegt.“133
Die von Parsons diskutierten Wertorientierungen kulminieren
somit gewissermaßen in einer Leistungsorientierung – Leistung
ist ja auch Element der fünften und damit „ranghöchsten“
pattern-variable.
Parsons bemerkt außerdem, dass nicht nur Leistung an sich
positiv zu bewerten ist, sondern auch die Bedingungen dafür,
dass diese Leistung überhaupt möglich ist. Dazu zählt er
„Freiheit“, als „das Fehlen unnötig hinderlicher Beschränkungen“ und „Chancen“ als „Strukturierung positiver Möglichkeiten.“134 Diese Orientierung führt nach Parsons Ansicht zu
einer stetigen Optimierungsdynamik gesellschaftlicher Prozesse:
„Der Aktivismus unserer Werte erhellt, dass wir nicht eine
statische, unveränderliche Gesellschaft positiv bewerten,
sondern vielmehr eine Gesellschaft, die sich ständig in einer
progressiven Richtung wandelt, das heißt in Übereinstimmung
mit unseren zentralen Werten (...). Wir schätzen Stabilität, aber
Stabilität im Wandel, nicht totale Stagnation.“135
Vor diesem Hintergrund definiert Parsons psychische Krankheit
im Zusammenhang mit sozialer Rollenerfüllung, das heißt der
Tatsache, dass von dem Individuum in seinem gesellschaftlichen
Umfeld erwartet wird, dass es die von seiner (Berufs)Rolle
definierten Leistungen erbringt: „Da für die direkte gegenseitige
Durchdringung von sozialen Systemen und Persönlichkeit die
Ebene der Rollenstruktur im Mittelpunkt liegt, wird psychische
Krankheit durch die Unfähigkeit zum Problem, die sozialen
Rollenerwartungen zu erfüllen.“136 Krankheit sei zwar ein
Zustand des Individuums, aber auf der Ebene des sozialen
Systems wird „dieser Zustand für beide Seiten, sowohl für den
Kranken, als auch für die anderen, mit denen er innerhalb der
sozialen Rollenbeziehung in Kontakt steht, manifest und
133
Parsons 1964, S. 349f.
ebd.
135
Parsons 1964, S. 299f.
136
Parsons 1964, S. 325
134
82
problematisch.“137 Dabei geht es um die Erfüllung bestimmter
Rollenerwartungen, das heißt um „die Fähigkeit, in solche
Beziehungen einzutreten, und die mit derartigen Zugehörigkeiten verbundenen Erwartungen zu erfüllen.“138 Parsons spricht
von Mechanismen, die die Anpassung des Individuums an
komplexe soziale Situationen im sozialen System ermöglichen,
und wenn die Anpassungsmechanismen zusammenbrechen, kann
psychische Krankheit eine Möglichkeit für das Individuum sein,
auf die Spannungen zu reagieren, denen es im Laufe des sozialen
Prozesses unterworfen ist. Gegen die Werte des „instrumentalen
Aktivismus“ verstößt Krankheit als Seinsweise des Menschen.
Wer nicht gesund ist, kann die geforderte und erwartete Leistung
nicht erbringen. Er verstößt gegen die Werte des kulturellen
Systems, verletzt die Rollenerwartungen des sozialen Systems
und wird damit zum gesellschaftlichen Außenseiter.
Parsons verkennt nicht, dass das Leben in den westlichen
Gesellschaften der Moderne komplex geworden ist und größere
Anforderungen an das Individuum gestellt werden. Aber: „Die
Motivation, über psychische oder psychosomatische Bahnen in
die Krankheit auszuweichen, hat sich verstärkt und damit die
Bedeutung wirksamer Mechanismen zur Kontrolle dieses
Ausweichens.“139
Auch ist „Krankheit kein wünschenswerter Zustand, sondern ein
Zustand, der so rasch wie möglich überwunden werden muss.“140
Und weiter: „Wie Durkheim am Beispiel des Verbrechens klar
machte, ist die Auffassung der Krankheit als eines illegitimen
Zustandes deshalb von größter Bedeutung für die Gesunden,
weil sie ihre eigenen Motivationen, nicht krank zu werden,
verstärkt und damit verhindert, dass Muster abweichenden
Verhaltens übernommen werden.“141 Krankheit wird also von
Parsons deutlich als Abweichung stigmatisiert. Sie kann
„motivationsmäßig wie bakteriologisch ‚ansteckend‘ sein.“142
Zwar besteht gewissermaßen ein gesellschaftliches Moratorium
für die „wirklich“ Kranken, in dem Sinne, dass der Kranken137
ebd.
ebd.
139
Parsons 1964, S. 353
140
Parsons 1964, S. 347
141
ebd.
142
Parsons 1964, S. 346
138
83
stand als Status akzeptiert wird, in dem eine „legitime Grundlage
für die Befreiung des kranken Individuums von normalen
Rollen- und Aufgabenverpflichtungen“143 zuzugestehen ist, aber
der Kranke hat, ganz im Sinne der o.a. amerikanischen Werte,
alles zu tun, um den Krankenstand zu überwinden und mit den
behandelnden Institutionen aktiv auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
Mit seiner Abhandlung über Krankheit hat Parsons deutlich
gemacht, wie nach seinen Vorstellungen ein Individuum trotz
einer Beeinträchtigung ein vollwertiges Gesellschaftsmitglied
bleiben kann: wenn Krankheit oder ein vergleichbares Handikap
vorliegt, soll dies nach Möglichkeit überwunden werden.
Nach Parsons Ansicht gehört es nicht zu den möglichen
Handlungsoptionen eines Individuums, sich mit einer Beeinträchtigung abzufinden, die das Individuum an der Erfüllung
gesellschaftlicher Erwartungen hindert. Eine solche Haltung
steht im Widerspruch zu dem, was dem Individuum im Rahmen
seiner Sozialisation nahegebracht wurde.
Die Menschen, die in einem solchen Zustand leben müssen, weil
sie krank oder alt oder behindert sind, können daher eine
Divergenz zwischen dem, was sie tatsächlich sind, und dem, was
sie nach den Vorstellungen einer leistungs- und jugendorientierten Gesellschaft sein sollten, empfinden.
Eine theoretische Annäherung an diese Desintegrationserfahrung
führt zu einer zentralen Hypothese dieser Arbeit.
2.8. Desintegrationstheorem
Die Theorien Eriksons und Parsons’ entsprechen einander in
ihrer positiven und apologetischen Orientierung an den
Wertstrukturen der modernen amerikanischen Gesellschaft.
Sie sind insofern „normativ“, als sie eine Entwicklungsfolge im
positiven Sinne thematisieren, die sich an gesellschaftlichen
Wertsetzungen orientiert. Diese Theorien erhalten insoweit sogar
einen ideologischen Anstrich, weil sie eindeutig Stellung
beziehen: eine ontogenetische Entwicklung, die normabweichend verläuft, wird als negativ gekennzeichnet.
Weiterhin ist für beide Theorien bedeutsam, dass die Individuen
im Verlauf ihrer Persönlichkeitsentwicklung wenig Autonomie
143
84
Parsons 1964, S. 345
besitzen. Sie entwickeln sich aufgrund ontogenetischer Prozesse,
die mit ihrer körperlichen Reifung konvergieren.
In Ergänzung dazu wirken sich, bei Erikson weniger, bei Parsons
mehr, die Umwelteinflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung
aus.
Im Falle eines negativen Verlaufes der Persönlichkeitsentwicklung ist in beiden Theorien eine Desintegration der
Identität beschrieben worden, denn Identität als Ergebnis eines
Sozialisationsprozesses stellt letztlich eine Integrationsleistung
dar. Erikson ist davon ausgegangen, dass sich die „gesunde
Persönlichkeit“ in einem Zusammenhang von Kollektivität und
Zugehörigkeit wiederfindet, dass sie also in ihrer eigenen
Identität die Werte und Ziele des Kollektivs reproduzieren kann.
Eine integrierte Identität stellt das Gegenteil der zersplitterten
Identität eines Menschen dar, dessen Entwicklung nicht zu einer
Zugehörigkeit zu einer Gruppe führte, dessen Identitätsentwicklung somit negativ endete.
Auch Parsons geht davon aus, dass am Ende einer gelungenen
Sozialisation die Integration der Subsysteme des Individuums
(organisches System und psychisches System) in die
übergeordneten Systemzusammenhänge des sozialen und des
kulturellen Systems (in der Reihenfolge Körper-IndividuumFamilie-Gesellschaft) steht. Diese Integrationsleistung vollzieht
sich über die Rollenbezüge des Individuums mit dem Ziel,
letztlich eine integrierte Persönlichkeit zu werden, die eine
einheitliche Identität besitzt.
Nach der Theorie vollzieht sich über den Sozialisationsprozess
gleichsam automatisch eine Assimilation der Bedürfnisdispositionen an die gesellschaftlichen Vorgaben, was sich zum
Beispiel in einer reibungslosen Komplementarität der Verhaltenserwartungen interagierender Individuen äußert. Diese
Komplementarität ist jedoch gefährdet, wenn die motivationale
Orientierung nicht ausreichend an die Systembedürfnisse
angepasst ist: Rollenerwartungen werden nicht so erfüllt, wie es
erwartet wird, weil ihre motivational fundierten Entsprechungen
im personalen System fehlen. Wenn jedoch Identität nach der
strukturfunktionalistischen Theorie eine Reifikation der maßgeblichen Rollenbezüge ist, wenn sie sich also ausschließlich aus
der Entsprechung der motivationalen Struktur des personalen
85
Systems mit den Erwartungen des sozialen Systems und den
Wertsetzungen des kulturellen Systems ableiten lässt, so
bedeutet dieser Mangel an systembezogener Entsprechung zum
einen ein Mangel an Integration der für das Individuum
maßgeblichen Systemebenen in seiner Handlungsorientierung,
und weiters ein Mangel an, letztlich von sozialen Rollen
definierter, Persönlichkeitsqualität, das heißt von Identität im
Sinne eines umfassenden Rollenderivates.
Auch Parsons muss die Gefährdung seiner Identitätskonzeption
erkannt haben. In einem Aufsatz, der 1968 veröffentlich wurde,
schreibt er Folgendes: „die Tatsache, dass Rollenpluralismus an
Bedeutung gewinnt, bedeutet, dass die Individuen mehr
zentrifugalen Kräften ausgesetzt sind, weil an jede
Rollenverpflichtung je eigene Erwartungen, Belohnungen und
Verpflichtungen geknüpft sind. Für die Persönlichkeit wird es
unerlässlich, ein angemessenes Niveau der Integration dieser
einzelnen Komponenten herzustellen.“144
Der weitere Schluss liegt nahe: wenn dieses Niveau nicht
erreicht wird, gebricht es dem Individuum jener „Integrität“, die
im Zusammenhang mit Parsons’ Konzeption von Identität steht,
und dies bedeutet für die Person einen Verlust ihrer „Fähigkeit,
nicht nur kognitiv konsistent, sondern als Handelnder und als
Objekt in all ihren Hauptlebensbereichen integriert zu sein,
sowohl in ihren verschiedenen Rollen, wie auch in den
Kontexten, die nicht angemessen unter soziologischen
Gesichtspunkten analysiert werden können.“145
Mit diesem Zitat ist eine Thematik angesprochen, auf die ich
später nochmals zurückkommen werde, die die Schwierigkeiten
der Identitätsgewinnung in der fortgeschrittenen Moderne
beinhaltet.
Das Desintegrationstheorem, das ich bisher nur im Zusammenhang normativ orientierter Theoriestränge belegen kann,
lässt sich auch aus anderen Theorien herauslesen. Im nächsten
Abschnitt befasse ich mich daher mit den theoretischen
Aussagen zur Identitätsentwicklung, die dem sogenannten
interpretativen Paradigma in der Soziologie zugerechnet werden
144
145
86
Parsons 1968, S. 73
Parsons 1968, S. 78
und den daraus ableitbaren Aussagen zu Abweichung und
Außenseitertum.
87
3. Identität im interpretativen Paradigma – das Individuum
als Subjekt
Den theoretischen Konzeptionen des normativen Paradigmas
stehen die subjektivistischen Ansätze gegenüber. Diese kann
man als eine „theoretische Erkenntnisweise verstehen, die sich
ausschließlich auf subjektive Gegebenheiten bezieht, das heißt
auf Praktiken, Wahrnehmungen, Intentionen oder kognitive
Repräsentationen, wie sie der praktischen Erfahrung sozialer
Akteure unmittelbar gegeben sind.“146
Das subjektivistische Konzept korrespondiert mit dem „interpretativen Paradigma“, welches von Wilson folgendermaßen
definiert wird: „Nach dem interpretativen Paradigma können
(...), im Unterschied zum normativen Paradigma, Situationsdefinitionen und Handlungen nicht als ein für allemal explizit
oder implizit getroffen und festgelegt angesehen werden. (...)
Vielmehr müssen Situationsdefinitionen und Handlungen
angesehen werden als Interpretationen, die von den an der
Interaktion Beteiligten an den einzelnen ‚Ereignisstellen‘ der
Interaktion getroffen werden, und die in der Abfolge von
‚Ereignisstellen‘ der Überarbeitung und Neuformulierung
unterworfen sind.“147 Es gibt nach diesem Erklärungsmodus also
keine prävalenten übereinstimmenden Situationsdefinitionen; ein
Abspulen innerer oder äußerer Handlungsanleitungen findet
nicht statt. Im Vordergrund steht vielmehr die Dynamik eines
interpretativen Interaktionsprozesses, der z.B. im Symbolischen
Interaktionismus seinen Ausdruck darin findet, dass die Identität
des Individuums letztlich Resultat einer sozialen Konstruktion
ist.
3.1. Die Theorie des Selbst – einführende Bemerkungen zu
George Herbert Mead
Die Arbeiten Meads sind durch die in Amerika im ausgehenden
19. Jahrhundert entstandene philosophische Lehre des Pragmatismus beeinflusst, deren Credo es war, dass sich das Wesen des
Menschen in seinem Handeln offenbart. Das Denken und
Entscheiden des Menschen wird nach dem Nutzen des sich
daraus ergebenden Verhaltens beurteilt. Vor diesem Hintergrund
146
147
88
Schwingel 1995, S. 35
Wilson 1973, S. 61
grenzte sich Mead von zwei psychologischen Theorien, die zu
der Zeit konzipiert wurden, deutlich ab. Es handelt sich dabei
um den Behaviorismus und die Psychoanalyse.
Mead wandte sich gegen elementare Aussagen dieser Lehren,
soweit sie die kognitive Bedeutung des menschlichen Verhaltens
ignorierten und im menschlichen Verhalten nichts als nur die
Abfolge von Reaktionen auf äußere Reize oder eine
mechanistische Triebabfuhr sahen. Mead indessen erarbeitete in
seiner Lehre ein reines Subjektmodell des Menschen, in dem er
ein aktiv handelndes und vernunftbegabtes Individuum erkannte.
Zu Meads Argumentation gegen den Behaviorismus schreibt
Abels: „Mead erklärte die tätige Auseinandersetzung des
Menschen mit seiner Welt mit einer spezifisch menschlichen
Fähigkeit, die er Geist nennt. Sie besteht darin, signifikante
Symbole zu schaffen und zu verwenden. Diese Fähigkeit, die das
Verhalten steuert, ist in sozialen Prozessen entstanden und wird
in sozialen Prozessen immer wieder bestätigt.“148 Dazu gehört
auch die Ablehnung der Annahme einer Determination
menschlichen Verhaltens durch unbewusste seelische Vorgänge,
wie sie als Grundannahme der Psychoanalyse gelten: „Wo er den
Begriff des Bewusstseins oder der inneren Erfahrung zuließ,
band er ihn an objektiv sichtbares Verhalten in konkreten
sozialen Prozessen und nicht an eine innere, subjektive Welt.“149
Diese
pragmatistische
Sichtweise
erteilt
jeglichem
Determinismus, unter dem das Handeln des Menschen stehen
soll, eine Absage. Insoweit sie das Individuum zum Herrn des
Geschehens erhebt, gibt sie dem Menschen als handelndem
Subjekt die Autonomie zurück, die ihm der Behaviorismus und
die Psychoanalyse abgesprochen haben.
3.2. Kommunikation, Identität und Gesellschaft
Meads grundlegende sozialpsychologische Position zur
Sozialisation und Identitätsgenese beinhaltet, dass Menschen
sich gegenüber Tieren dadurch auszeichnen, in einer Welt zu
leben, die sich ihren Gedanken und Sinnen über symbolische
Bedeutungen erschließen. Diese symbolischen Bedeutungen
werden intersubjektiv im Wege der Kommunikation übermittelt;
148
149
Abels 1997b, S. 13
Abels 1997b, S. 14
89
eine lexikalische Definition des Begriffes „Kommunikation“150
impliziert, dass es sich dabei um die „nachrichtliche
Übertragung bzw. Signalisierung von sozial signifikanten
Bezugsinhalten oder Symbolen (handelt)“.
Kommunikation wird von Mead als „Grundprinzip der
gesellschaftlichen Organisation“151 bezeichnet. Sie vollzieht sich
im Wesentlichen im Medium der Sprache; diese ist „die
höchstentwickelte Form der Kommunikation. In der Sprache
sind die kollektiven Erfahrungen einer Gesellschaft gespeichert.
Sie ist Träger intersubjektiv geteilten Wissens und versorgt uns
mit den Erklärungen für Situationen, wie wir sie normalerweise
erleben.“152 Sprache ist das spezifisch menschliche Zeichensystem und insofern von herausragender Bedeutung, als sie
intersubjektiv geteiltes Wissen über das gemeinsame Leben in
einer sozialen Umwelt zu transportieren vermag und dabei die
Abstraktion von der konkreten Situation, dem „Hier und Jetzt“
der Lebenswelt erlaubt. Sie verfügt noch zusätzlich über die
Kapazität, Informationselemente zu transportieren, die aufgrund
ihres informellen Charakters mit anderen Medien, wie z.B. der
Schrift, kaum vermittelbar sind. Dabei denke ich an den
spezifischen Informationsgehalt, den die Modulation der Stimme
oder der Sprachgeschwindigkeit oder die Anwendung
rhetorischer Stilmittel (z.B. Pausen) bewirken kann. Sprache ist
dazu fähig, „eine Fülle von Phänomenen zu vergegenwärtigen,
die räumlich, zeitlich und gesellschaftlich vom Hier und Jetzt
abwesend sind. Genauso kann sie weite Bereiche subjektiver
Erfahrung und subjektiv gemeinten Sinnes im Hier und Jetzt
objektivieren. Kurz gesagt, durch die Sprache kann eine ganze
Welt in einem Augenblick ‚vorhanden‘ sein.“153
Über die Sprache erschließen sich die Menschen ihre Welt, und
zwar nicht nur die den Einzelnen umgebende (soziale) Umwelt,
sondern auch sich selbst. Mead schreibt dazu Folgendes: „Der
Einzelne erfährt sich – nicht direkt, sondern nur indirekt – aus
der besonderen Sicht anderer Mitglieder der gleichen
gesellschaftlichen Gruppe oder aus der verallgemeinerten Sicht
150
z.B. Deutsch 1963
vgl. Mead 1934, S. 299
152
Abels 1997b, S. 19f.
153
Berger und Luckmann 1966, S. 39f.
151
90
der gesellschaftlichen Gruppe als ganzer, zu der er gehört. Denn
er bringt die eigene Erfahrung als einer Identität oder
Persönlichkeit nicht direkt oder unmittelbar ins Spiel, nicht
indem er für sich selbst zu einem Subjekt wird, sondern nur
insoweit, als er zuerst zu einem Objekt für sich selbst wird,
genauso wie andere Individuen für ihn oder in seiner Erfahrung
Objekte sind; er wird für sich selbst nur zum Objekt, indem er
die Haltungen anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt oder eines Erfahrungs- und
Verhaltenskontextes einnimmt, in den er ebenso wie die anderen
eingeschaltet ist. Die Bedeutung der ‚Kommunikation‘ liegt in
der Tatsache, dass sie eine Verhaltensweise erzeugt, in der der
Organismus oder das Individuum für sich selbst zum Objekt
werden kann.“154
Das Individuum erfährt nach dieser Theorie, über den Umweg
der Kommunikation mit anderen, die Sachverhalte über seine
Person, die für die Entwicklung eines Gefühles für sich selbst
maßgeblich sind. Das Individuum erfährt sich selbst sozusagen
mit den Augen der Anderen, aufgrund dieser Erfahrung gewinnt
es eine Bewusstheit seiner selbst als Voraussetzung für seine
Identität. Die im kommunikativen Prozess gewonnene
individuelle Identität bezieht sich immer auf die soziale Umwelt,
denn es zeigt sich, dass „eine (...) etwas mitteilende Person die
Haltung des anderen Individuums genauso einnimmt, wie sie sie
beim anderen hervorruft. Sie befindet sich selbst in der Rolle der
anderen Person, die sie auf diese Weise anregt und beeinflusst.
Indem sie diese Rolle der anderen übernimmt, kann sie sich auf
sich selbst besinnen und so ihren eigenen Kommunikationsprozess lenken. Diese Übernahme der Rolle der anderen ist für
die Entwicklung der kooperativen Gesellschaft wichtig. Die
unmittelbare Wirkung dieser Übernahme einer Rolle liegt in der
Kontrolle, die der Einzelne über seine eigenen Reaktionen
ausüben kann.“155 Auf diese Weise, also über die
Kommunikation, sieht sich ego selbst in den Augen alters.
Insoweit erfolgt eine wechselseitige Verständigung über
Perspektiven und Rollen der Interaktionspartner.156 Dabei offen154
Mead 1934, S. 180
Mead 1934, S. 300f.
156
vgl. Abels 1997b, S. 22
155
91
baren sie in ihrem Handeln, wie sie sich selbst und die anderen
sehen. Sie handeln auf der Grundlage subjektiver Theorien und
Antizipationen über das Denken und Handeln des jeweils
Anderen. Dieses Denken im Kontext der Erfahrung seiner selbst
und der anderen ist die Voraussetzung für jene Selbstbewusstheit, aus der sich Identität ableitet.
Gesellschaftsmitglieder mit gesellschaftlich geprägter Identität,
die auf der Grundlage gegenseitiger Verhaltenserwartungen
handeln, generieren überdauernde Handlungsstrukturen, die eine
Grundlage für ein stabiles gesellschaftliches Miteinander sind.
So entfaltet Mead aus dem Gedanken des KommunikationsIdentitätszusammenhanges auch eine Theorie der Gesellschaft
als kommunikative Konstruktion denkender Individuen. Die
sozialen bzw. kommunikativen Handlungsstrukturen, die von
zeitlicher Dauer sind und in identitätsgenerierender Weise die
Persönlichkeitsentwicklung der Individuen beeinflussen, können
den Charakter von Institutionen haben.
Sprache selbst ist eine Institution, die eine Festlegung bezüglich
bestimmter sinnhaft determinierter Sachverhalte darstellt, an die
sich die Individuen zu halten haben, wenn sie sie nutzen, von ihr
profitieren wollen.
Mead teilt die anthropologische Überzeugung, wonach die
Bildung von Institutionen im Allgemeinen und Sprache im
Besonderen, als wesentliche Voraussetzung für menschliche
Gesellschaftsformationen anzusehen ist. So schreibt er: „Die
Entwicklung der Sprache, insbesondere des signifikanten
Symbols, ermöglicht es, dass diese externe gesellschaftliche
Situation in das Verhalten des Einzelnen hereingenommen wird.
Daraus leitet sich die enorme Entwicklung ab, die für die
menschliche Gesellschaft typisch ist, die Möglichkeit,
zukünftige Reaktionen der Individuen vorauszusehen, und die
vorwegnehmende Anpassung an sie durch den Einzelnen.“157
Über die Sprache erwerben die Individuen nicht nur eine
Identität. Auf dieser Grundlage sind sie auch dazu in der Lage,
an den gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben, als Gesellschaftsmitglieder überhaupt eine Lebensgrundlage zu erlangen.
157
92
Mead 1934, S. 230f.
3.3. Die Ontogenese der Identität
Der ontogenetische Prozess der Entwicklung von Identität
vollzieht sich zunächst als allmähliche Hereinnahme der Rollen
und Standpunkte und Erwartungen, der signifikanten Anderen im
Bewusstseins- und Handlungshorizont des Individuums. Die
signifikanten Anderen sind dem engeren sozialen Umfeld des
Kindes zugehörig. Diese Rollenübernahme vollzieht sich im
„play“ und manifestiert sich in der spielerischen Übernahme der
Rollen konkreter Menschen, die in dem frühen Erfahrungshorizont des Kindes prävalent sind. Gleichzeitig konkretisieren
sich im Bewusstsein des Kindes die Erwartungen der begrenzten
sozialen Umwelt, so dass sich, neben dem ursprünglich
vorhandenen, gleichsam „natürlichen“ Identitätselement (Abels
bezeichnet es als „impulsives Ich“158) dem von Mead so
genannten „I“, erste „me’s“ konstituieren: „Das ‚I‘ reagiert auf
die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen
anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen,
führen wir das ‚me‘ ein und reagieren darauf als ein ‚I‘.“159 Und
an anderer Stelle heißt es: „das ‚I‘ ist die Reaktion des einzelnen
auf die Haltung der Gemeinschaft, so wie diese in seiner
Erfahrung aufscheint.“160
Das „I“ und das „me“ haben jeweils qualitativ unterschiedlichen
Anteil an der Identität: „Beide sind im Prozess (des Verhaltens,
Anmerkung des Verfassers ) getrennt, gehören aber so wie Teile
eines Ganzen zusammen. Sie sind nicht identisch, da das ‚I‘
niemals ganz berechenbar ist. Die Identität ist im Wesentlichen
ein gesellschaftlicher Prozess, der aus diesen beiden
unterscheidbaren Phasen besteht.“161
Es ist einleuchtend, dass die Haltungen der Gemeinschaft, die
ihren Niederschlag in der Entwicklung und der Ausprägung der
„me’s“ finden, umfangreicher werden, je weiter die Sozialisation
des Individuums fortschreitet. Dabei werden die signifikanten
Anderen allmählich zahlreicher und deren Erwartungen weiter
und polymorpher.
158
vgl. Abels 1997b, S. 33f.
Mead 1934, S. 217 (aus Gründen der Verständlichkeit wähle ich abweichend von der
deutschen Übersetzung die amerikanischen Originalbezeichnungen für die Instanzen der
Persönlichkeit)
160
Mead 1934, S. 240
161
Mead 1934, S. 221
159
93
Schließlich verlässt das Kind den engen Bereich der Kernfamilie
und wird in weitere soziale Zusammenhänge eingebunden. Mead
hat dieses Stadium paradigmatisch mit dem Begriff „game“
belegt. Damit macht er deutlich, dass das Kind die Rollen aller
im Wettspiel Beteiligten in sich organisieren und verinnerlichen
und sie gleichzeitig in sein Handlungskonzept einbeziehen muss.
Der Vergleich mit dem Wettkampf steht für die Situation des
Individuums, das nach der Phase der primären Sozialisation aus
der Herkunftsfamilie und deren Ubiquitätsanspruch heraustritt
und sich den Erwartungen und Anforderungen der Institutionen
im Rahmen der weiteren Sozialisation stellen muss.162 Mead
beschreibt dies so: „Der grundlegende Unterschied zwischen
dem ‚play‘ und ‚game‘ liegt darin, dass im Letzteren das Kind
die Haltung aller anderen Beteiligten in sich haben muss. Die
vom Teilnehmer angenommenen Haltungen der Mitspieler
organisieren sich zu einer gewissen Einheit, und diese
Organisation kontrolliert wieder die Reaktion des Einzelnen.“163
Eine wichtige Konsequenz der Verinnerlichung der Rollen der
im gesellschaftlichen Prozess beteiligten Individuen mit ihrer
Komplexität ist schließlich die Übernahme der gesellschaftlichen Position in das Bewusstsein des Individuums. So schreibt
Mead: „Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche
Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann
‚der verallgemeinerte Andere‘ genannt werden.“164 Er ist, nach
den signifikanten Anderen, jene Instanz, die das Individuum mit
handlungsleitenden Soll-Anforderungen im Sinne von Werten
und Normen der Gesellschaft, soweit sie nicht schon im Rahmen
der primären Sozialisation vermittelt wurden, versorgt. Diese
manifestieren sich in den Erwartungen, denen sich das
Individuum gegenübersieht, wenn es im Rahmen der sekundären
Sozialisation gesellschaftliche Rollen übernimmt: „Der
generalisierte Andere ist die Summe der generellen Erwartungen
aller, oder um es in einer anderen Theoriesprache zu sagen: es
sind die Normen und Werte der Gesellschaft, die in einer
bestimmten Situation oder Rolle relevant sind. Die Gesellschaft
162
vgl. Mead 1934, S. 194
Mead 1934, S. 196
164
ebd.
163
94
ist der umfassende generalisierte Andere.“165 Das Ziel der
Sozialisation ist es, dass das Individuum die Erwartungen, die
sich in dem generalisierten Anderen bündeln, in sein Verhaltensrepertoire übernimmt, um ihnen gemäß als Mitglied der
Gesellschaft zu agieren: „Damit ein menschliches Wesen eine
Identität im vollen Sinn des Wortes entwickeln kann, genügt es
nicht, dass es einfach die Haltungen anderer Menschen gegenüber sich selbst und untereinander innerhalb des menschlichgesellschaftlichen Prozesses einnimmt und diesen Prozess als
Ganzen nur in dieser Hinsicht in seine individuelle Erfahrung
hereinbringt: es muss ebenso, wie es die Haltungen anderer
Individuen zu sich selbst und untereinander einnimmt, auch ihre
Haltungen gegenüber den verschiedenen Phasen oder Aspekten
der gemeinsamen gesellschaftlichen Tätigkeit oder der gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen, in die sie als Mitglieder
einer organisierten Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe
alle einbezogen sind; (...) Dieses Hereinholen der weitgespannten Tätigkeit des jeweiligen gesellschaftlichen Ganzen
oder der organisierten Gesellschaft in den Erfahrungsbereich
eines jeden in dieses Ganze (...) eingeschlossenen Individuums
ist die entscheidende Basis (...) für die volle Entwicklung der
Identität des Einzelnen: nur insoweit er die Haltungen der
organisierten gesellschaftlichen Gruppe, zu der er gehört, (...)
annimmt, kann er eine vollständige Identität entwickeln und (...)
besitzen.“166
Zusammenfassend lässt sich Meads Konzept der Identitätsentwicklung folgendermaßen umschreiben: Identitätsgenese ist
wesentlich Ergebnis sprachlich vermittelter Interaktionsbeziehungen, deren Funktion in der wechselseitigen Reaktion
aufeinander, der wechselseitigen Konfrontation mit Verhaltenserwartungen und in der Folge der Internalisierung
gesellschaftlich vorgegebener Werte und Normen liegt. Die
Individuen reagieren auf Ereignisse im Lebensprozess nach der
Maßgabe der in ihrem gesamten sozialen Erfahrungsbereich
erworbenen generalisierten Bedeutungszuschreibungen. Dabei
vollziehen sich diese Interaktionsbeziehungen zunächst im
sozialen Nahbereich der primären Sozialisation, in der aktiv165
166
Abels 1997b, S. 31
Mead 1934, S. 197
95
kommunikativen Auseinandersetzung mit den signifikanten
Anderen und erweitern sich im Rahmen der sekundären Sozialisation im Sinne der Hereinnahme des Standpunktes der
Gesellschaft in das Denken des Individuums in der Gestalt des
generalisierten Anderen, der als „Instanz der sozialen
Erfahrung“167 die Identität beeinflusst.
Wenzel führt weiter aus: „Mead fasst die Bildung der Identität
als einen Prozess sozialer Erfahrung, in dem das Individuum
schließlich die Perspektiven einer universalen und abstrakten
Kommunikationsgemeinschaft zu übernehmen lernt. Struktur
und emergente Einheit der Identität des Selbst bedeuten nichts
anderes als die Internalisierung des Prozesses sozialer
Erfahrung.“168
Habermas orientiert sich an den Aussagen Meads, indem er den
Sozialisationsprozess als Rollenübernahme und Identitätsgenese
deutet. Dafür steht folgendes Zitat: „Mead erklärt hauptsächlich
die Struktur des Rollenhandelns, indem er zeigt, wie sich das
Kind die soziale Welt, in die es hineingeboren wird und in der es
aufwächst, nachkonstruierend aneignet. Komplementär zum
Aufbau der sozialen Welt vollzieht sich die Abgrenzung einer
subjektiven Welt; das Kind bildet seine Identität aus, indem es
die Qualifikation erwirkt, an normengeleiteten Interaktionen
teilzunehmen. Im Mittelpunkt der Analyse stehen also die
Begriffe der sozialen Rolle und der Identität.“169
3.4. Innen- und Außenperspektive sowie theoretische
Einwände
Symbolische Interaktion ist ein prinzipiell offener Prozess.
Bewertungen, die in den Kommunikationsprozess Eingang
gefunden haben und bestimmte intersubjektiv geteilte Haltungen
und Erwartungen scheinbar festschreiben, unterliegen einer
fortwährenden Dynamik. So ist auch die soziale, intersubjektive
Konstruktion der Identität nichts, das unveränderbar im Leben
des Menschen existiert.
Die gesellschaftliche Prägung bewirkt zwar, dass jede Identität
einer sozialen Determination folgt, aber Menschen sind nicht
167
vgl. Wenzel 1985, S. 33
ebd.
169
Habermas 1981, S. 47
168
96
einfach nur darauf zu reduzieren, dass sie ausschließlich sozial
determiniert seien. Mead hat diesem Umstand mit seiner
Differenzierung der zwei Identitätsinstanzen „I“ und „me“
Rechnung getragen. Während die „me-Instanz“ das gesellschaftlich geprägte Ich repräsentiert, das sich in die sozialen
Funktionszusammenhänge einpasst und der Vielfalt von
Rollenerwartungen entspricht, bildet das „I“ eine Instanz, die
dem Ich dazu dient, nicht restlos an gesellschaftliche Strukturen
assimiliert zu werden.
Die „me's“ repräsentieren die internalisierten Haltungen anderer,
die in ihrer Gesamtheit den generalisierten Anderen bilden.
Mead definiert das „I“ als eine „Phase der Identität“170. Insofern
ist es ein Teil der Persönlichkeit mit einer ganz bestimmten
Funktion: „Das ‚I‘ ist die Reaktion des Organismus auf die
Haltungen anderer.“171 Das „I“ ist „vorsozial“, gleichsam „ein
Erdenrest“, der nicht vollständig sozialisierbar und dem
Freudschen „Es“ nicht unähnlich ist. Es bildet in diesem ganzen
System so etwas wie eine organische Residualkategorie. Es ist
stets unberechenbar und für die Wandlungen der Identität
zuständig: „Neue Entwicklungen finden in den Aktionen des ‚I‘
statt.“172 In diesem Sinne sind Interaktionssituationen prinzipiell
stets „offen“, und hierin liegt auch der tiefere theoretische
Grund, weshalb in einigen Fällen eine einvernehmliche
Identitätszuweisung misslingen kann. Abels schreibt hierzu
Folgendes: „Mead hat einen prozessualen Ansatz zur Erklärung
des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft
verfolgt, der die Bedeutung des Individuums als Gestalter seiner
Welt herausstellt. Ein entscheidender Unterschied (zu der
strukturfunktionalistischen Theorie von T. Parsons, soweit sich
diese mit Sozialisationsprozessen befasst (Anmerkung des
Verfassers)) liegt aber in der sozialpsychologischen Perspektive
auf das widerständige impulsive Ich. Während Parsons eine
solche Differenz zwischen Individuum und gesellschaftlichen
Erwartungen als Defizit interpretiert, ist es für Mead geradezu
Voraussetzung für die Veränderung von Gesellschaft. Ganz
nebenbei ist es auch Voraussetzung für Identität. Mead hat dem
170
vgl. Mead 1934, S. 221
Mead 1934, S. 218
172
Mead 1934, S. 253
171
97
Individuum in der Soziologie ein Stück Freiheit zurückgegeben
und gleichzeitig gezeigt, dass gesellschaftliche Ordnung dadurch
nicht gefährdet, sondern letztlich sogar gestärkt wird – allerdings
als Ordnung im Wandel.“173
Das leibgebundene „I“, der körperliche Rest im Wesen des
Menschen als Motor für Freiheit? Man kann das auch anders
sehen, wie z.B. Tenbruck, der dem Menschen nach der Meadschen Logik jegliche Möglichkeit der Selbstbestimmung
abspricht und ihn „hineingestellt zwischen die soziale Fixiertheit
seines ‚me‘ und die uneinholbare Erratik seines Organismus“
sieht.174
Schließlich möchte ich noch auf folgenden theoretischen
Einwand von Joas eingehen. Joas stellt zunächst fest, dass sich
nach Meads Theorie die Identitätsgenese in Interaktionsprozessen vollzieht. Der Anteil des Individuums am Aufbau und
der Ausbildung der Identität ist zwar nicht bestimmbar, es kann
jedoch vermutet werden, dass er im Laufe zunehmender Reife
und Souveränität im Umgang mit den Rollenstrukturen der
Gesellschaft immer größer, wenn nicht sogar bestimmend wird.
Joas stellt jedoch fest, „dass Mead (...) nur die dialogischdiskursiven Strukturen der Identitätsbildung (kannte) und nicht
die identitätsstabilisierenden Wirkungen von Ausschluss und
Ausgrenzung. (...) Meads explizite Theorie kennt nur die
Identitätsbildung über Interaktion und Rollenübernahme.“175
Dabei gibt es in Meads Werk auch Ansätze für eine Konzeption
von Identität, die nicht nach einem dialogischen Muster
konstruiert ist.
Joas weist darauf hin, dass gelingende Identitätsbildung unter
dialogischen Bedingungen im Vordergrund der Meadschen
Theorie thematisiert wird. In diesem Zusammenhang sind Mead
und beispielsweise Erikson in ihrer theoretischen Ausrichtung
analog: Identitätsbildung vollzieht sich in Übereinstimmung mit
gesellschaftlichen Strukturen, sie ist gesellschaftlich erwünscht
und Voraussetzung für ein erfülltes Leben. So schreibt Joas:
„Die Leistungen der Synthese zu einer konsistenten und
kontinuierlichen Identität wurden nicht einfach nur beschrieben,
173
Abels 1997b, S. 37
Tenbruck 1985, S. 222
175
Joas 1997, S. 244f.
174
98
sondern es gab bei Mead und Erikson, wie bei allen Anhängern
und Fortsetzern die stillschweigende Hintergrundannahme, dass
es auch gut sei, eine Identität zu bilden – gut zumindest in dem
auch empirisch bestätigbaren Sinn, dass das Maß seelischer und
körperlicher Gesundheit und subjektiven Glücksempfindens bei
gelingender Identitätsbildung höher sei.“176
Aufgrund der in der Postmoderne aufgekommenen Infragestellung der „normativen Hintergrundannahmen der sozialwissenschaftlichen Identitätskonzeption“177 diskutiert Joas den
Einfluss von Macht- bzw. Ohnmachtverhältnissen bei der Bildung von Identität und weist darauf hin, dass es gerade auch in
Meads Werk Ausführungen dazu gibt, dass Identität nicht immer
unter den Bedingungen gegenseitiger und übereinstimmender
Verständigung entsteht und dies auch nicht immer unter den
Voraussetzungen eines konstruktiven und generativen gesellschaftlichen Prozesses erfolgt.
Joas behauptet, dass aus Meads Arbeiten auch Hinweise für eine
identitätsstabilisierende Wirkung von Ausschluss und Ausgrenzung ableitbar seien und empfiehlt insofern eine „dekonstruktive Lektüre Meads“.178
Joas fragt sich, wie die „offizielle Theorie“ mit den Phänomenen
Gewalt- und Ausgrenzung als Identitätsfaktoren zurechtkommt.
Joas führt hierzu Folgendes aus: „Identitätsbildung könne nur
unter dialogischen Bedingungen gelingen; Gewalt und Ausgrenzung dienten zwar zur Stabilisierung von Identitäten und seien
insofern dialogischer Stabilisierung funktional äquivalent, sie
seien selbst aber nicht zur Bildung von Identität imstande.“179
Unter Hinweis auf die Verhältnisse in den Familien, die auch
von Gewalt und Ausgrenzung geprägt sein können, verweist
Joas auf eine theoretische Unzulänglichkeit in Meads Theoriegebäude, da die Ausschließlichkeit der dialogischen, systemkonformen Identitätsbildung empirisch nicht gesichert ist. Vielmehr
sieht Joas eine Verschränkung zweier Formen von Identitätsbildung, die in gleicher Weise ihren Anteil an der Persönlichkeit
des Individuums haben können: „Das idyllische Bild einer
176
Joas 1997, S. 237
vgl. Joas 1997, 241
178
Joas 1997, S. 244f.
179
Joas 1997, S. 246
177
99
dialogischen Identitätsbildung in der Familie wird zwar noch
nicht durch den Hinweis widerlegt, dass solche Familien nicht
die Regel und dass Gewalttaten in der Familie häufig seien;
schwieriger wird die Lage aber durch die Einsicht, dass die
Familie selbst Resultat einer Grenzziehung ist. Das Maß an
Einfühlung, das zwischen den Familienmitgliedern erreicht
werden mag, gilt nicht unspezifisch; schon Stief- und
Pflegekinder sind von ihr oft ausgeschlossen. (...) Die sozialwissenschaftliche Identitätskonzeption in ihrer klassischen Form
hat diese Verschränkung von Dialog und Ausgrenzung nicht
angemessen begriffen.“180
Mir scheint dieser Einwand sehr gewichtig und Joas Vorschlag,
nämlich die Schaffung eines sozialwissenschaftlichen
Konzeptes, das eine Verschränkung von Dialog und Ausgrenzung thematisiert, eine angemessene Lösung zu sein. Es war ja
gerade eine Kritik der normativen Theoretiker an der Theorie
Meads, dass die nur dialogische Identitätsgenese ein artifizielles
Konstrukt einer Mittelschicht-Soziologie mit sozial gepflegten
und kultivierten Interaktionsstrukturen sei, die in der empirischen Realität einer Welt, die nicht frei von Ausgrenzung
und Unterdrückung ist, keine Entsprechung findet. Meines
Erachtens könnte sich der interaktionistische Ansatz da bewähren, wo die Realität einer Verschränkung der Perspektiven
von Dialog und Zwang bei der theoretischen Explikation von
Identitätsbildungsprozessen berücksichtigt wird.
3.5. Identitätsprobleme
Identität ist das Ergebnis von Kommunikationsprozessen und
damit letztlich nichts anderes als das Resultat interaktiver
Handlungsprozesse. Diese basieren auf der Verständigung der
Interaktionspartner untereinander. Bei Mead heißt es: „Wenn wir
eine Identität erlangen, erlangen wir auch ein bestimmtes
Verhalten, einen bestimmten gesellschaftlichen Prozess, der die
wechselseitige
Beeinflussung
verschiedener
Individuen
voraussetzt und gleichzeitig impliziert, dass die einzelnen
Individuen irgendeiner kooperativen Tätigkeit nachgehen.“181
Joas hat dafür die Formel „praktische Intersubjektivität“ geprägt.
180
181
Joas 1997, S. 246
Mead 1934, S. 208
100
Jegliches Handeln kann jedoch zum Problem werden. Für Mead
ist das insbesondere dann der Fall, wenn die gleichsam
habitualisierten Handlungsverläufe – aus welchen Gründen auch
immer – nicht mehr funktionieren, wenn sich bisher unproblematische und unhinterfragte Handlungen in den Fokus des
Bewusstseins drängen, weil sie, wie Mead es formuliert, ihrer
„Objektivität beraubt“ sind.182 Dieser Verlust an Objektivität tritt
da auf, wo das Handeln an Problemen zu scheitern droht. Dieser
Zustand ist von einer allgemeinen Desorganisation begleitet, und
„unsere Anstrengung richtet sich auf die Rekonstruktion dieser
Objektivität, die aber nur durch eine kreative Eigenleistung zu
erreichen ist.“183
Auf die Frage, wie Identität unter diesem Handlungsaspekt zum
Problem werden kann, finde ich bei Joas folgenden Hinweis:
„(Mead) fasst das ‚me‘, welches sich jeweils als von mir wahrgenommenes Bild meiner Person beim Interaktionspartner einstellt, in seiner Abhängigkeit von der Vielfalt der Interaktionssituationen. Aufgabe der Identität ist es dann, die zahlreichen,
immer neuen ‚me‘s aktiv zu synthetisieren zu einem
einheitlichen Selbstbild.“184 Diese Aussage ist nach meinem
Erachten wesentlich für einen Erklärungsansatz der Gefährdung
von Identität aufgrund divergierender sozialer Erwartungen in
den vielfältigen Handlungs- und Kommunikationssituationen des
Lebens.
Bekanntlich sind die „me’s“ die Repräsentationen der sozialen
Umwelt in der Identität des Einzelnen. Sie bedeuten somit die
Hereinnahme der Erwartungen der Interaktionspartner in das
Bewusstsein des Individuums.
Der generalisierte Andere ist die universalistische Entsprechung
dieser Erwartungen. Dieses Konzept repräsentiert die Wert- und
Normorientierung der Gesellschaft, der das Individuum
zugehörig ist. Dies bedeutet, dass ein Individuum, wenn es seine
Bedürfnisse realisieren will, sich mit den vorwaltenden Wertmustern der Gruppe oder Gesellschaft, zu der es gehört, aktiv
auseinandersetzen muss, sie nach Möglichkeit in seinem eigenen
Verhalten reflektieren muss. Dies geht nur im Rahmen einer
182
vgl. Joas 1980, S. 84
ebd.
184
Joas 1980, S. 107
183
101
erfolgreichen Teilnahme an Interaktionen, in denen das
Individuum auf der Grundlage einer einheitlichen, konsistenten
Identität handelt, in der die verschiedenen Erwartungen der
sozialen Umwelt kompatibel gemacht werden können, in der die
verschiedenen und unterschiedlichen „me’s“ in ein möglichst
homogenes Identitätskonzept integriert sind. Nur unter dieser
Bedingung erscheint es Mead möglich, dass Interaktionen
unproblematisch verlaufen, nur unter der Bedingung, dass die
beteiligten Individuen eine konsistente Haltung für ihre
Handlungsorientierung im Rahmen der Interaktion realisieren
können. Denn Mead geht in seinen theoretischen Annahmen von
der grundsätzlichen Einheit der Identität aus: „Die Einheit und
Struktur der kompletten Identität spiegelt die Einheit und
Struktur des gesellschaftlichen Prozesses als Ganzem. Jede der
elementaren Identitäten, aus denen er gebildet wird, spiegelt die
Einheit und Struktur eines der verschiedenen Aspekte dieses
Prozesses, in den der Einzelne eingeschaltet ist. Mit anderen
Worten: die verschiedenen elementaren Identitäten, die eine
vollständige Identität konstituieren oder zu ihr organisiert
werden, sind die verschiedenen Aspekte der Struktur dieser
vollständigen Identität, die den verschiedenen Aspekten des
gesellschaftlichen Prozesses als Ganzem entsprechen. Die
Struktur der vollständigen Identität ist somit eine Spiegelung des
vollständigen gesellschaftlichen Prozesses.“185
Wenn es dem Individuum nicht gelingt, eine einheitliche
Identität zu entwickeln, das heißt die verschiedenen „me’s“ als
Komponenten seiner Identität zu integrieren, wird es ihm
unmöglich sein, einheitliche und rollenübergreifende Handlungskonzepte zu entwickeln. Joas merkt hierzu an: „Trete ich
mehreren für mich bedeutsamen Bezugspersonen gegenüber, so
gewinne ich mehrere unterschiedliche ‚me’s‘. Diese müssen,
wenn konsistentes Verhalten überhaupt möglich sein soll, zu
einem einheitlichen Selbstbild synthetisiert werden. Gelingt
diese Synthetisierung, dann entsteht das ‚self‘, Ich-Identität als
einheitliche und doch auf die Verständigung mit stufenweise
immer mehr Partnern hin offene und flexible Selbstbewertung
185
Mead 1934, S. 186
102
und Handlungsorientierung; zugleich entwickelt sich eine
stabile, ihrer Bedürfnisse sichere Persönlichkeitsstruktur.“186
Im negativen Fall des Misslingens der Syntheseleistung ist die
Person gezwungen, mit Widersprüchen in ihrem Verhalten zu
leben. Diese treten in Interaktionssituationen auf, in denen
divergierende Verhaltenserwartungen zu Tage treten.
Die aktive und erfolgreiche Teilhabe und Teilnahme des
Individuums an gesellschaftlichen Prozessen kann sich nach der
Theorie nur auf der Grundlage einer einheitlichen Identität
ergeben. Dies ist die Voraussetzung, die das Individuum in den
gesellschaftlichen Prozess einzubringen hat. Seitens der Gesellschaft erfolgt eine Steuerung dieser Wechselwirkungen nach der
Maßgabe gesellschaftlicher Werte und Normen, denn der Aufbau
der Identität gelingt - wiederum nach der Theorie - nur in der
Übernahme der Rolle des anderen, das heißt in der Antizipation
der mit dieser Rolle verknüpften sozial erfahrenen und
symbolisch sedimentierten Wert- und Handlungsmuster. Bei Joas
heißt es daher: „Die Identität des Handelnden entwickelt sich
durch die Berücksichtigung der Werte und Interessen Anderer
und nur dadurch. Um seine Identität zu realisieren, ist damit die
Teilhabe an den zentralen gesellschaftlichen Wert-Auseinandersetzungen nötig. Mead stellt damit Identitätsbildung hinein in die
gesellschaftliche und politische Praxis.“187
Mead deutet den Wertbegriff handlungstheoretisch. Werte
wirken über den generalisierten Anderen, konkreter: über
Rollenerwartungen auf die Menschen ein. Dabei wendet er sich
gegen einen objektivistischen Wertbegriff. Demnach sind Werte
nicht einfach nur objektive Gegebenheiten, also „Tatsachen“ im
Sinne Durkheims. Denn aus der handlungstheoretischen Perspektive kann es keine Wertkonzeption geben, die gleichsam
religiös, die Lebenswelt der Menschen transzendierend,
Gewissheiten sui generis impliziert. Auch ist Objektivität nicht
dahingehend zu verstehen, dass menschliches Verhalten, das
moralisch hoch bewertet wird, als Derivat biologischer Impulse
anzusehen ist. Dies wird z.B. gerne im Falle mütterlichen
Fürsorgeverhaltens unterstellt.
186
187
Joas 1980, S. 117
Joas 1980, S. 133
103
Andererseits sind Werte aber auch nicht nur subjektiv
konstituiert. Das Individuum wird immer in seiner Umwelt
erfahrbare Wertstrukturen vorfinden, mit denen es sich
auseinandersetzen muss. Es kann sie respektieren oder ablehnen
– immer jedoch besitzen sie für das Individuum eine unbezweifelbare Faktizität, weil z.B. Institutionen der menschlichen
Gesellschaft durch sie geprägt sind. Daraus resultiert wiederum
ihre Objektivität. Berger und Luckmann führen hierzu Folgendes
aus: „Eine institutionelle Welt wird als objektive Wirklichkeit
erlebt. Sie hat eine Geschichte vor der Geburt des Individuums,
die sich persönlich-biographischer Erinnerung entzieht. Sie war
da, bevor der Mensch geboren wurde, und sie wird weiter nach
seinem Tode da sein. (...) Die Institutionen stehen dem Individuum als objektive Faktizitäten unabweisbar gegenüber. Sie sind
da, außerhalb der Person und beharren in ihrer Wirklichkeit, ob
wir sie leiden mögen oder nicht. Der Einzelne kann sie nicht
wegwünschen. Sie widersetzen sich seinen Versuchen, sie zu
verändern oder ihnen zu entschlüpfen. Sie haben durch ihre
bloße Faktizität zwingende Macht über ihn.“188
Die Dialektik besteht darin, dass das Individuum bei seiner
Erfahrung von Wirklichkeit, hier also einer „Wertewirklichkeit“,
sich auf eine, subjektiv so empfundene, vorgegebene stabile und
objektive Ordnung beruft; aber diese Ordnung ist Ergebnis der
sozialen Konstruktion der Welt. Auf der anderen Seite greift das
Individuum in diese vorab gegebene Wirklichkeit mit eigenen
Strukturierungsleistungen ein.
Letzterer Gedanke ist maßgeblich für das interpretative Paradigma. Das handelnde Individuum übernimmt nicht einfach
einen bestimmten Status mit festen Werten und Rollen. Der Sinn
und die Bedeutung der Rolle und Interaktionssituation wird
jeweils neu generiert, in Abhängigkeit der intersubjektiven
Definition des Geschehens.189 Dabei ist die Sinn- und Bedeutungssuche, die auch den gleichsam hermeneutischen Prozess
der Identitätsgenese umfasst, von einem Bemühen um
Handlungsoptimierung geprägt und von Zweifeln und Fehlern
bedroht. Und auch wertebezogenes, moralisches Verhalten
vollzieht sich vor dem Hintergrund des Optimierungserfor188
189
Berger und Luckmann 1966, S. 64
vgl. Abels 1997b, S. 39f.
104
dernisses. Mead schreibt dazu: „Die einzige Regel, die uns eine
Moral zu bieten vermag, besagt, dass sich ein Individuum mit
allen bei einem spezifischen Problem auftretenden Werten
rational auseinandersetzen sollte. Das heißt nun nicht, dass man
alle gesellschaftlichen Werte vor sich ausbreiten müsste, wenn
man sich einem Problem nähert. Das Problem definiert die
Werte. Es ist ein spezifisches Problem, und es gibt bestimmte
Interessen, die ganz eindeutig betroffen sind. Der Einzelne sollte
alle diese Interessen beachten und dann einen Handlungsplan
aufstellen, der sich mit diesen Interessen rational befasst. Das ist
die Methode, die die Ethik dem Einzelnen anbieten kann.“190
Moralisches Handeln ist also abhängig von gesellschaftlich
definierten Maßstäben und aus gesellschaftlichen Werten konstituiert.
Moralische Situationen, wie Mead den Sachverhalt nennt,
entstehen dann, wenn sozial konstruierte Werte im sozialen
Handeln kollidieren. So schreibt Mead: „Ethische Ideen entwickeln sich innerhalb der jeweiligen menschlichen Gesellschaft
im Bewusstsein der einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft aus
dem Umstand der gemeinsamen gesellschaftlichen Abhängigkeit
aller dieser Mitglieder untereinander (...) und aus ihrem
Bewusstsein von dieser Tatsache. Ethische Probleme treten aber
für die einzelnen Mitglieder jeder menschlichen Gesellschaft
immer dann auf, wenn sie einzeln mit einer gesellschaftlichen
Situation konfrontiert werden, auf die sie sich nicht sofort
einstellen können, in der sie sich nicht sogleich verwirklichen
oder in die sie ihr eigenes Verhalten nicht unmittelbar integrieren
können.“191
Der vorgenannte allgemeine Aspekt der „problematischen
Identität“ als Folge eines Handlungsproblems lässt sich noch
erweitern, und zwar auf der Grundlage von Meads Arbeiten über
die Ethik bzw. über „moralische Probleme“: sie konstituieren die
Identitätsprobleme par excellence. So schreibt Cook: „In Meads
Sicht ähneln solche moralischen Probleme anderen Problemen,
die im menschlichen Handeln auftauchen, insofern sie die
Hemmung habitueller Reaktionen auf bestimmte Arten von
Umweltreizen einschließen. Sie unterscheiden sich jedoch von
190
191
Mead 1934, S. 439
Mead 1934, S. 368f.
105
diesen anderen Problemen durch das besondere Ausmaß, in dem
sie mit den sozialen Interessen und der sozialen Struktur der
menschlichen Identität verknüpft sind. (...) Mead behauptet, dass
sich moralische Probleme von Problemen (der allgemeinen Art,
Anmerkung des Verfassers) primär deshalb unterscheiden, weil
die Hemmungen, die zu ihnen führen, mit konkreten
persönlichen Interessen zu tun haben, in die die ganze IchIdentität einbezogen ist.“192 Dies deute ich als ein Defizit der
Integration der verschiedenen „me’s“ in der Identität des
Individuums. Dieser Mangel kann durch die Widersprüche der
Rollenanforderungen entstehen, mit denen das Individuum
konfrontiert ist.
Mead sieht in einem solchen Integrationsdefizit eine „moralische
Situation“ im Sinne einer Divergenz der Wertorientierungen, die
für das Individuum gelten, im Verhältnis zu denen seiner
sozialen Umwelt. Aus einer solchen Diskrepanz resultiert eine
Gefährdung der Identität des Individuums: „in der moralischen
Situation erfährt der Einzelne einen Konflikt zwischen
bestimmten eigenen Werten und anderen eigenen Werten, den
Werten von Partnern oder den im ‚generalisierten Anderen‘
verkörperten Werten.“193 Dies ist der Fall, wenn das Individuum
zwischen entgegengesetzten Wertungen oder moralischen
Interpretationen einer gegebenen Situation hin- und hergerissen
ist. Eine solche Situation ist denkbar, wenn die gesellschaftlichen Wertsetzungen nicht eindeutig oder sogar
widersprüchlich sind, ein Zustand der Anomie, wie er in der
fortgeschrittenen Moderne geradezu zwangsläufig ist. In dieser
moralischen Situation vermögen die Betroffenen in der Regel
zeitweise mit dem Konflikt antagonistischer Werte umzugehen.
Aber das Individuum ist in dieser Situation gesellschaftlicher
Anomie den nachteiligen Folgen wertbezogener gesellschaftlicher Widersprüche in der Regel ausgeliefert und wird
irgendwann unter den Konflikten zu leiden haben. Joas schreibt
dazu Folgendes: „Mead weiß natürlich, dass die alte Identität
durch Abwehr- und Ausweichstrategien das Problem zu
umgehen versuchen kann (gemeint ist das Problem der
Desintegration der Identität aufgrund des Werteantagonismus,
192
193
Cook 1985, S. 132f.
Joas 1980, S. 132
106
Anmerkung des Verfassers). Sie wird aber immer wieder auf
dieses Problem zurückgeworfen. Das Beharren bei der alten
Identität, ohne dies zumindest durch argumentative Auseinandersetzung mit den neuen Zumutungen zu erweitern, bringt das
Individuum gerade um seine eigenen Entwicklungschancen.“194
Die Konflikte zwischen verschiedenen Ansprüchen und Werten
lähmen das Handeln und führen zu einer Desintegration der
Identität: „Die moralische Situation ist nach Mead eine Krise der
ganzen Persönlichkeit.“195
Für Mead haben moralische Werte funktionale und korrigierbare
Bedeutungen im Hinblick auf bestimmte soziale Interessen und
Verhaltensmuster. Ein moralisches Bewusstsein entsteht dann,
wenn konfligierende Wertorientierungen gewohnheitsmäßiges
Verhalten hemmen und eine reflexive Bestandsaufnahme der
antagonistischen Werte notwendig machen. Die Reflexivität hat
die Funktion, die Auflösung der Wertkonflikte zu erreichen und
die Reintegration der Identität zu bewirken sowie eine Strategie
zur Konstitution einer neuen Identität zu entwickeln. Das
Ergebnis dieses Reflexionsprozesses ist eine Bestätigung oder
eine Neudeutung der Universalien, das heißt der generalisierten
Bedeutungen, die für alle an der Handlung Beteiligten
maßgeblich sind. Es kann aber auch mithilfe dieses
Reflexionsprozesses nach neuen Unversalien gesucht werden,
mit denen die ganze Situation neu gedeutet werden kann. Im
ersten Fall kann eine Bestätigung der konventionellen Werte
erfolgen, und das Individuum muss in der Folge versuchen, mit
den Widersprüchen, die sich aus dem Antagonismus der
konventionellen Werte und seiner eigenen Wert-Orientierung
ergeben, zu leben. Die Inkonsistenz seiner Identität oder auch
die Inkompatibilität der verschiedenen „me’s“ seiner sozialen
Identität muss es ignorieren, und mit einer (partiellen)
Desintegration seiner Identität umgehen: „Einerseits kann die
Reflexion (der moralischen Situation, Anmerkung des Verfassers) einfach auf eine Situationsdeutung zurückgehen, die mit
Universalien arbeitet, welche in der Vergangenheit deutliche
moralische Bekräftigung erhalten haben. Die Reflexion kann
194
195
Joas 1980, S. 132
ebd.
107
zum Beispiel mit der Situation so umgehen, dass sie die
gewohnheitsmäßigen Bedeutungen und Werte bestätigt, welche
seit langem in einem abstrakt formulierten Moralkodex
aufbewahrt werden. Insoweit die Identität einigermaßen
konsistent gemäß eines solchen Kodex leben kann, kann sie die
verbleibenden Widersprüche vielleicht ignorieren. Und wo diese
nicht ignoriert werden können, besteht das übliche Verfahren
darin, ihnen durch eine metaphysische Beschreibung der
Situation die Wirklichkeit abzusprechen.“196 Diese „metaphysische Moral“ bedeutet gleichsam eine kognitive Selbstvergewaltigung. Bestimmte Arten von Handlungen werden als
„falsch“ oder „richtig“ angesehen, und zwar auf der Grundlage
von die aktuelle Situation transzendierenden Bewertungsstandards.197
Im zweiten Fall, der Suche nach neuen, anderen Universalien,
kann das Individuum einen Handlungsplan entwerfen, der es ihm
erlaubt, alle maßgeblichen Werte, soweit wie möglich, in seiner
Reflexion zu berücksichtigen und je nach seiner Bedürfnislage,
in Abwägung des Möglichen, eine veränderte Identität zu konstruieren: „Der andere Weg, den die moralische Reflexion einschlagen kann, ist von weniger konservativer Art. Anstatt zu
versuchen, die moralische Problemsituation mit Hilfe alter Universalien oder Bedeutungen wieder zusammenzufügen, führt
dieser Weg zur Suche nach neuen Universalien, mit denen die
Situation gedeutet werden kann.“198 Man könnte dies auch im
Sinne der Meadschen Theorie so deuten, dass das Individuum
dazu übergeht, sich an einem anderen „generalisierten Anderen“
zu orientieren. Dies kann dazu führen, dass sich das Individuum
eine andere (soziale) Identität „zulegt“.
Mead favorisiert den zweiten Weg: Er argumentiert, dass jeder
Appell an eine moralische Ordnung, welche „die konkrete
moralische Situation transzendiert, für das moralische Leben
schädlich ist (...), weil es an sich eine armselige Methode zur Lösung einer moralischen Auseinandersetzung ist.“199 Die zweite
von Mead benannte Methode ist diejenige, bei der die soziale
196
Cook 1985, S. 138
ebd.
198
ebd.
199
Cook 1985, S. 140
197
108
Situation des Individuums verändert werden soll. Dies berührt
die bestehende Identität im Kern und hinterfragt die soziale und
gesellschaftliche Situation, in der sich das Individuum befindet.
Damit sind auch Fragen nach der Zulässigkeit und Angemessenheit bestehender Ordnungsverhältnisse impliziert, die jedoch von Mead nicht weiterverfolgt wurden.
3.6. Weiterentwicklung des Identitätskonzeptes im Rahmen
des interpretativen Paradigmas
Nach Meads Theorie entwickelt sich Identität vor dem Hintergrund eines interaktiven und kommunikativen Prozesses. Durch
mangelnde Integration gesellschaftlicher Werte und Normen im
Persönlichkeitskonzept des Individuums kann es zu Problemen
mit der Identität kommen. Dieser Zustand umfasst eine defiziente Integration der verschiedenen „me’s“. Bei Mead erscheint
diese Thematik nur ganz am Rande.
Erving Goffman indes hat die Identitätsdiskrepanz zu einem zentralen Thema seines wissenschaftlichen Werkes gemacht. Gesellschaftliche Werte können von Individuen verletzt werden, wenn
es diesen nicht gelingt, bestimmte Erwartungen der Gesellschaft
in der sozial erfahrbaren Manifestation ihrer Persönlichkeit
(Goffman spricht in diesem Zusammenhang von der „Fassade“)
zu reproduzieren. Auch darin liegt eine defiziente Integration der
„me´s“. Auch dann ist Identität problematisch. Auf diese Weise
entwickelt sich ein bestimmter Typus des gesellschaftlichen
Außenseiters, nämlich jener, der in einem oder mehreren identitätsdefinierenden Interaktionszusammenhängen, die seine
Zugehörigkeit zum sozialen System prägen, vorwaltende (Wert)Erwartungen der anderen verfehlt.
Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der interpretativen Soziologie erwähnt werden muss,
ist die Erkenntnis, dass individuelle Identität und das Problem
der interpretativen Teilhabe an der Wirklichkeit nicht eine Funktion einer biologisch begründeten Instanz ist, die prinzipiell
unberechenbar bleibt.
109
Vielmehr gibt es eine Instanz in der Persönlichkeit, die sich von
den Reifikationen ihrer Rollenbezüge abhebt. Goffman hat den
Begriff persönliche Identität200 geprägt
Die persönliche Identität umfasst die Dimension lebensgeschichtlich je einmaliger Erfahrungen des Menschen und somit
seine höchst einzigartigen Synthesen von „me’s“ über die Zeitläufte hinweg. Diese Identitätsformation ist, so wie die soziale
Komponente der Identität (die Gesamtheit der „me’s“), eine soziale Konstruktion, in der aber auch individuelle Erfahrungen,
Gefühle und Bewertungen mit eingehen.
Der theoretische Vorteil gegenüber der interaktionistischen Perspektive Meads liegt in der Emanzipation des Individuums von
der zwangvollen Erratik des „I“.
Identität entsteht damit auf der Grundlage einer individuellen
Biographie im Sinne einer Integration schon bestehender und
neu erworbener Bedeutungen, Rollen, Werte und Selbstbilder.
Schließlich ist aus einer kritischen Perspektive zur Theorie
Meads anzumerken, dass das Konzept der Überwindung einer
moralischen Krise, das ich in diesem Zusammenhang als Überwindung einer Identitätskrise deute, inhaltlich zu begrenzt und
zu einfach gefasst ist: entweder passt sich das Individuum den
Wertmaßstäben seiner sozialen Umwelt an, oder es passt sich
anderen Wertmaßstäben, anderen Universalien oder einem anderen „generalisierten Anderen“ an. Dass diese Anpassungsleistungen oft nicht so unproblematisch durchgeführt werden
können, lehrt die Lebenserfahrung. Insbesondere da, wo sich der
Gestaltungsspielraum der Individuen auf Null reduziert, wo sich
das Individuum weder wertgemäß anpassen, noch in eine andere
Wertstruktur flüchten kann, nimmt seine Identität notorisch
Schaden. Zu solchen Problemen konnte bei der Rezeption der
Meadschen Theorie nichts gefunden werden.
Die Anpassungsversuche des Individuums an die Wertstrukturen
seiner Gesellschaft und die damit einhergehenden Schwierigkeiten werden jedoch von Goffman thematisiert: die Aufrechterhaltung einer sozialen Identität im Sinne einer bestimmten Fassade, die Präsentation des Selbst in dem engen
Bereich der gesellschaftlich lizenzierten Bahnen ist bisweilen
200
vgl. Goffman 1963, S. 74f.
110
hart erkämpft und oft nur für einen hohen psychologischen Preis
zu haben. So sind Goffmans Arbeiten stets „vom Wissen um die
Gefährdung des Individuums geprägt.“201 Gerade deshalb sind
sie für die Thematik dieser Arbeit von großer Bedeutung.
201
Abels 1997b, S. 159
111
4. Identität und ihre Präsentation in der Soziologie Goffmans
Über Goffman als soziologischen Theoretiker wurde schon viel
geschrieben. Zu den wesentlichen biografischen Fakten gehört,
dass er 1922 in Kanada als Sohn jüdischer Eltern geboren wurde.
Er studierte in Toronto und Chicago. Nach seinem Studium führte er auf den Shetland-Inseln eine Feldstudie durch. Im Jahre
1953 promovierte Goffman in Chicago und wechselt im Jahre
1958 nach Berkeley an die Universität von Kalifornien. Hier
avancierte er zum Lehrstuhlinhaber, und hier wurde auch der
„Mythos Goffman“202 geboren. Dieser bestand darin, dass
Goffman jenen Nonkonformismus verkörperte, der zu jener Zeit
den studentischen Aufbruchswillen beflügelte. Im Jahre 1969
wechselte Goffman an die Universität von Philadelphia. Im
Jahre 1981 wurde Goffman zum Präsidenten der American
Sociological Association gewählt, eine bemerkenswerte Tatsache, wenn man bedenkt, wie einflussreich die „harte
Soziologie“ war, die z.B. in Harvard unter dem Einfluss von
Talcott Parsons betrieben wurde, und wie sehr sich Goffman mit
seinem Erkenntnisinteresse und seiner Methode von dieser
Schule unterschied. Goffman starb am 19. November 1982.
Goffman beschreibt nicht die Entstehung des Selbst in einem
evolutionären Sinne. Die Handelnden bei Goffman sind alle
schon erwachsen, zumindest kann man unterstellen, dass sie die
Einflüsse der Erziehung in ihrem Selbst integriert haben. Identität wird bei Goffman im Prozess der Interaktion stets neu konstruiert. Für Goffman besteht das Selbst aus verschiedenen Komponenten, deren Bezeichnungen, wie die Terminologie des
Selbstkonzeptes selbst, in seinem Werk variieren. Für diese Arbeit erscheinen vier aus dem Werk Goffmans abzuleitende Aspekte wichtig:
1. Identität ist sozial konstruiert und Ergebnis von Interaktionsprozessen.
2. Die Identitätskonzepte, die die soziale Umwelt dem Individuum zuschreibt, gehen in dessen Selbstkonzept ein und
prägen dieses entscheidend mit.
202
Hettlage und Lenz 1991, S. 12
112
3. Die Identitätskonzepte manifestieren sich im Rahmen sozialer Interaktionsprozesse. Über diese Prozesse erfolgt eine
Zuteilung von Positionen in der gesellschaftlichen Rollenstruktur.
4. Die im Interaktionsprozess entwickelte Identität unterliegt
einer ständigen Dynamik. Um sie muss stets von neuem gerungen werden.
Goffman unterscheidet zwischen „sozialer Identität“ und „persönlicher Identität“.
In dieser Dichotomie findet die bereits oben angedeutete Abkehr
von der organischen Beeinflussung der Identität im Sinne von
Meads „I“ ihren Niederschlag. Beide Identitätskonzepte stehen
für eine ausschließlich soziale Beeinflussung der Persönlichkeit.
Zu dem Konzept der „sozialen Identität“ merkt Goffman an:
„Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die
Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich
empfindet. Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird. (...)
Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine
‚soziale Identität‘ zu antizipieren (...) Wir stützen uns auf diese
Antizipation, die wir haben, indem wir sie in normative Erwartungen umwandeln, in rechtmäßig gestellte Anforderungen.“203
Goffman versteht darunter das Konzept von Identität, welches
man typischerweise von einem Individuum erwartet, das bestimmte Rollenattribute aufweist, die für seine soziale Umwelt
zunächst erfahrbar sind (virtuale soziale Identität). Hiervon
unterscheidet er nochmals „Kategorie und die Attribute, deren
Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden konnte.“204
Goffman bezeichnet dieses Konzept als „aktuale soziale Identität“. Damit sind die tatsächlichen Eigenschaften und Bedingungen der sozialen Existenz gemeint, die oft erst bei näherer
Betrachtung zum Vorschein kommen und oft auch nicht in Übereinstimmung mit der virtualen sozialen Identität stehen.
203
204
Goffman 1963, S. 10
ebd.
113
Die soziale Identität impliziert die Zugehörigkeit des Individuums zu seinen Bezugsgruppen. Soziale Identität ist daher in
diesem Sinne querschnittlich zu begreifen („synchronische
Dimension“). Sie „wahrt die Einheit in der Mannigfaltigkeit verschiedener Rollensysteme.“205
Von dem Konzept sozialer Identität unterscheidet Goffman eine
persönlich geprägte Identität: „Mit persönlicher Identität meine
ich positive Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die an
dem Individuum festgemacht wird.“206 In der persönlichen Identität kommt die unverwechselbare Biographie des Individuums
zum Ausdruck. Das Konzept der persönlichen Identität erlaubt
daher eine längsschnittliche Erfassung der Identität eines Menschen, es repräsentiert eine „diachronische Dimension“ im Sinne
von Kontinuität der Lebensgeschichte.
4.1. Identität und Fassade
Für Goffman ist der Aspekt intersubjektiver Konstruktion von
Identität maßgeblich. Dabei mag ein eigener Identitätsentwurf
der Person zunächst vorhanden sein, der von der sozialen Umwelt aufgenommen wird: „Die Gesellschaft hat sich so etabliert,
dass jeder mit Recht erwarten darf, von den anderen nach seinen
sozialen Eigenschaften eingeschätzt und behandelt zu werden.
Mit diesem Prinzip ist ein zweites verknüpft: dass nämlich jemand, der ausdrücklich oder stillschweigend zu verstehen gibt,
er habe diese oder jene sozialen Eigenschaften, auch wirklich
das sein soll, was er zu sein behauptet. Wenn daher jemand eine
Bestimmung seiner Situation entwirft, indem er sich als eine
Person einer bestimmten Art vorstellt, erhebt er damit automatisch die moralische Forderung, wonach die anderen ihn so
einzuschätzen und zu behandeln hätten, wie es Personen seiner
Art erwarten dürften.“207
205
ebd.
Goffman 1963, S. 74 (Anmerkung: Es geht ihm hier um die Einzigartigkeit der Person,
die es zulässt, sie stets als die „selbst-gleiche“ wiederzuerkennen. Dazu zählen äußerliche
Kennzeichen, die eine Verwechslung mit einer anderen Person unmöglich machen, sowie
„der ganze Satz von Fakten, (der) als Kombination für keine andere Person in der Welt als
gültig befunden (wird), wodurch ein zusätzliches Mittel vorhanden ist, durch das er positiv
von jedermann sonst unterschieden werden kann.“ (Goffman 1963, S. 74))
207
Goffman 1959, S. 16
206
114
Die Reaktionen der sozialen Umwelt auf das dargestellte Identitätskonzept wirken als sozialer Einfluss auf die Identität. Somit
ist Identität eine intersubjektive soziale Konstruktion. Goffman
veranschaulicht diese Intersubjektivität mit Hilfe der Theatermetaphorik, wonach das Individuum seine Identität letztlich aus
seiner Mitgliedschaft in einem Ensemble, das einem Publikum
gegenübersteht, gewinnt. Ein Ensemble ist „eine Gruppe von
Individuen, die eng zusammenarbeiten muss, wenn eine gegebene Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll. Ein
Ensemble ist zwar eine Gruppe, aber nicht in Bezug auf eine soziale Struktur oder eine soziale Organisation, sondern eher in
Bezug auf eine Interaktion oder eine Reihe von Interaktionen, in
denen es um die relevante Definition geht.“208 In dieser ausschließlich soziologischen Sicht der Entstehung von Identität
gibt es keinen Raum für eine leibgebundene Kausalität: „Insofern man dieses Bild von dem Einzelnen gemacht und ihm somit
ein Selbst zugeschrieben hat, entspringt dieses Selbst nicht
seinem Besitzer, sondern der Gesamtszene seiner Handlungen
und wird von den Merkmalen lokaler Ereignisse erzeugt, die sie
für Beobachter interpretierbar machen. Eine richtig inszenierte
und gespielte Szene veranlasst das Publikum, der dargestellten
Rolle ein Selbst zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene
Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene und nicht ihre
Ursache. Das Selbst als dargestellte Rolle ist also kein organisches Ding, das einen spezifischen Ort hat und dessen
Schicksal es ist, geboren zu werden, zu reifen und zu sterben; es
ist eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten
Szene entfaltet, und der springende Punkt, die entscheidende
Frage, ist, ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist.“209
Die „Mittel zur Produktion des Selbst“210 sind in den sozialen
Institutionen verankert, denen die Individuen zugehörig sind.
Die Vorstellung, die das Individuum gegenüber dem Publikum
gibt, nennt Goffman „Fassade“.211 Das Konzept der Fassade
korrespondiert zum Teil mit dem Konzept der persönlichen Iden-
208
Goffman 1959, S. 96
Goffman 1959, S. 231
210
ebd.
211
vgl. Goffman 1959, S. 23
209
115
tität im Sinne positiver und unverwechselbarer Kennzeichen.212
Dazu zählen für Goffman Kleidung, Geschlecht, Alter, Größe,
physische Erscheinung (persönliche Fassade). Das Konzept ist
jedoch verwoben mit Elementen der sozialen Identität, denn
Goffman zählt dazu auch Amtsbezeichnungen und Rangmerkmale, soweit damit konkrete Rollenerwartungen verbunden
sind (soziale Fassade). Welche Fassade das Individuum im
Rahmen seiner Präsentation realisiert, hängt von den Erwartungen der Gesellschaft ab. Insofern korreliert das Konzept
der sozialen Identität mit dem der sozialen Fassade.
Mit „Erscheinung“ bezeichnet Goffman auch die soziale (erfahrbare) Identität des Individuums: „Der Begriff ‚Erscheinung‘
bezieht sich dabei auf die Teile der persönlichen Fassade, die uns
über den sozialen Status des Darstellers informieren.“213 Der Begriff der „Erscheinung“ scheint völlig kongruent mit dem Konzept der sozialen Identität zu sein.
Schließlich gehört zu diesem Konzept eine „szenische Komponente“ im Sinne des Bühnenbildes, das heißt der „gestaltete
Raum, in dem wir auftreten.“214 All das zusammen genommen
macht die soziale Identität des Individuums im Zusammenhang
mit seiner szenischen Präsentation aus. Zur eigentlichen Identität, die mehr ist als eine nur mehr oder weniger geglückte Darstellung, wird es erst, wenn das Individuum das, was das
Publikum von ihm hält, auch in sein eigenes Selbstkonzept implementiert.
Menschen versuchen in Interaktionen mit ihren Handlungen die
Deutung der jeweiligen Situation durch ihre soziale Umwelt in
ihrem Sinne zu beeinflussen. Gleichzeitig verfügen die anderen,
die Goffman im Rahmen der Theatermetaphorik „Publikum“
nennt, ebenfalls über eine Definitionsmacht im Hinblick auf das
Interaktionsgeschehen: „Nehmen wir an, der Einzelne projiziere
seine Situation vor anderen, so ist gleichzeitig festzustellen, dass
die anderen, wie passiv ihre Rolle auch erscheinen mag, durch
ihre Reaktion auf den Einzelnen und die Art des Verhaltens, die
sie ihm ermöglichen, ebenfalls wirkungsvoll die Situation
212
vgl. Goffman 1963, S. 74
Goffman 1959, S. 25
214
Abels 1997b, S. 178
213
116
bestimmen.“215 Jedes Ensemblemitglied fühlt sich mehr oder
weniger verpflichtet, den richtigen Eindruck zu liefern. Ein
Ausscheren aus der Ensembledisziplin ist gleichbedeutend mit
einem Verlust an Anerkennung und Integration.
Aber es sind nicht nur Integrations- und Zugehörigkeitsmotive,
die die Menschen in ihrem Verhalten leiten: „Abgesehen von
dem unmittelbaren Ziel, das der einzelne sich gesetzt hat, und
von den Motiven dieser Zielsetzung, liegt es in seinem Interesse,
das Verhalten der anderen, insbesondere ihr Verhalten ihm
gegenüber zu kontrollieren.“216 Wer zusammen mit anderen
handelt, hat auch den – vielleicht unbewussten – Wunsch, die
Reaktionen der anderen Anwesenden zu leiten und zu kontrollieren: „Diese Kontrolle wird weitgehend dadurch bewirkt,
dass er die Deutung der Situation beeinflusst, und zwar kann er
das dadurch, dass er sich in einer Art und Weise ausdrückt, die
bei den anderen einen Eindruck hervorruft, der sie veranlasst,
freiwillig mit seinen Plänen übereinzustimmen. So hat der
einzelne im allgemeinen allen Grund, sich anderen gegenüber so
zu verhalten, dass er bei ihnen den Eindruck hervorruft, den er
hervorrufen will.“217
Ein anderer Grund, weshalb ein Individuum eine bestimmte Präsentation seiner Person vornimmt und damit für eine bestimmte
Ausprägung seiner Identität sorgt, wird von Goffman so erläutert: „Es kann sich auch absichtlich und bewusst in bestimmter Weise darstellen, weil die Traditionen seiner Gruppe
oder seines sozialen Ranges diese Art der Selbstdarstellung vorschreiben; also nicht um irgendeiner bestimmten Reaktion
willen, die dadurch bei den anderen hervorgerufen werden
könnte. Gelegentlich veranlassen die Rollentraditionen, denen
der Einzelne unterworfen ist, ihn dazu, einen komplexen
Eindruck bestimmter Art hervorzurufen, obgleich er das weder
bewusst noch unbewusst wollte.“218
Die richtige dramaturgische Wirkung ist nicht nur für das
einzelne Ensemblemitglied wichtig, sondern auch für das ganze
Ensemble, denn auch dieses steht unter Erfolgsdruck. Goffman
215
Goffman 1959, S. 12
Goffman 1959, S. 7
217
ebd.
218
Goffman 1959, S. 10
216
117
hat für diese Handlungstendenz die Begriffe „dramaturgische
Loyalität“, „dramaturgische Disziplin“ und „dramaturgische
Sorgfalt“ geprägt. Man muss dabei immer bedenken, dass ein
Ensemble durchaus aus sehr heterogenen Mitgliedern bestehen
kann, die sich in vielfältiger Hinsicht, insbesondere in Bezug auf
den sozialen Status unterscheiden können. Gleichwohl sind die
Ensemblemitglieder dazu gezwungen, an dem Gelingen ihrer
Vorstellung mitzuwirken. Dieser Zwang kann als bestimmte
Rollenerwartungen gedeutet werden, die sich an den Zielen des
Ensembles oder, allgemeiner gesprochen, an den Werten der
Gruppe oder der gesamten Gesellschaft orientieren. Hinter dieser
Pflicht zur Disziplin und Loyalität, der alle Ensemblemitglieder
unterliegen, steht der Zwang zu wertkonformem und rollengerechtem Verhalten. Dieser Zwang ergibt sich nach Goffman
aus dem Willen und der Verpflichtung zur Einheitlichkeit der
Dramaturgie in der Gruppe.
Aus der Sicht des Individuums ist der Wunsch maßgeblich, seiner Rolle gerecht zu werden, sie am Ende nicht gar zu verlieren
und damit zum Außenseiter zu werden. Der innere Konflikt des
Agierenden liegt dann darin, dass er zwar etwas Besonderes sein
möchte, in dem Sinne, dass er mit seiner Rolle, so klein sie auch
sein mag, auffällt, nicht jedoch um den Preis der Verletzung der
Ensembledisziplin. Auf diese Dialektik wird später im Rahmen
der Erörterungen zur „balancierenden Identität“ eingegangen.
Das Ensemble besitzt, wie bereits ausgeführt, ein Interesse an
einer Einheitlichkeit der Darstellung. Neben dem Erfolgsinteresse gibt es noch einen weiteren wichtigen Grund, weshalb
ein Ensemble grundsätzlich keine Abweichung einzelner Gruppenmitglieder akzeptieren kann. Dabei geht es um die Gefahr
einer „sozialen Ansteckung“ mit einem Stigma, dessen Implikationen stets auf die Mitglieder einer Gruppe übertragen werden, zu der ein Individuum mit einem Stigma gehört. Ein solcher
Sachverhalt ergibt sich typischerweise bei Familien, in denen
einzelne Familienmitglieder eine „Schande“ über den Rest der
Familie bringen, z.B. der Alkoholiker-Vater oder die drogenabhängige Tochter.
118
So gibt es immer eine Tendenz des Ensembles, die Darsteller auf
eine „magere Parteilinie“219 zurückzuführen, auch wenn deren
Wirklichkeitsdefinition anders ist. Und „öffentlicher Streit
zwischen Ensemblemitgliedern (hindert) diese nicht nur an
gemeinsamem Handeln, sondern beeinträchtigt auch die vom
Ensemble dargestellte Realität. Um jenen Realitätseindruck zu
schützen, kann von den Ensemblemitgliedern verlangt werden,
dass sie keine öffentlichen Meinungsäußerungen abgeben; bevor
die offizielle Stellung des Ensembles einmal festgelegt ist,
können alle Mitglieder verpflichtet werden, sich nach ihm zu
richten.“220 So werden mögliche Abweichler – mit Macht – auf
die Parteilinie zurückgeführt. Eine überzeugende Situationsbzw. Realitätsdefinition durch ein Ensemble kann nur auf der
Basis einer Einmütigkeit erfolgen, und das ist der Grund für die
Ausgrenzung von Abweichlern: ihre Existenz gefährdet die
einheitliche Situationsdefinition des Ensembles und damit auch
dessen Definitionsmacht.
4.2. Gefährdete Darstellung und Identität
Die Möglichkeit, der Gefährdung der Interaktionssituation, weil
die gegenseitigen Situationsinterpretationen verfehlt werden, ist
stets latent gegeben. Goffman befasst sich daher mit der Frage,
wie die an der Interaktion beteiligten Personen umfangreiche
Maßnahmen ergreifen, um einen Zustand situativer Anomie zu
vermeiden: „Tatsächlich kann man feststellen, dass immerzu
Sicherungsmaßnahmen getroffen werden, um peinliche Situationen zu vermeiden, und dass ständig Korrekturmaßnahmen ergriffen werden, um diskreditierende Vorfälle auszugleichen, die
nicht zu vermeiden waren.“221 Solche Maßnahmen sind Techniken, „die zur Sicherung des Eindruckes angewendet werden,
den ein Einzelner in Gegenwart anderer aufgebaut hat.“222
Um die Beständigkeit einer erwünschten sozialen Identität, die
auf den interaktiven Prozess gemeinsam getragener Situationsdeutung zurückgeht, muss also stets gerungen werden:
„Normalerweise sind Situationsbestimmungen der einzelnen
219
Goffman 1959, S. 80
Goffman 1959, S. 80
221
Goffman 1959, S. 16
222
ebd.
220
119
Mitglieder einer Gruppe so weitgehend aufeinander abgestimmt,
dass keine offensichtlichen Widersprüche auftreten. (...) Man erwartet von jedem Teilnehmer, dass er seine unmittelbaren
tieferen Gefühle unterdrückt und einen Aspekt der Situation
ausdrückt, den seiner Ansicht nach die anderen wenigstens
vorübergehend akzeptieren können. Diese oberflächliche Übereinstimmung, die den Anstrich von Einigkeit hat, wird ohne
Schwierigkeiten aufrechterhalten, wenn jeder seine eigenen
Bedürfnisse hinter der Verteidigung von Werten verbirgt, denen
sich alle Anwesenden verpflichtet fühlen.“223 Und weiter: „Alle
Gruppenmitglieder tragen gemeinsam zu einer umfassenden Bestimmung der Situation bei, die weniger auf echter Übereinstimung über die Realität beruht, als auf echter Übereinstimmung darüber, wessen Ansprüche in welchen Fragen vorläufig anerkannt werden sollen.“224
Die Einigkeit des Ensembles wird in der Regel mit Machtmitteln
und mit Bezugnahme auf die die Aktionen des Ensembles strukturierenden Werte durchgesetzt. Goffman erkennt jedoch zutreffend, dass diese Einigkeit aufgrund der Ausprägungen der
persönlichen Identität stets gefährdet ist. Die Darstellung, die
entscheidend dafür sein kann, ob ein Individuum „dazugehört“
oder nicht, ob die soziale Umwelt dazu bereit ist, die Definitions- und Kommunikationsmacht des Individuums anzuerkennen oder nicht, ist labil. Innerhalb der Darstellung können
sich Abweichungen entwickeln: „Manchmal treten Störungen
durch ungewollte Gesten, Fauxpas und Szenen auf, widersprechen der dargestellten Situation oder diskreditieren sie
(...) Wir beobachten, dass sowohl die Darsteller als auch Publikum und Außenseiter bestimmte Techniken anwenden, um das
Schauspiel zu retten. Um eine Gewähr dafür zu haben, dass solche Techniken zum Einsatz kommen, wird das Ensemble
möglichst Mitglieder wählen, die loyal, diszipliniert und sorgfältig sind, und sich taktvolle Zuschauer suchen.“225
223
Goffman 1959, S. 12f.
Goffman 1959, S. 13
225
Goffman 1959, S. 218
224
120
Daher gilt, „dass der Eindruck von Realität, den eine Darstellung
erweckt, ein zartes, zerbrechliches Ding ist, das durch das
kleinste Missgeschick zerstört werden kann.“226
Und dies geschieht auch oft genug. Goffman gibt gegen Ende
seines Buches „Wir alle spielen Theater“ eine Zusammenfassung
der Störpotentiale in den Fällen misslungener Dramaturgie:
„Wenn ein Einzelner vor anderen erscheint, stellt er bewusst
oder unbewusst eine Situation dar, und eine Konzeption seiner
selbst ist wichtiger Bestandteil dieser Darstellung. Wenn ein
Ereignis eintritt, das mit dem hervorgerufenen Eindruck unvereinbar ist, machen sich gleichzeitig auf drei verschiedenen
Ebenen der sozialen Realität Folgen bemerkbar, von denen jede
von einem anderen Bezugspunkt und einer anderen Tatsachenebene ausgeht.“227
1. Im Hinblick auf die individuelle Persönlichkeit heißt das: der
Einzelne bezieht sich selbst stark in seiner Identifikation mit
einer bestimmten Rolle, Institution oder Gruppe in sein
Selbstbild als jemand ein, der keine sozialen Interaktionen
stört und die Sozialeinheiten nicht im Stich lässt, die von der
Interaktion abhängig sind. Wenn eine Störung eintritt, wird
die Selbstdarstellung, auf die eine Persönlichkeit aufgebaut
wurde, diskreditiert. Goffman bezeichnet dies als Störung
unter dem Gesichtspunkt der Einzelpersönlichkeit.
2. Im Hinblick auf die soziale Interaktion wird festgestellt, dass
der Dialog in einen peinlichen und verworrenen Stillstand
geraten kann. Das soziale System der Interaktion ist desorganisiert, und ursprünglich ins Auge gefasste Handlungspläne und Motive werden hinfällig. Goffman bezeichnet
diesen Umstand an anderer Stelle als „Pathologie der Interaktion“228 und meint damit die Folgen der Störung unter dem
Gesichtspunkt der sozialen Interaktion.
3. Das Publikum neigt dazu, das Selbst, das der Darsteller
während seiner Vorstellung von sich entwirft, als stellvertretend für das Ensemble, z.B. die Kollegengruppe, aber
auch die Familie, zu der jener gehört, anzusehen. Weiters
wird die einzelne Darstellung, die das Individuum liefert, als
226
Goffman 1959, S. 52
Goffman 1959, S. 221
228
vgl. Goffman 1963, S. 22f.
227
121
Beweis dafür angesehen, ob es seine Rolle beherrscht oder
nicht, ob es überhaupt dazu in der Lage ist, irgendeine Rolle
zu spielen. Im Sinne einer „sozialen Ansteckung“ werden die
größeren Sozialeinheiten (z.B. die Arbeitsgruppen, die
Vereine, die Ämter, die Familien usw.) immer mit hineingezogen in die zunächst individuenbezogene Bewertung.
Mit jeder Darstellung wird die Legitimität der Ensembles
aufs Neue in Frage gestellt und ihr bleibender Ruf aufs Spiel
gesetzt. Das sind die Folgen der Störung vom Standpunkt der
Sozialstruktur.
Interaktionen sind demnach eine heikle Angelegenheit, weil ihr
Gelingen durchaus nicht garantiert ist: „Obgleich die Wahrscheinlichkeit der Störung von einer Interaktion zur anderen sehr
verschiedenartig ist und auch die Bedeutung möglicher Störungen stark variiert, so scheint es doch, als gebe es keine Interaktion, in der die Teilnehmer nicht ein merkliches Risiko eingehen, geringfügigen Peinlichkeiten ausgesetzt zu sein, oder ein
leichtes Risiko eingehen, tief gedemütigt zu werden. Vielleicht
ist das Leben kein Glücksspiel, aber die Interaktion ist es.“229
Nicht wenige Soziologen, die sich mit Goffman befasst haben,
rezipieren im Wesentlichen den Aspekt seines Werkes, wonach
die Menschen offenbar in berechnender Art und Weise stets
danach trachteten, im Rahmen des tagtäglichen Schauspieles
eine möglichst optimale Präsentation ihrer selbst zu bieten, stets
auf ihren eigenen Nutzen bedacht, täuschend und überaus
opportunistisch sich durch das Leben mogelnd, eine Identität
konstruierend, die ihr eigentliches und wahres Selbst verleugnet.
Es scheint so, als hätten für Goffman die Aussagen der
klassischen Theorien, wonach die Menschen in die Gesellschaft
mit ihren Wertstrukturen sozialisiert werden, die sie dann auch
als verbindlich anerkennen und deswegen gerade nicht täuschen,
von geringer Bedeutung. Man könnte indes eher vermuten, dass
Goffman mit seinen Arbeiten einen systemaffirmativen Ansatz
der Klassiker relativieren wollte.
In der Tat hat sich in den Sozialwissenschaften die Erkenntnis
durchgesetzt, dass moralische Werte in ihrer sozialisationsdeterminierenden Wirkung offenbar doch nicht so handlungsprägend
229
Goffman 1959, S. 222
122
sind, wie von den Klassikern Durkheim, Mead, Erikson und
Parsons vermutet.
An dieser Stelle muss man ausdrücklich die Position Max
Webers erwähnen, der die Existenz eines zweckrationalen Handelns neben wertrationalem Handeln postuliert hat und damit erklären kann, dass Menschen zwar analog gesellschaftlicher Werte handeln können, dass sie sich aber, da wo es für sie günstig
ist, auch an anderen als moralisch bewerteten Kriterien orientieren können, ohne zum gesellschaftlichen Außenseiter zu werden.230 Dazu gehört z.B. der Vermieter, der in legitimer Weise
die überschuldete Familie mit Mietrückständen aus der Mietwohnung klagt, oder um ein drastisches Beispiel zu bemühen,
der Wachmann, der im texanischen Gefängnis von Huntsville,
den zum Tode verurteilten Häftlingen die Giftspritze setzt (und
dabei auch nur „seinen Job macht“).
Jedenfalls kann man Goffmans Sicht so deuten, dass Menschen
nicht aus purer Lust außerhalb gesellschaftlicher Wertstrukturen
handeln. Sie handeln so, weil es ihnen hilft, ihr Dasein zu
bewältigen. Diese Hilfe kann sogar überlebenswichtig sein.
Insofern ist die Charakterisierung der Menschen als opportunistisch oder berechnend unpassend. Die Gründe für eine
solche Rezeption liegen wohl darin, dass manche Autoren die
Theatermetaphorik „zu ernst“ nehmen und verkennen, dass
Goffman die Menschen nicht wirklich als Schauspieler ansieht:
er benutzt lediglich methodisch dieses Konzept. Lenz schreibt
daher: „Goffman wird gänzlich missverstanden, wenn das Bild
entworfen wird, als wären die Akteure bei ihm amoralische Wesen, die dauerhaft damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu betrügen. Im Gegenteil, er zeigt gerade, dass die Kooperation der
Akteure ein strukturelles Erfordernis für die Aufrechterhaltung
und Wiederherstellung der interaction order ist.“231
Dieser unablässige Prozess, der die gegenseitige Verständigung
über die Positionen der handelnden Individuen beinhaltet, bleibt
nicht ohne Auswirkungen auf deren Identitäten. Goffman ist „der
Soziologe, der von der Gefährdung des Individuums wusste und
deshalb immer aufs Neue beschrieb, wie Menschen sich in ihrem
Alltag zu schützen versuchen – vor der Gesellschaft und vor den
230
231
vgl. Weber 1922, S. 12
Lenz 1991, S. 46
123
vielen anderen. Dass er dabei auch beschreiben musste, wie die
Gesellschaft und ihre Institutionen versuchen, Identität auf eine
bestimmte Funktionalität ‚hinzubiegen‘, liegt auf der Hand.“232
4.3. Die Theorie des Abweichens
Die klassischen Theorien der Identitätsgenese sind von dem
Regelfall einer Ontogenese im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen ausgegangen. Abweichung wurde nicht systematisch erforscht, sondern nur als theoretischer Teilaspekt unter der
Perspektive des „Misslingens“ erwähnt. Zum Beispiel befasst
sich Erikson ausführlich mit der „gesunden“ Entwicklung der
menschlichen Identität und erwähnt nur als deren Derivat die
Perspektive der Abweichung. Parsons behandelt Abweichung als
ein Phänomen einer pathologischen Entwicklung. Dieses wird in
seiner Theorie deutlich von dem von ihm so empfundenen
„Normalfall“ einer konformen Persönlichkeitsentwicklung abgegrenzt. Für Erikson und Parsons bedeutet Abweichung ein Verhalten, das mit gesellschaftlichen Werten unvereinbar ist und
eine Ausnahme sozialisatorischer Entwicklung darstellt.
Mead deutete an, dass im Falle von Abweichung die Identität des
Menschen von Desintegration bedroht ist. Dies ist insbesondere
dann der Fall, wenn es dem Individuum nicht gelingt, unterschiedliche Wertorientierungen in sein Selbst, in den Apparat
seiner verschiedenen „me’s“ bruchlos einzubauen. Die vermuteten Folgen wurden weiter oben beschrieben. Allerdings ist
auch Mead nicht weiter in diese Thematik eingedrungen.
Mead hat im Gegensatz zu Goffman, bei der theoretischen Konzeption der Bedingungen für die Entstehung von Identität fast
ausschließlich auf Interaktion und Rollenübernahme in einvernehmlichem Sinne reflektiert. Es wird ihm daher von seinen
Kritikern vorgeworfen, zu wenig Bezug auf die Frage, inwieweit
bestimmte Formen der Bildung von Identität andere als solche
der Harmonie und des Interessenausgleiches sind, genommen zu
haben. Diese wertkonforme und integrationsorientierte Sicht
steht im Einklang mit den anderen klassischen Theorien der
Identitätsgenese. Diese Theoretiker interessierten sich offenbar
nicht für die Erforschung von Abweichung von gesell232
Abels 1997b, S. 167f.
124
schaftlichen Normen im Sinne empirisch erfahrbarer und
theoretisch systematisierbarer Konzepte. Vielmehr betrachteten
sie Abweichung als Sachverhalt, von dem immer Einzelne,
nämlich Außenseiter, betroffen waren. Diese Haltung ist naheliegend, wenn man wie Erikson und Parsons gesellschaftliche
Normen und Konformität mit diesen in besonderer Weise
hochhält. Von Konflikten mit gesellschaftlichen Normen und der
gesamten gesellschaftlichen Moral haben zwar alle Theoretiker
geschrieben, und die Desintegration der Identität des Individuums aufgrund moralischer Konflikte und damit eine
bestimmte Form der Gefährdung des Individuums, zum gesellschaftlichen Außenseiter zu werden, wurde auch von Mead
thematisiert. Es war jedoch Goffman, der sich systematisch mit
gesellschaftlichem Außenseitertum auf der Grundlage beschädigter Identität befasst hat.
4.4. Identität und „Stigma“
Dem Untertitel zu Goffmans Buch „Stigma“ ist zu entnehmen,
dass sich der Autor damit befasst, wie Menschen, die aufgrund
der Tatsache, dass sie stigmatisiert werden, in ihrer Identität
„beschädigt“ werden, und wie sie gezwungen sind, sich
Techniken anzueignen, um das Leben mit diesem Zustand zu bewältigen. Für das Individuum, das einen Makel oder ein Stigma
besitzt, ist die Darbietung mit der Zielsetzung, den Darstellungsrahmen nicht zu beschädigen, sehr schwierig. Goffman nennt die
Lebenserfahrung, ein Stigma zu besitzen, einen „moralischen
Werdegang.“233 Sozialisationserfahrungen vor dem Hintergrund
eines Stigmas bedeuten einen Lernprozess, bei dem der Ablauf
des sozialen Zusammenlebens mit den Augen der „Normalen“
gedeutet wird und das ständige Bemühen besteht, trotz der
Andersartigkeit in der Welt der „Normalen“ nicht negativ
aufzufallen. Allerdings bleibt stets im Bewusstsein des Individuums, dass man doch irgendwie anders, mehr oder weniger
nicht zugehörig und vor allem: mehr oder weniger gefährdet ist,
Demütigungen ertragen zu müssen.
Zunächst beschreibt Goffman den Regelfall des Umgangs von
Menschen, die „normal“ sind. In dieser alltäglichen Situation
233
Goffman 1963, S. 45ff.
125
erzeugt der Anblick alters bei ego Erwartungen in dem Sinne,
dass ego alters soziale Identität antizipiert. Diese Erwartungen
fließen in die von Goffman so bezeichnete „virtuale soziale
Identität“ ein. Diese hebt sich jedoch von dem ab, was das Individuum an „aktualer sozialer Identität“ besitzt. In dieser Unterschiedlichkeit manifestiert sich der Umstand, dass von einem
Individuum oft mehr und anderes erwartet wird, als es de facto
ist. Wenn also alter ein Fremder ist und ich mir einer Tatsache
bezüglich alters inne werde, die eine diskrepante Kognition zu
meiner Erwartung darstellt, drückt sich das als Diskrepanz
zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität alters aus.
Soweit es sich dabei um eine ungünstige Eigenschaft handelt,
mutiert in meiner Vorstellung alter zu einem Menschen, der eine
Schandsignatur besitzt, ein Stigma.
Der Stigmabegriff ist relativ: „Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die
Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an
sich weder kreditierend noch diskreditierend.“234 Als Beispiele
mögen rote Haare oder uneheliche Kinder dienen. Was in dem
einen sozialen Milieu peinlich und schändlich ist, kann in dem
anderen völlig unproblematisch sein. Es gibt aber gewisse Sachverhalte, wie z.B. Geisteskrankheit oder Inzest, die in fast allen
Gesellschaften diskreditierend sind. Goffman unterscheidet
zwischen zwei Gruppen von Menschen, die mit Stigmata zu tun
haben: Diskreditierbare und diskreditierte Menschen.
4.5. Diskreditierbare Menschen
Zu den diskreditierbaren Menschen gehören jene, die eine
Eigenschaft besitzen, die, wenn sie erkannt wird, zum Stigma
werden kann. Hier kommt es wesentlich auf den Grad der
Visibilität der maßgeblichen Eigenschaft an: ein Mensch wird
solange nicht als abweichend etikettiert, solange seine Abweichung nicht bekannt und als solche nicht benannt ist. Daher
ist das diskreditierbare Individuum gezwungen, gegenüber seiner
sozialen Umwelt sein Stigma zu verheimlichen. Damit muss es
einen Teil seiner Lebensvollzüge um die gesellschaftlichen
Konsequenzen der Stigmaeigenschaft organisieren. Die Person
234
Goffman 1963, S. 11
126
muss lernen, den Umgang mit der Information über ihren Fehler
sorgsam zu steuern. Sie muss genau bedenken, ob und wem sie
ihren Makel gesteht. Indem der Stigmaträger sein wahres „Sosein“ verbirgt, „erhält und akzeptiert er eine Behandlung, die auf
falschen Voraussetzungen hinsichtlich seiner beruht.“235
Goffman stellt fest, dass diskreditierbare Menschen dazu gezwungen sind, bezüglich ihrer Stigma-Eigenschaft zu täuschen.
Dies stellt die wichtigste Maßnahme des Informationsmanagements dar.236
Goffman hat den „Techniken der Informationskontrolle“237 ein
ganzes Kapitel gewidmet. Dabei geht es immer darum, die persönlichen Eigenschaften, die ein Stigma darstellen können, zu
verbergen. So kann die Person, die eine Gesichtsdeformation
hat, versuchen, dieselbe mit bestimmten Kleidungsstücken zu
verbergen. Neuerdings werden Schönheitsoperationen immer beliebter.
Die räumliche Welt des Individuums, das etwas zu verbergen
hat, kann aufgeteilt sein. Bestimmte Bereiche sind gefährlich für
die Aufrechterhaltung der Kontrolle über das Stigma. Zum einen
kann es sein, dass das Individuum an einem Ort nicht gesehen
werden möchte, an dem ansonsten andere Menschen mit dem
spezifischen Stigma anzutreffen sind und die Anwesenheit für
Unbeteiligte die Vermutung nahe legt, dass der dort vorgefundene Mensch ebenfalls ein Stigmaträger ist. Dies betrifft
z.B. den bürgerlich lebenden Ehemann, der keinesfalls als potentieller Freier auf einem Straßenstrich erkannt sein möchte.
Zum anderen kann es Bereiche geben, zu denen das Individuum
legitimerweise keinen Zugang hat. Und wenn es sich doch
Zugang verschaffen sollte, kann die Enthüllung als eine Person,
die dort nicht „hingehört“, Ausstoßung bedeuten oder, aufgrund
der Unerfreulichkeit und Peinlichkeit, eine stillschweigende
Kooperation der Beteiligten verursachen, so dass ein Eklat zumindest vorerst vermieden werden kann.
Eine weitere Teilung der räumlichen Welt erfolgt im Hinblick
auf die persönliche Identität. Es ist für ein Individuum, das gezwungen ist, die Umwelt über sein Stigma zu täuschen, wichtig,
235
Goffman 1963, S. 57
vgl. ebd.
237
Goffman 1963, S. 116ff.
236
127
sich hauptsächlich an Orten zu befinden, wo es anonym ist.
Typischerweise leben viele homosexuelle Männer hauptsächlich
in urbanen Ballungsräumen, um sich der Kontrolle durch Verwandte und Kollegen entziehen zu können.
Diskreditierbare Menschen müssen auch in strategischer Weise
lernen, Distanz zu anderen zu wahren, bewusst den Umgang mit
Menschen zu meiden, der dazu führen könnte, dass eine Diskreditierung stattfindet. Sie beenden daher soziale Beziehungen zu
„Prästigma“-Freunden, Verwandten und Kollegen, nur um zu
verhindern, dass es zu der Entlarvung kommt. Und sie verschließen sich neuen Beziehungen, soweit es zu vermuten steht,
dass ein „Gefahrenpotential“ existieren könnte. Hieraus resultiert
auch eine systematisch betriebene Entwicklung, deren Resultat
die Einsamkeit und soziale Isolation des Individuums sein kann:
„Durch die Aufrechterhaltung physischer Distanz kann das
Individuum auch die Tendenz anderer einschränken, eine persönliche Identifizierung von ihm anzusammeln.“238 Dazu gehört
der Wechsel des Wohnortes, um eine räumliche Distanz zu den
sonstigen Orten der allgemeinen und gegebenenfalls obskuren
Lebensvollzüge zu erreichen. Damit wird eine biographische Zusammenhangslosigkeit239 erreicht.
Goffman bezeichnet die Technik des Nichtoffenbarens diskreditierender Informationen als „Täuschen“. Damit ist ein Verhalten gemeint, das von Menschen praktiziert wird, die es vorziehen, als „Normale“ angesehen zu werden. Täuschen kann in
der Interaktion als dramaturgisches Mittel eingesetzt werden, um
eine bestimmte Wirklichkeitsdefinition zu erhalten. Unter der
Formel „Darstellung auf der Vorderbühne“ beschreibt Goffman
die vielfältigen Methoden, wie Ensembles und ihre Mitglieder
mit dem Ziel, eine bestimmte Situationsdefinition aufrechtzuerhalten, eine Vorstellung geben, die sich von der Lebensrealität auf der Hinterbühne unterscheidet. Die Täuschung
besteht z.B. darin, „Personen aus dem Publikum auszuschließen,
die den Darsteller vor längerer Zeit in einer anderen und der
jetzigen, widersprechenden Rolle gesehen haben.“240
238
Goffman 1963, S. 125
vgl. Goffman 1963, S. 126
240
Goffman 1959, S. 126
239
128
Personen, die täuschen, führen ein Doppelleben, das sie potentiell erpressbar macht. Täuschen bezieht sich auf etwas
Diskreditierendes aus der Vergangenheit oder der Gegenwart des
Individuums. Die Unsicherheit des diskreditierbaren Individuums steigt an, „je mehr andere über die dunkle Seite Bescheid wissen.“241 Es handelt sich dabei um die Bedrohung einer
gegenwärtigen sozialen Identität, die dadurch entsteht, dass
einige Menschen über die Vergangenheit des Individuums oder
über die dunkle Seite seiner Gegenwart informiert sind.
Die umgekehrte Variante ist jedoch auch möglich: ein Stigma,
das ein Individuum in der Gegenwart besitzt, kann eine von Diskreditierung bisher verschonte Vergangenheit gefährden. Auch
hier kann es für das Individuum wichtig sein, zu täuschen. So
geht es z.B. der Prostituierten, die unter allen Umständen
vermeiden möchte, mit Männern aus ihrem Heimatort zusammenzutreffen, die dort ihrem guten Ruf ein jähes Ende bereiten
könnten.
Goffman nennt verschiedene Ausprägungen des Täuschens.242
Die folgende Auflistung soll als eine Darstellung von Täuschungshandlungen mit zunehmender Intensität und Schwere
verstanden werden:
- unwissentliches Täuschen
- unbeabsichtigtes Täuschen
- Täuschen aus Spaß
- Täuschen während nicht-routinemäßiger Teile des sozialen
Ablaufes
- Täuschen während täglicher Routineangelegenheiten
- „Untertauchen“, das heißt vollständiges Hinwegtäuschen in
allen Lebensbereichen.
Das Individuum täuscht nach Goffmans Meinung unwissentlich
und unbeabsichtigt, wenn es selbst nicht weiß, dass es gerade
täuscht oder sich sozusagen beim Täuschen selbst ertappt.
Fälle unwissentlichen Täuschens sind nach Ansicht des Verfassers dieser Arbeit schwer zu rekonstruieren. Denkbar wären
z.B. Menschen, die permanent als gut gelaunt auftreten. Für den
Fall, dass eine Personen wirklich permanent gut gelaunt ist, ist
nach meiner Meinung davon auszugehen, dass sich diese Person
241
242
Goffman 1963, S. 99
vgl. Goffman 1963, S. 102
129
in einem Grenzbereich seelischer Gesundheit befindet. Dies
zumal, wenn diese Person - ohne sich dessen inne zu sein - ihre
soziale Umwelt und sich selbst mit ihrem Verhalten täuscht.
Maßgeblich für die Täuschung ist, dass mit Absicht etwas
Unwahres dokumentiert wird, wenn es gleichzeitig möglich
gewesen wäre, bei der Wahrheit zu bleiben.243 Wo die Absicht
fehlt, kann es sich nur um Irrtum oder seelische oder geistige
Unzulänglichkeit handeln.
Goffman macht zu diesen Grenzfällen leider keine weiterführenden Aussagen.
Es liegt auf der Hand, dass viele Täuschungshandlungen aus
Spaß geschehen. Allerdings ist einem diskreditierbaren Individuum sicher nicht nach Spaß zumute. Insofern ist auch diese
Kategorie nicht wesentlich für diese Arbeit.
Das nicht routinemäßige Täuschen kommt für das diskreditierbare Individuum in Frage, wenn es sich außerhalb seiner
normalen Alltagsbezüge bewegt. Eine schwerhörige Ehefrau und
Mutter hat es nicht nötig, im Bereich ihrer Familie ihre Behinderung zu verheimlichen. Dies kann aber der Fall sein, wenn
sie zusammen mit ihrem Mann zu einem Ball eingeladen ist.
Plötzlich wird das Täuschen wichtig, und der Mann hat in
diesem Zusammenhang auch noch eine besondere Funktion als
Mit-Täuscher.
Das routinemäßige Täuschen im Alltag findet in der Mehrzahl
der Fälle zur Abwehr von Diskreditierungen statt. Nach Goffmans Erkenntnis wird dies von allen Menschen angewendet, die
bestimmten kulturell vermittelten Idealen nicht entsprechen. Vor
allem im Berufsleben ist das Täuschen erforderlich, je härter und
unbarmherziger der Konkurrenzkampf wird. Dabei geht es um
das Täuschen über Unzulänglichkeiten und Fehler, die einen
unter Umständen den Job kosten können.
Schließlich ist das „Untertauchen“ die Variante des Täuschens,
die die gesamte soziale und personale Identität des Individuums
umfasst und dann zum Tragen kommt, wenn ein Weiterleben in
den bisherigen Bahnen überhaupt nicht mehr möglich erscheint.
Dies ist typisch für Kriminelle und Prostituierte.
243
vgl. Schmid 2003, S. 52f.
130
Goffman spricht von einer „Täuschungseskalation“, in die man
als Diskreditierbarer geraten kann. Dies bezeichnet eine besondere Dynamik des Täuschens, die darin besteht, dass man sich
unversehens in Entwicklungen „hineintäuschen“ kann, aus deren
Verstrickungen sich zu lösen schwer sein kann: „Wer täuscht,
leidet auch unter ‚Sichhineinreiten‘, das heißt unter dem Druck,
eine Lüge nach der anderen auszuarbeiten, um eine bestimmte
Enthüllung zu verhindern.“244 Thiersch schreibt: „in Täuschungen sich zu bewegen, ist gefährlich. Man hat das Täuschen
nicht in der Hand, die erste falsche Auskunft bedingt, um glaubwürdig zu bleiben, die zweite, die wieder die dritte, und so
verfängt sich, wer sich auf Täuschen einlässt, leicht im Netz
seiner eigenen Lügen. Täuschungen durchzuhalten, verlangt gespannte Aufmerksamkeit. Der Diskreditierbare lebt wie auf
Lauer. Verraten vielleicht Anspielungen, dass der andere schon
weiß, was er nicht wissen sollte? In Täuschungen zu leben, bedeutet, ein Doppelleben führen und deshalb Angst.“245
Täuschen ist der Versuch des Individuums, der sozialen Umwelt
die Möglichkeit zu nehmen, Stigmatisierungen auszuüben.
Damit steht dahinter auch das peinliche Bemühen, nicht zum
Außenseiter gemacht zu werden. Es kann auch das Bemühen
dahinter stehen, seine Identität in ihren für die soziale Umwelt
erfahrbaren Zügen, „aufwerten“ zu wollen, indem Eigenschaften
geltend gemacht werden, die vermeintlich Distinktionsgewinne
erzeugen. Fatalerweise kann man genau dann zum Außenseiter
werden, wenn man sich auf solche Strategien einlässt. Wer
meint, eine diskreditierende Eigenschaft verbergen zu müssen
oder eine Eigenschaft vortäuschen zu sollen, die ungerechtfertigte Distinktionsgewinne vermittelt, macht seiner sozialen
Umwelt etwas vor und wird dadurch unauthentisch, unglaubhaft
und schließlich zunehmend einsam. In diesem Zusammenhang
ist ein Verweis auf die psychischen und sozialen Kosten dieses
Verhaltens angebracht. Dafür steht das folgende Zitat von
Goffman: „Ebenso kann der Einzelne, wenn er auch nur einen
Punkt zu verbergen hat, und selbst wenn die Gefahr der
244
245
Goffman 1963, S. 107
Thiersch 1969, S. 376f.
131
Entdeckung höchst unwahrscheinlich ist, während seiner ganzen
Darstellung von Angst verfolgt sein.“246
4.5.1. Etikettierung
Goffman hat als Schwelle zwischen dem Zustand der
Diskreditierbarkeit und des Diskreditiertseins die Visibilität des
Stigmas benannt, das heißt, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt
oder Zustand das Stigma nicht mehr verleugnet werden kann.
Von nun an ist eine von dem Stigma unbeeinträchtigte Interaktion des Stigmaträgers mit den „Normalen“ nicht mehr
möglich.
Im Falle körperlicher Stigmata ist dies evident. Eine Interaktion
eines sehenden mit einem blinden Menschen wird irgendwann
auf die Behinderung Bezug nehmen müssen, spätestens dann,
wenn man sich über visuell geprägte Themen unterhalten will.
Völlig anders ist es jedoch mit solchen Stigmata, die zunächst
nicht erkennbar sind, wie in den Fällen der von Goffman so genannten „Charakterfehler“ und den „phylogenetischen Stigmata“. Bestimmte Stigmata bedürfen zu ihrem Wirksamwerden
einer Hervorhebung, einer Kennzeichnung, einer symbolischen
Aufladung.
Howard Becker hat den Sachverhalt, dass soziale Zuschreibungen zu einer bestimmten, von der Umwelt perzipierten
Eigenschaft führen können, als „labeling“ bezeichnet. Die aus
dieser Beobachtung abgeleitete wissenschaftliche Theorie, der
labeling approach bzw. die Etikettierungstheorie soll nun erklärt
werden.
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand im
theoretischen Kontext des symbolischen Interaktionismus die
Etikettierungstheorie. Ihr Anliegen war eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit abweichendem Verhalten als gesellschaftlichem Phänomen. Aus den drei Prämissen des symbolischen Interaktionismus, dass nämlich
- Menschen auf der Grundlage der Bedeutungen, die die Dinge
für sie haben, handeln,
246
ebd.
132
- diese Bedeutungen aus der Interaktion mit Anderen,
insbesondere mit vertrauten Anderen erwachsen und
- die Bedeutungen kontinuierlich durch Interpretationsprozesse
modifiziert werden,
lässt sich eine theoretische Fragestellung zu gesellschaftlicher
Abweichung ableiten, die neben den in der Person liegenden
Faktoren zu klären versucht, „inwieweit (...) die Verhaltensweisen der Normalen an der Ausbildung sozial auffälligen Verhaltens (...) mitbeteiligt sind.“247
Die Etikettierungstheorie ist die Anwendung interaktionistischer
Perspektiven auf das gesellschaftliche Phänomen der Devianz.
Im Unterschied zu den funktionalistischen Ansätzen in der
Soziologie (z.B. der strukturfunktionalistischen Theorie von
Parsons oder der Anomietheorie Mertons), die abweichendes
Verhalten in erster Linie als ein Resultat spezifischer
Ausrichtungen der handelnden Person oder der Situation
ansehen, richtet die Etikettierungstheorie ihr Augenmerk auf die
Vorgänge, die die Zuweisung einer Person bzw. ihres Verhaltens
in die Kategorie „abweichend“ bzw. „nicht-abweichend“, als
Ergebnis eines komplizierten Interaktions- und Interpretationsprozesses, bewirken. Frey sieht dafür drei Faktoren als
maßgeblich an:
1. Etikettierungen treffen bevorzugt Personen mit geringem
sozialen Status,
2. Etikettierungen führen zu Veränderungen des Selbstbildes,
3. Etikettierungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit fortgesetzten
kriminellen Verhaltens.248
Als theoretische Vorläufer gelten die Arbeiten von Tannenbaum
(Crime and Community, 1938) und Lemert (Social Pathology,
1951). Lemert unterscheidet im Rahmen seiner Analyse
zwischen primärer und sekundärer Deviation. Primäre Deviation
ist nach Lemert einfach nur die aktuelle Verwirklichung
abweichenden Verhaltens jeglicher Art. Dieses Verhalten kann
vielfältige Gründe und Ursachen haben, die entweder in der
Person des Abweichenden zu finden sind oder in der konkreten
Situation. Dieser Ansatz wird als „ätiologisch“ bezeichnet und
247
248
Thiersch 1969, S. 373
vgl. Frey 1983, S. 11f.
133
kümmert sich nicht um die gesellschaftlichen Randbedingungen
der Abweichung.
Sekundäre Deviation hingegen ist die Folge aus den Problemen,
die dem Individuum aus den sozialen Reaktionen auf das
abweichende Verhalten entstehen. Sie ist das Produkt einer von
der Umwelt vorgenommenen Rollenzuschreibung als Normverletzer.
Nicht jede primäre Abweichung wird bestraft. Bei dem primär
devianten Individuum sind die Übertritte zunächst unbekannt
und von seiner sozialen Identität als regelkonformem Individuum überlagert. In bestimmten Fällen herrscht außerdem ein
höheres Maß an Toleranz in Hinblick auf die Übertritte. Auf
diese These werde ich weiter unten zurückkommen.
Die sekundäre Devianz hängt von der Reaktion der sozialen
Umwelt auf die primäre Abweichung ab. Diese besteht in der
negativen Sanktionierung der Abweichung und der Stigmatisierung des Individuums. Die Tatsache, dass die Übertritte des
Individuums bekannt geworden sind, beeinflusst seine soziale
Identität. Eine Folge daraus kann vor allem bei Jugendlichen
eine weitergehende Bindung an Gruppen sein, die systematisch
abweichendes Verhalten praktizieren, was z.B. eine zunehmende
Verstrickung in deviante, subkulturelle Milieus nach sich zieht.
Das Tragische an diesem Prozess ist, dass das Individuum, das
für seine Abweichung bestraft werden soll, nun erst recht
abweichend wird. Die von der Gesellschaft als deviant erkannte
Person passt ihr Verhalten ihrem Status an. Das Modell
beinhaltet eine Dynamik, gleichsam eine Eskalation, wobei die
soziale Kontrolle und die gesellschaftliche Reaktion eher die
Ursache als die Folge des abweichenden Verhaltens darstellt.
Die Arbeit Lemerts gilt als eine frühe Version der Etikettierungstheorie. Wesentlich häufiger wird jedoch auf die Arbeit Howard
Beckers Bezug genommen, die erstmals 1963 unter dem Titel
„Outsiders“ veröffentlicht wurde.249
249
Becker hat die Bezeichnung „labeling-theory“ abgelehnt. Stattdessen hat er sein
theoretisches Konzept als „Interaktionstheorie abweichenden Verhaltens“ bezeichnet, vgl.
Becker 1963, S. 163
134
4.5.2. Abweichung als Folge gesellschaftlicher Normsetzung
Menschliche Gesellschaften entwickeln aus ihren Werten
bestimmte Normen und Verhaltenserwartungen, die das
Zusammenleben ihrer Mitglieder steuern und regulieren. Die
Valenz dieser Normen hängt davon ab, dass – soweit notwendig
– ihre Durchsetzung mit dem Ziel erfolgt, die soziale Ordnung
zu schützen. Normen definieren, welche Verhaltensweisen in
positiver oder negativer Weise sanktioniert werden. So schreibt
Thiersch: „Abweichendes Verhalten kann nur von den Regeln
und Normen aus bestimmt werden, die in der Gesellschaft
gelten.“250 Und so ist die Beachtung und Befolgung gesellschaftlicher Normen und Regeln das maßgebliche Kriterium
dafür, ob ein Mensch als Gesellschaftsmitglied in positiver
Weise anerkannt oder ausgeschlossen wird: „Wenn eine Regel
durchgesetzt ist, kann ein Mensch, der in dem Verdacht steht, sie
verletzt zu haben, als besondere Art Mensch angesehen werden,
als eine Person, die keine Gewähr dafür bietet, dass sie nach den
Regeln lebt, auf die sich die Gruppe geeinigt hat. Sie wird als
Außenseiter angesehen.“251 Der Außenseiter ist jemand, der von
den Gruppenregeln abweicht.
Weiter schreibt Becker, dass im Gegensatz zu den Aussagen
ätiologischer oder funktionalistischer Erklärungsversuche, die
die Gründe für die Devianz in der Person des Regelverletzers
suchen, nach seiner Überzeugung das abweichende Verhalten
von der Gesellschaft geschaffen wird, bzw. „dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass
sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten
konstituiert, und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen
anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln.“252
Zu diesem Zwecke bildet die Gesellschaft bestimmte Institutionen um Abweichung im Verhältnis zu gesellschaftlichen
Regeln zu erkennen und ermächtigt sie zur Durchführung von
Sanktionsmaßnahmen: „Die Art von Institutionen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, und die Art ihrer Ausdifferenzierung bestimmen dann, wie das herangetragene Problem auch
inhaltlich definiert wird. ‚Kriminalität’ etwa ist dann dadurch
250
Thiersch 1969, S. 374
Becker 1963, S. 1
252
Becker 1963, S. 8
251
135
bestimmt, dass es das Strafrecht und die Polizei gibt, die für
bestimmte ‚Dienste’ in Anspruch genommen werden können,
und davon, dass für die Bewältigung bestimmter Problemlagen
diese Dienste als brauchbar erscheinen und daher in Anspruch
genommen werden.“253
Die Etikettierungstheorie relativiert die strukturfunktionalistische Position, wonach es so etwas wie eine objektive Wahrheit
und Wirklichkeitsdeutung gibt. Im Gegenteil: die oben
erwähnten Institutionen, die z.B. mit der Strafrechtspflege
betraut sind, konstruieren gesellschaftliche Wirklichkeit: „Man
kann Normen des formellen Strafrechts als für die Organe der
Strafrechtspflege verbindliche Regeln der Wirklichkeitskonstruktion ansehen.“254 In Deutschland wurde die Etikettierungstheorie hauptsächlich im Zusammenhang mit polizeilichen
Maßnahmen in Bezug auf kriminelles Verhalten bestimmter
Bevölkerungsgruppen diskutiert. Feest und Blankenburg
beschreiben in ihrer Arbeit eine situative Definitionsmacht der
Polizei, die dem Schutzinteresse des beobachteten Individuums
entgegensteht. Unter Definitionsmacht verstehen Feest und
Blankenburg „die sozial vorstrukturierte Chance, eine Situation
für andere verbindlich zu definieren. Diese Macht kann auf
ausdrücklicher gesetzlicher Delegation beruhen, sie kann jedoch
auch völlig außergesetzlich vorhanden sein.“255
Diese Macht beinhaltet nach der Überzeugung Feests und
Blankenburgs die Möglichkeit, eine eigene, von rationalen
Kriterien losgelöste Wirklichkeit zu definieren. So beschreiben
die Autoren, wie die Polizisten einen bestimmten Menschentypus bewusst in einen Kriminalitätszusammenhang bringen,
unabhängig davon, ob sich die konkrete Person abweichend
verhalten hat oder nicht. Feest und Blankenburg nennen dies
„verdachtsgeleitete Wirklichkeitskonstruktion.“256 Was sie
darunter verstehen, ergibt sich aus folgendem Zitat: „Unter den
geschilderten Bedingungen erlaubt die polizeiliche Definitionsmacht es nicht nur, formale Regeln juristischer Tatsachenfeststellung zu verletzen, (...) sondern auch durch selektive
253
Steinert 1984, S. 30
Feest u. Blankenburg 1972, S. 50
255
Feest u. Blankenburg 1972, S. 19
256
Feest u. Blankenburg 1972, S. 51
254
136
Perzeption und Wiedergabe von Fakten, die ‚Wirklichkeit’ dem
Verdacht anzupassen.“257
Bei ihrer Arbeit verhält sich die Polizei nach Feests und
Blankenburgs Feststellung höchst unterschiedlich, je nachdem
welcher sozialen Schicht die Person angehörte, die in das Visier
polizeilicher Ermittlungen geraten ist. Ein wichtiger Aspekt
bildet dabei die Tatsache, dass die Polizei von vornherein ihre
Beobachtungen im Bereich bestimmter Milieus konzentriert, so
dass dort eventuell vorkommendes kriminelles Verhalten nicht
entgehen kann: „Die Chancen eines Angehörigen einer sozial
unterprivilegierten Schicht, in Verdacht zu geraten und überprüft
zu werden, sind erheblich größer als die einer Person von
höherem sozialem Status.“258
In den bürgerlichen Milieus ist die Wachsamkeit der Polizei
erheblich reduziert, so dass hier eine viel höhere Chance besteht,
unerkannt zu bleiben und nicht in ein System von Etikettierung
und Kriminalisierung hineingezogen zu werden. So beobachten
Feest und Blankenburg, dass einem Angehörigen der sozialen
Unterschicht eine polizeiliche Behandlung zuteil wurde, die ihm
keine Chance auf Rehabilitation ließ: „Zweifellos wären sie
gegenüber jemandem, der sich als Geschäftsmann oder
Akademiker ausgewiesen hätte, beträchtlich vorsichtiger
gewesen.“259
Die Qualifizierung eines Verhaltens im Sinne von Abweichung
ist nach der Etikettierungstheorie letztlich eine gesellschaftliche
Setzung. Bestimmte Gruppen können, vermöge ihrer
gesellschaftlichen Macht, anderen Gruppen bestimmte Regeln
aufzwingen. Jede neue Regel schafft einen neuen Typus von
Außenseiter. Becker merkt hierzu an: „Regeln sind Produkte
einer Initiative, die jemand ergreift, und wir können uns
Menschen, die eine solche Initiative entfalten, als moralische
Unternehmer vorstellen.“260 Die Regelsetzer vergleicht Becker
mit „Kreuzfahrern in moralischen Dingen“, die einen für sie
wichtigen Aspekt ihrer Lebenswelt für „nicht in Ordnung“
erachten. Sie versuchen anderen Menschen ihre Sicht der Dinge
257
Feest u. Blankenburg 1972, S. 53
Feest u. Blankenburg 1972, S. 57
259
Feest u. Blankenburg 1972, S. 47
260
Becker 1963, S. 133
258
137
aufzudrängen. Dabei ist es typisch, „dass moralische Kreuzzüge
von den oberen Rängen der Sozialstruktur beherrscht werden,
das bedeutet, dass sie die Macht, die sie aus der Legitimität ihrer
moralischen Position ableiten, noch um jene Macht verstärken,
die sie aus ihrer höheren Position in der Gesellschaft
ableiten.“261
Eine wichtige Konsequenz aus dem moralischen Kreuzzug ist
die Aufstellung einer neuen Regel, gewöhnlich verbunden mit
der Bereitstellung einer Durchsetzungsmaschinerie. Becker
beschreibt diesen Zusammenhang anhand einer Gesetzesinitiative der „moral majority“ gegen eine unauffällige Gruppe von
Menschen, die Marihuana konsumiert. Der Konsum von Marihuana bewirkt Rauschzustände, die nach der amerikanischen
Moral unerlaubt sind. So schreibt Becker Folgendes: „Marihuana-Raucher, machtlos, unorganisiert und ohne öffentlich
legitimierten Grund zum Gegenangriff, sandten keinen Vertreter
zu den Anhörungen, und ihr Standpunkt fand in den Akten
keinen Platz. Ohne Gegenstimme passierte das Gesetz (...)
sowohl das Abgeordnetenhaus wie den Senat. Die Initiative (der
moralischen Unternehmer, Anmerkung des Verfassers) hatte eine
Regel geschaffen, deren anschließende Durchsetzung dazu
beitrug, eine neue Klasse von Außenseitern ins Leben zu rufen –
Marihuana-Raucher.“262
Die Kritik an den moralischen Unternehmern und ihren
Institutionen liegt auf der Hand, und nach Beckers Meinung gibt
es Wege, ihre Kreuzzüge zu beenden, „indem man ihnen
nachweist, dass sie ihren selbstgesteckten Zielen nicht gerecht
werden, (dass das Strafrecht keine präventiven Effekte hat, dass
die Psychiatrie nicht heilt, dass die Schule Benachteiligungen
nicht kompensiert) (...), denn das mit dem Etikett verbundene
Stigma kann dadurch verstärkt werden: Ehemalige Insassen von
Gefängnissen und Psychiatrie sind nicht rehabilitiert, schlechte
Schüler bleiben ungebildet, Langzeit-Arbeitslose sind zerrüttete
Persönlichkeiten.“263
261
Becker 1963, S. 135
Becker 1963, S. 131
263
Steinert 1984, S. 31f.
262
138
Gesellschaftliche Regeln definieren Situationen und die diesen
angemessenen Verhaltensweisen. Bei der Konstituierung von
Regeln werden gesellschaftliche Werte umgesetzt. Regeln gibt es
nicht nur im großen gesellschaftlichen Kontext sondern auch in
Gruppen. Die Etikettierungstheorie zeigt auf, dass die Anwendung von Regeln nicht einheitlich ist, und dass verschiedene
Gruppen unterschiedliche Positionen bezüglich gesellschaftlicher Regeln haben können. So ist auch die Bewertung einer
Handlung als deviant oder konform nicht eindeutig. Wie bereits
erwähnt kann diese Ambivalenz sogar innerhalb einer Gruppe in
Bezug auf verschiedene Menschen unterschiedlich erfolgen. Wie
Feest und Blankenburg festgestellt haben, gibt es z.B. ein diskriminierendes Sanktionsverhalten der Polizei, bei dem Angehörige
der sozialen Unterschicht für bestimmte Handlungen negativ
sanktioniert werden, wohingegen Mittelschichtangehörige keine
Sanktionen erleiden.
Die Bewertung von Devianz ist kein objektiver Vorgang. Becker
hat daher allen Versuchen, eine Taxonomie devianten Verhaltens
aufzustellen, eine Absage erteilt. Solche Versuche sind nach
Beckers Ansicht allein schon deswegen verfehlt, weil es eine
Fülle von Beispielen für ungleiche Reaktionen auf menschliches
Verhalten gibt. Letztlich kann eine Handlung nur dann als
abweichend angesehen werden, wenn Menschen sie als
abweichend definieren.
In diesem Zusammenhang schreibt Steinert: „Merkmale und
Eigenschaften, die an Menschen und ihren Handlungen
‚festgestellt’ werden, sind tatsächlich Abstraktionen zu einem
bestimmten Zweck und daher auch Zuschreibungen. Das gilt in
einem doppelten Sinn: es wird gesellschaftlich ein bestimmtes
Vokabular zur Kategorisierung von Menschen und Handlungen
produziert, das sich mit der Sozialstruktur und daher historisch
ändert, und die Anwendbarkeit und faktische Anwendung
bestimmter dieser Kategorien auf konkrete Menschen und
Handlungen variiert mit der Position in der Sozialstruktur.“264
Mit diesem Zitat ist die scheinbare Kontingenz bestimmter
Zuschreibungen belegt. Es ist aber nochmals eine Bekräftigung
der zuvor schon erwähnten These, wonach bestimmte Gruppen,
264
Steinert 1984, S. 29
139
wie z.B. die Polizei, eine Definitionsmacht besitzen, die es ihnen
ermöglicht, in gesellschaftlichem Auftrag das Verhalten von
Menschen als abweichend zu bewerten und entsprechende
Etikette zu verteilen, die Menschen zu gesellschaftlichen Außenseitern machen können.
Nicht jedes Verhalten, das als abweichend erkannt wird, löst
automatisch negative Reaktionen aus. Die Arten gesellschaftlicher Sanktionen sind nicht immer gleichsinnig. So wie die
Beurteilung von Verhalten als deviant oder konform nicht
eindeutig erfolgt, muss auch nicht jedes Verhalten, auch wenn es
erkennbar bestehenden Regeln zuwiderläuft, negative
Sanktionen nach sich ziehen. In allen Rechtsordnungen gibt es
Regeln, die aufgrund des gesellschaftlichen Wandels sozialer
Werte ihre Relevanz für das Leben der Menschen verloren
haben. Sie fristen, soweit sie zu kodifiziertem Recht geronnen
sind, das Schattendasein von Kuriositäten in den Gesetzesfolianten. Als Beispiel können die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über das Verlöbnis gemäß §§ 1297 ff. BGB angesehen
werden, die bis vor kurzem noch einen „Kranzgeldanspruch“
vorsahen, der einer „unbescholtenen Verlobten“ zustand, deren
Bräutigam nach gestatteter „Beiwohnung“ das Verlöbnis beendete (§ 1300 Abs. 1 BGB).
Becker definiert abweichendes Verhalten als „Produkt einer
Transaktion, die zwischen einer gesellschaftlichen Gruppe und
einer von dieser Gruppe als Regelverletzer angesehenen Person
stattfindet.“265 Aber: „Menschen reagieren auf eine von ihnen als
abweichend angesehene Handlung graduell sehr unterschiedlich.“266 So kann eine Person zu dem Zeitpunkt t1 nachsichtiger für eine abweichende Handlung beurteilt werden als
zum Zeitpunkt t2. Becker spricht auch in diesem Zusammenhang
von „Feldzügen“, die eine bestimmte Form der Abweichung in
den Fokus des öffentlichen Interesses zerren, was die fragliche
Verhaltensform zu diesem Zeitpunkt gefährlicher macht als zu
einem anderen Zeitpunkt. Zum Beispiel ist in den USA eine groß
angelegte Kampagne gegen das Rauchen entstanden, die das,
was früher selbstverständlich war (z.B. Rauchen in öffentlichen
265
266
Becker 1963, S. 8
Becker 1963, S. 10f.
140
Gebäuden), zu einer riskanten Angelegenheit für die soziale
Integrität des Rauchers macht.
Weiterhin gibt es nach dem Motto „duo cum faciunt idem, non
est idem“ erhebliche Unterschiede der gesellschaftlichen Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten unterschiedlicher Personen
oder Personenkreise. Becker weist darauf hin, dass delinquente
Jugendliche aus der Mittelschicht in geringerem Maße in
strafrechtliche Vorgänge verwickelt werden, als Jugendliche aus
der Unterschicht. Dieser These sind auch Feest und Blankenburg
nachgegangen. Sie haben festgestellt, dass Angehörige der
Unterschicht nicht nur häufiger unter Beobachtung standen, sondern auch strafrechtlich anders behandelt wurden. So wurde im
Fall delinquenter Mittelschichtangehöriger eher das Verfahren
eingestellt, weil unter Umständen damit zu rechnen war, dass die
Personen sich gegen polizeiliche Maßnahmen zur Wehr setzen
würden. Im komplementären Fall, der wehrlosen Unterschichtangehörigen, haben Feest und Blankenburg folgenden
Zusammenhang formuliert: „Die Instanzen der Kriminalitätskontrolle schaffen ungleiche soziale Chancen, ‚kriminell’ zu
werden. In dieser Hinsicht ähneln sie denjenigen sozialen
Instanzen, welche positive soziale Güter (z.B. Bildung) zu
verteilen haben. Hier wie dort wirken die Kräfte und
Mechanismen, die generell dafür verantwortlich zu machen sind,
dass die positiven wie die negativen Güter in der Gesellschaft
ungleich und nach Kriterien verteilt sind, die ihr das Etikett der
Klassengesellschaft eintragen.“267 Jugendliche aus der
Unterschicht werden regelrecht irgendwelche Vergehen „in die
Schuhe geschoben“, die sie möglicherweise gar nicht oder nicht
in dem Ausmaß begangen haben: „aber es ist natürlich mehr als
unwahrscheinlich, dass mittellose Jugendliche ohne rechte
Ausbildung sich einen Anwalt nehmen, insbesondere, nachdem
sie bereits ein Geständnis abgelegt haben.“268
Ein weiteres Beispiel ist die unterschiedliche Ahndung von
Frauen und Männern, z.B. in Bezug auf „unerlaubte“ sexuelle
Beziehungen, wie auch die unterschiedliche Reaktion auf
sexuelle Partnerschaften mit großen Altersunterschieden. Jeweils
wird die Rolle der Frauen strenger beurteilt. Frauen müssen mit
267
268
Feest u. Blankenburg 1972, S. 117
Feest u. Blankenburg 1972, S. 50
141
dem Verlust ihrer Ehre rechnen. Dagegen genießen Männer oft
das Privileg, sogenannte Kavaliersdelikte begehen zu dürfen.
Aus all dem zieht Becker folgende Schlüsse: „abweichendes
Verhalten (ist) nicht einfach eine Qualität, die bei einigen
Verhaltensweisen vorkommt, bei anderen nicht. Es ist vielmehr
das Produkt eines Prozesses, der die Reaktionen anderer
Menschen auf das Verhalten mit einschließt. Das gleiche
Verhalten kann zu diesem Zeitpunkt ein Verstoß gegen Regeln
sein, zu einem anderen nicht; kann ein Verstoß sein, wenn eine
bestimmte Person dieses Verhalten zeigt, und kein Verstoß, wenn
eine andere es zeigt; einige Regeln werden straflos verletzt,
andere nicht. Kurz, ob eine gegebene Handlung abweichend ist
oder nicht, hängt zum Teil von der Natur der Handlung ab (...)
zum Teil, was andere Menschen daraus machen. (...) Wir können
erst dann wissen, ob eine gegebene Handlung als abweichend
einzuordnen ist, wenn die Reaktion anderer erfolgt ist.
Abweichendes Verhalt ist keine Qualität, die im Verhalten selbst
liegt, sondern in der Interaktion zwischen einem Menschen, der
eine Handlung begeht, und Menschen, die darauf reagieren.“269
Im Zusammenhang mit der Strafjustiz schreiben Feest und
Blankenburg entsprechend: „dass es sich bei der Identifikation
eines Straftäters um einen Definitionsprozess handelt und dass
das Resultat dieses Prozesses ein Ausdruck der relativen sozialen
Macht der Beteiligten ist.“270
Von daher lässt sich feststellen, dass die entsprechenden
Zuschreibungen nicht kontingent sind. Zuschreibungen erfolgen
aufgrund vorgefasster subjektiver Theorien zu der Person oder
der Personengruppe, die sich im Focus der Zuschreibenden
befindet, und sie sind in der Regel interessengeleitet.
4.6. Diskreditierte Menschen
Menschen sind diskreditiert, soweit ihr Stigma bekannt oder
evident ist. In der Logik der Etikettierungstheorie ist dieser
Punkt erreicht, wenn die potentiell stigmatisierende Verhaltensabweichung offiziell bekannt wird und die gesellschaftlichen
Sanktionen beginnen. Bei einer stigmatisierten Person, deren
Stigma evident ist, ist der sozialen Umwelt ohne weiteres klar,
269
270
Becker 1963, S. 12f.
Feest u. Blankenburg 1972, S. 19
142
dass es eine Diskrepanz zwischen aktualer und virtualer Identität
gibt. In der sozialen Interaktion mit „den Normalen“ werden
diese es möglicherweise vorziehen, nicht auf das Stigma
einzugehen. In solchen Fällen kann es dazu kommen, dass die
Situation insgesamt als gespannt und unangenehm empfunden
wird. Goffman bezeichnet ein solches Interaktionsgeschehen als
„pathologisch“.271 Dabei besteht im Umgang mit anderen
Menschen eine Reserviertheit, die Goffman folgendermaßen
beschreibt: „Die bloße Antizipation solcher Kontakte kann
Normale und Stigmatisierte dazu bringen, das Leben auf ihre
Vermeidung hin auszurichten. (...) Das stigmatisierte Individuum
dürfte spüren, dass es sich unsicher fühlt, wie wir Normalen es
identifizieren und aufnehmen werden. Diese Unsicherheit
entsteht nicht nur dadurch, dass das stigmatisierte Individuum
nicht weiß, in welche von verschiedenen Kategorien es plaziert
wird, sondern auch dadurch, dass es genau weiß, dass die
anderen es innerlich nach seinem Stigma definieren.“272 Die
Unsicherheit, nicht zu wissen, was wirklich über einen gedacht
wird, bedeutet eine unaufhörliche psychische Belastung. Es gibt
demnach keine verlässliche Routine der alltäglichen Interaktion,
was dazu führt, dass das stigmatisierte Individuum sich
zurückziehen wird und nur mit einer defensiven Attitüde an
weiteren Interaktionen teilnimmt.
Menschen, bei denen über die Existenz eines Stigmas nicht
hinweggetäuscht werden kann, können versuchen, ihrem Stigma
seine Aufdringlichkeit zu nehmen, indem sie, wie Goffman es
nennt, ihr Stigma „kuvrieren“, wie z.B. Blinde, die ihre Augen
mit einer dunklen Brille verbergen. Sie können ihr Stigma aber
auch so herausstellen, dass ihre Behinderung wie eine normale
Bedingung für ein normales Leben erscheint. Es ist auch
denkbar, dass das stigmatisierte Individuum derart exponiert ist,
dass die Mühe des Täuschens nicht mehr verlohnt. Dies kann in
der Gesellschaft mit gleichartigen Menschen der Fall sein, was
eine freiwillige oder unfreiwillige Angelegenheit sein kann (z.B.
in absoluten Institutionen wie Gefängnissen). Ein denkbares
Szenario ist es dann, in der sozialen Interaktion in offensiver
Weise der Umwelt ein glaubhaftes Zeugnis der Stigmaeigen271
272
vgl. Goffman 1963, S. 29
Goffman 1963, S. 22f.
143
schaft zu liefern, die Umwelt zu schockieren. Nach Goffmans
Ansicht provozieren die gesellschaftlichen Außenseiter, die als
gesellschaftliche Minderheit auf sich aufmerksam machen,
jedoch möglicherweise feindselige Reaktionen und verfestigen
Vorurteile der anderen.
Damit offenbart sich eine weitere Dimension des Stigmaproblems: Entweder ist das stigmatisierte Individuum zu
schüchtern oder zu aggressiv, und der Interaktionspartner hat die
jeweils ihm eigenen Probleme des Umgangs mit diesen Extremhaltungen. Die Interaktion wird daher entweder verkrampft oder
feindselig. Jedenfalls kann das eigentliche Ziel der Interaktion
nicht erreicht werden. Goffman spricht in diesem Zusammenhang von „Ich-Bewusstheit“ und „Fremdbewusstheit“ egos und
alters.273 Damit meint er, dass bei der Interaktion mehr zum
Tragen kommt als deren reiner Selbstzweck. Vielmehr fühlen
sich ego und alter dazu verleitet, eine höchst kontrollierte und
künstliche Interaktionssituation zu gestalten, die von Peinlichkeitsgefühlen und der Angst vor Fehlern geprägt ist.
Schließlich ist noch auf ein drittes Szenario zu verweisen, den
Umgang mit den „sympathisierenden Anderen“. Abgesehen von
denen, die das Schicksal der maßgeblichen Stigmaeigenschaft
teilen, gibt es noch Menschen, die mehr oder weniger indirekt
mit den Folgen der Stigmata anderer umzugehen haben. Gerade
die Menschen, die mit dem stigmatisierten Individuum
zusammenleben (die Ehefrau des Alkoholikers, die Kinder des
Kriminellen usw.) sind zum Teil maßgeblich an dem Stigmamanagement beteiligt. Sie bezahlen Schulden, liefern Entschuldigungen und Alibis, sie beteiligen sich daran, das Stigma
zu kuvrieren, das heißt seine Aufdringlichkeit zu mildern, das
Unerhörte an seiner Existenz zu relativieren. Dabei fällt immer
auch ein Teil der Schande auf sie selbst zurück, weshalb man
meines Erachtens von einer sozialen Ansteckung mit einem
Stigma sprechen kann. Vor diesem Hintergrund wird es auch
verständlich, wie Menschen, die sich im Grunde nahe sind, in
die Lage kommen können, die Ihren zu verleugnen, sie zu
verlassen. Auch unter diesem Aspekt kann ein Stigma Menschen
einsam und zu Außenseitern machen.
273
vgl. Goffman 1963, S. 29
144
Aus all dem wird deutlich, dass der Besitz einer Stigmaeigenschaft das Alltagsleben erheblich verkomplizieren kann.
Neben der Vermeidung „gefährlicher“ Orte und Gesprächsthemen muss die Person auch darauf achten, sich nicht in der
Öffentlichkeit mit Menschen oder Symbolen zu zeigen, die eine
Entlarvung zur Folge haben könnten. Goffman schreibt weiter:
„Das Problem des Täuschens hat immer Fragen über den
psychischen Zustand des Täuschers aufgeworfen. Erstens wird
angenommen, dass er notwendig einen sehr großen psychologischen Preis zahlen, einen sehr hohen Grad von Angst
ertragen muss, weil er ein Leben lebt, das in jedem Augenblick
zu Fall gebracht werden kann. (...) Zweitens wird oft und mit
Evidenz angenommen, dass der Täuscher sich zwischen zwei
Bindungen zerrissen fühlt. (...) Vermutlich wird er auch unter
Gefühlen von Illoyalität und Selbstverachtung leiden, wenn er
nicht gegen ‚offensive‘ Bemerkungen einschreiten kann, die von
Mitgliedern der Kategorie, in die er sich hineintäuscht, gemacht
werden gegen die Kategorie, aus der er sich heraustäuscht. (...)
Drittens scheint angenommen zu werden und dies offensichtlich
zu Recht, dass der Täuscher sich solcher Aspekte der sozialen
Situation bewusst sein muss, mit denen andere nicht kalkulieren
und nachlässig umgehen.“274
Das täuschende Individuum kann nicht auf der sicheren
Grundlage routinehafter Alltagserfahrung immer neue Zufallsmomente bewältigen, da frühere Verheimlichungsvorkehrungen
inadäquat werden können. Wie vorher bereits referiert, geht die
Unkompliziertheit der sozialen Interaktion verloren und weicht
einer verkrampften Attitüde, die darauf gerichtet ist, peinliche
Situationen zu vermeiden. Dies ist eine Haltung, die dazu führen
kann, dass man sich schnell im sozialen Interaktionsrahmen
isoliert und zum Außenseiter wird. Goffman weist darauf hin,
dass das Täuschen zu erlernen eine Phase in der Sozialisation
des Individuums sein kann, an deren Ende sich ein Wendepunkt
des moralischen Werdegangs des Individuums abzeichnet. Wenn
es einen anderen Bezug zu sich selbst gefunden hat und sich als
reifer empfindet, kann es die Einstellung entwickeln, dass es
274
Goffman 1963, S. 111f.
145
seiner Würde geschuldet ist, die freiwillige Enthüllung seines
Stigmas zuzulassen und aufrichtiger mit sich selbst und seiner
sozialen Umwelt umzugehen. Damit ist eine Haltung beschrieben, die an mehreren Stellen dieser Arbeit ist schon benannt
wurde. Die Behauptung einer Identität, selbst wenn sie von
generellen gesellschaftlichen Bewertungen abweicht, kann ein
für das Individuum ausgesprochen konstruktiver Sachverhalt
sein. Identitätsbehauptung wird daher auch als theoretisches
Handlungsmodell beschrieben.
Als Akteurmodell des normativen Paradigmas wurde der Homo
sociologicus weiter oben bereits vorgestellt. Die Beantwortung
der Frage, warum ein Mensch rollenkonform handelt, ist
scheinbar einfach: weil er sozial integriert sein möchte. Die
Schwierigkeiten des Homo sociologicus sind aber leicht aufgezeigt. Sie werden aus dem Gesichtspunkt der interpretativen
Soziologie formuliert. Es sind im Wesentlichen Rollenkonflikte,
die dieses Akteurmodell vor dem Hintergrund einer immer
komplexer werdenden Gesellschaft fragwürdig erscheinen
lassen. In immer geringerem Maße erschöpfen sich die
Anforderungen, die das Leben an die Individuen richtet, im
reinen Befolgen gesellschaftlicher Erwartungen. Wer jedoch
Rollenerwartungen zuwiderhandelt, ist in der Gefahr, zum
gesellschaftlichen Außenseiter zu werden. Dies betrifft selbstverständlich auch das Bewusstsein, das die betreffende Person
von sich selbst hat. Daher sind Rollenkonflikte auch Identitätskonflikte. Sie zwingen die Menschen, auf ihre Rollen
einzuwirken, sie nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen zu
gestalten. Und da, wo ihnen dies gelingt, ist die Gefahr, zum
gesellschaftlichen Außenseiter zu werden, gemindert.
Wenn Menschen jedoch in die Situation geraten, sich gegen
gesellschaftliche Anforderungen zur Wehr setzen zu müssen,
nehmen sie eine Haltung ein, bei der sie Identität besitzen und
sich auch für diese einsetzen müssen.
Identitätsbehauptung trotz gegebenenfalls entgegenstehender
externer Rollenzuschreibungen kann daher ein machtvoller
Antrieb der Person sein und ist somit neben dem Modell des
Homo sociologicus ein wesentliches Akteurmodell. Schimank
weist darauf hin, dass die Identität des Menschen von dem Bild
146
bestimmt ist, das dieser von sich selbst entwirft. Dabei kommen
evaluative und normative Selbstansprüche sowie kognitive
Selbsteinschätzungen zum Tragen.
Evaluative Selbsteinschätzungen sind die Vorstellungen, die die
Person davon hat, „wer sie sein und wie sie leben möchte.“275
Diese Vorstellung beinhaltet zunächst eine Motivation, die
Umstände des eigenen Lebens zu beeinflussen, z.B. Sport zu
treiben, weil man schlank sein möchte. Es beinhaltet aber auch
den Anspruch an die soziale Umwelt, die Möglichkeiten dieser
Anspruchshaltung einzuräumen. Da wo dies verweigert wird, ist
die Identität des Menschen bedroht. Evaluative Selbstansprüche
umfassen also das „Sein-Wollen“ der Person.
Die zweite Komponente sind die normativen Selbstansprüche
der Person. Es sind „solche Sollensvorgaben für das eigene Handeln, deren Nichteinhaltung die betreffende Person als Scheitern
des eigenen Lebens begreifen würde. Diese Selbstansprüche
können auf internalisierte soziale Normen zurückgehen.“276
Diese Komponente umfasst also ein subjektiv geprägtes Konzept
des „Sein-Sollens“.
Kognitive Selbsteinschätzungen betreffen „die Fähigkeiten und
Möglichkeiten einer Person, ihren evaluativen und normativen
Selbstansprüchen gerecht zu werden, sowie ihr faktisches SoSein im Vergleich zum Sein-Wollen und Sein-Sollen.“277 Es ist
also die Realitätsdimension, an der sich die Ansprüche der
Person brechen. Sie führt dazu, dass die Person zum Erreichen
eines seelischen Gleichgewichtes immer dazu gezwungen ist,
ihre evaluativen und normativen Ansprüche zu relativieren und
unter Umständen Kompromisse einzugehen.
Schimank stellt fest, dass die Person zur Beschreibung ihrer
Identität nicht an einem Ist-Zustand festhält, wie er für die
Person momentan erfahrbar ist. Vielmehr gehen Erfahrungen der
Vergangenheit und Projektionen in der Zukunft damit einher.
Aber selbst dieser weite Bereich der Identitätskomponenten ist
nur ein selektiv komponiertes Bild: Menschen benutzen für ihr
Identitätskonzept eine Selbstsimplifikation. Nur auf diese Weise,
275
Schimank 2000, S. 123
Schimank 2000, S. 124
277
Schimank 2000, S. 125
276
147
den gesamten Umfang ihrer Persönlichkeit vernachlässigend,
schaffen sie es, an einem Identitätsentwurf festhalten zu können.
Dieser Identitätsentwurf bedarf der Bestätigung durch die soziale
Umwelt. Es handelt sich dabei um ein Erfordernis, um das der
Mensch immer wieder aufs Neue kämpfen muss: „Identitätsbehauptung ist eine Daueraufgabe des Akteurs, ein Prozess
selbst dann, wenn die Identität über längere Zeit identisch reproduziert wird.“278 Wenn die soziale Umwelt das Identitätskonzept
des Individuums auf Dauer nicht bestätigt, liegt eine
Identitätsbedrohung vor.
Schimank nennt folgende Formen der Identitätsbedrohung:279
- Spezifische substantielle Identitätsbedrohung: Diese Form
der Identitätsbedrohung liegt vor, wenn einzelne Bestandteile
des Selbstbildes von der sozialen Umwelt nachhaltig nicht
bestätigt werden. Es handelt sich also um Teilaspekte des
Identitätskonzeptes eines Menschen, die jeweils keine
Bestätigung finden, andere Aspekte können hiervon gänzlich
unberührt bleiben. Somit ist die Identitätsbehauptung
ebenfalls nur in Teilen erforderlich. Einer umfassenden
Strategie bedarf es also nicht. Diese Form der Identitätsbedrohung wurde von Goffman in „Stigma“ beschrieben.
Dabei geht es immer um den Aspekt einer Andersartigkeit,
die nach dem Urteil der sozialen Umwelt eine Identitätsbedrohung darstellt, die scheinbar die gesamte Persönlichkeit
umfasst. Je nachdem, ob man sich dem identitätsbedrohenden
Urteil der sozialen Umwelt ausliefert und versucht, eine
möglichst unauffällige Pseudo-Normalität zu leben, oder ob
man dazu übergeht, in offensiver Weise mit seinem Stigma zu
leben, bleibt dennoch die Chance, mithilfe von StigmaManagement, die Identität im Wesentlich zu behaupten.
- Indirekte Identitätsbedrohungen durch Existenzgefährdungen:
Diese Erfahrung machen Menschen im Zusammenhang mit
der körperlichen Hinfälligkeit von Angehörigen und
Bekannten, schließlich jedoch auch im Zusammenhang mit
dem eigenen körperlichen Verfall und dem Bewusstsein einer
permanenten Bedrohung durch Krankheit und Tod. Krankheit, Behinderung und Tod sind Bewusstseinskategorien, die
278
279
Schimank 2000, S. 129
vgl. Schimank 2000, S. 133ff.
148
im Leben eines leistungsorientierten Gesellschaftsmitgliedes
möglichst verdrängt werden. Auch in diesem Bereich gibt es
ein umfassendes Stigmamanagement um die identitätsgefährdende Wirkung von Krankheit und Tod im Bewusstsein
des Menschen in den Hintergrund zu drängen. So wird
beispielsweise viel Zeit, Mühe und Geld darauf verwendet,
Anzeichen des Alterns zu kaschieren.
- Entindividualisierungserfahrungen: Diese Erfahrungen entstehen in Situationen, in denen Menschen aufgrund äußerer
sozialer Umstände keine Möglichkeit haben, nach Maßgabe
des eigenen Willens und der eigenen Vorstellungen zu
handeln. Der Mensch erlebt die Bedrohung seiner Identität,
wenn er z.B. im Gefängnis oder im Altenheim in ein System
gezwungen wird, das nach externen Kriterien abläuft und
keine Freiräume bietet, in denen der Mensch mit seinen
spezifischen Eigenheiten und seinen spezifischen Bedürfnissen handeln und leben kann. Diese Erfahrung kann auch in
engen sozialen Beziehungen wie Ehen und Familienverbänden aufkommen. Menschen, die auf diesem Wege ihrer
Individualität beraubt werden, verlieren eine wesentliche
Grundlage für ihre Identität, nämlich die Möglichkeit, ihr
eigenes Lebenskonzept auf der Grundlage vergangener
Erfahrungen und der daran gebundenen Erwartungen und
Projektionen in der Zukunft zu verwirklichen.
Stigmamanagement ist eine Möglichkeit, wie die Identitätsbedrohung abgewehrt, die Identitätsbehauptung gewährleistet
werden kann. Schimank benennt aus diesem Bereich als
relevante Praktiken die Umdefinition sozialer Nichtbestätigung
der Identität sowie Wechsel und Pluralisierung der sozialen
Umgebung.280 Entsprechende Verhaltensweisen zielen darauf,
das diskriminierende soziale Umfeld zu meiden, in der
Hoffnung, an anderer Stelle Anerkennung und Akzeptanz zu
finden. Sie können auch dazu dienen, die Kognitionen, die eine
Identitätsbedrohung mit sich bringen, zu meiden.
In den Fällen, in denen die Existenz gefährdet ist und daraus
resultierend auch die Identität, kann eine massive Verhaltens280
vgl. Schimank 2000, S. 139
149
änderung angezeigt sein. So kann es sein, dass sich todkranke
Menschen plötzlich gesundheitsbewusst verhalten.
In den Fällen, in denen spezifische substantielle Identitätsbedrohungen oder Entindividualisierungserfahrungen bestehen,
weil das Individuum sich in bestimmten Rollenstrukturen
wiederfindet, die sein subjektives Identitätskonzept untergraben,
kann das Individuum versuchen, mit Rolleninszenierung,
Rollendistanz und Rollendevianz seine Identität zu retten.
Bei der Rolleninszenierung nutzt das Individuum bestimmte
Freiräume seiner Rolle, die streng genommen nicht zu der Rolle
gehören, aber auch nicht ausdrücklich untersagt sind. Dazu kann
der Betriebsmitarbeiter gezählt werden, der sich im Betriebsrat
engagiert und so seiner relativ begrenzten Berufsrolle ein hohes
Maß an Autonomie in der Nebenrolle als Betriebsratsmitglied
abtrotzt.
Rollendistanz bezeichnet Schimank als „Selbstdarstellung neben
der Rolle“281 Dazu zählt z.B. der Musiklehrer, der nebenberuflich als Organist wirkt und seine Berufsrolle eigentlich nur
noch „nebenher“ wahrnimmt und all seine Kreativität und
Leistungskraft in sein sonntägliches Organistenamt einbringt.
Schließlich kann es der Identität dienen, wenn das Individuum
sich gänzlich deviant in seiner Rolle verhält. Wenn die Rollenstruktur dem Individuum keine Möglichkeit lässt, mit seinen
persönlichen Zügen zu leben, ohne sich permanent selbst zu
verleugnen, und wenn andere Abwehrmechanismen der
Identitätsbehauptung nicht mehr funktionieren, dann kann nur
noch die Flucht aus der Rollenstruktur helfen. In diesem Sinne
werden Menschen zu gesellschaftlichen Außenseitern, weil sie
ihre Identität schützen möchten.
Und dennoch: das Leben des stigmatisierten Individuums ist
potentiell von tagtäglichen Diskriminierungen und Erniedrigungen geprägt. Die Bewältigung beschädigter Identität ist
besonders schwierig, da „ein falscher Eindruck, den ein
Einzelner in irgendeiner seiner Rollen erweckt, seinen gesamten
Status, dessen Teil die Rolle ist, bedrohen kann, denn eine
diskreditierende Entdeckung in einem Handlungsbereich lässt
281
Schimank 2000, S. 142
150
die zahlreichen anderen, in denen er womöglich nichts zu
verbergen hat, zweifelhaft erscheinen.“282 Dieser Gedanke hat
auch seinen Niederschlag in der Etikettierungstheorie gefunden:
der Status, den ein Individuum aufgrund seiner öffentlichen
Devianz erwirbt, überschattet alle anderen, möglicherweise
gegenläufigen Charakteristika, denn man wird zuvörderst als
abweichend angesehen, bevor andere Identifikationen gemacht
werden. In diesem Sinne knüpfen sich an den Hauptstatus
(master-status) immer irgendwelche Erwartungen, die dann
handlungsleitend sind. Von einem Drogenabhängigen (Hauptstatus) wird erwartet, dass er männlich und (in den USA)
schwarz, arm und ungebildet ist.
Der master-status besitzt einen Haloeffekt, der alle anderen
Aspekte des Individuums überstrahlt. Es gereicht dann zu einiger
Irritation, wenn sich herausstellt, dass ein weißer, gebildeter,
verheirateter Mittelschichtangehöriger süchtig ist. In der Folge,
wenn seine Abweichung öffentlich bekannt gemacht wurde, wird
er es aber schwer haben, den bisherigen privilegierten Status
aufrecht zu erhalten. Jetzt ist er zum Drogenabhängigen
geworden: seine bisherige bürgerliche Fassade ist unglaubwürdig geworden, seine Frau lässt sich wahrscheinlich von ihm
scheiden, seine Freunde wenden sich wahrscheinlich von ihm
ab, er verliert seinen Job und seine Kreditkarte usw.
Als abweichend etikettiert zu sein, ist wie mit einem Mantel
bedeckt zu sein, der den Hauptstatus zeigt, aber die anderen,
moralisch akzeptablen Züge des Individuums bedeckt hält. So
vermindert der von der sozialen Umwelt perzipierte Hauptstatus
die Neigung, dem als deviant angesehenen Individuum auch
abzunehmen, dass es sich im Übrigen regelkonform verhalten
kann. Von Regelverletzern wird ausschließlich erwartet, dass sie
Regeln verletzen.
Die Tatsache, dass der Hauptstatus oft nicht mit dem Nebenstatus übereinstimmt, trägt dazu bei, dass viele Menschen ihre
Devianz geheim halten können. Auf diese Weise können sie die
soziale Umwelt über ihr Stigma täuschen, oder, um wieder die
Theatermetaphorik zu benutzen, eine Darstellung liefern, die den
eigentlichen Gegebenheiten nicht voll entspricht. Sie können auf
282
Goffman 1959, S. 60
151
diese Weise ihre soziale Identität aufpolieren und eine ScheinNormalität konstruieren, die sie vor Etikettierung und Stigmatisierung schützt. Aber da, wo der abweichende Zug der
individuellen Persönlichkeit in das öffentliche Bewusstsein
dringt, kann er zu dem für die Beurteilung der Person durch ihre
soziale Umwelt maßgebliche Maßstab werden, mit der Folge,
dass die Person generell als abweichend angesehen wird, dass
die Stigmaeigenschaft als wesentliches Element ihrer Persönlichkeit anzusehen ist: „Der Besitz eines abweichenden Merkmals
kann von allgemeinem symbolischen Wert sein, so dass die
Leute automatisch annehmen, dass sein Träger andere
unerwünschte, angeblich mit diesem Merkmal verbundene
Merkmale besitzt.“283 Und wenn die als deviant bekannten
Individuen der Erwartung nachkommen, wonach sie vermeintlich nur abweichendes Verhalten praktizieren können, entsteht
eine „Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung“.284 Dadurch werden
viele Menschen, die in einem bestimmten Bereich ihrer Existenz
ein abweichendes Element haben, automatisch aus dem Bereich
der Normalität gedrängt, so dass nur noch illegitime Gewohnheitshandlungen möglich sind. Oft sind es Stereotypisierungen
und soziale Vorurteile, die das Verhalten der „normalen“
Menschen im Verhältnis zu Außenseitern prägen.
Pfuhl et al. weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
diese Stereotype zu einem „Vorurteilswissen“ werden. Dadurch,
dass „normale“ Menschen in der Regel wenig Kontakt zu
Drogenabhängigen, Alkoholikern, Homosexuellen, Prostituierten
usw. haben, ist ihr Bild von diesen Personen im Sinne ihrer
Stereotypen und Vorurteile eindimensional: „However the ‘price’
of such comfort may well be not only the brutalization/
dehumanization of the stereotyped persons, but also the creation
of unnecessary fear and an ultimate limit on their own
freedom.“285 Hinzu kommt, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche oft genug eng miteinander verflochten sind und
die Abweichung in dem einen Bereich auf benachbarte Bereiche
ausstrahlt.
283
Becker 1963, S. 29
vgl. Becker 1963, S. 30
285
Pfuhl und Henry 1993, S. 131
284
152
An dieser Stelle soll nochmals die übergeordnete Perspektive in
das Blickfeld gebracht werden.
Mead begründete das Problem desintegrierter Identität mit der
fehlenden Integration gesellschaftlicher Erwartungen und Werte
in den Strukturen der Persönlichkeit. Die Einheitlichkeit der den
generalisierten Anderen repräsentierenden „me’s“ liegt nach
dieser Konzeption nicht vor. Daher wird Handeln problematisch
und eine einvernehmliche Verständigung über die zu spielenden
Rollen unmöglich. Ich leite aus diesem Zustand desintegrierter
Identität einen Ansatz für gesellschaftliches Außenseitertum in
der Theorie Meads ab.
Goffman beschreibt die Diskrepanz zwischen virtualer und
aktualer sozialer Identität. Auch hier ist von einem Zustand der
Desintegration auszugehen. Dabei sind gesellschaftliche Werte,
die in der sozialen Identität repräsentiert sind, mit den tatsächlichen Zügen des Individuums nicht kompatibel. Diese
Diskrepanz bewirkt die beschriebene Diskreditierbarkeit des
Individuums.
Gesellschaftliches Außenseitertum wird sowohl von Mead als
auch von Goffman dahingehend gedeutet, dass die betroffenen
Individuen nicht dazu in der Lage sind, in ihrem eigenen Selbst
gesellschaftliche Werte zu integrieren und in der Folge zu
reproduzieren. Dass dies aber nach Goffmans Auffassung das
Ziel einer individuellen Präsentation ist, geht meines Erachtens
aus folgendem Zitat hervor: „Der Einzelne wird sich also bei
seiner Selbstdarstellung vor anderen darum bemühen, die
offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft zu verkörpern und
zu belegen, und zwar in stärkerem Maße als in seinem sonstigen
Verhalten. Insofern eine Darstellung die gemeinsamen offiziell
anerkannten Werte der Gesellschaft, vor der sie dargeboten wird,
betont, können wir sie (...) als eine ausdrückliche Erneuerung
und Bestätigung der Werte der Gemeinschaft (betrachten).“286
Daraus leitet sich für das Individuum die Notwendigkeit ab, sich
so zu verhalten, wie das Ensemble und das Publikum oder ganz
allgemein: die Gesellschaft es von ihm fordern. Dazu zählen die
spezifischen Erwartungen in einer Berufsrolle. Wer hier versagt,
wird seine Ensemblemitgliedschaft früher oder später verlieren.
286
Goffman 1959, S. 35f.
153
Auch zählt dazu die Mitgliedschaft in einer Familie – das
„schwarze Schaf“ ist der Inbegriff des Außenseiters, der den
Ansprüchen und Erwartungen der Familie nicht nachkommt.
Noch deutlicher wird Goffman, wenn er beschreibend eingrenzt,
unter welchen ausschließlichen Bedingungen Menschen der Zuweisung einer Außenseiteridentität scheinbar entgehen können:
es gibt „in einem gewichtigen Sinn nur ein vollständig
ungeniertes und akzeptables männliches Wesen in Amerika: ein
junger, verheirateter, weißer, städtischer, nordstaatlicher, heterosexueller, protestantischer Vater mit Collegebildung, voll
beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe
und mit Erfolgen im Sport. Jeder amerikanische Mann tendiert
dahin, aus dieser Perspektive auf die Welt zu sehen.“287
In Wahrheit, so ist aus dem Resümee Goffmans abzuleiten, ist
das Versagen in Bezug auf bestimmte gesellschaftliche Normen
und Werte das eigentlich Normale und eines jeden „ScheinNormalität“, und damit eines jeden Identität, potentiell
gefährdet.
Abels weist in diesem Zusammenhang auf die doppelte Funktion
der Techniken zur Bewältigung einer beschädigten Identität hin:
„sie dienen der Sicherung oder Wiederherstellung der eigenen
Identität, und sie schaffen für die anderen die Voraussetzungen,
dass sie sich ganz normal verhalten können.“288 Diese
Konzeption von Normalität ist sehr dialektisch. Es geht im
Wesentlichen darum, dass die Stigmaträger sich so verhalten
müssen, „als ob sie eigentlich ganz normal sind, damit
diejenigen, die nicht recht wissen, wie sie mit den Behinderten
umgehen sollen, so tun können, als ob sie sie wie normale
Menschen behandeln.“289 In der Logik der Theatermetaphorik
wurde diese Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung eines
bestimmten Eindruckes bereits beschrieben. Goffman sprach
davon, dass es für das Individuum und das Ensemble, dem es
zugehört, notwendig ist, mit Hilfe verschiedener Verteidigungsund Schutzmechanismen Störungen der Vorstellung zu
vermeiden. Auch müssen allenthalben Korrekturmaßnahmen ergriffen werden, um diskreditierende Vorfälle auszugleichen. In
287
Goffman 1963, S. 158
Abels 1997b, S. 171
289
ebd.
288
154
diese Vollzüge ist immer auch das Publikum mit eingebunden.
Es beteiligt sich in seinem eigenen Interesse an dem Stigmamanagement, da es auch teilhat an der „als-ob“-Wirklichkeit:
„Es bedeutet, dass die Unfairness und die Pein, ein Stigma
tragen zu müssen, ihnen (den Normalen, Anmerkung des
Verfassers) niemals vorgehalten werden wird, es bedeutet, dass
Normale sich nicht werden eingestehen müssen, wie begrenzt ihr
Takt und ihre Toleranz sind; und es bedeutet, dass Normale
relativ unberührt bleiben können von intimem Kontakt mit den
Stigmatisierten, relativ unbedroht in ihrem Identitätsglauben.“290
Im Gegenzug gewähren die Normalen für die „gute Anpassung“,
wie Goffman es nennt, eine Schein-Akzeptierung, deren
Grenzen nur sie definieren. Sie ermöglicht es dem Individuum
als Außenseiter jene ambivalente Schein-Normalität zu leben,
die die Grundlage seiner problematischen Identität bildet.
290
Goffman 1963, S. 151
155
5. Identität und das Problem des „doppelten als-ob“
Meads Überzeugung war es, dass mit Hilfe symbolischer
Interaktionen die für den Menschen wesentlichen Sachverhalte
seiner (sozialen) Umwelt begreifbar werden. Bezogen auf die
Identität des Menschen wurde festgestellt, dass sie sich als
Ergebnis „praktischer Intersubjektivität“ letztlich aus
Interaktions- bzw. Kommunikationsprozessen ableitet.
Krappmann thematisiert die umgekehrte Perspektive und kommt
zu dem Schluss, dass Kommunikation davon abhängt, dass von
dem an ihr beteiligten Individuum eine Identität in den
Kommunikationsprozess „eingebracht“ werden muss, das heißt,
dass das interagierende und kommunizierende Individuum auf
der Grundlage seiner Identität handelt: „Die vom Individuum für
die Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamem Handeln
zu erbringende Leistung soll hier mit der Kategorie der Identität
bezeichnet werden. Damit das Individuum mit anderen in
Beziehung treten kann, muss es sich in seiner Identität
präsentieren; durch sie zeigt es, wer es ist.“291 Denn die Interaktionsteilnehmer sind auf ein gewisses Maß an Widerspruchsfreiheit und Beständigkeit im Verhältnis zueinander angewiesen,
und das obwohl Identität auch für Krappmann nichts Starres und
Unveränderliches ist: „Identität ist nicht mit einem starren
Selbstbild, das das Individuum für sich entworfen hat, zu
verwechseln; vielmehr stellt sie eine immer wieder neue
Verknüpfung früherer und anderer Interaktionsbeteiligungen des
Individuums mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der
aktuellen Situation auftreten, dar.“292 Man kann also im Sinne
Krappmanns sagen, dass Identität eine strukturelle Bedingung
für die Teilnahme des Individuums an stets wechselnden Interaktionsprozessen ist. Identität zu besitzen und in Interaktionen
zu manifestieren, kommt jedoch aufgrund der erwähnten
Dynamik einem Dilemma gleich: „Wie soll sich (das Individuum, Anmerkung des Verfassers) den anderen präsentieren,
wenn es einerseits auf seine verschiedenartigen Partner eingehen
muss, um mit ihnen kommunizieren und handeln zu können,
andererseits sich in seiner Besonderheit darzustellen hat, um als
derselbe auch in verschiedenen Situationen erkennbar zu
291
292
Krappmann 1969, S. 8f.
Krappmann 1969, S. 9
156
sein?“293 Krappmann bedient sich zur Veranschaulichung dieses
Dilemmas der von Goffman vorgeschlagenen Konzepte der
personalen und der sozialen Identität.
5.1. Die horizontale Perspektive der sozialen Identität
Das Konzept der sozialen Identität im Sinne Goffmans umfasst
die Erwartungen der sozialen Umwelt an das Individuum im
Rahmen des Interaktionsprozesses. Diese Erwartungen
orientieren sich an den Rollen, die das Individuum für seine
Interaktionspartner wahrnehmbar besitzt. Die Perspektive dieses
Konzeptes ist nach Krappmanns Auffassung eine „horizontale“,
das heißt, dass es um die Identität des Individuums im Verhältnis
zu zeitgleichen, gegenwärtigen Interaktionszusammenhängen
geht. Aus dieser Perspektive steht das Individuum vor der
Schwierigkeit, „eine Identität aufzubauen, die scheinbar den
sozialen Erwartungen voll entspricht, aber in dem Bewusstsein,
in Wahrheit die Erwartungen doch nicht erfüllen zu können.“294
Und die vordergründige Lösung dieses Problems, die trotz
divergierender Erwartungen die Interaktionsbeteiligung ermöglicht, besteht sowohl für Außenseiter als auch für „Normale“ in
der Annahme einer Scheinnormalität. Goffman hat davon
gesprochen, dass die Annahme der Schein-Normalität ein
Charakteristikum der problematischen Interaktionsstrukturen des
stigmatisierten Individuums mit der sozialen Umwelt sei.295
Goffman gelangt zu der Erkenntnis, dass eigentlich jedes
Gesellschaftsmitglied in bestimmter Weise gesellschaftliche
Erwartungen verfehlt, dass demnach eigentlich jedes Gesellschaftsmitglied zumindest in bestimmten Bereichen seiner
sozialen Identität sein Handeln unter den Bedingungen einer
Schein-Normalität einrichten muss. Dies ist Krappmanns Ansatz
für die Beschreibung der Problematik der sozialen Identität.
Krappmann geht davon aus, dass jede Identität im Hinblick auf
die Erfüllung sozialer Erwartungen überfordert ist, „weil diese
prinzipiell unerfüllbar sind“. Die Gründe dafür liegen „sowohl in
den bestehenden Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten
der gerade ablaufenden Interaktion als auch in der Tatsache, dass
293
Krappmann 1969, S. 7
Krappmann 1969, S. 72
295
vgl. Goffman 1963, S. 151f.
294
157
jeder an mehreren Interaktionssystemen – gleichzusetzen mit:
Rollensystemen – beteiligt ist, die ihn auf Bezugsgruppen mit
zum Teil recht verschiedenen oder einander sogar ausschließenden Erwartungen verweisen.“296 „Die „phantom normalcy“297 ist
also sowohl die „Lösung“ des Identitätsproblems im Hinblick
auf den Besitz eines Stigmas als auch im Hinblick auf die
gleichzeitig relevanten Erwartungen aus sämtlichen Interaktionssystemen, an denen ein Individuum zur Zeit beteiligt ist und die
mehr verlangen, als erfüllbar ist. Krappmann begründet dies so:
„Da ‚phantom normalcy‘ darin besteht, dass das Individuum
durch seine ‚als-ob‘-Übernahme angesonnener Erwartungen
mehr von sich ausdrückt, als die gerade aktuelle Interaktionssituation verlangt, eröffnet sie dem Individuum die Chance, in
den nebeneinander stehenden Interaktionsprozessen als dasselbe
aufzutreten beziehungsweise wieder erkennbar zu sein. Es stellt
nämlich durch die ‚als-ob‘-Übernahme der Normen in jeder
Interaktionssituation auch einen Bezug zu seinen anderen Rollen
her, um auf diese Weise zu erkennen zu geben, dass es den
Anforderungen dieser Situation nicht voll entsprechen kann und
darf.“298 Denn eine komplette Übernahme der angesonnenen
Erwartungen käme einer „Verdinglichung“ des Individuums
gleich, einem Verlust seiner Individualität.
Ein Individuum, das nichts anderes als eine Reifikation seiner
jeweils maßgeblichen Rollenbezüge ist, ist jedoch nach
Krappmanns Überzeugung für sinnvolle Interaktionen disqualifiziert, da es „seine eigene Perspektive nicht in Interaktionen
einbringen kann und sich nur an den Erwartungen der anderen
orientiert, fällt (es) als Partner für seine Gegenüber aus, weil es
ihnen keinen neuen Blick auf ein Problem, keine Lösung für
einen Konflikt, keine Bestätigung ihrer eigenen Identität, auf die
sie angewiesen sind, zu bieten hat.“299
296
Krappmann 1969, S. 74
Anmerkung: Krappmann verwendet den englischen Originalbegriff für das ScheinNormalitäts-Konzept
298
Krappmann 1969, S. 74f.
299
Krappmann 1969, S. 57 (Man könnte der Ansicht sein, dass nicht unbedingt jede
Interaktion eines „neuen Blickes“ bedarf. Dies trifft für Routineinteraktionen zu. Allerdings erfordert die Dynamik der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dass sich die Interaktionspartner an wechselnde Bedingungen anpassen können und insofern schon jeweils neue,
aktualisierte Gesichtspunkte in der Interaktion zum Tragen kommen.)
297
158
Somit wären auch „normale“ Menschen, jene, die den Rollenerwartungen entsprechen, in Interaktionen disqualifiziert, denn
eine „wirkliche“ Normalität ist gar nicht möglich, da sich in ihr
das Individuum alle Identitätsnormen voll zu eigen machen
müsste – dies scheitert allein an dem Umstand, dass man niemals
mit seiner Persönlichkeit vollkommen in einer Rolle aufgehen
kann.
Ein Individuum, das trotzdem mit all seinen großen und kleinen
Abweichungen im Interaktionsgeschehen verbleibt und sich aus
diesem Grunde allen möglichen gesellschaftlichen Normalitätskonzepten scheinbar angleicht, hat jedoch die Chance, im Interaktionsgeschehen als ein Mensch wahrgenommen zu werden,
der auf der Grundlage seiner Identität den sozialen Prozess
(mit)gestaltet. Krappmann schreibt daher über das unter der
Bedingung der Schein-Normalität interagierende Individuum:
„Es bewahrt eine individuelle Identität, weil es die sozialen
Identitätsnormen nicht voll übernimmt, sondern nur respektiert,
und zwar indem es trotz Benutzung dieser Normen, ohne die es
sich als Interaktionspartner nicht etablieren kann, zu erkennen
gibt, dass es doch unter sie nicht gänzlich zu subsumieren ist.“300
5.2. Die vertikale Perspektive der personalen Identität
Das zweite Identitätskonzept Goffmans, die personale Identität,
befasst sich mit der „vertikalen“ Dimension von Identität, das
heißt Identitätsgewinnung und -erhaltung im Zeitablauf.
Krappmann schreibt dazu: „Während der einzelne im Hinblick
auf die verschiedenen gleichzeitigen Interaktionssysteme das
Problem zu lösen hat, wie er als ein und derselbe auftreten kann,
obwohl er sich in jeder Interaktion im Horizont verschiedener
Erwartungen artikulieren muss, steht er im Hinblick auf die
Zeitdimension vor der Frage, wie er seinen Lebenslauf als kontinuierlich zu interpretieren und darzustellen vermag, obwohl er in
verschiedenen Lebensphasen auf sehr unterschiedliche Art
versucht hat, die Balance einer Ich-Identität aufrechtzuerhalten.
(...) ‚Personal identity‘ im Sinne Goffmans ist nicht eine freie
Leistung des Individuums, sondern der Begriff bezieht sich auf
eine dem Individuum zugeschriebene Biographie.“301
300
301
Krappmann 1969, S. 75
Krappmann 1969, S. 75f.
159
Die zu erbringende Leistung, das Aushalten einer Identität über
die Zeitläufte hinweg, ist nach Krappmanns Ansicht nur mit
Hilfe der „phantom-uniqueness“ möglich. Dieses Konzept wurde
ursprünglich von Habermas vorgeschlagen: „(Wir) halten eine
persönliche Identität aufrecht, indem wir gegenüber allen
relevanten Bezugsgruppenmitgliedern den sozialen Abstand
einer ausdrücklichen Nicht-Identität wahren und gleichwohl Anstrengungen unternehmen, diese Nicht-Identität als eine fiktive
Einzigartigkeit (phantom-uniqueness) sichtbar zu machen.“302
An anderer Stelle schreibt Habermas Folgendes: „die
vergesellschafteten Subjekte widersetzen sich im Maße ihrer
Individuierung einem Aufgehen in Gesellschaft. Sozialisation,
die Vergesellschaftung der inneren Natur, lässt sich (...)
zureichend als eine Reduktion von Umweltkomplexität
begreifen. (...) Mit wachsender Individuierung scheinen sich die
Immunisierungen der vergesellschafteten Individuen gegen
Entscheidungen des ausdifferenzierten Steuerungszentrums zu
verstärken.“303
In dem Maß, in dem die vertikale Perspektive der Identität zum
Tragen kommt, wird das Bedürfnis nach Distanz gegenüber den
vielfältigen Rollenzumutungen stärker und damit auch die
Fähigkeit zur Individualität.
Für die Interaktionsfähigkeit des Individuums ist nach Krappmann die „phantom-uniqueness“ genauso notwendig wie die
„phantom-normalcy“: „Wie die ‚phantom-normalcy‘ das Individuum in die Lage versetzt, in den verschiedenartigen Interaktionssystemen jeweils als ein und dasselbe aufzutreten und
doch auf verschiedene Erwartungen einzugehen, so ermöglicht
die ‚phantom-uniqueness‘ Einzigartigkeit und Kontinuität zu
wahren und doch wandlungsfähig zu bleiben. ‚Phantomuniqueness‘ bewegt sich wie ‚phantom-normalcy‘“ auf einer
‚als-ob‘-Basis, denn das Individuum agiert, als ob es einzigartig
wäre und hält doch die Gemeinsamkeit mit den Interaktionspartnern fest.“304
Die Einzigartigkeit darf jedoch nicht so weit gehen, dass sich das
Individuum vollständig isoliert, denn dann wäre seine Teilhabe
302
Habermas 1973b, S. 132
Habermas 1973a, S. 26
304
Krappmann 1969, S. 77f.
303
160
an Interaktionszusammenhängen ebenfalls ausgeschlossen. Die
einzige Möglichkeit, eine interaktionsfähige Identität zu
erlangen, besteht in dem Aushalten der Ambivalenz von
Anpassung und Absonderung. Mit Blick auf eine solche interaktionsfähige Identität und deren Präsentation schreibt Abels:
„Die Strategie, eine solche Spannung zwischen Normalität und
Einzigartigkeit aufrechtzuerhalten, nenne ich die doppelte
Strategie des als-ob und behaupte, dass ohne sie Leben in der
Gesellschaft nicht möglich ist. Tatsache ist, dass nur mit diesem
doppelten als-ob soziale Sicherheit (in der Erwartung des
Handelns aller anderen) und individuelle Freiheit (als Annahme,
relevant zu sein und Spuren zu hinterlassen) gegeben sind. Dass
mit dieser Strategie ein soziales Risiko und eine individuelle
Täuschung zugleich gegeben sind, ist nicht von der Hand zu
weisen. Die Spannung zwischen Normalität und Einzigartigkeit
ist nämlich eine Spannung zwischen zwei Täuschungen, die
einmal die anderen und zum zweiten das Individuum selbst
betreffen. Deshalb wird auch in der kritischen Interaktionstheorie von einer Balance zwischen phantom normalcy und
phantom uniqueness gesprochen.“305
Für Krappmann ist das Aushalten des „doppelten als-ob“ eine
„strukturelle Notwendigkeit“ des Interaktionsprozesses. Aber:
„Auf beiden Dimensionen muss das Individuum balancieren,
weil es, um Interaktion nicht zu gefährden, weder der einen noch
der anderen Forderung, noch beiden voll nachgeben, noch sie
gänzlich verweigern kann. (...) Der vom Individuum verlangte
Balanceakt ist also eine Leistung, die zwei Dimensionen der
Handlungsorientierung zu berücksichtigen hat: ein Ausgleich
zwischen den divergierenden Erwartungen der Beteiligten muss
sowohl in der gleichsam horizontalen Dimension der ‚social
identity‘ und ‚phantom normalcy‘ als auch in der vertikalen
Zeitdimension von ‚personal identity‘ und ‚phantom uniqueness‘
gerecht werden, wobei die Balance in jeder der Dimensionen
durch die, die in der anderen eingenommen werden muss,
mitbestimmt wird. Diese Balance aufrechtzuerhalten ist die
Bedingung für Ich-Identität. Ich-Identität wird dem Individuum
zuerkannt, das gerade unter Ausnutzung der Identitätsnormen
305
Abels 1997a, S. 13f.
161
der anderen und im Medium gemeinsamer Symbolsysteme seine
besondere Individualität festhalten kann.“306
Nach Krappmanns Überzeugung ist Besitz der Ich-Identität, die
zu der Balance auf der vertikalen und horizontalen Ebene
befähigt, eine Voraussetzung für die Teilnahme an Interaktionen.
Und wie auch bereits gezeigt wurde, birgt ein Unvermögen des
Individuums, an den Interaktionen unter den Bedingungen einer
balancierenden Identität teilzunehmen, die Gefahr, zum Außenseiter zu werden. Die Gründe für ein solches Unvermögen
könnten darin liegen, dass das Individuum im Besitz eines
Stigmas ist, das die Aufrechterhaltung der Schein-Normalität
erschwert.
An dieser Stelle komme ich auf die bereits in dem Abschnitt zur
Sozialisationstheorie Meads angesprochenen Zusammenhänge
zurück: grundlegend für alles Gesellschaftliche ist die Interaktion. Über Kommunikation, wesentlich im Medium der Sprache,
werden gesellschaftliche Werte vermittelt, die durch die
Hereinnahme des Standpunktes der Gesellschaft in Form des
generalisierten Anderen einen wesentlichen Teil der Ich-Identität
ausmachen. Der Zusammenhang zwischen Symbolen und gesellschaftlichen Erwartungen wird dann in Bezug auf die Situation
gesellschaftlicher Außenseiter deutlich, denen vermutlich der
Anschluss an eine bestimmte Symbolität verweigert wird (oder
der sie sich nicht anschließen können). Dies könnte der Fall sein,
wenn die Synthese der balancierenden Identität misslingt. Wie
bereits ausgeführt, geht Krappmann davon aus, dass Ich-Identität
nur dann vorliegt, wenn die beiden „als-ob“-Komponenten der
Normalität respektive Einzigartigkeit ausbalanciert sind.
Bezogen auf die „phantom-normalcy“ ist nochmals festzustellen,
dass ein Außenseiter, will er sich an Interaktionen, so wie alle
anderen, beteiligen, sich eine solche Schein-Normalität zueignen
muss. Wenn ihm das misslingt, wird sich sein Außenseiterstatus
festsetzen, ohne dass er eine Chance hätte, daran etwas zu
ändern.
Im Hinblick auf die „phantom-uniqueness“ bin ich der Meinung,
dass Goffman bei der Deskription von Menschen mit beschädigter Identität auf dieses Konzept ohne Not verzichten konnte,
306
Krappmann 1969, S. 78f.
162
da sich die Menschen, die von einem Stigma betroffen sind und
darunter leiden, wahrscheinlich unter allen Umständen so
„normal“ wie möglich präsentieren und auf jegliche Außergewöhnlichkeit gerne verzichten. Denn die Anders- bzw. Einzigartigkeit des sozialen Außenseiters bedarf nicht mehr eines „alsob“-Faktors: sie ist ganz real!
Der Interaktionsprozess kann unter der Stigma-Bedingung nur
dann gelingen, wenn die wirkliche Andersartigkeit mit Hilfe der
Schein-Normalität kompensiert wird. Aber kann es dann für
soziale Außenseiter überhaupt eine Möglichkeit zur Ich-Identität
geben, wenn diese doch nur auf der integrierenden Grundlage
des „doppelten als ob“ existiert?
Abels weist auf die Gefährdung der Identität hin, die darauf
angewiesen ist, unter Anwendung von Scheinkonstruktionen die
soziale Integration des Individuums zu gewährleisten: „Phantom
normalcy und phantom uniqueness sind ein strategisches Kalkül,
hinter dem aber die Gefährdung von sozialer Identität aufscheint.
Und es ist nicht nur der soziale Außenseiter, der es anwenden
muss, sondern dieses Kalkül wird auch von denjenigen in ihr
Handeln einbezogen, die sich mitten im Zentrum der Gesellschaft wähnen. Die Balance von Nicht-Wirklichem zeigt, dass
Identität zum Krisenbegriff in der Moderne geworden ist.“307
Von diesem Kalkül hat auch der französische Soziologe
Bourdieu geschrieben, der den Einfluss eines sozialisatorisch
erworbenen Habitus auf die Persönlichkeit des Individuums
beschreibt. Dabei interpretiere ich die Schriften Bourdieus auch
dahingehend, dass eine klassenspezifische Prägung ein Individuum zum Außenseiter machen kann, wenn es seine, von seiner
Herkunft determinierte Klassenzugehörigkeit hinter sich lassen
möchte. Obwohl Bourdieu sich nicht auf Goffman bezieht,
erkenne ich in den Identitätskonflikten des Kleinbürgers jene
Desintegration der Identitätskomponenten, die ich als konstitutiv
für eine bestimmte Form gesellschaftlichen Außenseitertums
ansehe. Es handelt sich dabei nicht um die Stigmaproblematik,
sondern um das Problem, mit dem ein Individuum umzugehen
hat, das eine bestimmte (privilegiertere) Gruppenzugehörigkeit
307
Abels 1997a, S. 14f.
163
anstrebt, dem es jedoch des Besitzes eines dafür erforderlichen
sozialen Merkmales gebricht, oder in der Logik des oben
erwähnten Kalküls gefasst: das Identitätsproblem eines Individuums, das nach symbolischer Manifestation seiner Besonderheit
(Distinktion) und damit nach phantom-uniqueness strebt, dem
jedoch die sozialen und materiellen Bedingungen seines Lebens
solche Distinktionsgewinne verwehren.
164
6. Die Antinomie der Paradigmen
Die bisherigen Ausführungen reflektieren eine theoretische
Antinomie, die sich auf zwei unterschiedliche soziologische
Erklärungsparadigmen bezieht, dem normativem Paradigma, das
im Wesentlichen eine Determination der Identität postuliert, und
dem interpretativen Paradigma, demzufolge Identität sozial
konstruiert ist.
Diesen Gegensatz findet man auch in den französischen Sozialwissenschaften. Die dort entstandene intellektuelle Strömung des
Strukturalismus leitet sich letztlich aus dem Werk Durkheims ab,
der von „Sozialen Tatsachen“ im Sinne sozialer Regelmäßigkeiten sprach, die derart einen Objektivitätscharakter annehmen,
als seien sie vergleichbar mit anderen objektiv erfahrbaren
Gegenständen und Sachverhalten, die die Lebenswelt des Menschen prägen, aber nicht in dem Sinne, dass sie von ontologisch
gleicher Natur wie physikalische Objekte seien; das Soziale ist
für Durkheim eine eigene Realität, die jedoch eine systematische
Beobachtung ihrer Seinsweise außerhalb der Individuen ermöglicht. Darauf aufbauend hat der Strukturalismus die methodische
Erfassung und Analyse jener Strukturzusammenhänge, „die,
ohne dass es den Subjekten bewusst wäre, den verschiedenen
gesellschaftlichen (und psychischen) Phänomenbereichen wie
Sprache, Verwandtschaftsbeziehungen, Ökonomie, Mythen,
Kunst, psychischen Kognitionen unter anderem konstitutiv
zugrunde liegen“308 zum Gegenstand. Der französische
Strukturalismus kann so unter die objektivistische Erkenntnisweise subsumiert werden, da er die Prävalenz sozialer
Tatsachen, ihren Zwangscharakter im Verhältnis zu den Handlungsorientierungen und ihre Unabhängigkeit vom Willen der
Individuen thematisiert.
Auf der anderen Seite steht vor allem die Existenzphilosophie,
deren einflussreichster Vertreter Jean-Paul Sartre war, die die
Fähigkeit des Menschen hervorhebt, sich selbst „zu machen“,
und somit die absolute Emanzipation des Menschen von allen
möglichen Einflüssen behauptet. Bourdieus Ansatz ist die Kritik
beider Extrempositionen. Seine theoretische Arbeit findet ihren
Standort zwischen dem wissenschaftlichen Objektivismus und
308
Schwingel 1995, S. 29
165
der intellektuellen Strömung, die den Menschen als Subjekt in
den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt.
Bourdieu fasst diese intellektuelle Problemlage folgendermaßen
zusammen: „Es ist nicht leicht, sich die Wirkungen des Werks
von Claude Lévi-Strauss (als Vertreter des Strukturalismus, Anmerkung des Verfassers) auf das intellektuelle Feld Frankreichs
(...) zu vergegenwärtigen, durch die einer ganzen Generation
eine neue Auffassung der Geistestätigkeit aufgedrängt wurde,
die in durchaus dialektischem Gegensatz zur Gestalt des
‚totalen‘ (...) Intellektuellen trat, wie sie Jean-Paul Sartre verkörperte.“309 Bourdieu kommt zu folgendem Schluss: „Von allen
Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist
der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus.“310 Denn beide Positionen erscheinen
ihm für eine „Wissenschaft der Sozialwelt gleichermaßen
unentbehrlich.“311
Eine Privilegierung dieser Position zu Lasten jener bringt stets
einen Verlust an Erkenntnis mit sich. Die ausschließlich
subjektivistisch-interaktionistische Sicht und Methode birgt das
Risiko, dass gewisse, durchaus handlungsleitende Hintergründe
der Interaktion in ihrer Bedeutung verkannt werden, nämlich
dann, wenn das, was die Individuen tun, einen (zusätzlichen)
Sinn hat, der sich ihrer kognitiven Erkenntnisfähigkeit
vorderhand entzieht. Auf diese Weise „ragen die gesellschaftlichen Beziehungen über die physischen Personen als deren
‚Träger‘ in die Interaktion hinein und prägen sie nachhaltig.
Wechselseitige Anpassungen erfolgen dabei nicht (allein) über
bewusstes Hineinversetzen in den anderen, sondern vollziehen
sich zu einem erheblichen Teil präreflexiv ohne ausdrückliche
Abstimmung.“312 Außerdem bewirkt eine allzu unkritische
Reproduktion subjektiver Primärerfahrungen, wie sie dem
soziologischen Subjektivismus unterstellt wird, dass sich die
solcherart gewonnen Aussagen auf vorwissenschaftliche
Erkenntnisse und Sachverhalte stützen.
309
Bourdieu 1980, S. 8
vgl. Bourdieu 1980, S. 49
311
ebd.
312
Wittpoth 1994, S. 86
310
166
Umgekehrt gibt es auch subjektivistische Einsichten, die bei
allem Ringen um objektivierbare Qualität der Aussagen dennoch
ihre Berechtigung haben, nämlich die Erkenntnis des Subjektivismus, wonach die Primärerfahrungen sozialer Akteure
konstitutiver Bestandteil der sozialen Welt sind. Indem
objektivistische Wissenschaft Primärerfahrungen der Subjekte in
ihrer Bedeutung verkennt, sie als redundant abtut und es unterlässt, sie methodisch zu erfassen, unterstellt sie einen Primat
ausschließlich wissenschaftlich erfassbarer objektiver Sachverhalte und droht so eine unüberwindliche Barriere zwischen
wissenschaftlicher Erkenntnis und so genannter Alltagserkenntnis aufzubauen: „Bourdieus Auffassung zufolge sind nun die
vom Objektivismus tendenziell ignorierten sozialen Akteure mit
ihren praktischen Erfahrungen und Alltagserkenntnissen
konstitutiver Bestandteil der sozialen Welt und müssen in dieser
Eigenschaft von der soziologischen Analyse, neben den
objektiven Strukturfaktoren, berücksichtigt werden.“313
In Ergänzung dieser Gedanken liest man bei Wittpoth
Folgendes: „Bourdieu will diesen ‚naiven Subjektivismus‘
überwinden, ohne einem ‚mechanistischen Objektivismus‘ zu
verfallen.“314 Das Vorgehen besteht in dem Bruch mit dem
reinen und keuschen Objektivismus durch die Integration
subjektiver Erkenntnisleistungen in das Forschungskonzept.
Dies geschieht methodisch durch eine besondere Bezugnahme
auf die Handlungspraxis der Individuen: „Die Theorie der Praxis
als Praxis erinnert gegen den positivistischen Materialismus
daran, dass Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv
registriert werden, und gegen den intellektualistischen Idealismus, dass diese Konstruktion auf dem System von strukturierten
und strukturierenden Dispositionen beruht, das in der Praxis
gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet
ist. (...) Dazu braucht man sich nur in die ‚wirkliche, sinnliche
Tätigkeit als solche‘, also in das praktische Verhältnis zu Welt
hineinzuversetzen, in jene beschäftigte und geschäftige Gegenwärtigkeit auf der Welt, durch welche die Welt ihre
Gegenwärtigkeit mit ihren Dringlichkeiten aufzwingt, mit den
Dingen, die gesagt oder getan werden müssen, die dazu da sind,
313
314
Schwingel 1995, S. 43
Wittpoth 1994, S. 87
167
gesagt oder getan zu werden, und die die Worte und Gebärden
unmittelbar beherrschen, ohne sich jemals wie ein Schauspiel zu
entfalten.“315
Von zentraler Bedeutung im Werk Bourdieus ist das Habituskonzept. Der Habitus ist ein „Dispositionssystem sozialer
Akteure“316 und insofern eine strukturelle Vorgabe, die gleichsam objektiv und unabdingbar die Lebenswelt der Individuen
beeinflusst. Da dieses theoretische Konzept auf die alltägliche
Praxis der Individuen Bezug nimmt, handelt es sich auch um
eine subjektorientierte Methode. Somit ist das Habituskonzept
ein Beispiel dafür, wie sich Bourdieus Werk der Antinomie der
subjektivistischen gegen die objektivistische Position enthebt.
6.1. Der Habitus als Identitätskonzept
Bourdieu hat sich nicht mit der Ontogenese des Individuums
beschäftigt. Es findet sich in seinen Arbeiten kein evolutionäres
Entwicklungsmodell wie bei Erikson oder Mead. Gleichwohl
nimmt er Bezug auf jene sozialisationstheoretischen Erkenntnisse, die in den Sozialwissenschaften etabliert sind, und
integriert sie in sein „praxistheoretisches“ Sozialisationsmodell:
„Familie und Schule fungieren als Orte, an denen sich durch die
bloße Verwendung die für einen bestimmten Zeitpunkt als nötig
erachteten Kompetenzen herausbilden; zugleich und untrennbar
damit verbunden als Orte, an denen sich der Preis dieser
Kompetenzen ausbildet. Das heißt, sie fungieren als Märkte, die
kraft positiver wie negativer Sanktionen die Leistung kontrollieren - die verstärken, was ‚annehmbar‘ ist, entmutigen, was
dem widerspricht, die entwertete Fähigkeiten zum Verschwinden
zwingen.“317
Über die Sozialisation in der Familie und der Schule, vor dem
Hintergrund bestimmter sozialer und materieller Bedingungen,
erfolgt die Internalisierung der Dispositionen, die die sozial
erfahrbare Identität des Menschen, seinen Habitus ausmachen:
„Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von
Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Disposi315
Bourdieu 1980, S. 97
vgl. Schwingel 1995, S. 53
317
Bourdieu 1979, S. 150f.
316
168
tionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als
strukturierende Strukturen zu fungieren.“318
Nach der Habitustheorie werden also die für einen Habitus
maßgeblichen Dispositionen erworben, indem im Rahmen der
primären Sozialisation eine Internalisierung der objektiv vorhandenen Strukturbedingungen der Lebenswelt des Individuums
einsetzt. So erfolgt über den Sozialisationsprozess die Rückwirkung äußerer Lebensbedingungen auf den Habitus: es werden
Lebensinhalte verwirklicht, die die soziale Existenz des Menschen bilden. Diese Lebensinhalte beziehen sich auf das, was in
der maßgeblichen Lebenslage und sozialen Stellung nahe liegt
und sinnvollerweise praktiziert wird. Die sozialen Praktiken, die
den Habitus des Individuums prägen, sind vorgegeben und
erscheinen obligatorisch. Dies gilt umso mehr, als bestimmte
Praktiken über den Sozialisationsprozess verinnerlicht werden.
Dabei geraten zumeist Verhaltensalternativen zu den verinnerlichten Praxisformen aus dem Blickfeld.
Um diesen Sachverhalt eingehender zu explizieren, verweise ich
auf die Ausführungen von Berger und Luckmann, die sich mit
der Genese gesellschaftlicher Institutionen befassen.
Die Bildung von Institutionen kann demnach als gesellschaftliche Determination der von den Gesellschaftsmitgliedern
anzuwendenen Praktiken verstanden werden. Am Anfang steht
bei Berger und Luckmann (in einer hypothetischen Konstruktion, in der zwei Individuen von Grund auf ein Zusammenleben
in einer ansonsten kulturell völlig unbeeinflussten Umwelt
bewerkstelligen müssen) die Entdeckung, dass bestimmte
Handlungsvollzüge, wenn sie einem wiederkehrenden Modus
folgen, zu einer Entlastung aufgrund von Gewohnheit und
Übung führen können. Berger und Luckmann sehen darin
Habitualisierungen: „Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen
Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe
erreichbar. Die Institution ihrerseits macht aus individuellen
Akteuren und individuellen Akten Typen.“319 Auf der Ebene
einer basalen soziologischen Analyse beschreiben Berger und
Luckmann den Prozess der Entstehung von Institutionen in der
318
319
Bourdieu 1980, S. 98
Berger und Luckmann 1966, S. 58
169
Folge von bereits gefestigten habituell generierten Handlungsfolgen, die sozusagen in zweiter Generation praktiziert werden:
„Die gemeinsamen Habitualisierungen und Typisierungen von A
und B, die bislang (in der ersten Generation, Anmerkung des
Verfassers) noch den Charakter von ad-hoc-Konzeptionen
zweier Individuen hatten, sind von nun an historische
Institutionen. Durch die erreichte Historizität ergibt sich - oder
genauer gesagt: vollendet sich - noch eine andere entscheidende
Qualität, welche von Anfang an da war, seit A und B mit der
reziproken Typisierung ihres Verhaltens begonnen hatten:
Objektivität. Die Institutionen nämlich, welche sich nun herauskristallisiert haben, die die ersten Kinder bereits vorfinden,
werden als über und jenseits der Personen, welche sie ‚zufällig‘
im Augenblick verkörpern, daseiend erlebt. Mit anderen Worten:
Institutionen sind nun etwas, das seine eigene Wirklichkeit hat,
eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres Faktum
gegenübersteht.“320
Die Bedeutung und Wirkung der so generierten Institutionen
ergibt sich aus ihrer scheinbaren Objektivität, die nur deshalb
von den Gesellschaftsmitgliedern so empfunden und grundsätzlich unhinterfragt hingenommen und in der Handlungsplanung implementiert wird, weil bestimmte habitualisierte
Verhaltensweisen eine Tradition gewonnen haben und die adhoc-Zielsetzung ihrer Entstehungsweise nicht unmittelbar aus
dem aktuellen Handlungskontext zu erschließen ist. Im Gegenteil: die Kausalitäten der alltäglichen Handlungsfolgen sind
zumeist unbewusst.
So wird dies auch von Bourdieu gesehen: Die Objektivität der
Erzeugungsprinzipien der gesellschaftlichen Praxis wird von
ihm unter Rückgriff auf „das Unbewusste“ im menschlichen
Verhalten erklärt. Es bedeutet die Verinnerlichung der Standpunkte der vom Individuum vorgefundenen, selbstverständlich
vorgegebenen, „natürlichen“, sozialen Welt dergestalt, dass der
daraus resultierende Habitus „die Übereinstimmung und
Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle
formalen Regeln und expliziten Normen (gewährleistet).“321
320
321
Berger und Luckmann 1966, S. 62
Bourdieu 1980, S. 101
170
Denn: „Das ‚Unbewusste‘ ist in Wirklichkeit nämlich immer nur
das Vergessen der Geschichte, von der Geschichte selber
erzeugt, indem sie die objektiven Strukturen realisiert, die sie in
den Habitusformen herausbildet, diesen Scheinformen der
Selbstverständlichkeit. Als einverleibte, zur Natur gewordene
und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus
wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt
hat.“322 Das Bourdieusche Habituskonzept beinhaltet daher das
Konzept der personalen Identität, insoweit der Habitus im
Hinblick auf seine Dispositionen ausdrücklich Bezug auf den
Einfluss von Biographie und Lebensgeschichte des Individuums
nimmt. Dabei geht es um die Anteile der Identität des Individuums, die aus der Vergangenheit wirkend das Handeln
sowohl in unbewusster als auch dem Bewusstsein zugänglicher
Weise determinieren.
Die sehr individuellen Erfahrungen eines Individuums werden
von Bourdieu als maßgeblich angesehen in Bezug auf all das,
was das Individuum, abgesehen von seinen sozialen Rollenbezügen, prägt und beeinflusst, denn der Habitus garantiert „die
aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen.“323 Die „personale Identität“ geht
daher als biographische Dimension in den Habitus ein, als ein
Element dessen, was aktuell in einer vis-à-vis-Situation den
Interaktionsprozess beeinflusst, ein Konstrukt von Erfahrungen,
sozialen Kategorisierungen und sozialisatorischen Effekten, die
seit der frühesten Kindheit die Existenzbedingungen des
Individuums prägen und beeinflussen, das heißt die Grenzen
seines Handelns, Denkens und Wahrnehmens definieren.
Die dahinter stehenden ökonomischen und kulturellen
Ressourcen sind maßgeblich für diese Grenzziehungen, auch
insoweit, als unter ihrem Vorbehalt alle weiteren Erfahrungen
und Einflüsse stehen.
Mit Blick auf die soziale Identität ist festzustellen, dass der
Habitus alle äußeren intelligiblen Eigenschaften und Verhältnisse des Individuums – bis hin zu seiner leibgebundenen
Erscheinung – erfasst. Bourdieu operationalisiert die soziale
322
323
Bourdieu 1980, S. 105
Bourdieu 1980, S. 101
171
Identität inhaltlich und methodisch auf der Grundlage des praktizierten Lebensstils. Denn der Habitus ist strukturierende Struktur, die entsteht,
1. indem die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Klasse (und damit der Einfluss der je spezifischen Rollenbezüge) den Lebensstil in seiner Ausgestaltung determiniert und
2. indem ein Lebensstil wiederum die Klassenzugehörigkeit
beeinflussen kann.
ad 1.
Die spezifische Art der Sozialisiertheit des Menschen in
Abhängigkeit zu seiner Positionierung im, von Bourdieu so
genannten, sozialen Feld drückt sich in seinem Habitus aus. Bei
Bourdieu heißt es dazu: „Zu einer intelligiblen wird die Beziehung zwischen den relevanten Merkmalen der sozioökonomischen Lage (Umfang und Struktur des Kapitals jeweils in
synchronischer wie diachronischer Dimension) und den mit der
entsprechenden Position im Raum der Lebensstile verbundenen
Unterscheidungsmerkmalen allein durch die Konstruktion des
Habitus im Sinne einer Erzeugungsformel, mit der sich zugleich
die klassifizierbaren Formen der Praxis und Produkte wie die
diese Formen und Produkte zu einem System distinktiver
Zeichen konstituierenden Urteile und Bewertungen erklären
lassen.“324 Und weiter: „In den Dispositionen des Habitus ist
somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer
besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position
innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen
Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben /
unten, reich / arm, etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende
Strukturierungsprinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch.“325
Die Zuweisung einer sozialen Identität erfolgt auf der Grundlage
des Lebensstils, d. h. die soziale Identität eines Menschen reflektiert nicht zuletzt seine Position im hierarchisch strukturierten
System der Klassengesellschaft. Soziale Identität steht daher für
324
325
Bourdieu 1979, S. 278
Bourdieu 1979, S. 279
172
Bourdieu immer in Konvergenz zu den äußeren Lebensbedingungen: „Die Lebensstile bilden also systematische Produkte des
Habitus, die in ihren Wechselbeziehungen entsprechend den
Schemata des Habitus wahrgenommen, Systeme gesellschaftlich
qualifizierter Merkmale konstituieren. Grundlage jenes alchemistischen Prozesses, worin die Verteilungsstruktur des Kapitals,
Bilanz eines Kräfteverhältnisses, in ein System wahrgenommener Differenzen, distinktiver Eigenschaften, anders gesagt, in die Verteilungsstruktur des in seiner objektiven Wahrheit
verkannten symbolischen und legitimen Kapitals verwandelt
wird, ist die Dialektik von sozialer Lage und Habitus.“326 Und
präzisierend: „Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch
die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch
durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur
und bestätigt sich in der Differenz. In den Dispositionen des
Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der
Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der
Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten
Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt.“327 Diese durch
die Lebensstile verursachten und beobachtbaren Differentiale
werden von Bourdieu methodisch erfasst und thematisiert.
Bourdieu behauptet, dass die Klassenzugehörigkeit über den
Habitus derart auf die Identität des Individuums einwirkt, dass
man grundsätzlich einem Menschen seine soziale Position aufgrund seiner körperlichen Erscheinung ansieht: „Die gesellschaftliche Vorstellung des eigenen Körpers, die bei jedem
Individuum von Anbeginn in dessen sich entwickelndes
subjektives Bild vom je eigenen Körper und der je eigenen
körperlichen Hexis konstitutiv eingeht, wird demzufolge durch
die Anwendung eines sozialen Klassifikationssystems erreicht,
dessen Prinzip sich in nichts von dem der gesellschaftlichen
Produkte unterscheidet, auf die es angewendet wird. So wären
Wert und Geltung eines Körpers zweifellos jeweilig genau
proportional zur Stellung seines Besitzers innerhalb der
Verteilungsstruktur der übrigen Grundeigenschaften, würde die
gegenüber der Logik sozialer Vererbung autonome Logik der
biologischen Vererbung nicht dann und wann einigen der
326
327
Bourdieu 1979, S. 281
Bourdieu 1979, S. 279
173
hinsichtlich aller anderen Aspekte Mittellosen mit den selteneren
körperlichen Eigenschaften wie etwa Schönheit ausstatten (die in
derartigen Fällen dann häufig auch – weil hierarchiebedrohend –
als ‚fatal‘ apostrophiert wird), und wären umgekehrt den
‚Großen‘ durch biologische ‚Unfälle‘ nicht manchmal die
körperlichen Attribute ihrer Stellung wie Hochwüchsigkeit und
Schönheit versagt.“328
ad 2.
Diesbezüglich findet sich im Werk Bourdieus eine völlige
Analogie zu dem Konzept der „Fassade“ und deren Funktion,
wie es bereits im Zusammenhang mit den Erörterungen zu
Goffman diskutiert wurde. Eine bedeutsame Fundstelle erlaube
ich mir ungekürzt wiederzugeben: „Die gesellschaftlichen
Bestimmungen sind Legion, mit denen die Beziehungen
zwischen Sein und Schein geregelt werden sollen - angefangen
mit den einschlägigen Vorschriften über das legale Tragen von
Uniformen und Auszeichnungen, das widerrechtliche Führen
von Titeln bis hin zu den milderen Formen von Sanktionierung,
deren Ziel es ist, jene an die Realität und damit an Grenzen zu
erinnern, die damit, dass sie sich mit äußeren, in mehr oder
minder krassem Missverhältnis zu ihren eigenen sozialen und
materiellen Verhältnissen stehenden Insignien des Reichtums
behängen, demonstrieren, dass sie sich als ‚etwas anderes‘
dünken, als sie in Wirklichkeit sind - nämlich ehrgeizige
Prätendenten, die durch ihr Gehabe, ihre Mimik, ihre generelle
‚Selbstdarstellung‘ verraten, dass ihr Selbstbild, das sie auch den
anderen vermitteln möchten, erheblich abweicht vom Bild der
anderen von ihnen und sie denn auch, wollten sie sich an ihm
orientieren, unweigerlich ‚zurückstecken‘ müssten. Damit ist
keineswegs gesagt, dass derartige Strategien der Anmaßung
vorab zum Scheitern verurteilt wären. Da der zuverlässigste
Beweis von Legitimität im sicheren Auftreten liegt, das, wie es
so schön heißt, ‚Eindruck schindet‘, bildet der (...) gelungene
Bluff eines der wenigen Mittel, den Zwängen einer bestimmten
sozialen Lage im Spiel mit der relativen Autonomie des
Symbolischen zu entkommen, um derart eine normalerweise mit
328
Bourdieu 1979, S. 311
174
einer höheren sozialen Lage assoziierte Selbst-Darstellung den
anderen nicht nur aufzudrängen, sondern ihr auch deren
Zustimmung und Anerkennung zu sichern, welche sie allererst
zu einer objektiven und legitimen machen. Zwar sollte man sich
hüten, sich blind dem – typisch kleinbürgerlichen – idealistischen Interaktionismus zu verschreiben, der die (soziale)
Welt als Wille und Vorstellung begreift, doch wäre es absurd,
wollte man aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit die Vorstellung eskamotieren, die sich die Akteure von ihr machen: In
der Tat ist in den Kämpfen, die die Akteure untereinander um
die Repräsentation ihrer sozialen Position innerhalb der
Sozialwelt und damit um diese Welt austragen, immer auch
partiell die Wirklichkeit der Sozialwelt mit im Spiel.“329
An dieser Stelle durchbricht Bourdieu also den Determinismus,
der seine bisherigen theoretischen Ansichten geprägt hat, und
benutzt zur Ergänzung seiner Theorie eine interaktionistische
Sicht, wie sie in dem Werk Goffmans formuliert ist. Diese
bezeichnet er als „Berkeleysches Weltbild“330; auf die Implikationen seiner diesbezüglichen Ausführungen werde ich weiter
unten eingehen. Trotz dieses Zugeständnisses an die Soziologie
Goffmans bleibt festzustellen, dass Bourdieu den von ihm so
bezeichneten „idealistischen Interaktionismus“ kritisch sieht.
Entsprechend geht das Habituskonzept grundsätzlich nicht von
Individuen aus, die, subjekttheoretisch, nach der Maßgabe selbst
gewählter Handlungsentwürfe ihr Leben gestalten; es steht
vielmehr das gesellschaftlich präformierte Individuum im
Vordergrund dieses Konzeptes: „Damit steht die Habitustheorie
in Opposition zu voluntaristischen Handlungstheorien, die das
Prinzip des Handelns in den ‚freien‘ Entscheidungen der
Akteure suchen; sie stellt statt dessen den Sachverhalt ins Zentrum, dass jeder Akteur gesellschaftlich prädeterminiert ist, und
zwar dergestalt, dass diese Prädetermination als bestimmender
Faktor in seine gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen
einfließt.“331 Allerdings gesteht Bourdieu den handelnden
Subjekten zu, dass sie hier und da die Determination umgehen
können. So kann es ihnen gelingen, eine Fassade aufzubauen
329
Bourdieu 1979, S. 392ff.
Bourdieu 1979, S. 395
331
Schwingel 1995, S. 55
330
175
und aufrecht zu erhalten, die nicht mit den objektiv vorhandenen
Strukturvorgaben der sozialen Umwelt im Einklang steht, die
aber aufgrund der erfolgreichen Darbietung geglaubt wird.
Das System dauerhafter Dispositionen ist das Ergebnis der
Sozialisation und entsteht, indem die als objektiv empfundenen
Strukturen der Lebenswelt von den Individuen internalisiert
werden. Die Internalisierung der Dispositionen des Habitus hat
für die handelnden Individuen den Vorteil, dass die Mehrzahl
ihrer Handlungen gleichsam automatisch verlaufen können, was
aus dem Gesichtspunkt der Handlungsökonomie von Vorteil sein
kann. Dadurch werden im alltagspraktischen Handeln
Reflexionen über Sinn oder Unsinn einer bestimmten Praxis des
Handelns gar nicht erst erforderlich, „da der Habitus als
handlungsgenerierende Instanz gewöhnlich all das hinreichend
leistet, was für die Praxis notwendig ist.“332
Vogt hat ebenfalls eine Beziehung zwischen Identität und
Kapital erkannt.333
Nach Vogts Auffassung ist der Besitz oder Nicht-Besitz von
Kapital eine „strukturelle Rahmenbedingung von Identitätsbildungsprozessen“.334 Die Autorin beschreibt jedoch nur die Art
und Weise, wie der Besitz oder Nicht-Besitz von Kapital
Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten in strukturierender Weise beeinflusst. Auf die Bedeutung des Habitus,
mithin des biographischen Hintergrundes der Person, der in
aktuellen Interaktions- und Kommunikationssituationen durchaus eine Bedeutung haben kann, geht die Autorin nicht ein.
Insofern ist die eigentliche identitätstheoretische Dimension der
Theorien Bourdieus von der Autorin nicht gesehen worden.
Die Unbewusstheit des Verhaltens ergibt sich, wenn Handlungsabläufe derart automatisiert sind, dass ihre eigentlichen
Inhalte eine bestimmte Bewusstseinsschwelle nicht mehr
transzendieren. Denn wir Menschen sind „in Dreiviertel unserer
Handlungen Automaten.“335 Es handelt sich um emergente
332
Schwingel 1993, S. 46
vgl: Vogt 2000, S. 77 ff.
334
Vogt 2000, S. 77
335
Bourdieu 1979, S. 740
333
176
Sinnhorizonte, die übersehen werden, wenn man z.B. in einer
glücklichen Partnerwahl die Elemente eines unbewussten
Meidungsverhaltens übersieht, das bei der Partnersuche dem
Habitus Fremdes und Unbekanntes ausschließt. In diesem
Zusammenhang schreibt Bourdieu Folgendes: „als Erzeugnis
einer bestimmten Klasse objektiver Regelmäßigkeiten sucht der
Habitus die ‚vernünftigen‘ Verhaltensweisen des ‚Alltagsverstands‘ zu erzeugen, und nur diese, die in den Grenzen dieser
Regelmäßigkeiten möglich sind und alle Aussicht auf Belohnung
haben, weil sie objektiv der Logik angepasst sind, die für ein
bestimmtes Feld typisch ist, dessen objektive Zukunft sie
vorwegnehmen.“336 Und an anderer Stelle schreibt er: „Der
Habitus, der mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen
jederzeit neue Erfahrungen strukturieren kann, die diese alten
Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen, sorgt für eine einheitliche, von den Ersterfahrungen
dominierte Aufnahme von Erfahrungen, die Miglieder derselben
Klasse statistisch miteinander gemein haben. Das besondere
Gewicht der ursprünglichen Erfahrungen ergibt sich nämlich im
Wesentlichen daraus, dass der Habitus seine eigene Konstantheit
und seine eigene Abwehr von Veränderungen über die Auswahl
zu gewährleisten sucht, die er unter neuen Informationen trifft,
indem er z.B. Informationen, die die akkumulierte Information
in Frage stellen können, verwirft, wenn er zufällig auf sie stößt
oder ihnen nicht ausweichen kann, und vor allem jedes
Konfrontiertwerden mit derlei Informationen hintertreibt.“337 Es
erfolgt dabei automatisch eine „Sofortunterwerfung unter die
Ordnung, die aus der Not gern eine Tugend macht“ und diese
Haltungen beruhen auf „Vorwegnahmen des Habitus als eine Art
praktischer Hypothesen, die auf früherer Erfahrung fußen.“
Dadurch gewährleistet der Habitus „die aktive Präsenz früherer
Erfahrungen. Das System der Dispositionen als Vergangenheit,
die im Gegenwärtigen überdauert und sich in die Zukunft
fortzupflanzen trachtet, indem sie sich in den nach ihren eigenen
Prinzipien strukturierten Praktiken aktualisiert, als inneres
Gesetz.“338
336
Bourdieu 1980, S. 104
Bourdieu 1980, S. 113f.
338
Bourdieu 1980, S. 100ff.
337
177
Ohne auf das Konzept der personalen Identität einzugehen,
verweist Bourdieu bei seinen Annahmen auf den Einfluss der
Lebensgeschichte auf die Identität des Individuums.
Die personale Identität ist von dem Bewusstsein unzugänglichen
Motivationen, die aus der Vergangenheit heraus Einfluss auf die
Persönlichkeit des Menschen und seine Identität nehmen
können, geprägt. Wenn diese Impulse im Widerspruch zu den
gegenwärtigen Konzepten der sozialen Identität stehen, wenn die
Identität des Menschen desintegriert ist, ist eine subjektive Situation gegeben, die den Menschen zum Außenseiter machen kann.
Ganz in diesem Sinne beschreibt Bourdieu die Nachwirkung
einer inneren Verhaltensdisposition, die eigentlich in aktuellen
Handlungskontexten an praxisrelevanter Wirkung verloren hat.
Er bezeichnet diese Desintegration als „Hysteresis-Effekt“: „Die
vom Habitus in dieser Art umgekehrter Vorwegnahme der
Zukunft bewirkte Gegenwart der Vergangenheit ist nie besser
erkennbar, als wenn der Sinn der wahrscheinlichen Zukunft
plötzlich Lügen gestraft wird und Dispositionen, die infolge
eines Effektes der Hysteresis (...) schlecht an die objektiven
Möglichkeiten angepasst sind, bestraft werden, weil das Milieu,
auf das sie real treffen, zu weit von dem entfernt ist, zu dem sie
objektiv passen.“339
Soziale Laufbahnen, in denen sich der Habitus niederschlägt,
können aufgrund der Hysteresis der vom Habitus beeinflussten
Einstellungen und Praxisformen eine krisenhafte Entwicklung
annehmen, wenn das unmittelbare Angepasstsein der subjektiven
an die objektiven Strukturen aufbricht, praktisch die Evidenzen
zerstört und darin einen Teil dessen in Frage stellt, was ungeprüft hingenommen worden war. Hier ist die Desintegration der
bestehenden Identität des Individuums erkennbar: die krisenhafte Entwicklung setzt dann ein, das Individuum wird potentiell
zum Außenseiter, wenn die internalisierten Elemente seines
Habitus nicht mehr mit den äußeren Bedingungen seiner
Existenz im sozialen Feld in Übereinstimmung gebracht werden
können. Dies geschieht zuvörderst dann, wenn konkurrierende
Lebensentwürfe einen Bruch mit bisherigen Konzeptionen
339
Bourdieu 1980, S. 116
178
erzwingen, insbesondere mit der bisher maßgeblichen
Wertorientierung.
Durchaus im Einklang mit meiner bisherigen Argumentation
behaupte ich daher, dass im Hinblick auf das Außenseiterkonzept in der Logik der Habitustheorie festgestellt werden
kann, dass, vergleichbar mit der Desintegration des Selbst,
Menschen zu Außenseitern werden können, wenn die Konsistenz der Dispositionen, und zwar im Hinblick auf die biographisch-lebenshistorisch geprägten Identitätsanteile und der
(aktuellen) sozialen Identität, die den Habitus einer Personen
definieren, aufgehoben ist. In einem theoretischen Idealzustand
besteht eine homogene Beziehung zwischen den objektiven und
realisierbaren Perspektiven des Individuums und den internalisierten Dispositionen seines Habitus, so dass keine Brüche
oder Widersprüche zwischen „Sein“ und „Sollen“ oder zwischen
„aktualer sozialer Identität“ und „virtualer sozialer Identität“340
vorliegen.
Wie in den interaktionistischen Ansätzen ist auch in der Habitustheorie die Preisgabe der Ausgewogenheit dieser Identitätsaspekte (Krappmann definiert dies als den Verlust der Balance)
Ausdruck einer persönlichen Krise, die ein Individuum in
seinem sozialen Milieu zum Außenseiter machen kann. Die
dahinter stehende soziale Dynamik wird von Bourdieu mit
Veränderungen der ökonomischen und sozialen Grundlagen
erklärt, die das Leben des Individuums prägen und an deren
Dynamik sich die auf internalisierten Strukturen aufbauende
Identität nicht anpassen kann. 341
6.2. Der „Kleinbürger“ – Außenseiter und dennoch Mehrheitsmitglied?
Die Inkonsistenz der Dispositionen wird von Bourdieu in seinem
Werk „Die feinen Unterschiede“ anhand der sozialen Lage und
der psychosozialen Situation des Kleinbürgertums beschrieben.
Demnach ist das Kleinbürgertum stets geleitet von dem
Bemühen, seine Stellung im sozialen Feld zu verbessern und,
über die Ansammlung symbolischen Kapitals, das heißt über den
Nachweis ökonomischen Wohlstands oder Bildung, eine Unter340
341
vgl. Goffman 1963, S. 10
vgl. Bourdieu 1980, S. 117
179
scheidung von den niederen Schichten der Gesellschaft zu
erreichen. Damit einhergehend ist das Bewusstsein, dass der
Besitz „wahrer Distinktion“ gleichbedeutend ist mit dem Besitz
der „Macht, der Not und dem Zwang des Ökonomischen
gegenüber Distanz zu schaffen“342, was gleichbedeutend ist mit
einer „bürgerlichen“, von „Dringlichkeiten befreiten Welterfahrung“343, die sich nach Bourdieu im Lebensstil der Etablierten
manifestiert, der von Ungezwungenheit geprägt ist und von der
Fähigkeit zur Distinktion.
Einen solchen Lebensstil zu verwirklichen, ist das Streben des
Kleinbürgers, was sich jedoch aufgrund der internalisierten
Dispositionen des Habitus als schwierig erweist: „Als Bekräftigung der Macht über den domestizierten Zwang beinhaltet der
(bürgerliche, Anmerkung des Verfassers) Lebensstil stets den
Anspruch auf legitime Überlegenheit denen gegenüber, die – da
unfähig, in zweckfreiem Luxus und zur Schau gestellter
Verschwendung ihre Verachtung der Kontingenzen geltend zu
machen – von den Interessen und Nöten des Alltags beherrscht
bleiben.“344
Die Versuche der Kleinbürger, sich eine entsprechende Fassade
anzueignen, sind deswegen zum Scheitern verurteilt, da sie
durch eine „grundsätzliche Überkorrektheit der prätentiösen
Prätendenten“ gekennzeichnet sind, die „dazu verurteilt, stets zu
viel oder zu wenig zu tun - sich auf ängstliche Rückfragen nach
der Regel und danach, wie ihr auf legitime Weise Folge zu
leisten sei, verwiesen finden und, gelähmt durch diese Rückversicherung - das glatte Gegenteil von Ungezwungenheit -, erst
recht nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht“345
Der ungezwungene Lebensstil ist dort opportun, wo die
Lebensführung der Menschen nicht durch die unmittelbaren
wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten des Alltages
beeinflusst ist, dort wo genügend Mittel vorhanden sind, um das
zu tun und zu lassen, was einem selbst angemessen erscheint:
„Ungezwungenem Verhalten gilt deshalb so allgemeine Anerkennung, weil es die sichtbarste Bestätigung der Ungebunden342
Bourdieu 1979, S. 102
Bourdieu 1979 S. 101.
344
Bourdieu 1979, S. 104f.
345
Bourdieu 1979, S. 397f.
343
180
heit gegenüber sozialen Zwängen ist, denen die ‚einfachen
Leute‘ stets noch unterworfen sind, und das unbezweifelbarste
Zeugnis für den Besitz von Kapital, und damit sowohl der
Befähigung, den Anforderungen der biologischen und gesellschaftlichen Natur nachzukommen, als auch der Autorität, diese
zu ignorieren.“346
Für die Etablierten entlarven sich die Emporkömmlinge zumeist
aufgrund des „proletarischen Lebensstils, durch den sich die
Mittellosen noch im Gebrauch ihrer freien Zeit bloßstellen, (er)
ist eine Art Negativfolie für jedweden Versuch distinktiver
Absetzung und Abhebung. (...) Nicht genug damit, dass sie
nahezu keine Kenntnisse und kein Betragen ihr Eigen nennen
können, die auf dem Markt der schulischen Examina oder der
Salongespräche Geltung besitzen, vielmehr nur über dort wertlose Fertigkeiten verfügen, sind sie zudem noch abgestempelt als
jene, die ‚nicht zu leben verstehen‘, die das Meiste für ihr
leibliches Wohl hergeben, (...) als jene, die das Wenigste für
Kleidung und Körperpflege ausgeben, (...) die ‚sich nicht
entspannen können‘, ‚die immer etwas zu tun finden‘, (...) die
sich vorgestanzten Freizeitvergnügungen hingeben, für ihren
Bedarf entwickelt von Ingenieuren der seriellen und kulturellen
Massenproduktion, jene, die den Klassenrassismus in seiner
Überzeugung bestätigen, dass sie lediglich haben, was sie
verdienen.“347 So können die Etablierten sich, aufgrund ihres
verfeinerten Sinns für Distinktion und den damit verbundenen
Emblemen ihrer Gleichartigkeit, die nur sie kennen, von jenen
absetzen, die zwar zu ihnen gehören wollen, aber nach dem
Willen der Etablierten nicht sollen, sie können, bezogen auf ihre
Lebenswelt, die allzu bemühten Prätendenten zu Außenseitern
machen. Und so ragt die Hysteresis des unterprivilegierten
Lebensstiles in die gegenwärtigen Handlungskonzepte der
Emporkömmlinge hinein und stört die Fassade, die sie
aufzubauen trachten.
Das Streben der Kleinbürger nach Distinktion wird von
Bourdieu als „fast peinlich-methodisches Sich-Abgrenzen von
Geschmack und Eigenschaften, die am klarsten mit den unteren
346
347
Bourdieu 1979, S. 397
Bourdieu 1979, S. 292
181
Klassen assoziiert werden“348 beschrieben. Dabei leben die
Kleinbürger „in latenter Angst, etwas falsch zu machen und
einen Status, den sie sich vormachen, zu verlieren.“349
Auch unter diesem Aspekt stellt sich die Frage nach der
Bedeutung der Identität jener Menschen. In der Verleugnung der
eigenen personalen Identität, in dem Willen zur Abkehr von dem
Habitus, den man aufgrund seines Herkommens erworben hat,
ist auch der Verlust eines tragfähigen Identitätskonzeptes
angelegt, da sich der Kleinbürger „in einer Mischung aus Neid
und Bewunderung nach oben andient und nach unten abgrenzt.
Er hat einen Status inne, der nicht wirklich Identität garantiert.“350
Das Negieren des eigenen lebensbiographischen Hintergrundes
geht einher mit dem Aufbau einer Fassade, die den Aufstieg in
die Welt der Etablierten erfordert. So muss der Kleinbürger zum
einen mit seiner bisher maßgeblichen Identität brechen und zum
anderen eine Scheinidentität annehmen, die jederzeit zerstört
werden kann. Bourdieu schreibt, dass „wer ‚hochkommen‘ will,
seinen Zutritt zur Sphäre alles dessen, was den ‚Menschen als
wahren Menschen’ auszeichnet, mit einem wahrhaften Wandel
seiner Natur bezahlen (...) und seinen gesellschaftlichen Aufstieg
wie eine ontologische Erhöhung empfinden (muss) (...) - doch
jetzt, da er sich selbst zum Schauplatz des aller Kultur
immanenten Klassenkampfes gemacht hat, wird er von
Schmach, Entsetzen, ja Hass gegenüber dem ‚alten Adam‘ heimgesucht (...), gegenüber allem, dem er einst solidarisch war, (...)
gegenüber Seinesgleichen und manchmal sogar gegenüber seiner
eigenen Muttersprache - von alledem ist er nun durch eine
Grenzlinie geschieden, die totaler ist als alle Verbote.“351
Was ihm bei diesem Identitätswandel zugemutet wird, bzw. was
das Individuum sich selbst zumutet, ist nicht weniger als die
Konstruktion einer sozialen Identität, die sich von der bisherigen
sozialen Identität fundamental unterscheidet, und ein Leugnen
lebensbiographisch fundierter Bezüge. Dem Betroffenen bleibt
nur, eine Scheinidentität anzunehmen. Bourdieu schreibt dazu:
348
Bourdieu 1979, S. 568
Abels 2001, Bd. 2, S. 257
350
ebd.
351
Bourdieu 1979, S. 391
349
182
„Der Kleinbürger, ausgesetzt den Widersprüchen zwischen
objektiv dominierter Soziallage und der Aspiration auf
Teilnahme und Teilhabe an den dominanten Werten, ist besessen
vom Gedanken daran, welches Bild wohl die Anderen von ihm
haben mögen und wie sie es beurteilen. (...) um seine Rolle
spielen zu können, (...) tendiert er zu einem Berkeleyschen
Weltbild, worin Gesellschaft bloßes Theater, Sein immer nur
wahrgenommenes Sein, oder besser, (geistige) Vergegenwärtigung einer (Theater)-Vorstellung ist.“352
Der Kreis schließt sich eingedenk der Tatsache, dass es
wiederum an den Etablierten liegt, die Scheinidentität zu akzeptieren, und sie die Macht besitzen, diese Scheinidentität jederzeit
zu zerstören. Dies hat Goffman mit dem Konzept der „phantomnormalcy“ beschrieben, wobei der Verlust der auf einer
scheinbaren Normalität gründenden Identität gesellschaftliche
Ausgrenzung bedeutet.
Insoweit der Kleinbürger als Beispiel für einen neuzeitlichen
Typus des gesellschaftlichen Außenseiters als Preis für den Aufbau einer Scheinidentität die Bezüge zu seiner Vergangenheit,
seiner Herkunft, kurz: zu seiner personalen Identität opfert, droht
er von seinen angenommen Rollen im Sinne der Zwänge und
Nötigungen des Alltages erdrückt zu werden, sich restlos in
diesen instrumentellen Identitätskonzepten zu verlieren.
Die Sehnsucht, diesen Zwängen zu entgehen und ein Leben wie
die Etablierten zu führen, lässt die Bereitschaft zu wirtschaftlichen und sozialen Opfern wachsen. So weist Bourdieu darauf
hin, dass der etablierte Lebensstil für den Kleinbürger meist nur
auf Kreditbasis gelebt werden kann, wofür unter Umständen ein
ganzes Leben lang gearbeitet werden muss.
Nach meinem Erachten ist die Sehnsucht des Kleinbürgers daher
nichts anderes als die Sehnsucht nach jener Einzigartigkeit und
Rollendistanz, von der im Rahmen der Erörterungen zum
Interaktionismus die Rede war. Bourdieu spricht von „Distinktion“, wenn er von den Vorzügen des bürgerlichen Lebensstils
schreibt. Und gewisse Symbole der bürgerlichen Konsumkultur,
für die der Kleinbürger bereit ist, sich hoch zu verschulden,
verleihen ihm in der Folge Distinktionsgewinne.353 Diese
352
353
Bourdieu 1979, S. 394f.
vgl. Bourdieu 1979, S. 360
183
Sehnsucht nach Unterscheidung, nach Einzigartigkeit bei
gleichzeitiger Rollen-Anpassung, entspricht dem Konzept der
„phantom-uniqueness“. Diese war für Krappmann eine Seite der
Ich-Identität, deren Fehlen zu einem Verlust an Balance der
Identität führte. Bezogen auf die Außenseiterthematik war es
meines Erachtens typisch, dass jene gesellschaftlichen Außenseiter, die von einem Stigma betroffen sind, so wenig wie
möglich Rollendistanz im Sinne von ‚phantom-uniqueness‘
suchten, um so „normal“ wie möglich leben zu können. Der
Außenseitertypus des Kleinbürgers, der insofern Außenseiter ist,
weil ihm eine Zugehörigkeit zu jenen Gruppen und Schichten,
deren Lebensstil er gerne adaptieren möchte, verweigert wird, ist
jedoch meines Erachtens bei aller Rollenkonformität, die er
aufbringen muss, um die Fassade, die er sich aufgebaut hat,
beibehalten zu können, in Wahrheit auf der Suche nach einem
höheren Maß an Rollendistanz, so wie sie von jenen gelebt wird,
denen er gleich sein möchte. Dies zu erreichen, ist jedoch nicht
zuletzt davon abhängig, dass er sich diese Rollendistanz auch
leisten kann. Aufgrund der begrenzten ökonomischen Verhältnisse ist dies jedoch sehr fraglich, so dass das ganze Identitätskonstrukt sehr fragil ist und fortwährend davon bedroht, dass aus
dem scheinbar etablierten Mitglied der etablierten Gruppe ein
Verlierer wird, der als gesellschaftlicher Außenseiter aus allen
seinen sozialen Bezügen herausfällt.
Im Rahmen der normativen Erklärungsansätze ist Identität eine
Errungenschaft des Individuums, das in der Auseinandersetzung
mit inneren oder äußeren Verhaltensanleitungen, die als internalisierte Wert- und Normdispositionen der Gesellschaft anzusehen sind, seine spezifische Stellung in der Gesellschaft erwirbt
und behauptet. An diesen Anforderungen zu scheitern, bedeutet
ein gesellschaftlicher Außenseiter zu werden.
Die theoretischen Ansätze, die dem interpretativen Paradigma
zuzurechnen sind, haben das Ich in unauflösbarer Abhängigkeit
von den Anderen gesehen. Die Konsistenz und das Überdauernde der Identität ist in der Theorie Meads mit der
Übernahme der Haltungen des „generalisierten Anderen“, der
den Standpunkt der Gesellschaft und damit deren Wert- und
Normorientierungen repräsentiert, verknüpft, was jedoch eine
184
beständige Anpassungsleistung erfordert, denn gesellschaftliche
Erwartungen unterliegen einer permanenten Dynamik.
Identität zu behaupten wird in den neueren Ansätzen (Goffman
und Krappmann) als das Vermögen zur Integration der
Ansprüche der Gesellschaft mit persönlichen biographischen
Zügen des Individuums gedeutet. Goffman sieht die Inkonsistenz der Ansprüche in der „schmachvollen Kluft zwischen
virtualer und aktualer sozialer Identität“354 als Anlass für die
Gefährdung von Identität. Krappmann behauptet, dass ein
Mangel an Balance zwischen den Forderungen einer personalen
Identität und jenen der sozialen Identität die Konsistenz des
Selbst untergräbt. Hier bedeutet die Desintegration der
divergierenden Ansprüche des Individuums an sich selbst, im
Verhältnis zu den Ansprüchen, die die Gesellschaft an das
Individuum richtet, den Verlust an Balance, die erforderlich ist,
um mit den widersprüchlichen Anforderungen der Gesellschaft
zurechtkommen zu können. Ich sehe darin einen Verlust der
Konsistenz des Selbst mit der Folge einer gefährdeten Identität,
was immer auch als Behinderung in den regulären Bezügen des
Individuums zu seiner sozialen Umwelt gedeutet werden kann.
Schließlich beinhaltet die Habitustheorie den Gedanken, dass
desintegrierte Identität dann vorliegt, wenn das, was in Form
eines verinnerlichten Leitmotivs, was allerdings ausschließlich
gesellschaftlichen Ursprungs ist, nämlich der Habitus, der dem
Individuum Verhaltensorientierung vermittelt, aber auch
Grenzen seines Verhaltens zumutet, in der Folge persönlicher
biographischer Implikationen, unpassend wird und eine
Veränderung, vor allem im Sinne einer Mobilität durch den
sozialen Raum, mit welchen Schwierigkeiten auch immer,
notwendig wird.
Im Weiteren sind die Zusammenhänge zu analysieren, wie
aufgrund gesellschaftlicher Werte bzw. Normen bestimmte
gesellschaftliche Individuen oder Gruppen eine Identitätszuweisung erlangen, die sie zu gesellschaftlichen Außenseitern
werden lässt. Dabei korrespondiert der Grad der Integration der
Identität, der einem Individuum eignet, mit dem Grad seiner
eigenen gesellschaftlichen Integration. Hierbei geht es um die
354
Goffman 1963, S. 157
185
Frage, welche gesellschaftliche Definitionsmacht dafür maßgeblich ist, dass einem Individuum oder einer Gruppe ein
Integrationsprozess im Hinblick auf die eigene Identität und
damit auch auf die gesellschaftliche Integration verwehrt werden
kann.
186
7. Identitätsentwicklung im Einklang mit der sozialen Umwelt – die dogmatischen Positionen der klassischen Theorielinien
Alle theoretischen Ansätze, die Identitätsgenese erklären,
thematisieren auch die Bedeutung der sozialisatorischen
Wechselwirkung von Individuum und Umwelt. Dies gilt
insbesondere für die interaktionistischen und subjekttheoretischen Identitätskonzepte, wobei hier die Beteiligung des
Individuums an der Entstehung seiner eigenen Identität
besonders hervorgehoben wird. Der Anteil der Gesellschaft am
Zustandekommen von Identität kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Selbst in der höchst individualisierten Interaktion zwischen dem signifikanten Anderen und dem Individuum
manifestiert sich ihr Einfluss, nämlich in den Erfahrungen mit
der Gesellschaft als gleichsam objektivem Sachverhalt, die das
Individuum und der Andere in ihren Interaktionsanteilen
einbringt. Dieser Aspekt wird von Berger und Luckmann,
ebenfalls unter Rückgriff auf Elemente der Identitätstheorie von
Mead, erwähnt: „Der Vorgang der Menschwerdung findet in
Wechselwirkung mit einer Umwelt statt. Die Feststellung
gewinnt besondere Bedeutung, bedenkt man, dass diese Umwelt
sowohl eine natürliche als auch eine menschliche ist. Das heißt,
der sich entwickelnde Mensch steht in Verbindung nicht nur mit
einer besonderen natürlichen Umwelt, sondern auch mit einer
besonderen kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung, welche
ihm durch ‚signifikante Andere‘ vermittelt wird, die für ihn
verantwortlich sind.“355
Über die Sozialisation erwirbt das Individuum Wissen um die
Sachverhalte gesellschaftlicher Ordnung. Die elementarste
Orientierung über das, was als Verhalten gewünscht bzw. unerwünscht ist, kann jetzt entstehen. Sie manifestiert sich in dem
kindlichen Rollenspiel, das die Welt der Erwachsenen und deren
Ordnung antizipiert und eine Konstruktion der Persönlichkeit
einleitet. Die Sozialisation vollendet sich mit der Entwicklung
einer einheitlichen Identität, die nach Meads Theorie dadurch
gekennzeichnet ist, dass das Individuum den Standpunkt des
„allgemeinen“ oder „generalisierten“ Anderen in seinen
355
Berger und Luckmann 1966, S. 51
187
Handlungen verwirklicht, und dies ist der Fall, wenn ganz
konkrete Erwartungen an das Verhalten, wie sie sich in sozialen
Rollen manifestieren, in internalisierter Weise die Persönlichkeit
des Individuums prägen.
Die Integration des Individuums in die Gesellschaft im Sinne der
Ausbildung einer gesellschaftlich (mit)konstruierten Identität ist
eine wesentliche Erkenntnis der Theorielinien, die Identität
thematisieren. So betont auch Joas den gesellschaftlichen
Rahmen der Ich-Synthese: „Die Leistungen der Synthese zu
einer konsistenten und kontinuierlichen Identität wurden nicht
einfach nur beschrieben, sondern es gab bei Mead und Erikson
wie bei allen Anhängern und Fortsetzern die stillschweigende
Hintergrundannahme, dass es auch gut sei, eine Identität zu
bilden – gut zumindest in dem auch empirisch bestätigbaren
Sinn, dass das Maß seelischer und körperlicher Gesundheit und
subjektiven Glücksempfindens bei gelingender Identitätsbildung
höher sei. Gut aber sei Identitätsbildung auch noch in einem
tieferen und eindeutiger normativen Sinn, nämlich dem, dass
Identitätsbildung Autonomiegewinn darstelle und damit ein
Misslingen der Identitätsbildungsversuche einem Verharren in
Unmündigkeit gleichzusetzen sei. Die Vorstellung, im Verlust
der Ich-Identität oder im Scheitern von Identitätsbildungsprozessen etwas anderes zu sehen als Unglück für die
Betroffenen, war in dieser Tradition ganz abwegig.“356
Diese Identitätsbildungsprozesse erfolgen aber immer nur im
Rahmen einer gesellschaftlichen Ordnung, die die Sozialisationserfolge festlegt und definiert, dazu gehört die Einpassung
des Individuums in die gesellschaftliche Rollenstruktur.
7.1. Ethik und Gesellschaft
In den bisherigen Erörterungen war eine Grundannahme der
klassischen Identitätstheorien, dass die Konstitution und
Entwicklung der Identität in einem engen Zusammenhang mit
den Werten, die in einer Gesellschaft oder in einer Gruppe
maßgeblich sind, steht. So schreibt Habermas, dass „Gesellschaft stets als eine moralische Realität (zu begreifen ist,
Anmerkung des Verfassers). Die klassische Soziologie hat nie in
356
Joas 1997, S. 237f.
188
Zweifel gezogen, dass sprach- und handlungsfähige Subjekte die
Einheit ihrer Person nur im Zusammenhang mit identitätsverbürgenden Weltbildern und Moralsystemen ausbilden
können.“357 So wie die Identität der Angehörigen der Gesellschaft sind auch deren Wertstrukturen gesellschaftlich
konstruiert. Mead schreibt über diesen Zusammenhang: „Im
Rahmen unserer gesellschaftlichen Theorie über Ursprung,
Entwicklung, Wesen und Struktur der Identität lässt sich eine
ethische Theorie auf gesellschaftlicher Grundlage erstellen.“358
Aus dieser Perspektive sind Wertorientierungen immer
gesellschaftlich abgeleitet; eine transzendente Epistemologie der
Werteentstehung, wie sie z.B. von religiösen Systemen geliefert
wird, ist ausgeschlossen.
Der Ursprung gesellschaftlicher Werte ist nach Meads Ansicht
das Desiderat einer für alle Gesellschaftsmitglieder möglichst
umfassenden Handlungsanleitung, die weitgehend von ihnen
akzeptiert und implementiert werden kann. Joas beschreibt dies
als „Einordnung des individuellen Handelns in die ‚Universalisierung‘ gesellschaftlicher Strukturen“359 und meint damit, dass
individuelle Handlungsziele im Falle einer Orientierung an
allgemeinen gesellschaftlichen Zielen an sich wertvoll sind. Dies
behauptet er gegen die Moralphilosophie Kants, die als reine
Gesinnungsethik individuelle Bedürfnisse, welche ihrerseits
weder rational geleitet noch einer allgemeinen Ethik verpflichtet
sind, als Antrieb menschlichen Handelns verbietet. Diesen
„bedürfnisrepressiven Charakter“360 der Ethik Kants lehnt Mead
ab und behauptet, dass auch Handlungen, die von menschlichen
Bedürfnissen geleitet oder induziert sind, endlich moralischen
Charakter haben können. So ist auch eine moralische Ordnung
von Menschen gemacht, deren Bedürfnisse darin zum Ausdruck
kommen. Damit gilt sie als eine soziale Konstruktion, und das
menschliche Wertesystem ist ein Ergebnis menschlicher Praxis:
„Die Ordnung des Universums, in dem wir leben, ist die
moralische Ordnung. Sie ist zur moralischen Ordnung geworden,
weil sie die ihnen selbst bewusste Methode von Mitgliedern
357
Habermas 1973a, S. 162
Mead 1934, S. 429
359
Joas 1980, S. 124
360
Joas 1980, S. 122
358
189
einer menschlichen Gesellschaft geworden ist. Wir sind keine
Pilger und Fremdlinge. Wir sind in unserer eigenen Welt zu
Hause, aber diese Welt ist nicht die unsere, weil wir sie geerbt,
sondern weil wir sie erobert haben. Die Welt, die aus der
Vergangenheit auf uns kommt, beherrscht und kontrolliert uns.
Wir beherrschen und kontrollieren die Welt, die wir entdecken
und erfinden. Und dies ist die Welt der moralischen
Ordnung.“361 Eine Welt, in der eine von Menschen konstruierte
moralische Ordnung herrscht, die sich an den Bedürfnissen der
Menschen orientiert, bietet wahrscheinlich ihren Gesellschaftsmitgliedern deren Interessen dienliche Handlungsanleitungen.
Entsprechend wird sich eine Gesellschaft, in der ausschließlich
Individuen leben, die sich in ihrem Handeln nach allgemeinen
Regeln richten, bzw. nach dem Kantschen kategorischen
Imperativ362 handeln, harmonisch sein, „so dass eine Gesellschaft, die aus solchen, das moralische Gesetz anerkennenden
Menschen besteht, eine moralische Gesellschaft wäre.“363 Mead
stellt mit Bezug auf das Individuum klar: „nur insoweit man das
eigene Motiv und das tatsächlich verfolgte Ziel mit dem
Gemeinwohl identifizieren kann, erreicht man ein moralisches
Ziel und moralisches Glück. Da die menschliche Natur
entscheidend gesellschaftlich geprägt ist, müssen moralische
Ziele ihrem Wesen nach ebenfalls gesellschaftlich sein. (...) Als
gesellschaftliche Wesen sind wir moralische Wesen. Auf der
einen Seite steht die Gesellschaft, die die Identität ermöglicht,
auf der anderen die Identität, die eine hochorganisierte
Gesellschaft ermöglicht. Die beiden entsprechen einander im
moralischen Verhalten.“364 Mit dieser Aussage macht Mead
deutlich, dass seiner Ansicht nach gesellschaftliche Werte das
Fundament der Identitätsentwicklung sind und dass die
Gesellschaft wiederum darauf angewiesen ist, dass in ihr
Individuen auf der Grundlage moralischer Werte handeln.
361
Joas 1980, S. 126f.
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, Königsberg
1781)
363
Mead 1934, S. 433
364
Mead 1934, S. 436
362
190
7.2. Die ethische Konstruktion der Identität (G.H. Mead)
Einem ontogenetischen Prinzip folgend ist die Festigung der
Identität im Zusammenhang mit der zunehmenden Verallgemeinerung gesellschaftlicher Erwartungen zu sehen. Es erfolgt
eine Abstraktion von der konkreten Person des „signifikanten
Anderen“ zu der des „verallgemeinerten Anderen“ und auch
vom konkreten, externen Verhaltensimperativ hin zu einer verinnerlichten Form der Verhaltensdisposition bezüglich gesellschaftlicher Sollgeltungen. Habermas bemerkt dazu: „Diese
imperativische Autorität (im Sinne der äußeren Sanktionsmacht
der sozialen Gruppe, der das Individuum angehört, Anmerkung
des Verfassers) wird erst durch Verinnerlichung in eine
normative Autorität umgewandelt. Erst damit entsteht die
Instanz des ‚verallgemeinerten Anderen‘, die die Sollgeltung
von Normen begründet.“365 Anders ausgedrückt: Die konkreten
Verhaltenserwartungen, die von signifikanten Anderen an das
Individuum herangetragen werden, werden von allgemeinen
Verhaltensdispositionen, die als Verhaltensimperative der
Gesellschaft in der Persönlichkeit des Individuums verinnerlicht
sind, abgelöst. Habermas hat diesen Gedanken in seiner
Kommunikationstheorie aufgenommen und dabei unter anderem
folgende Feststellung getroffen: „Dem Moment des Allgemeinen
im ‚verallgemeinerten Anderen‘ haftet noch die faktische Macht
eines verallgemeinerten Imperativs an; denn der Begriff bildet
sich auf dem Wege der Verinnerlichung der sanktionierten
Macht einer konkreten Gruppe. Allein, in demselben Moment
des Allgemeinen ist auch schon der auf Einsicht angelegte
Anspruch enthalten, dass einer Norm Geltung nur insoweit
zukommt, wie sie im Hinblick auf eine jeweils regelungsbedürftige Materie die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt und den Willen, den alle im jeweils eigenen Interesse
gemeinsam bilden könnten, als Willen des ‚verallgemeinerten
Anderen‘ verkörpert.“366 Der „verallgemeinerte Andere“ ist
somit die in der Persönlichkeit des Individuums verdichtete
Ausprägung gesellschaftlicher Sollgeltungen, die sich jedoch
wiederum aus den Interessen und Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder ableiten. Er repräsentiert allgemeine Prinzipien
365
366
Habermas 1981, S. 63
Habermas 1981, S. 64
191
des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und hinter diesen
Prinzipien des Allgemeinen, die gesellschaftlich konstruiert sind,
steht nach Meads Ansicht das Prinzip der Vernunft. So schreibt
Mead: „Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, weil er ein
gesellschaftliches Wesen ist. Die Allgemeinheit unserer Urteile
(...) leitet sich aus der Tatsache ab, dass wir die Haltung der
ganzen Gemeinschaft, die Haltung aller vernunftbegabten Wesen
einnehmen.“367 Aus dieser Sicht erscheint Moral gleichbedeutend mit Allgemeinheit, im Sinne einer allgemeinverbindlichen Gültigkeit von Werten, deren Genese mit „vernunftgeleiteten“ Motiven erklärt werden kann und deren
Manifestation sich in den Handlungsorientierungen der Gesellschaftsmitglieder reflektiert. Dies ist die Gewähr dafür, dass
Gesellschaften mit ihren komplexen sozialen Systematiken
entstehen und bestehen können, und nur unter diesen
Bedingungen „kann sich aus solchen gesellschaftlichen,
allgemeinen Zielen eine Gesellschaftsordnung entwickeln.“368
Der gesellschaftliche Aspekt der Sozialisationstheorie beinhaltet,
dass Gesellschaften optimal integriert sind, wenn die sie
konstituierenden Individuen aufgrund der Internalisierung der
gesellschaftlichen Wertstrukturen „optimal“, das heißt den
Erfordernissen des gesellschaftlichen Prozesses gemäß, agieren,
eine Handlungsorientierung, die nach Meads Logik als
„vernünftig“ zu bezeichnen wäre. Bezogen auf das Handeln des
Individuums umschreibt Mead diesen Zusammenhang so: „Nur
ein vernunftbegabtes Wesen kann seine Handlung und die
Maxime seiner Handlung (...) verallgemeinern, und der Mensch
verfügt über diese Rationalität. Wenn er auf eine bestimmte
Weise handelt, wünscht er, dass unter den gleichen Voraussetzungen jedermann ebenso handeln sollte.“369 Diese Erwartung
kann nur entstehen, wenn soziale Prozesse die Existenz von
Normen bewirken, die von allen Gesellschaftsmitgliedern
anerkannt werden und eine Handlungsorientierung bei den
Gesellschaftsmitgliedern herbeiführen, auf deren Grundlage eine
gesellschaftliche Ordnung etabliert ist. In Habermas’ Worten:
„Erst die kommunikative Ethik sichert die Allgemeinheit der
367
Mead 1934, S. 429f.
ebd.
369
ebd.
368
192
zulässigen Normen und die Autonomie der handelnden Subjekte
allein durch die diskursive Einlösbarkeit der Geltungsansprüche,
mit denen Normen auftreten, das heißt dadurch, dass nur die
Normen Geltung beanspruchen dürfen, auf die sich alle
Betroffenen als Teilnehmer eines Diskurses (zwanglos) einigen
(oder einigen würden).“370
Die Gruppe, der das Individuum angehört, besitzt eine
Sanktionsmacht, die im Falle des wohl sozialisierten Gesellschaftsmitgliedes keiner permanenten Aktualisierung bedarf. Je
besser eine Gesellschaft integriert ist, je funktionaler die
Sozialisationsergebnisse ihrer Mitglieder im Hinblick auf
gesellschaftliche Erwartungen ausfallen, desto weniger muss
sich gesellschaftliche Macht manifestieren und desto ökonomischer ist die Realisierung gesellschaftlicher Ordnung. Auf
diese Weise erklärt sich die Parallelität von ontogenetischer und
gesellschaftlicher Entwicklung. Zu Recht schreibt daher
Habermas: „Die identitätssichernden und sozialintegrativ
wirksamen Bestandteile der Weltbilder, also die Moralsysteme
und die zugehörigen Interpretationen, folgen mit zunehmender
Komplexität einem Muster, das auf ontogenetischer Ebene in der
Logik der Entwicklung des moralischen Bewusstseins eine
Parallele hat.“371 In dem Maße nämlich, in dem das Individuum
den sozial verallgemeinerten Imperativ in Form des
generalisierten Anderen internalisiert, nähert es sich einem
optimalen Sozialisationsziel an. Habermas spricht daher von
dem „sozialisierten Erwachsenen, der schon weiß, was es heißt,
dass eine Norm gilt.“ 372 Die Gültigkeit dieser Norm besteht auch
für die Anderen. Diese stehen auch unter dem Einfluss des
generalisierten Anderen bzw. des für ihren Interaktionsanteil
maßgeblichen Teilaspekt des generalisierten Anderen. Dieser
bezieht seine Allgemeinverbindlichkeit und Autorität aus dem
„allgemeinen Gruppenwillen“.
So lässt sich der für diese Arbeit wesentliche Zusammenhang
der Meadschen Ethik folgendermaßen zusammenfassen: das,
was eine allgemeine Gültigkeit besitzt und dessen Implementierung in den alltäglichen Handlungsvollzügen „vernünftig“
370
Habermas 1973a, S. 125
Habermas 1973a, S. 24
372
Habermas 1981, S. 62
371
193
erscheint und sich daher für eine gesellschaftliche Mehrheit
bewährt, weil es deren Neigungen und Interessen dient, erlangt
eine hohe moralische Bewertung. Daran orientieren sich
Sozialisationsprozesse, die ihren Abschluss darin finden, dass
gesellschaftliche Wertpositionen verinnerlicht werden, die das
Handeln der Individuen in einer für die Gesellschaft
funktionalen Weise beeinflussen sollen. Dies vollzieht sich auf
der Grundlage gesellschaftlich normierter Identitäten.
7.3. Die soziale Konstruktion der Ethik (E. Durkheim)
Die handlungsdeterminierende Funktion gesellschaftlicher
Werte wurde von Mead ansatzweise erklärt: er beschreibt im
Wesentlichen Internalisierungsmechanismen als maßgebliche
Faktoren. Auf der Grundlage dieser internalisierten Dispositionen zu moralischem Handeln ist nach Meads Auffassung
Gesellschaft erst möglich. Auf diesen theoretischen Überlegungen aufbauend schreibt Habermas: „Die Teilnehmer an
symbolisch vermittelten Interaktionen können sich (...) erst in
dem Maße in Angehörige eines Kollektivs mit Lebenswelt
verwandeln, wie sich die Instanz eines verallgemeinerten
Anderen, wir können auch sagen: ein Kollektivbewusstsein oder
eine Gruppenidentität herausbildet.“373
Der Begriff des „Kollektivbewusstseins“ gehört zum theoretischen Vokabular Durkheims, der ebenfalls die Entstehung
von Werten im Kontext gesellschaftlicher Evolution verortet hat.
Nach Durkheims Auffassung vermehren sich mit steigender
physischer Dichte einer Gesellschaft auch die Interaktionen der
Gesellschaftsmitglieder.
Durkheim unterscheidet zwischen segmentären, das heißt
primitiven Gesellschaften und höher entwickelten Gesellschaften, die er auch arbeitsteilig nennt. Die Unterscheidung
bezieht sich auf verschiedene Modi des Zusammenlebens in der
jeweiligen Gesellschaft.
Die nicht-arbeitsteiligen, segmentären Gesellschaften zeichnen
sich dadurch aus, dass sich die Lebensbedingungen der
Menschen weitgehend ähneln. Es können nach Durkheims
Auffassung Menschen, die sich ähnlich sind, „nicht zusammen373
Habermas 1981, S. 73
194
leben, ohne dass sich zwischen ihnen Gefühle der Sympathie
und der Liebe einstellen.“374 Durkheim bezeichnet daher die in
diesen Gesellschaften praktizierte Solidarität, d.h. das Verbundensein der Menschen in dieser Gesellschaft, als mechanisch.
Und Abels schreibt dazu: „In einer segmentären Gesellschaft
leben die Menschen in abgegrenzten Gruppen oder Clans, die
nach außen, zu anderen Gruppen, relativ wenige Beziehungen
pflegen. (…) In diesen einfachen Gesellschaften (sociétés
primitives) ist die Arbeit kaum geteilt. Im Prinzip sorgt jeder für
seinen gesamten Lebensunterhalt selbst. Die Mitglieder sind sich
im großen Ganzen ähnlich; sie stimmen in ihren Anschauungen
und religiösen Überzeugungen, die seit je zu existieren scheinen,
überein und folgen ihnen wie mechanisch.“375
In den höher entwickelten Gesellschaften ändern sich die
Beziehungen der Menschen, wofür zwei Bedingungen verantwortlich sind: Bevölkerungszunahme und soziale Verdichtung.
Die Menschen sind sich, trotz der Tatsache, dass sie räumlich
enger zusammenrücken, in sozialer Hinsicht ferner. Die relative
soziale Ferne der Individuen der höher entwickelten
Gesellschaften bedingt jedoch einen anderen Solidaritätsmodus,
denn „Ähnlichkeit steht (...) in arbeitsteiligen Gesellschaften als
Ressource der Moral immer weniger zur Verfügung.“376 Diesen
Sachverhalt zusammenfassend schreibt Luhmann: „Daraufhin
lässt sich dann formulieren, dass zunehmende Arbeitsteilung mit
zunehmender Solidarität korreliert, wobei die Form der
Solidarität von Gleichheit auf Ungleichheit umgestellt werden
muss.“377
Unterstützt durch zunehmende Kommunikationsdichte und
verbesserte Kommunikationsformen nimmt die soziale Differenzierung zu und deshalb auch die Arbeitsteilung. So schreibt
Durkheim: „Mit der Bestimmung der Hauptursache der Fortschritte der Arbeitsteilung haben wir zugleich den Hauptfaktor
dessen bestimmt, was man Zivilisation nennt. Die Zivilisation ist
selber eine notwendige Folge der Veränderungen, die im
Volumen und in der Dichte der Gesellschaft entstehen. Wenn die
374
Baurmann 1999, S. 89
Abels 2001 Bd. 1, S. 112f.
376
ebd.
377
Luhmann 1977, S. 25
375
195
Wissenschaft, die Kunst und die Wirtschaftstätigkeit sich
entwickeln, so aufgrund einer den Menschen auferlegten
Notwendigkeit; weil es für sie keine andere Möglichkeit gibt,
unter den neuen Bedingungen zu leben, denen sie ausgeliefert
sind. Von dem Augenblick an, da die Zahl der Individuen,
zwischen denen sich soziale Beziehungen ausgebildet haben,
bedeutender ist, können sie sich nur erhalten, wenn sie sich
weiter spezialisieren, mehr arbeiten und ihre Fähigkeiten
intensivieren. Aus dieser allgemeinen Anregung geht
unweigerlich ein höherer Grad der Kultur hervor.“378 Spezialisierung ist ein grundlegendes Phänomen gesellschaftlicher
Arbeitsteilung. Spezialisierung führt dazu, dass Gesellschaftsmitglieder in ihren Arbeitsprozessen zunehmend aufeinander
angewiesen sind. Soweit aus diesen Interdependenzen
ökonomische Optimierung der Arbeitsergebnisse resultiert,
werden diese sozialen Strukturen als wertvoll und erhaltenswert
erlebt. Folglich ist „es (...) eine sehr legitime Annahme, dass (...)
(sich die Gesellschaften, Anmerkung des Verfassers) nur dank
der Spezialisierung der Aufgaben im Gleichgewicht halten
können, dass die Arbeitsteilung die, wenn nicht einzige, so doch
hauptsächlichste Quelle der sozialen Solidarität ist.“379
Die aus der Arbeitsteilung erwachsende Solidarität wird von
Durkheim als organisch bezeichnet. Für diese Form der
Solidarität ist charakteristisch, dass in ihr nicht ähnliche und im
Prinzip austauschbare Menschen agieren, sondern Individuen,
die mit ihren spezifischen Fähigkeiten und Möglichkeiten dem
gesellschaftlichen Ziel dienen. So bezeichnet Abels diese Form
der Solidarität auch als „Solidarität der Individualität“.380 Und
weiter: „Organische Solidarität ist eine funktionale Solidarität.
Diese neue Form der Solidarität beinhaltet die Verpflichtung, zur
Förderung des Ganzen beizutragen.“381
Durkheims theoretische Konzeption der Arbeitsteilung liefert
somit eine Erklärung für das Entstehen gesellschaftlicher Werte.
Diese sind demnach ein Derivat der Arbeitsteilung. Die Individuen sind durch Arbeitsteilung verbunden, indem sie sich in
378
Durkheim 1893, S. 401f.
Durkheim 1893, S. 109
380
Abels 2001 Bd. 1, S. 114
381
ebd.
379
196
ihren Lebensvollzügen ergänzen, ein Umstand, der es begründet,
dass sie gegenseitig aufeinander angewiesen sind. Aus dem
Bedürfnis nach Ordnung und Harmonie und sozialer Solidarität
ergibt sich der moralische Charakter der Arbeitsteilung. So
schreibt Durkheim, dass die Arbeitsteilung „eine viel bedeutendere Rolle (spielt), als man ihr gewöhnlich zugesteht. Sie
würde nicht nur dazu dienen, unseren Gesellschaften einen
vielleicht beneidenswerten, aber überflüssigen Luxus zu
verschaffen; sie wäre vielmehr eine Bedingung ihrer Existenz.
Denn durch sie (...) würde deren Zusammenhalt gesichert; (...)
(Man kann) feststellen, dass die Arbeitsteilung (...) einen
moralischen Charakter haben muss, denn die Bedürfnisse nach
Ordnung, Harmonie und sozialer Solidarität gelten gemeinhin
als moralische.“382 Eine Komponente dieses theoretischen
Ansatzes ist das Konzept des „Kollektivbewusstseins“383, von
dem eingangs die Rede war. Abels schreibt, dass das funktionale
Handeln der Individuen in der Gesellschaft und ihren Institutionen auf der Grundlage des kollektiv geteilten Bewusstseins,
von dem, was geboten und was verboten ist, beruht. Dieses
Kollektivbewusstsein „bildet gewissermaßen die Klammer,
durch die die Individuen zusammen gehalten werden. Das
Kollektivbewusstsein als das mehr oder weniger bewusste
Einverständnis über zentrale Werte und Normen regelt das
Handeln der Menschen untereinander, ohne dass es in jeder
Situation einer expliziten Abstimmung der Gründe und Ziele des
Handelns bedürfte.“384 Es gründet auf der Kooperation der
Individuen und deren gegenseitiger Abhängigkeit. Denn, so
schreibt Durkheim, „es ist unmöglich, dass Menschen
zusammenleben und regelmäßig miteinander verkehren, ohne
schließlich ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit
ihrer Vereinigung bilden, ohne sich an dieses Ganze zu binden,
sich um dessen Interessen zu sorgen und es in ihr Verhalten
einzubeziehen. Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das
Individuum überschreitet, diese Unterordnung der Einzel-
382
Durkheim 1893, S. 110
vgl. Durkheim 1893, S. 466
384
Abels 2001, S. 130 (Bd.1)
383
197
interessen unter ein Gesamtinteresse, die eigentliche Quelle
jeder moralischen Tätigkeit.“385
Durkheim ist der Auffassung, dass das Kollektivbewusstsein nur
zum Schaden der Gesellschaft geschwächt wird, denn die
Verletzung der Kollektivgefühle hat die Desintegration der
Gesellschaft zur Folge: „Es ist unmöglich, dass die Verletzung
der grundlegendsten Kollektivgefühle geduldet würde, ohne dass
die Gesellschaft desintegrierte. Vielmehr muss sie mit Hilfe
jener besonders energischen Reaktion bekämpft werden, die den
moralischen Regeln eigen ist.“386 Es lässt sich daher meines
Erachtens feststellen, dass das Kollektivbewusstsein im Sinne
Durkheims aus der Solidarität entsteht, die wiederum eine
soziale Folge funktionierender arbeitsteiliger Prozesse ist. Und
in diesem Sinne ist das Kollektivbewusstsein die Basis, auf der
kollektive gesellschaftliche Werte gründen. Man könnte auch
sagen, dass Werte stets vor dem Hintergrund einer bestimmten
Kollektivität entstehen, und die Zugehörigkeit zu Kollektiven
beinhaltet die Reproduktion ihrer Werte.
Das Kollektivbewusstsein ist ein Bewusstsein gemeinsamer
Werte und zumeist ein Erbe der vorherigen Generation. So
schreibt Abels: „Das Kollektivbewusstsein ist ein Bewusstsein
von etwas, das unabhängig vom Willen oder der Sympathie
eines einzelnen Individuums existiert. Dieses ‚Etwas‘ ist real
schon vorhanden, bevor das Subjekt die Bühne des Lebens
betritt, und es bestimmt das Denken und Handeln des
Individuums.“387 Die moralische Implikation gesellschaftlicher
Arbeitsteilung ergibt sich aus der Pflicht zu gesellschaftlicher
Integration, sich in den gesellschaftlichen Prozess ein- und den
gesellschaftlichen Imperativen unterzuordnen. Denn wer diesen
Imperativen nicht folgt, partizipert nicht an den durch das
Kollektivbewusstsein gesetzten Handlungsoptionen, gefährdet
das Kollektiv, trägt zur gesellschaftlichen Desintegration bei.
Durkheim schreibt, dass die Gesellschaft solchem Ausscheren
begegnet und entsprechend einen „heilsamen Druck“388 zu
gelebter Konformität ausübt. Diese Hervorhebung der
385
Durkheim 1893, S. 56
Durkheim 1893, S. 467
387
Abels 2001, Bd1, S. 130f.
388
vgl. Durkheim 1893, S. 471
386
198
Kollektivität lässt in der Theorie wenig Platz für Menschen mit
ihren individuellen Regungen. Abels schreibt daher, dass
Durkheims Konzept „am Vorrang der Gesellschaft gegenüber
dem Individuum keinen Zweifel lässt.“389
Über diese „französische“ Sicht der Stellung des Individuums in
der Gesellschaft, mit den angeblichen Gestaltungsmöglichkeiten
innerhalb der strukturellen Grenzziehungen, habe ich schon
geschrieben. Über den Strukturalismus hat diese Sicht die
Habitustheorie Bourdieus beeinflusst und steht im Widerspruch
zu interpretativen Subjekttheorien.
In diesem Abschnitt habe ich darzustellen versucht, wie die in
der Soziologie bisher maßgeblichen Konzepte Identitätsbildung
in einen ausschließlichen gesellschaftlichen Kontext stellen und
das Vorhandensein von Internalisierungsmechanismen unterstellen. Ich habe diesen Ansatz eingangs als „dogmatisch“
bezeichnet, weil er in seiner Konsequenz eine „gelungene“
Identitätsbildung fordert, die nur dann vorliegt, wenn der
Standpunkt der Gesellschaft gewahrt bleibt. Die verschiedenen
Theoretiker haben diese Forderung mit den Variablen
„Vernunft“ und „Moral“ und „Natur“ (über psychoanalytische
Konstruktionen) abgesichert. Wie sich zeigt, ist in der jüngeren
Vergangenheit die theoretische Diskussion darauf gerichtet, das
Individuum auch im Hinblick auf die Bildung seiner Identität als
bewusst handelnd und gestaltend in den Vordergrund zu stellen.
Dabei treten gegensätzliche Interessen zu Tage, die der
dogmatischen Position der Vergangenheit bisher verborgen
geblieben ist. Den oben angebenen Variablen ist nämlich eine
weitere hinzuzufügen: Macht.
Zuvor möchte ich jedoch analysieren, auf welche Weise Werte
den sozialen Konstitutionsprozess von Identität beeinflussen.
Dies geschieht nämlich nicht sui generis, sondern aufgrund ihrer
Nutzung im gesellschaftlichen, das heißt institutionellen
Rahmen.
389
Abels 2001, Bd.2, S. 52
199
7.4. Institutionen
Die soziale Ontogenese bzw. Sozialisation des Menschen ist
soziologisch betrachtet ein Abstraktionsprozess, der ein
partikulares Verständnis menschlicher Interaktion mit einzelnen
Individuen (signifikanten Anderen) überwindet und in formalisierte Interaktionszusammenhänge mit vielen, auch unbekannten
Menschen übergeht, deren Ausprägung jedoch aufgrund
gemeinsam getragener Wertstrukturen weitgehend festgelegt ist
und daher bestimmte Erwartungshorizonte der sozialisierten
Gesellschaftsmitglieder bewirkt. Diese Erwartungszusammenhänge bilden das Rückgrat sozial regulierter menschlicher
Interaktionen, die als gefestigte Interaktionsstrukturen, als
Institutionen, bezeichnet werden. Mead erklärt sie folgendermaßen: „Bestehen wir auf unseren Rechten, so rufen wir
bestimmte Reaktionen hervor – eine Reaktion, die bei jedermann
ausgelöst werden sollte und vielleicht auch bei jedermann
auftritt. Nun ist diese Reaktion in unserem eigenen Wesen
gegeben; bis zu einem gewissen Grad sind wir dazu bereit, diese
gleiche Haltung gegenüber einem anderen einzunehmen, wenn
er an uns appelliert. Lösen wir diese Reaktion bei anderen aus,
so können wir die Haltung der anderen übernehmen und dann
unser eigenes Verhalten darauf abstimmen. Es gibt also solche
gemeinsame Reaktionen in der uns umgebenden Gemeinschaft,
wir bezeichnen sie als ‚Institutionen‘. Die Institution ist eine
gemeinsame Reaktion seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft
auf eine bestimmte Situation...“390 Soziologisch betrachtet sind
Institutionen soziale Konstruktionen im Sinne von Kooperationsmustern, die in ihren Verfahrensabläufen bestimmten sozial
konstituierten Regeln folgen. Diese allgemeine Definition ist auf
systematisierte und formalisierte soziale Interaktionszusammenhänge gerichtet. In der praktischen Alltagserfahrung erscheinen
Institutionen als soziale Organisationen, die das soziale Leben
der Menschen nachhaltig beeinflussen. So zählt der Anthropologe Arnold Gehlen zu den Institutionen exemplarisch „den
Staat, die Familie, die wirtschaftlichen, rechtlichen
Gewalten.“391
390
391
Mead 1934, S. 308
Gehlen 1956, S. 9
200
Berger und Luckmann haben ein wesentlich allgemeineres
Verständnis des Institutionenbegriffs. Sie erklären die Entstehung von Institutionen auf der Grundlage von Gewohnheiten:
„Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte
Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert
werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen
wird, ist eine Institution. (...) Wenn habitualisierte Handlungen
Institutionen begründen, so sind die entsprechenden
Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der
jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe erreichbar. Die Institution
ihrerseits macht aus individuellen Akteuren und individuellen
Akten Typen.“392 Es sind zwei Perspektiven in diesem Zitat
hervorzuheben: neben dem Prozess der Bildung von
Institutionen im Sinne einer gesellschaftlichen Evolution
vollzieht sich ein identitätsbildender Typisierungsprozess auf der
Ebene des Individuums. Erstere ist eine anthropologische
Perspektive, die zweite Perspektive knüpft an die Identitätsthematik an. Und wie so oft sind die Zusammenhänge nur in
ihrer Reziprozität zu verstehen, denn während sich gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Einflussmacht auf die Persönlichkeit
des Individuums weitgehend in institutionalisiertem Rahmen
manifestiert, sind es wiederum Individuen mit ihren ganz
eigentümlichen, von Institutionen geprägten Identitäten, die
gesellschaftliche Institutionen konstituieren.
Ad 1: Aus der anthropologischen Perspektive ist die Bildung von
Institutionen sowohl Folge als auch Bedingung der Evolution
der Menschheit. Gehlen geht daher davon aus, dass der Mensch
zur Sicherung seiner Überlebensfähigkeit darauf angewiesen ist,
seine Umwelt mit Hilfe der von ihm geschaffenen Institutionen
derart zu ordnen, dass er seine physiologischen Unzulänglichkeiten kompensiert. Die Institutionen „haben angesichts der
unwahrscheinlichen Plastizität, Formbarkeit und Versehrbarkeit
eines Wesens, das jeder Impuls außerhalb der Bindungen sehr
leicht deformiert, eine geradezu fundamentale Bedeutung. Alle
Stabilität bis in das Herz der Antriebe hinein, jede Dauer und
Kontinuität des Höheren im Menschen hängt zuletzt von ihnen
ab.“393 Gehlens theoretischer Ansatz liefert eine Erklärung für
392
393
Berger und Luckmann 1966, S. 58
Gehlen 1956, S. 8
201
die Notwendigkeit kognitiver Evolution: die physiologische
Unangepasstheit an Umweltbedingungen. Aus der grundlegenden Aussage vom „Mängelwesen“ des Menschen, das heißt
seiner Unangepasstheit und Unspezialisiertheit, kurz seiner
physiologischen Unzulänglichkeit im Hinblick auf die
Anforderungen der natürlichen Umwelt, leitet Gehlen die
Notwendigkeit ab, eine künstliche Umwelt zu schaffen. Zu
diesen Unzulänglichkeiten des Menschen gehört auch das
weitgehende Fehlen verhaltensleitender Instinkte. Berger und
Luckmann weisen darauf hin, dass beim Menschen anstatt eines
instinktorientierten Verhaltens ein gewohnheitsfolgendes
Handeln einsetzt, das prinzipiell eine ähnliche Funktion hat:
„Alles menschliche Tun ist dem Gesetz der Gewöhnung
unterworfen. Jede Handlung, die man häufig wiederholt,
verfestigt sich zu einem Modell, welches unter Einsparung von
Kraft reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden als
Modell aufgefasst wird. Habitualisierung in diesem Sinne
bedeutet, dass die betreffende Handlung auch in Zukunft ebenso
und mit eben der Einsparung von Kraft ausgeführt werden
kann.“394 Das gewohnheitsmäßige Handeln „befreit den
Einzelnen von der ‚Bürde der Entscheidung‘ und sorgt für
psychologische Entlastung, deren anthropologische Voraussetzung der ungerichtete Instinktapparat des Menschen ist.
Habitualisierung sorgt für eben die Richtung und Spezialisierung
des Handelns, die der biologischen Ausstattung des Menschen
fehlt, und baut auf diese Weise Spannungen ab, welche von
gerichteten Trieben kommen.“395 Institutionen bringen eine
Bedürfnisentlastung mit sich, da sie mit Hilfe des gesellschaftlichen Mechanismus der Arbeitsteilung und der damit
verbundenen Spezialisierung im Bereich der gesellschaftlichen
Arbeit zu einer permanenten Befriedigung der Bedürfnislage
beitragen können. Durch die „stationäre Erfüllung der Primärbedürfnisse und die so eintretende Affektentlastung und
Trivialisierung derselben, wenn sie ohne eigenes Handlungsrisiko der Erfüllung sicher sein können“396, gewinnen die
Menschen Handlungsfreiheit und Sicherheit. Dieser Zustand
394
Berger und Luckmann 1966, S. 56
Berger und Luckmann 1966, S. 57
396
ebd.
395
202
begründet nach Gehlens Ansicht den kulturellen Fortschritt,
denn die Freisetzung von Handlungsenergie, die Entlastung von
der tagtäglichen Mühsal der Nahrungssuche, schafft Freiräume
für die Kultivierung neuer Bedürfnisse: „Daher auch der
erstaunliche Aufschwung der Kultur, sobald Pflanzenbau und
Tierzucht den Menschen von der Nahrungssuche freisetzten, und
zwar in doppelter Richtung: zur Intensivierung der inneren
Mannigfaltigkeit der nunmehr sich spezialisierenden Arbeit und
zur Entwicklung neuer Bedürfnisse nach Dauerabsättigung der
primären.“397
Gehlen argumentiert, dass die Arbeitsteilung in der Folge der
gesellschaftlichen Prozesse, die zur Konstituierung von
Institution beitragen, die Basis für eine kulturelle Fortentwicklung ist. Diese Prozesse sind ökonomisch motiviert. Dieser
Gedanke reflektiert dieselbe Parallelität von ontogenetischer und
gesellschaftlicher Entwicklung, wie sie von Mead diskutiert
wurde. Mead hat jedoch einen Schwerpunkt auf die kognitive
Evolution des Menschen gesetzt, ohne die Voraussetzungen
dieser Entwicklung weiter zu diskutieren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der
Entwicklung menschlicher Gesellschaften ist von verschiedenen
Autoren mit jeweils unterschiedlichem Vokabular angesprochen
worden. Luhmann spricht z.B. von der „Reduktion der Varietät
des Verhaltens“398, die Institutionen bewirken. Abels spricht von
der „Produktion gesellschaftlicher Ordnung“399 im Zusammenhang mit Institutionalisierungsprozessen. Habermas schließlich
sieht die Funktion von Institutionen in der Konstituierung
„weltstabilisierender Deutungssysteme“, deren Grundfunktion
darin bestehe, „Chaos zu vermeiden, das heißt Kontingenzen
(zu) überwinden.“400 Institutionen gewinnen also eine besondere
Bedeutung, indem sie eine Stabilisierung der Formationen
menschlicher Sozialität bewirken.
Ad 2: Die Beeinflussung der Menschen in Institutionen entsteht
dadurch, dass Institutionen Verhaltensregularien vorgeben.
Habermas hat sie als „Imperative“ bezeichnet, und das Hinein397
Gehlen 1956, S. 38
vgl. Luhmann 1975, S. 31
399
vgl. Abels 1997b, S. 91
400
vgl. Habermas 1973a, S. 163
398
203
wachsen in gesellschaftliche Institutionen ist das Erkennen und
Verinnerlichen dieser Verhaltensregularien. Interessanterweise
greift Gehlen bei der Thematisierung dieser Zusammenhänge
auch auf die Konzepte Meads zurück: „Das ganze Gruppenspiel
(game) ist ein System aufeinander bezogener, an einer bestimmten Aufgabe orientierter Handlungen, wobei jede derselben sich
auf die vorweggenommenen Antworten definierter Anderer
schon einstellt. Dieses geordnete System möglicher Reaktionen
von Partnern und Gegnern wird in Form der ‚Spielregeln‘
abgehoben. Sie sind es, die das Netz von Möglichkeiten des
Verhaltens organisieren, und innerhalb dieses Netzes wird die
freie Ausnützung der Zufälle erst reizvoll.“401
Wie bereits dargestellt, dient die Situation des game der
Vorwegnahme der institutionellen Rollenzusammenhänge des
Erwachsenenlebens. Bereits in dieser Konstellation des Systems
aufeinander bezogener Handlungserwartungen im kindlichen
Gruppenspiel sind die Charakteristiken von Institutionen zu
erkennen. Es ist hier besonders typisch, dass das Gruppenspiel
eigene Regeln entwickelt, denn: „Jedes Spiel geht um eine
Sache, die allerdings innerhalb aller anderen Zusammenhänge
gleichgültig wäre. Dieser Sachverhalt ist zu realisieren, und
jedes Verhalten, das nicht im Hinblick auf ihn zweckmäßig ist,
wird verworfen. Andererseits darf der Sachverhalt nicht mit
allen Mitteln erreicht werden, sondern nur innerhalb gegenseitig
festgelegter Verhaltensformen. Die Sollgeltung der Regeln
bezieht ihre Kraft aus beiden Quellen: von der Sache her, und
von der Rücksicht auf die Mitwirkung und Gegenwirkung der
Anderen. Insofern ist das Spiel ein Kleinmodell institutionalisierter gesellschaftlicher Kooperation zu Zwecken überhaupt,
nur dass sich Affekte und Fähigkeiten ausleben können, die
beim ‚Ernst der Arbeit‘ unter Hemmung gesetzt sind.“402 Gehlen
weist also daraufhin, dass es geradezu typisch für eine Institution
ist, dass Regeln aufgestellt werden und das Gesollte definiert
wird. Dies gilt auch dann, wenn die Institution so temporär wie
ein Gruppenspiel ist. Ihre Existenz basiert auf diesen Sollgeltungen und diese manifestieren sich letztlich in konkreten
Verhaltenserwartungen mit der negativ definierten Möglichkeit
401
402
Gehlen 1956, S. 42
ebd.
204
zur Abweichung. Nur im Rahmen der Institution ist es möglich
(wenn überhaupt), leiblich definierte Verhaltensdispositionen,
institutionell gefiltert, in legitimes Handeln zu transformieren.
Gehlen nähert sich dem Problem der Internalisierung aus seiner
anthropologischen Sicht mit dem Hinweis, dass alle Sozialformen auf sekundäre Weise „den primär versagten Automatismus des Verhaltens gestatten“403, denn: „Alles gesellschaftliche Handeln wird nur durch Institutionen hindurch
effektiv, auf Dauer gestellt, normierbar, quasi-automatisch und
voraussehbar.“404 Und nur in diesem Rahmen darf das
Individuum seine Bedürfnisse verwirklichen.
Die psychologische Entlastung, von der Gehlen spricht, von der
auch Berger und Luckmann als „Einsparung von Kraft“ bei der
Reproduktion menschlichen Modellhandelns sprechen, hat
jedoch ihren Preis, denn alle Mitglieder der Institution haben
sich nach den allgemeinen Verhaltensanforderungen der
Institution zu richten, von ihnen wird ein individueller Beitrag
erwartet, dessen Eigenart arbeitsteilig determiniert ist.
7.5. Institutionen und Unterdrückung
Bergers und Luckmanns Erklärung für das Entstehen von Institutionen auf der Grundlage gesellschaftlicher Arbeitsteilung
beinhaltet die elementare Orientierung an den Handlungsperspektiven der Individuen und verortet die Entstehung und
Existenz gesellschaftlicher Institutionen im Handlungskontext
der Menschen im Sinne eines menschlichen Produktes, das auch
ständigen Modifikationen unterliegt. Wie bereits erwähnt,
beziehen sich Berger und Luckmann aus heuristischen Gründen
auf die elementarste Form menschlicher Gesellschaftlichkeit, die
Situation, dass zwei menschliche Individuen von Grund auf ein
Zusammenleben organisieren müssen, und zwar in einer kulturell völlig unbeeinflussten Umgebung. Berger und Luckmann
gehen davon aus, dass bereits in dieser elementaren Situation das
Konzept der Arbeitsteilung wirkt, das heißt, dass die Individuen,
je nach ihrem Vermögen, je nach ihrer Position in der Dyade in
unterschiedlicher Weise zu der Entwicklung ihres Zusammenlebens beitragen. So haben es auch Robinson und Freitag getan.
403
404
Gehlen 1956, S. 47
Gehlen 1956, S. 48
205
Berger und Luckmann beschreiben, wie aus einer anfänglich,
nur als Übereinkommen zweier Personen entstandene
Verfahrensweise, die sich im alltäglichen Geschehen bewährt
hat, eine Gewohnheit wird. Diese wird dann zur Institution,
wenn sie, unabhängig von ihren Schöpfern, die aus dieser
gewohnheitsmäßigen Handlung noch einen unmittelbaren
Nutzen ziehen konnten, auch für andere Individuen, etwa ihre
Kinder und Enkel, handlungsleitend wird. Da der unmittelbare
Zweck einer institutionellen Regelung für die nachfolgenden
Generationen nicht erkennbar ist, die institutionelle Regelung
gegebenenfalls sogar für das einzelne Individuum nachteilig ist,
nämlich da, wo sie ein Verbot beinhaltet oder eine Privilegierung einer anderen Gruppe, der das Individuum nicht
angehört, bedürfen die Institutionen einer zusätzlichen Legitimierung und auch eines Sanktionsapparates zur Gewährleistung
ihrer Durchsetzung. So schreiben Berger und Luckmann: „Auch
die Entwicklung besonderer Kontrollmechanismen wird nötig,
wenn Institutionen Geschichtlichkeit und Gegenständlichkeit
gewonnen haben. Sobald sie nämlich dadurch Wirklichkeit
geworden sind, entsteht auch schon die Möglichkeit der
Abweichung von den institutionell ‚programmierten‘
Handlungsabläufen, die sich von der konkreten Relevanz ihres
Ursprungs abgelöst haben. Um das einfacher zu sagen: man
weicht eher von Programmen ab, die einem andere aufgestellt
haben, als von solchen, an deren Aufstellung man selbst beteiligt
war. Mit der neuen Generation erhebt sich das Problem ihrer
Willfährigkeit, und ihre Einfügung in die soziale Ordnung macht
Sanktionen notwendig. Die Institutionen stellen dem Individuum
gegenüber den Anspruch auf Autorität und müssen ihn stellen,
ungeachtet des subjektiv gemeinten Sinnes, den der Einzelne mit
einer Situation verbindet.“405 Der Zweck, den eine Institution
verfolgt, ist oft den ursprünglichen und leiblich definierten
Impulsen des Individuums entgegengerichtet. Oft kann es auch
sein, dass institutionelle Regelungen als ungerecht oder diskriminierend empfunden werden, was typisch für die Außenseiterthematik dieser Arbeit erscheint. Denn was sich ursprünglich, im
Rahmen des direkten Praxisbezuges bewährte, da wo Gewohn405
Berger und Luckmann 1966, S. 66f.
206
heiten zur Vereinfachung des Alltags beitrugen, verselbständigt
sich und gewinnt eine Rechtfertigung aus sich heraus. Dann
generieren Institutionen aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeit
jeweils eigene „Sollgeltungen“ des Handelns ihrer Mitglieder.
Gehlen schreibt, dass „je ganz konkrete Einstellungen,
Gesinnungen, Handlungsarten und Sachbereiche (...) jeweils von
innen und außen her als verpflichtend erlebt (werden), und dies
ist eine Funktion der Institutionen selbst.“406 Nicht immer folgen
diese Verpflichtungen einer rational nachvollziehbaren Begründung, bzw. dienen einer Optimierung des institutionellen
Prozesses im Interesse der Menschen, die den Institutionen
verbunden sind. Hier wird die zwiespältige Bedeutung des
Institutionenprozesses deutlich, denn einerseits ist ihre gesellschaftliche Funktion hervorzuheben: Institutionen induzieren
aufgrund ihrer allgemeinen Entlastungsfunktion den gesellschaftlichen Fortschritt. Sie entlasten die Gesellschaftsmitglieder
aufgrund arbeitsteiliger Handlungsstrukturen von basalen
Handlungserfordernissen. Andererseits verlangen sie von den
ihnen unterstehenden Mitgliedern eine Disziplin, eine
Bereitschaft des sich Unterordnens und Anpassens an die aus
dem Zweck der Institutionen ableitbaren Sollgeltungen und nicht
nur diesen allein. Auf diese Art entwickeln sie eine machtvolle
Bedeutung für den gesamten gesellschaftlichen Prozess und auch
einen gewaltigen Einfluss auf das Denken und Handeln der in
ihnen agierenden Mitglieder. Die Zielsetzung, die die Institution
leitet und zu konkreten Handlungserwartungen gerinnt, tritt dem
Individuum in ihrer objektiven Faktizität gegenüber, und das
Individuum kommt nur in den Genuss der Vorzüge der
Institution, wenn es sich ihren Regeln unterordnet. In manchen
Fällen haben Institutionen jedoch die Funktion, die ihnen
untergeordneten Menschen zu unterdrücken und zu demütigen.
406
Gehlen 1956, S. 41
207
7.6. Institutionen und Identität
Einerseits bewirkt der gesellschaftliche Fortschritt die
allmähliche Ausdifferenzierung der sozialen Positionen, und die
auf diese Art arbeitsteilig organisierten Gesellschaften
konstituieren klar definierte Interaktionszusammenhänge, die
sich aufgrund von Gewohnheit und ökonomischer Bewährung
festigen. Andererseits werden die Mitglieder der Gesellschaft in
diesen Institutionen sozialisiert und zwar auf der Grundlage der
institutionell vorgegebenen Interaktionsstrukturen. Diese
erscheinen objektiv und unantastbar und erzeugen, da sie
allgemeinverbindlich sind, ein Kollektivbewusstsein, dessen
Wahrung und Reproduktion durch das Individuum moralisch
hoch bewertet ist. Göhler schreibt daher: „Soziale Institutionen
sind relativ auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinngebilde mit regulierender und
orientierender Funktion.“ Das Kennzeichnende an Institutionen
ist „ihre Stabilität und, daraus folgend, ihre stabilisierende
Wirkung.“ Diese entfalten sie, „weil sie dem menschlichen
Zusammenleben über die Situationsbedingtheit hinaus eine Form
geben, die die Handlungen der anderen bis zu einem gewissen
Grade erwartbar und in den Gemeinsamkeiten erkennbar
macht.“407 Sozialisationsprozesse induzieren die Verinnerlichung
gesellschaftlicher Werte, was wiederum, so lehren es alle
Identitätstheorien, zu einer festen Handlungsorientierung führt.
So möchte ich diesen Abschnitt zunächst abschließen mit einem
neuerlichen Zitat Göhlers, welches als eine Zusammenfassung
meiner bisherigen Überlegungen aufgefasst werden kann: „Die
Bürger finden ihre gemeinsame Identität in einem jeweils
situativ aktualisierten geistigen Zusammenhang, der ebenso
wohl rational wie emotional und affektiv bestimmt ist. Das ist
das ‚Werterlebnis‘, welches erst die geistigen Zusammenhänge
herstellt, aus denen soziale Gemeinschaften bestehen; dieses
Werterlebnis bewirkt politische Integration und konstituiert
somit erst eine politische Einheit. In den politischen Institutionen
ist es, soweit überhaupt möglich, auf Dauer gestellt.“408
Menschen, die Institutionen angehören, markieren ihre Zugehörigkeit aufgrund der Reproduktion der die Institution
407
408
Göhler 1997 S. 15
Göhler 1997, S. 35
208
tragenden Wertstrukturen. In dem Ausmaß ihrer Autonomie
drückt sich auch ihr Verhältnis zur Macht aus: die über ökonomisches und kulturelles Kapital Verfügenden, die Herrschenden,
haben sogar die Macht, identitätsprägende Wertsetzungen für
andere vorzunehmen. Dies geschieht am anschaulichsten in
politischen Institutionen.
209
8. Macht
Hinsichtlich des von Durkheim geprägten Begriffes des
Kollektivbewusstseins schreibt Abels, dass es sich dabei um
„festliegendes ‚Wissen‘ über gesellschaftliche Erscheinungen
und Beziehungen zwischen Individuen in einer konkreten
Gesellschaft“ handelt.“409 Dieses Bewusstsein als Folge von
Prozessen der Verinnerlichung gesellschaftlicher Sollgeltungen
produziert letztlich einen Zustand gesellschaftlicher Ordnung.
Das Kollektivbewusstsein (oder auch der „generalisierte
Andere“ nach der Theorie Meads) ist als Resultat gesellschaftlicher Sozialisationsprozesse sowohl ontogenetisch als auch
phylogenetisch bedeutsam: es beinhaltet die aktive Reproduktion
und Bejahung gesellschaftlicher Sollgeltungen. Es ist, ich
wiederhole es an dieser Stelle, für die Entstehung moralischer
Strukturen verantwortlich. Diese wiederum sind Grundlage und
Folge für Institutionalisierungen, wenn sie nicht selbst
Institutionen sind. So schreibt Gehlen: „Diese je ganz konkreten
Einstellungen, Gesinnungen, Handlungsarten und Sachbereiche
werden jeweils von innen und außen her als verpflichtend erlebt,
und dies ist eine Funktion der Institutionen selbst.“410 Sie
determinieren die Handlungsorientierungen der Gesellschaftsmitglieder, da die Möglichkeit sozialer Sanktionen in ihrem
Kontext steht. Und selbst wenn diese Sanktionen nicht in
manifester äußerer Form zum Tragen kommen, bewirkt die
Internalisierung gesellschaftlicher Sollgeltungen als Folge der
Sozialisation, dass Institutionen ihren sozialen Einfluss behalten,
selbst wenn dies keine äußere Sanktionsmacht permanent
gewährleistet. Damit einhergehend zeigt sich eine Festigung
sowohl der Gesamtgesellschaft als auch der individuellen
Persönlichkeit.
Berger und Luckmann sind auf diesen theoretischen Zusammenhang der Bedeutung von Institutionen eingegangen: „Durch die
bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen
menschliches Verhalten unter Kontrolle. Sie stellen Verhaltensmuster auf, welche es in eine Richtung lenken, ohne ‚Rücksicht‘
auf die Richtungen, die theoretisch möglich wären. Dieser
Kontrollcharakter ist der Institutionalisierung als solcher eigen.
409
410
Abels 1997b, S. 86
Gehlen 1956, S. 41
210
Er hat Priorität vor und ist unabhängig von irgendwelchen
Zwangsmaßnahmen, die eigens zur Stütze einer Institution
eingesetzt werden oder worden sind. (...) Die primäre soziale
Kontrolle ergibt sich (...) durch die Existenz von Institutionen
überhaupt. Wenn ein Bereich menschlicher Tätigkeit
institutionalisiert ist, so bedeutet das eo ipso, dass er unter
sozialer Kontrolle steht. Zusätzliche Kontrollmaßnahmen sind
nur erforderlich, sofern die Institutionalisierungsvorgänge selbst
zum eigenen Erfolg nicht ganz ausreichen.“411
Die Kontrolle der Gesellschaftsmitglieder aufgrund von
Institutionen, die als von außen induzierte Reduktion individueller Handlungsoptionen der Individuen erscheint, die jedoch
auch bei den sozialisierten Individuen als internalisierte
Identitätskomponente das Handeln des Individuums beeinflusst,
dient der Verwirklichung gesellschaftlicher Werte. Habermas hat
diesen Gedanken, in Rezeption der Meadschen Sozialisationstheorie aufgegriffen und dabei folgendes angemerkt: „Die
Autorität des ‚verallgemeinerten Anderen‘ unterscheidet sich
von einer allein auf die Verfügung über Sanktionsmittel
gestützten Autorität dadurch, dass sie auf Zustimmung beruht.
Sobald A die Gruppensanktionen als seine eigenen von ihm
selbst gegen sich gerichteten Sanktionen betrachtet, muss er
seine Zustimmung zu der Norm, deren Verletzung er auf diese
Weise ahndet, voraussetzen. Anders als sozial verallgemeinerte
Imperative besitzen Institutionen eine Geltung, die auf die
intersubjektive Anerkennung, auf die Zustimmung der
Betroffenen zurückgeht.“412
Da die äußere Kontrolle, die die Institutionen ihren Mitgliedern
„antun“, zumeist von jenen als beeinträchtigend, unwillkommen
empfunden wird, bedarf sie zu ihrer Implementierung entweder
der Bereitschaft der Gesellschaftsmitglieder, ihre Existenz zu
akzeptieren, oder besonderer Machtmittel. Die Institutionen, die
dies in besonderer Weise leisten, sind politische Institutionen.
Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Macht im Verhältnis zu
den Adressaten ihres Funktionszusammenhanges ausüben.
Macht bedeutet „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durch411
412
Berger und Luckmann 1966, S. 58f.
Habermas 1981, S. 63
211
zusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“413 Macht kann
zwischen Individuen und Gruppen auftreten. In den Fällen, in
denen Macht institutionalisiert ist, wandelt sie sich zu Herrschaft. Der Herrschaftsbegriff wird von Weber auch definiert,
und zwar als die „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts
bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“414 Die Ausübung
von Macht im Rahmen bestimmter Herrschaftsverhältnisse
gründet auf den Werten und Normen, die die Herrschenden mit
den Beherrschten gemeinsam haben, da sie letztlich an das
Vorhandensein gesellschaftlicher Strukturen geknüpft ist. Somit
kann die Ausübung von Macht im Rahmen bestimmter Herrschaftsverhältnisse von den Beherrschten als legitim angesehen
werden. Berthold formuliert daher folgenden Zusammenhang:
„Aus Webers Definition ergibt sich, dass Herrschaft eine
gegenseitige Willensbeziehung ist, die das Befehlenwollen des
Herrn ebenso einschließt wie das Gehorchenwollen der
Beherrschten. Herrschaft kann mit anderen Worten auch als eine
Machtchance definiert werden, die durch ein relativ hohes Maß
an Erwartungssicherheit in Bezug auf den Gehorsam eines
angebbaren Kreises von Personen spezifiziert ist.“415 Ich möchte
anfügen, dass das Maß des Gehorchenwollens der Beherrschten
in einem Verhältnis der Konvergenz zu dem Maß des
Legitimitätserlebens der Beherrschten steht. Herrschaft, die auf
Legitimität gründet, kann weitgehend darauf verzichten, zum
Zwecke ihrer Absicherung Gewaltmittel zu benutzen. Es ist
gerade ein wesentlicher Zug institutionalisierter Herrschaftsverhältnisse, dass sie in der Regel auf den Einsatz von Machtmitteln verzichten können, da ihr Machtanspruch aufgrund der
Sozialisationswirkungen auf die Gesellschaftsmitglieder a priori
unangefochten erscheint. Wenn keine allzu krassen Ungerechtigkeiten existieren, und wenn die Gesellschaftsmitglieder keine
materielle Not erleben, sind die Machtstrukturen relativ gut
abgesichert. Die Erfahrung der Legitimität wird insbesondere
gestützt, wenn die Herrschaft durch eine Rationalität des
Verhältnisses von Herrschenden zu Beherrschten gekennzeichnet ist und damit eine Berechenbarkeit der Interaktions413
Weber 1922, S. 28f.
ebd.
415
Berthold 1997, S. 350f.
414
212
zusammenhänge, etwa wie in einem Rechtsstaat, begründet oder,
wie Luhmann sagt, eine Reduktion der Kontingenzen der
gesellschaftlichen Verhältnisse zeitigt. Dies gilt selbst dann,
wenn die als legitim erlebten Herrschaftszusammenhänge aus
den Gesichtspunkten einer „objektiven Moral“ (wenn es sie dann
wirklich gäbe) als angreifbar erscheinen.
Webers Machttheorie steht in einem scheinbaren Gegensatz zur
Machttheorie von Hannah Arendt. Macht ist für Arendt die
„menschliche Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun,
sondern sich mit anderen zusammen zu schließen und im
Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“416 Im Gegensatz zu dem
Weberschen Ansatz, der ein individuelles, „transitives“417
Machtverständnis impliziert, begreift Arendt Macht als eine
soziale Konstruktion, als etwas, „das sich immer nur im Besitz
der Gruppe befindet“418 und aus diesem Umstand letztlich seine
Legitimität bezieht. Da dieses Machtkonzept selbstbezüglich ist,
das heißt davon ausgeht, dass die Herrschenden gleichzeitig die
Beherrschten sind und einzeln agierende Machthaber von der
Gruppe lediglich ermächtigt wurden, wird von der politischen
Soziologie als „intransitiv“ bezeichnet. Diese Machtkonzept
konvergiert mit dem Konzept legitimer Herrschaft im Sinne
Webers.
In beider Gegensatz steht die Willkür und Gewalt im Rahmen
von Herrschaftsverhältnissen, die von ihren Objekten als
illegitim erlebt werden. Illegitime Herrschaft ist somit prekär,
weil es dem Herrschenden an Autorität mangelt. In diesem Fall
kann die Chance zur Gehorsamsbereitschaft auf Gewalt beruhen.
Den Gewaltbegriff benutzt auch Hannah Arendt, um das
Gegenteil von legitimer Herrschaft und Macht zu explizieren.
Ihre Differenzierung lautet wie folgt: „Politisch gesprochen
genügt es nicht zu sagen, dass Macht und Gewalt nicht dasselbe
sind. Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut
herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den
Plan, wo Macht in Gefahr ist; überlässt man sie den ihr
416
Arendt 1970, S. 45
hierbei beziehe ich mich auf die Ausführungen von Speth und Buchstein in Göhler
1997: „Transitiv ist eine Machtbeziehung dann, wenn bei ihr zwischen einem Akteur und
einem Adressaten unterschieden werden kann, also wenn es ein feststellbares Subjekt gibt,
das Macht auf einen anderen Akteur als Objekt ausübt.“ (S. 225 a.a.O)
418
Berthold 1997, S. 351
417
213
innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende,
das Verschwinden von Macht.“419 Mit Webers Terminologie
lässt sich dieser Zusammenhang mit dem Schwinden von
Legitimität und Autorität und dem zunehmenden Einsatz von
Gewaltmitteln zur Herbeiführung des „Gehorchenwollens“
durch die Beherrschten erklären.
Die soziologische Konzeption legitimer Herrschaft à la Weber
und die Machtkonzeption à la Arendt bedeutet keinesfalls die
Unmöglichkeit der Ausgrenzung von Individuen, also das
gesellschaftliche Außenseitertum. Im Unterschied zu illegitimen
Herrschaftsformen (Macht, die nicht auf Autorität beruht
(Weber)) und Gewalt (Arendt) kann es auch unter der
Bedingung von Herrschaft (Weber) und Macht (Arendt)
Ausgrenzung und Stigmatisierung geben. So schreibt Berthold:
„Macht kann durchaus auch Gewalt hervorbringen und sich ihrer
bedienen. Die Gewalt wird dann aber von einer Autorität
ausgeübt, hinter der die Bürger stehen.“420 Fraglich bleibt in
diesem Zusammenhang nur, wie Machtverhältnisse ihre
Zustimmung sichern können, obwohl sie unter Umständen zu
Diskriminierung und (subjektiv empfundenen) Unrecht führen
kann.
8.1. Die Macht der Symbole (P. Bourdieu)
Bourdieu hat in seinem Werk die Frage nach der Legitimität
gesellschaftlicher Macht gestellt. Dem gesellschaftlichen Phänomen der Macht hat er sich in analytischer Weise genähert und sie
zunächst mit seiner Unterscheidung der gesellschaftlich relevanten Kapitalien (ökonomisches, kulturelles und soziales
Kapital) genauer beschrieben. Diese Kapitalformen sind
gleichsam das Substrat, aus dem Macht entstehen kann. Ihnen
gemeinsam ist jedoch, dass sie, um wirksam zu werden, in
symbolisches Kapital transformiert werden müssen. Erst in der
Form des symbolischen Kapitals können die anderen drei
Kapitalarten von der sozialen Umwelt wahrgenommen werden.
Dazu zählen beispielsweise im Fall des ökonomischen Kapitals
bestimmte Insignien eines privilegierten Lebensstils, im Fall des
kulturellen Kapitals der Nachweis von Bildungspatenten, im Fall
419
420
Arendt 1970, S. 57
Berthold 1997, S. 352
214
des sozialen Kapitals der Nachweis des Besitzes wertvoller
sozialer Beziehungen und Mitgliedschaften. Schwingel hebt
daher hervor, dass legitime gesellschaftliche Anerkennung und
Wertschätzung ein symbolisches Kapital darstellt. Nebenbei
lässt sich daraus ableiten, dass der Besitz symbolischen Kapitals
eine Teilhabe an gesellschaftlichen Wertsystemen voraussetzt;
und gesellschaftliche Außenseiter, die gegen bestimmte
Wertdispositionen verstoßen, sind genau diejenigen, die in der
Tendenz über geringes symbolisches Kapital verfügen.
Die Konstitutionsbedingungen symbolischen Kapitals sind nicht
im Zusammenhang mit der Knappheitsbedingung zu sehen, die
für andere Kapitalsorten maßgeblich ist: „Vielmehr gehorcht das
symbolische Kapital einer Logik der Hervorhebung und
Anerkennung.“421
Bourdieus Theorie ist eine Theorie der sozialen Kämpfe, und
wenn die Kämpfe um ökonomisches, kulturelles und soziales
Kapital stets mit der Zielsetzung geführt werden, den Besitz an
der jeweils erwünschten Kapitalsorte zu vermehren, geht es bei
den Kämpfen im Zusammenhang mit dem Besitz symbolischen
Kapitals darum, „wer die Benennungsmacht innehat und damit
eine neue Weltsicht schaffen kann, denn diese Perspektivsetzung
bestimmt zugleich den Boden der Auseinandersetzung, auf dem
konkurrierende Sinnstiftungen operieren müssen. Das
strategische Handeln der sozialen Gruppe vollzieht sich um
hierarchische Positionen im Sozialsystem, um Anerkennung und
um gesellschaftliche Ehre.“422 Um eine bestimmte dominierende
Sinngebung durchsetzen zu können, bedarf es des Besitzes einer
oder mehrerer gesellschaftlich relevanter Kapitalien, die sich
jedoch nur dann zu einem herrschaftbegründenden gesellschaftlichen Faktor wandeln können, wenn sie Anerkennung finden.
So schreibt Speth: „Das symbolische Kapital ist ökonomisches
oder kulturelles Kapital, sobald es ‚anerkannt‘ und ‚erkannt‘ ist.
(...) Dieses erworbene und anerkannte Kapital kann sich als
Macht realisieren, wenn es Konstitutionsakte vollzieht.“423 Diese
symbolischen Konstitutionsakte resultieren aus den Prozessen
der Bewertung bestimmter Eigenschaften von Gruppen oder
421
Schwingel 1995, S. 88
Speth 1997, S. 336
423
Speth 1997, S. 340
422
215
Individuen, die darauf gerichtet sind, deren Kapitalbesitz so zu
transformieren, dass die Durchsetzung oder Wahrung der
Interessen in der Folge gesellschaftlicher Legitimationsprozesse
gewährleistet ist. Diese Erkenntnis liegt der Marxschen
Revolutionsidee zugrunde, wonach die Nicht-Besitzenden, das
Proletariat, die Macht nicht gewinnen, solange „sich das
Proletariat seiner Lage nicht bewusst wird, (denn solange,
Anmerkung des Verfassers) ist es nur eine ‚Klasse an sich‘. Es
wird sich der Tatsache nicht inne, dass das Prinzip der
ungleichen Verfügung über die Produktionsmittel nicht nur
Besitzer und Nichtbesitzer gegenüberstellt, sondern dass es
Interessen gegenüberstellt, die in scharfem Gegensatz zueinander stehen. Erst wenn es sich der damit gegebenen
Verelendung und Unterdrückung bewusst wird und sich
solidarisiert, wird es zur ‚Klasse für sich‘, erhebt sich und stürzt
in einem revolutionären Klassenkampf die Verhältnisse um.“424
Um diese Überlegungen zu ergänzen, ist noch anzumerken, dass
das Proletariat, als Prototyp der Beherrschten, potentieller
Besitzer ökonomischen Kapitals ist; seine maßgebliche und im
Wirtschaftsprozess unverzichtbare Ressource ist seine Arbeitskraft425. Dieses ökonomische Kapital an sich ist jedoch bei der
Durchsetzung spezifischer Interessen vergleichsweise wirkungslos, wenn es nicht auf einer anderen Ebene, einer symbolischen,
seine Repräsentation findet. Schwingel schreibt daher: „Die –
sozialstrukturell bedingten – Schwierigkeiten, mit denen die
beherrschten Gruppen und Klassen konfrontiert sind in ihrem
Versuch, sich selbst öffentlich bemerkbar zu machen, der
normativen Kraft des Faktischen entgegenzutreten426 und den
Zirkel der (symbolischen) Reproduktion zu durchbrechen, sind
in erster Linie darauf zurückzuführen, dass ihnen hierzu nicht
nur die materiellen, sondern ebenso die symbolisch-kulturellen
Mittel fehlen. Dies hat zur Folge, dass die dominierten Klassen,
um einen politisch effektiven Kampf führen zu können, auf
Verbündete angewiesen sind, die ihnen die notwendigen
(symbolischen) Mittel zur Durchsetzung einer Weltsicht (und
424
Abels 2001, Band 1, S. 271
im Rahmen der Globalisierung ist der Wert der Arbeitskraft jedoch gesunken.
426
hier ist wohl gemeint, dass die Beherrschten in ihrer aktuellen Situation sich (noch)
nach den normativen Vorgaben der Herrschenden richten müssen.
425
216
also zur Artikulation bisher unausgesprochener Interessen) zur
Verfügung stellen, die sich von der eingelebten, die symbolischen (und folglich materiellen) Verhältnisse stabilisierenden
Sicht grundlegend unterscheidet.“427 In der Theorie Bourdieus
sind diese Verbündeten die Intellektuellen, die als Inhaber
kulturellen Kapitals zwar auch zu den Herrschenden gehören,
aber innerhalb dieser Gruppe als „beherrschte Herrschende“
wiederum ein Interesse an der Überwindung bestehender
Herrschaftsverhältnisse haben können.
Potentiell vorhandene Machtstrukturen erhalten mit Hilfe
symbolischen Kapitals die Möglichkeit, sich zu entfalten, und
den Glanz der Legitimität. So schreibt Schwingel in Rezeption
der Theorie Bourdieus: „Die symbolische Macht zeitigt (...)
einen Legitimierungs- und Verklärungseffekt, der (...) faktische
Privilegien garantiert. (...) Die Eigenwirkung von symbolischer
Macht besteht also, allgemein gesprochen, darin, dass sie einer
beliebigen (ökonomischen, kulturellen oder sonstigen) objektiven Macht eine spezifische (...) Anerkennung verschafft, indem
sie die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse mittels symbolischer Transfigurationsstrategien zu ‚natürlichen‘ Verhältnissen
verklärt und sie so in ihrer Kontingenz, soll heißen: Willkür,
unkenntlich macht.“428 Und weiter: „Symbolische Macht (...)
verschleiert die gesellschaftliche Bedingtheit (der symbolischen
Verhältnisse, Anmerkung des Verfassers) und macht dadurch
(besonders, wenn auch nicht ausschließlich: die Beherrschten)
vergessen, dass die betreffende Ordnung veränderbar ist.“429
Hier erkenne ich eine theoretische Schwäche des Arendtschen
Machtkonzeptes: die Zustimmung der Machtobjekte allein kann
Machtausübung meines Erachtens nicht generell legitimieren
bzw. amnestieren. Unrecht, also „Gewalt“ im Sinne Arendts,
kann auch dann vorliegen, wenn die Machtobjekte nicht die
geringste Bereitschaft aufweisen, die Machtverhältnisse zu
verändern, wenn sie also durchaus mit vorwaltenden Wertdispositionen der Gesellschaft, in der sie leben, einverstanden sind.
Die legitimierende Kraft des Symbolischen ist eine erstaunliche
Ordnungsqualität menschlicher Gesellschaft. Sie wirkt sich
427
Schwingel 1993, S. 157
Schwingel 1993, S. 105
429
Schwingel 1993, S. 106
428
217
selbst dann aus, wenn (legitime) Machtzustände bzw.
Herrschaftsverhältnisse dazu führen, dass einzelne Individuen
bzw. Gruppen unter den jeweiligen Ordnungsverhältnissen zu
leiden haben, ja sogar bereitwillig und klaglos leiden, weil sie
den maßgeblichen Herrschafts- bzw. Machtverhältnissen ein
Gehorchenwollen und Einverständnis entgegenbringen, das ihre
Lage letztlich untermauert.
8.2. Die symbolisch erzeugte Legitimität von Ausgrenzung
Im Folgenden nehme ich Bezug auf eine Studie von Elias und
Scotson, die die Beobachtungen und die daraus resultierenden
Schlüsse über das Zusammenleben in einer kleinen englischen
Gemeinde referiert, deren Besonderheit es war, dass sie aus zwei
Teilen bestand. Der eine, ältere Teil der Gemeinde („Dorf“), war
historisch gewachsen und mit einer homogenen Bevölkerungsstruktur, deren Angehörige seit mehreren Generationen in Folge
in diesem Ort lebten, ausgestattet. Sie besaßen die sozialen
Schlüsselpositionen in der Kommunalpolitik, im kirchlichen
Leben, im kulturellen und Vereinsleben. Der andere Teil des
Ortes („Siedlung“) entstand in der Zeit nach dem Krieg.
Aufgrund der Ansiedlung neuer Fabriken sind viele Menschen
aus größeren Städten hierher gezogen. Diese Gruppe war sehr
heterogen und hatte nach Elias’ und Scotsons Beobachtung
keinerlei Teilhabe an den sozialen und kulturellen Aktivitäten in
dem Ort. Elias und Scotson konnten bei ihren Untersuchungen
feststellen, dass die Gruppe der etablierten Dorfbewohner die
Reihe gegen die Zugewanderten schlossen und deren Mitglieder
als Menschen geringeren Wertes stigmatisierten.
Elias und Scotson führen aus, dass privilegierte Gruppen, die
mehr Macht als andere Gruppen besitzen, eine besondere
Einstellung zu sich selbst entwickeln, derzufolge sie glauben,
gegenüber der unterlegenen Gruppe in besonderer Weise
ausgezeichnet zu sein, ein „Charisma“ zu besitzen. Und „in all
diesen Fällen können die Machtstärkeren die Machtschwächeren
selbst immer wieder zu der Überzeugung bringen, dass ihnen die
Begnadung fehle, dass sie schimpfliche, minderwertige
Menschen seien.“430
430
Elias u. Scotson 1965, S. 8
218
Elias und Scotson beziehen sich auf Freuds psychoanalytische
Theorie, um das Phänomen des Gruppencharisma zu erklären. In
Abwandlung der sozialisationstheoretischen Aussagen Freuds,
die sich auf die Konstituierung der seelischen Instanzen „Ich“,
„Überich“ und ,,Ich-Ideal“ beziehen, postulieren Elias und
Scotson ein „Wir-Bild“ und ein „Wir-Ideal“ als Teil des
Selbstbildes.431 Kollektive Phantasien können das Selbstbild des
Menschen entscheidend prägen. Elias und Scotson verweisen in
diesem Zusammenhang auf die Einstellung der Angehörigen
ehemals ,,großer Nationen“, die noch einen Teil ihres
Selbstwertgefühls aus der Nostalgie an die früheren Zustände
ihrer Gesellschaft beziehen. Im Ergebnis folgt daraus die
Gleichsetzung von Zugehörigkeit zu einer Nation oder einem
Volk mit einem höheren menschlichen Wert.
Die Sozialstruktur des Ortes Winston Parva ist von einer
zunächst unbegreiflichen Tatsache geprägt: obwohl sich die
Bewohner der beiden Hälften der Ortschaft eigentlich überhaupt
nicht voneinander in besonderer Weise unterschieden, waren sie
dennoch Privilegierte und Außenseiter. So gab es keine
Unterschiede der Rasse oder Hautfarbe. Auch unterschieden sich
die Menschen nicht nach Maßgabe ihrer ethnischen Zugehörigkeit und Nationalität. Sie unterschieden sich auch nicht nach
Maßgabe sozialer Parameter, wie z.B. Beruf, Einkommen,
Bildung und Wohnverhältnisse. Im Grunde waren sie alle kleine
Leute, die ihr Einkommen mit gewerblicher Arbeit in der ortsansässigen Industrie erzielten. Elias und Scotson stellen daher
fest: ,,Als einziger Unterschied blieb, dass die Bewohner des
einen Bezirks Alteingesessene waren, die seit zwei oder drei
Generationen in der Nachbarschaft lebten, und die des anderen
waren Neuankömmlinge.“432 Nach Elias’ und Scotsons Deutung
dieser Verhältnisse beruhen Machtdifferentiale allein auf dem
unterschiedlichen Organisationsgrad der Gruppen. Die ältere
Gruppe hatte ein höheres Kohäsionspotential, das es ihr ermöglichte, die Angehörigen der jüngeren Gruppe von bestimmten
zentralen Positionen fern zu halten. Elias und Scotson weisen
darauf hin, dass wesentlich für Stigmatisierungsprozesse, die
Gruppen einander antun, nicht die Persönlichkeitsstruktur
431
432
vgl. Elias u. Scotson 1965, S. 43f.
Elias u. Scotson 1965, S. 10
219
einzelner Individuen ist; maßgeblich ist vielmehr die „Figuration“ der betroffenen Gruppen und die diesem Verhältnis inhärente asymmetrische Machtbalance. Diese ist der entscheidende
Faktor, der einer Etabliertengruppe die effektive Stigmatisierung
einer Außenseitergruppe ermöglicht. So schreiben Elias und
Scotson: ,,Ungehemmte Verachtung, einseitige Brandmarkung
von Außenseitern ohne Chance einer Gegenwehr, wie sie etwa
für das Verhältnis der höheren Kasten in Indien zu den
,Unberührbaren’ oder für das weißer Amerikaner zu afrikanischen Sklaven und deren Abkömmlingen charakteristisch war,
verweist auf ein sehr stabiles Machtgefälle.“433
Das Verhältnis der Etabliertengruppen zu den Außenseitergruppen kann unterschiedlich gestaltet sein. Außenseiter, die für
die Etablierten gänzlich ohne Funktion sind, werden vollkommen verdrängt. Wenn jedoch die Außenseitergruppe eine
eigenständige Bedeutung für die Etablierten hat, zum Beispiel
als ökonomisch ausnutzbares Potential, kann es zu einer
Verminderung des Machtgefälles kommen: ,,Je kleiner die
Machtdifferentiale werden, desto deutlicher treten andere nichtökonomische Aspekte der Spannungen und Konflikte ans
Licht.“434
Dann werden andere Bedürfnisse als die nach Sicherung des
Überlebens prävalent - Bedürfnisse nach Emanzipation und
Steigerung des Selbstwertgefühles. Dann kann es passieren, dass
die ehemals unterlegene Gruppe den „Spieß wendet“ und
Gegenstigmatisierungen betreibt.
Nach Elias’ und Scotsons Beobachtung vermieden die
Angehörigen der alten Familien, wo sie nur konnten, den
Kontakt zu den Zuwanderern. Für die Autoren kennzeichnet sich
ein solches Verhalten als universale Regelmäßigkeit in
Etablierten-Außenseiter-Beziehungen: „die etablierte Gruppe
schrieb ihren Mitgliedern überlegene menschliche Eigenschaften
zu und schloss alle Mitglieder der anderen Gruppe vom
außerberuflichen Verkehr mit ihren eigenen Kreisen aus.“435 Die
Autoren weisen darauf hin, dass die Etabliertengruppe dazu
neigte, der Außenseitergruppe insgesamt die „schlechten“ Eigen433
Elias u. Scotson 1965, S. 14
Elias u. Scotson 1965, S. 29
435
Elias u. Scotson 1965, S. 9
434
220
schaften der „schlechtesten“ ihrer Teilgruppe zuzuschreiben, um
sich selbst nur die besten Eigenschaften der eigenen Elitegruppe
anzumaßen. Elias und Scotson nennen dies eine ,,pars-pro-totoVerzerrung“, die stets gute Gründe dafür liefert, die eigene
Gruppe als „gut“ anzusehen und die andere als „schlecht“.
Derartiges Denken und Handeln wird in der Sozialpsychologie
als „Ethnozentrismus“436 bezeichnet. Dabei kommen kaum
rationale Motive zum Tragen, um die vermeintliche Überlegenheit der einen und die Unterlegenheit der anderen Gruppe
zu begründen. So irrational wie der Akt der Abwertung selbst ist
auch die Art, wie im Verhalten der Menschen die Ausgrenzung
betrieben wird: „Oft klingen in den bloßen Namen für Gruppen,
die sich in einer Außenseiterposition befinden, Untertöne der
Minderwertigkeit und Schande mit.“437 So wird die symbolische
Dimension der Namensgebung zum Repressionsinstrument der
überlegenen Gruppe.
In dieser Situation kann die negative Bewertung in das Selbstbild der schwächeren Gruppe eingehen, insbesondere dann,
wenn die Wirklichkeit scheinbar dem Vorurteil folgt. Zum
Beispiel werden von machtüberlegenen Gruppen die machtschwächeren Gruppen oft als „unrein“ oder „unsauber“
angesehen, was angesichts schlechterer Lebensverhältnisse
durchaus als empirisch nachvollziehbarer Sachverhalt bestätigt
werden kann. Ähnliches kann man über Bildung und Ausbildung
sagen: da, wo Diskriminierung dafür sorgt, dass geringere
ökonomische Kapazitäten vorhanden sind, kann auch weniger
hochwertige (Aus)bildung gewährleistet werden. Insofern lässt
sich feststellen, dass die Angehörigen von Außenseitergruppen
weniger Zugang zu adäquater Ausbildung finden, entsprechend
geringer qualifiziert sind und sich damit ihr gesellschaftliches
Defizit verfestigt, und zwar nicht nur in Bezug auf äußere
Parameter wie Einkommen und Sozialprestige, sondern auch in
Bezug auf das eigene Selbstbild.
Auf der anderen Seite wirkt sich das Gruppencharisma für die
Mitglieder der Etabliertengruppe als ein Bündel von Verhaltenserwartungen aus, und der Preis für die Teilhabe an der
436
Zu diesem theoretischen Konzept werden weiter unten eingehendere Erläuterungen
folgen.
437
Elias u. Scotson 1965, S. 19
221
„Begnadung“ bedeutet Konformität. Dies ist auch das
Exklusivitätskriterium im Sinne Bourdieus. Die Zugehörigkeit
zu der Gruppe der Herrschenden ist gleichfalls symbolisch
dokumentiert, und für die Betroffenen gibt es gleichsam eine
Verpflichtung, die Charakteristiken des Lebensstils in ihrem
Denken und Handeln zu reproduzieren. Wenn ihnen dies gelingt,
werden sie als Mitglieder der Etabliertengruppe Akzeptanz
finden, was wiederum die Chance beinhaltet, vorhandene
Kapitalien zu vermehren und symbolisch zu verwerten.
Der Kontakt zu den Außenseitern ist jedoch im Hinblick auf die
Zugehörigkeit zur Etabliertengruppe „tödlich“. Elias und
Scotson sprachen von „Ansteckung“, wenn ein Mitglied der
Etabliertengruppe ein solches Tabu brach. Dann musste dieses
Individuum mit der schlimmsten Konsequenz, dem „Schimpfklatsch“ und damit der sozialen Isolation rechnen.
Wenn weiter oben versucht wurde, die Dimension des
Symbolischen als das Faktum darzustellen, das letztlich
gesellschaftliche Macht entstehen lässt, indem es die
Kapitalformen hervorhebt, so lässt sich auch in der Studie von
Elias und Scotson diese Besonderheit ausmachen. In der dort
beschriebenen Situation beruht das Machtdifferential auf der
Tatsache, dass soziales Kapital, nämlich die festen und tradierten
sozialen Interaktionsstrukturen der Bewohner des „Dorfes“, das
sich als höheres Maß an Gruppenkohäsion manifestiert, zu einer
symbolischen Macht wandelt, die darin besteht, Exklusivität zu
erzeugen. Die anderen Kapitalformen spielen, wie bereits
erwähnt, in diesem Setting erstaunlicher Weise keine Rolle. Ein
Mechanismus der Exklusivität war die Kontrolle über die
Zuweisung von Wohnraum, die eigentlich durch eine öffentliche
Wohnbauorganisation erfolgte. Es wurde jedoch seitens der
Bewohner des alten Teils des Dorfes dafür Sorge getragen, dass
sich in ihrem Teil grundsätzlich keine Fremden ansiedeln
konnten. Dies konnte dadurch geschehen, dass die alten
Familien darauf achteten, dass im Falle einer frei werdenden
Wohnung, etwa wenn die Bewohner gestorben waren, dem
Verwalter der Gesellschaft nur Interessierte aus den eigenen
Reihen zur Weitervermietung empfohlen wurden. Im Untersuchungszeitraum (1950er Jahre) bot die ortsansässige Industrie
222
noch genügend Beschäftigungsmöglichkeiten, so dass kein
Anlass für eine Mobilität der Menschen bestand. Daraus folgt,
dass die junge Generation am Ort verbleiben konnte, möglichst
im Umfeld der Elterngeneration. So blieb die demographische
Struktur des alten Ortsteils über die Jahre hinweg homogen,
wohingegen der junge Ortsteil (unter anderem aus Gründen der
fehlenden Integration) immer wieder einer Veränderungsdynamik unterlag. Aus ihrer Homogenität heraus kultivierten die
Bewohner des alten Ortsteiles eine gemeinsame Lebensweise,
einen Habitus, der das Selbstbild und Fremdbild prägte und dazu
geeignet war, Mitglieder der Eigengruppe von der Fremdgruppe
zu unterscheiden.
Bezüglich dieser Beobachtung der Autoren ist meines Erachtens
darauf hinzuweisen, dass solche Faktoren symbolischer Macht
keinesfalls als stabil und unabänderlich anzusehen sind. Es hätte
nur eines Abweichens von der bisherigen Vergabepraxis bedurft,
wenn die Wohnbaugesellschaft ihre neuen Mieter aufgrund
anderer Kriterien (z.B. ökonomischen Kapitals ?) auswählte. In
diesem Fall wäre die Homogenität, das heißt, das soziale Kapital
der Dorfbewohner schnell verloren gewesen. Leider haben Elias
und Scotson solche Beobachtungen nicht dokumentiert.
Unzweifelhaft im Stil der Etikettierungstheorie nehmen Elias
und Scotson Bezug auf das abweichende Verhalten der Jugendlichen im „schlechten“ Ortsteil. So verhielt sich die Jugend aus
dem schlechten Teil des Ortes auffällig, aufsässig, aggressiv und
asozial. Sie rebellierten, um sich zu rächen: „Das Bewusstsein,
dass sie die Menschen, von denen sie zurückgewiesen und
verfemt wurden, durch ein lärmendes, destruktives und beleidigendes Auftreten ärgern konnten, wirkte als ein zusätzlicher,
vielleicht als der hauptsächliche Ansporn, sich ‚schlecht zu
benehmen‘.“438 Sie störten bei sozialen Zusammenkünften, die
z.B. von der Kirchengemeinde und den Vereinen für die Jugend
des gesamten Dorfes eingerichtet wurden. Sie vollbrachten
genau die Dinge, die ihnen vorgeworfen wurden, um es denen
heimzuzahlen, die sie ihnen vorwarfen. Ihre Aggressionen
richteten sich hauptsächlich gegen die Jugendlichen des
„besseren“ Ortsteiles, jene, die konform waren und die
438
Elias u. Scotson 1965, S. 24
223
Vorbehalte und Vorurteile gegen die Siedlungsbewohner, die sie
von ihren Eltern erlernt hatten, übernommen haben. Nach der
Beobachtung der Autoren waren diese in ihrer Herablassung
gegenüber den Jugendlichen der Siedlung sogar noch härter und
grausamer als die Alten. Dies wird in der Studie damit erklärt,
dass das schlechte Beispiel der Siedlungsjugend die Abwehr der
jungen Dörfler gegen deren eigene Triebe bedrohte. Der Preis
der Konformität in der Etabliertengruppe, also der Preis des
„Etabliertenhabitus“, war für die jungen Leute aus dem Dorf
hoch. Natürlich hätten auch sie Anlass zur Rebellion gehabt (das
Leben in diesem Dorf wird auch für die Jugend der
Etabliertengruppe nicht allzu befriedigend gewesen sein), was
ihnen jedoch ihre Zugehörigkeit zu der Etabliertengruppe verbat.
Es versteht sich von selbst, dass die örtlich ansässigen
Agenturen gesellschaftlicher Ordnung und damit sozialer
Ungleichheit, das heißt die so genannten „Vertreter des
Gesetzes“, den Jugendlichen aus der Siedlung einen wesentlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit widmeten. Dieser Umstand
zeitigte auch entsprechende Folgen: Es waren hauptsächlich
Jugendliche aus der Siedlung, die von der Polizei aufgegriffen
und in juristische Verfahren verwickelt wurden, und zwar nicht
nur, weil sie möglicherweise mehr angestellt hätten, sondern
auch, weil die Siedlungsjugendlichen der Polizei aufgrund ihrer
erhöhten Aufmerksamkeit einfach mehr auffielen.439
Wenn man die Situation der Außenseitergruppe in der „TäterOpfer-Semantik“ liest, kommt man zu dem Ergebnis, dass eine
Gruppe, die in überlegener Weise über ein bestimmtes Kapital
verfügt, welches sich durch symbolische Transformation in
gesellschaftliche Macht wandelt, eine unterlegene Gruppe
dominiert und ihr ihren Willen aufzwingt. Dies kann sogar als
legitim angesehen werden, weil Macht im Sinne Arendts und
Herrschaft im Sinne Webers nicht ausschließen, dass es Definitionen gesellschaftlicher Wirklichkeit gibt, die von Minderheiten
geteilt werden, die sich mit ihren Interessen letztlich nicht
durchsetzen können. Ein weiterer Faktor, der das Verhältnis von
überlegener zu unterlegener Gruppe kennzeichnet, liegt darin
439
vgl. Elias u. Scotson 1965, S. 214f.
224
begründet, dass sich bestimmte Kapitalien im Sinne Bourdieus
nicht in gesellschaftliche Macht umwandeln können, weil ihnen
die dahingehende symbolische Transformation nicht gelingt,
dass es also gesellschaftliche Gruppen gibt, die unterlegen,
ausgegrenzt und diskriminiert sind, obwohl sie potentiell dazu in
der Lage wären, ihre Situation zu verbessern. Hier sei nur an die
„Klasse an sich“ im Sinne von Marx erinnert.
Die Bewohner der „Siedlung“ von Winston Parva sind ebenfalls
eine Klasse an sich, deren Etablierung misslingt, weil sie keine
symbolischen Möglichkeiten besitzen, das ihnen eigene Kapital
wirksam für sich einzusetzen. In diesem Sinne verstehe ich auch
die Bedeutung des Symbolischen in Bourdieus Gesellschaftstheorie: die symbolische Macht ist als derjenige Faktor
hervorgehoben, der im Sinne sozialer Konstruktion die maßgeblichen Zuweisungen im System gesellschaftlicher Ungleichheit
gewährleistet. So schreibt Göhler: „Es sind die Symbole, und
zwar die Herrschenden, welche die gesellschaftlichen
Unterschiede, das Oben und Unten bestimmen und sichtbar
machen. Insofern geht von ihnen transitive Macht aus, und sie
sind das Ergebnis von Kämpfen um ihre Durchsetzung in der
Gesellschaft. Einmal herrschend geben sie allerdings eine
legitime, von allen geteilte Weltsicht, die den Wahrnehmungsraum der einzelnen Klassen gemeinsam strukturiert. Insofern
handelt es sich wiederum um intransitive Macht, und bei
Bourdieu ist nun das Ergebnis von symbolischen Kämpfen, was
Hannah Arendt als intransitive Macht normativ voraussetzt.“440
Dies bedeutet, dass Machtverhältnisse (selbst dann, wenn sie zur
Ausgrenzung Unterlegener führen) grundsätzlich legitimierbar
sind, wenn sie symbolisch legitimierbar sind.
Seine Entsprechung findet dieser Prozess in der Identität des
Individuums bzw. der Gruppe. Wie schon im Zusammhang mit
Goffmans Stigmaansatz dargestellt wurde, ist das aus interaktiven Prozessen hervorgegangene Identitätskonzept ein
Resultat akzeptierter Identitätszumutungen auf der Seite des
Individuums. Willems schreibt zur Identität im Sinne Goffmans
daher: „Soziale und persönliche Identität sind ‚zuallererst Teil
der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich
440
Göhler 1997, S. 42f.
225
des Individuums‘, das sich auf die objektiven Identitätsschemata
und Identifizierungen seiner Umwelten einzustellen hat und das,
indem es vor diesem Hintergrund Informationen über sich
handhabt, seine persönliche Identität mitformiert.“441 Goffman
spricht auch von „gefälliger Anpassung“442, die die Stigmatisierten betreiben. Diese Anpassung erfolgt in der Erwartung,
dass die soziale Umwelt ein erfahrbares Stigma „hinnimmt“, und
zwar auf der Grundlage gemeinsam geteilter Werthorizonte, die
sowohl für das stigmatisierte Individuum (resp. die stigmatisierte
Gruppe) als auch für die stigmatisierende Umwelt gelten. Die
von Goffman eingehend beschrieben Strategien des
„Kuvrierens“ zielen auf nichts anderes als auf Akzeptanz der
Ausgrenzung durch die Ausgegrenzten. So wird: „Ich-Identität
hauptsächlich als Frage des Erlebens und Verabeitens der
Abweichung von Identitätsnormen verstanden.“443 Denn
Identität wird zur Balanceleistung, wenn es darum geht,
Abweichung, die bei der eigenen Person als solche von dem
Individuum erkannt ist, im gesellschaftlichen Prozess auszuhalten. Und nach Goffmans Überzeugung ist im Grunde jedes
menschliche Individuum irgendwann im Laufe seines Lebens zu
einer solchen Balance gezwungen: „Da jeder gegenüber dem
hohen Ideal des erfolgreichen, gut aussehenden, gebildeten,
sportlichen, normalgewichtigen und normal verheirateten
Bürgers in irgendeinem Punkt versagt, unvollkommen und
inferior ist, ist jede Alltagsbegegnung von Konformität und
Abweichung überschattet.“444 Die Folge davon ist das „Drama
normal-abweichend“ bzw. das ewige „Stigmamanagement“, das
das Leben der Außenseiter in unsäglichem Maße verkompliziert
und Lebenschancen vernichtet.
Aber warum ist das so? Die Antwort kann nur darin liegen, dass
die Ich-Identität als das „subjektive Empfinden seiner eigenen
Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein
Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen
sozialen Erfahrungen erwirbt“445, darauf hinwirkt, dass die
441
Willems 1997, S. 156
Goffman 1963, S. 31
443
Willems 1997, S. 177f.
444
Hettlage 1991, S. 116
445
Goffman 1963, S. 132
442
226
Fremdattribuierungen, die das Individuum (be)treffen und die
auch eine Legitimation aufgrund symbolischer Absicherung
bestehender Macht- und Ungleichheitsverhältnisse erfahren, in
Eigenattribuierungen seiner selbst übergeführt werden und auf
diese Weise eine von der sozialen Umwelt perzipierte
Abweichung im Selbstkonzept des sozialisierten Individuums
seinen Niederschlag findet und übernommen wird. Im gewissen
Sinne sagt das Habituskonzept Bourdieus nichts anderes aus:
„Der Habitus ist sozialstrukturell bedingt, das heißt durch die
spezifische Stellung, die ein Akteur (...) innerhalb der Struktur
gesellschaftlicher Relationen innehat; er formt sich im Zuge der
Verinnerlichung der äußeren gesellschaftlichen (materiellen und
kulturellen) Bedingungen des Daseins. Diese Bedingungen sind,
zumindest in modernen, differenzierten Gesellschaften ungleich
(...) verteilt. Von der frühesten Kindheit an, vermittelt über die
sozialisatorische Praxis, bestimmen die objektiv vorgegebenen
materiellen und kulturellen Existenzbedingungen eines Akteurs,
mithin die Lebensbedingungen (...) die Grenzen seines
Handelns, Wahrnehmens und Denkens. (...) Obgleich sozial und
historisch entstanden, werden die im Habitus inkorporierten
Strukturen zur ‚zweiten Natur‘ des Menschen. Dadurch
manifestiert sich im Habitus (...) die Liebe zum Schicksal,
welche, da sie die gesellschaftliche Not(wendigkeit) zur Tugend
macht, die Anerkennung der herrschenden Ordnung zum
Ausdruck bringt.“446 Willems spricht in diesem Zusammenhang
von einer Selbstzwangapparatur, „die wegen ihrer (zweiten)
‚Natürlichkeit‘ normalerweise der Selbstaufmerksamkeit entgeht
und als Ich-Identitätsmoment empfunden wird.“ 447 Willems
führt weiter aus, dass das Individuum, das sich bei seinen
Handlungen an sozialen Werten orientiert und dementsprechend
sich nicht selbstentfremdet fühlt, wenn sein Habitus dabei zum
Tragen kommt. Davon sind die Individuen „um mit Bourdieu zu
sprechen, eher besessen, als dass sie sie besitzen.“448 Der
Selbstzwang wirkt sich demnach so aus, dass das Individuum
„zu ‚seinem eigenen Gefängniswärter (wird); dies ist ein
fundamentaler Zwang, auch wenn jeder Mensch seine Zelle
446
Schwingel 1995, S. 60ff.
Willems 1997, S. 207f.
448
Willems 1997 a.a.O.
447
227
gerne mag.‘ (Goffman 1971, 15).“449 Der letzte Halbsatz
verweist darauf, dass das Individuum solche Identitätszumutungen nicht nur erleidet, sondern sogar in die Situation
geraten kann, gesellschaftliche Stratifikationsverhältnisse, die zu
seinem Nachteil ausfallen, zu schätzen, sein Schicksal sogar zu
lieben, wie Bourdieu geschrieben hat.
Mit der Frage der Übernahme negativer Selbstkonzepte hat sich
auch der Sozialpsychologe Tajfel befasst. Dabei geht es um die
Übernahme negativer Identitäten durch Außenseiter. In seiner
Arbeit „Gruppenkonflikt und Vorurteil“ erörtert er das Verhältnis von Majoritäten zu Minoritäten, deren Angehörige zumeist
einen Außenseiterstatus zugewiesen erhalten: ,,Personen, die
Mitglieder (...) von Minoritäten sind (...), haben ein schwieriges
psychologisches Problem gemeinsam, das man ganz allgemein
als Konflikt zwischen zufriedenstellender Selbstverwirklichung
und den Restriktionen, die dieser durch die Mitgliedschaft in
einer Minoritätsgruppe auferlegt werden, beschreiben kann.“450
Aus dem Vergleich mit anderen Gruppen (z.B. der Majorität,
den Nicht-Behinderten usw.) kann als ein bedeutender Aspekt
des Selbstbildes einer Person das Gefühl des Abgesondertseins
und des Minderwertigseins erwachsen: „solange die Mitgliedschaft in einer Minorität durch allgemeinen Konsens als
Abweichung von einer (...) Norm innerhalb der Majorität
definiert ist, werden die Selbstbildnis- und Selbstachtungsprobleme von Minoritätsmitgliedern akuten Charakter haben“451
Tajfel führt in diesem Zusammenhang das Phänomen des
„Ethnozentrismus“ an, womit die Überhöhung des Wertes der
Eigengruppe und die Geringschätzung anderer gemeint ist.
Deren Eigenheiten werden mit Verachtung bedacht. Diese
Haltung wurde von mir bereits in der Arbeit von Elias und
Scotson erwähnt.
Etwas Besonderes stellt jedoch die Einstellung der Mitglieder
von Minderheitsgruppen zu sich selbst dar. Tajfel zitiert in
diesem Zusammenhang den schwarzen Psychologen Clark, der
das Phänomen der Internalisierung abwertender Majoritätsurteile
449
Willems 1997 a.a.O.
Tajfel 1982, S. 159
451
Tajfel 1982, S. 159f.
450
228
durch Minderheiten folgendermaßen beschreibt: „Menschen, die
gezwungen sind, unter Ghetto-Bedingungen zu leben, und denen
ihre alltäglichen Erfahrungen die Überzeugung geben, dass sie
fast nirgendwo in der Gesellschaft respektiert werden und dass
ihnen die normale Würde und Höflichkeit verweigert wird, die
man anderen bereitwillig zugesteht, werden zwangsläufig an
ihrem eigenen Wert zu zweifeln beginnen. Da jeder Mensch aus
seinen kumulierten Erfahrungen mit anderen die Hinweise
darauf ableitet, wie er sich selbst sehen und bewerten soll,
werden Kinder, die durchgängig abgelehnt werden, verständlicherweise anfangen, sich selbst zu fragen, und daran zu
zweifeln, ob sie selbst ihre Familien und ihre Gruppe tatsächlich
nicht mehr Respekt von der Gesellschaft verdienen, als sie
erhalten. Diese Zweifel werden zum Ausgangspunkt eines
verderblichen Selbst- und Gruppenhasses, des komplexen und
schwächenden Vorurteils des Schwarzen gegenüber sich selbst.
Die Schwarzen glauben inzwischen an ihre eigene Minderwertigkeit.“452 Der Prozess der Herabsetzung des Selbst bzw. der
Eigengruppe beginnt in der frühen Kindheit. Empirische
Untersuchungen Clarks mit schwarzen Kindern (1947) zeigten,
dass diese einen Spielkameraden, der Angehöriger der weißen
Rasse war, gegenüber einem Angehörigen der gleichen Rasse
bevorzugten. Dieser empirische Beweis der Bevorzugung der
Fremdgruppe wurde erbracht, indem Kindern Puppen vorgelegt
wurden, mit denen sie im Rahmen der Untersuchung spielen
sollten. Diese Puppen repräsentierten in ihrer äußeren Gestaltung
die verschiedenen menschlichen Rassen. Die Variation der
angedeuteten Hautfarbe als unabhängige Variable sollte
Aufschluss darüber geben, ob mit einem Kind der eigenen
Hautfarbe lieber oder weniger gern gespielt wird. Tajfel zieht
folgenden Schluss: „in diesen Untersuchungen (geben)
Minoritätsmitglieder Urteile über ihre eigene Gruppe in einem
Kontext (ab), in dem sie sich direkt und explizit mit der
Majorität vergleichen müssen. Wie wir gesehen haben, liegen
überzeugende Beweise dafür vor, dass unter solchen
Bedingungen ein negatives Selbstbild internalisiert wird.“453
452
453
Clark 1965, zit. n. Tajfel 1982, S. 161
Tajfel 1982, S. 164
229
8.3. Negatives symbolisches Kapital
Wenn ein Individuum aufgrund der fehlenden Konvergenz mit
gesellschaftlichen Wertdispositionen zum Außenseiter wird,
vollzieht sich gleichsam ein analoger Prozess der symbolischen
Manifestation der Machtverhältnisse, wie er weiter oben,
allerdings im positiven Sinne, beschrieben wurde: in diesem
Zusammenhang manifestiert sich Kapitalarmut im Sinne von
Ohnmacht, und es bedarf negativen symbolischen Kapitals, um
die Armut an den anderen Kapitalien manifest werden zu lassen.
Um dies zu verdeutlichen beziehe ich mich nochmals auf
Goffman, der allerdings keine Kapitaltheorie im Sinn hatte.
Goffman sprach von moralischer Karriere 454, die darauf
gerichtet ist, eine bestimmte Ausprägung der Persönlichkeit des
Individuums als abweichend zu definieren und symbolisch
abzuwerten und dem Individuum in der Folge sämtliche
Möglichkeiten als selbstbestimmtes Subjekt zu nehmen. Man
könnte auch sagen, dass dem Individuum die Verfügungsmöglichkeit über seine übrigen Kapitalien genommen werden.
Dies geschieht im Rahmen legitimer Machtausübung, die sich
darin manifestiert, dass sie von Institutionen ausgeht.
Gemäß der Etikettierungstheorie entsteht abweichendes Verhalten aus gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen. Becker
sprach von einer „Laufbahn“, an deren Ende sich das
Individuum in einem Zustand manifester Devianz wiederfindet
und die deviante Identität zu seiner eigenen wird. Auch Goffman
bedient sich des Laufbahnkonzeptes und begründet dies
folgendermaßen: „Der Begriff der Karriere erlaubt uns, (...)
zwischen dem persönlichen und dem öffentlichen Bereich,
zwischen dem Ich und der für dieses relevanten Gesellschaft hin
und her zu bewegen, ohne dass wir allzu sehr auf Angaben
darüber angewiesen sind, wie der betreffende Einzelne sich in
seiner eigenen Vorstellung sieht.“455 Um an die Terminologie
Meads nochmals anzuknüpfen, könnte man sagen, dass
Goffmans Konzeption von Karriere eine Darstellung der
Entwicklung des „Mich“ unter den besonderen Bedingungen der
Stigmasituation beinhaltet. Dabei legt er seinen Schwerpunkt auf
den „moralischen Aspekt“ der Karriere. Damit meint Goffman
454
455
Goffman 1961, S. 127
Goffman 1961, S. 127
230
den „regulären Ablauf der Veränderungen, die die Karriere im
Selbst des Menschen und im metaphorischen Bezugsrahmen, mit
dem er sich und andere beurteilt zur Folge hat.“456 Goffman hat
sich bei der Beschreibung dieses Prozesses insbesondere auf die
Situation in psychiatrischen Krankenhäusern bezogen. Goffman
stellt bei seiner Untersuchung fest, dass geradezu beängstigende
Veränderungen mit der Identität des Individuums geschehen,
wenn es in die Prozessstrukturen einer, wie er es nennt, „totalen“
Institution gerät: „Die Personen, die als psychiatrische Patienten
in eine Klinik kommen, unterscheiden sich beträchtlich voneinander hinsichtlich der Art und des Ausmaßes der Krankheit, die
der Psychiater bei ihnen feststellt, sowie hinsichtlich der
Attribute, mit denen der Laie sie belegt. Aber einmal auf dem
Weg durch die Instanzen der Klinikpsychiatrie, sind sie im
Wesentlichen mit ähnlichen Gegebenheiten konfrontiert und
reagieren im Wesentlichen ähnlich darauf. (...) Es muss (...) der
Macht gesellschaftlicher Kräfte zugeschrieben werden, wenn der
uniforme Status des Geisteskranken einer ganzen Personengruppe nicht nur ein gemeinsames Schicksal und mithin
schließlich einen gemeinsamen Charakter zuweist, sondern jener
soziale Umformungsprozess auch auf die vielleicht krasseste
Vielfalt von Charakteren angewendet werden kann.“457 Goffman
beschreibt mit diesen Worten den von mir weiter oben diskutierten Zusammenhang: aufgrund bestimmter gesellschaftlicher
Bewertungen, die in Zuschreibungsprozesse einfließen, können
Menschen in formal legitimen Prozeduren zu gesellschaftlichen
Außenseitern gemacht werden. Wenn man sich vergegenwärtigt,
dass Goffmans Beobachtungen etwa um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts entstanden sind und es zu diesem Zeitpunkt zum
Teil völlig andere Wertstrukturen gegeben hat, die eine legitime
Ausgrenzung zuließen, wird klar, wie willkürlich und kontingent
moralische Urteile sein können, auf deren Grundlage menschlichen Schicksalen eine Richtung gegeben wird. Das GoffmanZitat gibt seine theoretische Nähe zur Etikettierungstheorie
wieder, wonach sich die Gesellschaft mit der Hilfe ihrer totalen
Institutionen ihre Außenseiter schafft.
456
457
Goffman 1961, S. 127
Goffman 1961, S. 128f.
231
8.4. Die vorklinische Phase
Im Vorfeld muss der Mensch jedoch bereits einen Teil der
Karriere durchlaufen haben, die Goffman als „vorklinische
Phase“ bezeichnet. In einigen Fällen beginnt diese Phase damit,
dass das Individuum selbst bereits in Sorge ist, ein bestimmtes
stigmarelevantes Symptom zu besitzen, das nach außen nicht
mehr verborgen werden kann. Es erfolgt dann eine
„desintegrierende Neubewertung“ 458 seiner selbst, die begleitet
ist von dem „Versuch, vor anderen das zu verbergen, was er für
die neuen, fundamentalen Tatsachen über seine eigene Person
hält, und herauszufinden, ob auch andere diese bereits entdeckt
haben.“459
Diese Phase endet damit, dass das Individuum – meistens
unfreiwillig – in die Anstalt gelangt. Goffman bezeichnet die
damit entstandene neue Phase der moralischen Karriere als
„klinisch“. Die Gründe für den Statuswechsel des Individuums
sind vielfältig. Oft ist familiärer Druck oder Überredung
maßgeblich. Es kann ebenso eine Initiative der Agenten, die sich
der Wahrung von Sicherheit und Ordnung verpflichtet haben
(z.B. Polizei), der Anlass sein. Nach Goffman ist eine
Einweisung oft die Folge von „Karriere-Zufällen“. Es gibt viele
vergleichbare Übertretungen, die jedoch andere, möglicherweise
mildere Konsequenzen nach sich ziehen können. Auch im
Rahmen der Etikettierungstheorie wurde dieses Phänomen
angesprochen. Bei solchen persönlichen Entwicklungen spielen
auch sozioökonomische Faktoren, das heißt die persönlichen
Verfügungsmöglichkeiten der Betroffenen über ökonomisches,
kulturelles und auch soziales Kapital, eine Rolle. In dem für die
Betroffenen günstigen Fall trifft auf die gesellschaftliche Macht,
die eine moralische Karriere im Sinne Goffmans betreiben kann,
eine persönliche Gegenmacht, die bis hin zur Immunität gegen
soziale Sanktionen des Individuums führen kann. Wem diese
Möglichkeiten aber verwehrt sind, kann der Verlust gesellschaftlicher Zugehörigkeit drohen: „Die Karriere des vorklinischen
Patienten kann als ein Modell des Ausschlusses aufgefasst
werden; anfangs hat er Beziehungen und Rechte, und schließlich, zu Beginn seines Klinikaufenthaltes, verfügt er kaum noch
458
459
Goffman 1961, S. 131
ebd.
232
über das eine oder das andere. Die moralischen Aspekte dieser
Karriere beginnen also typischerweise mit der Erfahrung des
Verlassenseins, des Treuebruchs und der Verbitterung.“460 Der
Übergang zum Patienten erfolgt über mehrere Etappen, die mit
jeweils anderen Agenten besetzt sind, die sukzessive den Status
des Individuums als freien Menschen schmälern.
8.5. Totale Institutionen
Goffmans Analyse des Lebens in totalen Institutionen steht in
einem theoretischen Zusammenhang mit dem Symbolischen
Interaktionismus, insbesondere der Etikettierungstheorie.
Goffman erkennt, dass der wichtigste Faktor, der einen Patienten
prägt, nicht seine Krankheit ist, sondern die Institution, der er
ausgeliefert ist. Hier widerfährt dem Individuum eine neue
Definition seiner Identität. Diese ist sozial konstruiert und so
umfassend, dass z.B. Herr Schmidt, den man früher als
Studienrat kannte, die Identität des Insassen XY annimmt. Weil
diese Instituitonen den Menschen mit seiner ganzen Persönlichkeit absorbieren, werden sie von Goffman als „total“ bezeichnet.
Totale Institutionen sind allumfassend. Ein zentrales Merkmal
totaler Institutionen besteht darin, dass die Schranken, die
normalerweise zwischen verschiedenen Lebensbereichen bestehen, aufgehoben sind. Alle Belange und Vollzüge des Lebens
finden an einem Ort statt. Allen Insassen widerfährt die gleiche
Behandlung. Goffman führt dazu aus: „Totale Institutionen sind
soziale Zwitter, einerseits Wohn- und Lebensgemeinschaft,
andererseits formale Organisation. (...) Sie sind Treibhäuser, in
denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von
Menschen zu verändern.“461 Die Insassen totaler Institutionen
stehen in der Gefahr, ihrer bisherigen Identität beraubt zu
werden. Den Anfang nimmt dieser Prozess in allen möglichen
bürokratischen Prozeduren, die von Goffman als „Demütigungsrituale“ bezeichnet werden. Neben der Beschränkung der
im bürgerlichen Leben garantierten Freiräume, der Aufhebung
persönlicher Autonomie über die eigene Zeit und eigene
Handlungsorientierungen, tritt ein beängstigender Rollenverlust
460
461
Goffman 1961, S. 133
Goffman 1961, S. 23
233
hinzu, der sich darin ausdrückt, dass der Insasse von der
weiteren Welt und ihren Erwartungen absolut getrennt wird.
Die Aufnahmeprozeduren selbst sind Teil dieser Demütigungsrituale. Dazu zählen medizinische Untersuchungen, Fotografieren, Fingerabdrücke, Entkleiden, Desinfizieren usw.: „durch
diese Form der Isolierung wird es möglich, den Neuankömmling
zu einem Objekt zu formen, das in die Verwaltungsmaschinerie
der Anstalt eingefüttert und reibungslos durch Routinemaßnahmen gehandhabt werden kann.“462 Zu den Demütigungsritualen in einigen Einrichtungen gehört auch die Verletzung der
physischen Integrität der Insassen, wie z.B. körperliche Misshandlungen in Konzentrations- und Straflagern. Dabei verliert
das Individuum die Grundlage früherer Selbstidentifikationen.
Goffman beschreibt die Gesamtheit der Prozeduren in ihrer
Funktion als „die verschiedenen Formen der Verunstaltung und
Verunreinigung, durch welche die symbolische Bedeutung von
Vorfällen, die sich im Beisein des Insassen ereignen, zu einer
drastischen Störung seines Selbstgefühls führen.“463 Der Prozess
setzt sich mit weniger direkt wirkenden Demütigungsverfahren
fort, deren Wirkung von Goffman als „Zerstörung des formellen
Verhältnisses zwischen dem handelnden Individuum und seinen
Handlungen“464 bezeichnet wird. Dazu gehört das „Looping“,
wie Goffman das Verfahren nennt, bei dem Angehörige des
Aufsichtspersonals psychiatrischer Kliniken Abwehrreaktionen
der Insassen herbeiführen und in der Folge neue Angriffe gegen
genau diese Abwehrreaktionen starten. Weiters sind es
übermäßige Reglementierung (jede Aktivität wird bis in das
kleinste Detail vom Personal festgelegt, es besteht nicht der
geringste Spielraum für persönliche Autonomie) und Tyrannei
(das Personal hat eine unverhältnismäßig hohe Sanktionsmacht,
die Sanktionswahrscheinlichkeit ist hoch, aber nicht berechenbar, so dass ständig mit Bestrafung gerechnet werden muss), die
zu diesem Prozess beitragen. Daher sind „totale Institutionen
verhängnisvoll für das bürgerliche Selbst des Insassen, auch
462
Goffman 1961, S. 27
Goffman 1961, S. 43
464
ebd.
463
234
wenn die Bindung des Insassen an sein bürgerliches Selbst recht
unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.“465
Goffman weist darauf hin, dass der soziale Status einer Person
nach deren Entlassung nie mehr der sein wird, den das
Individuum vor dem Eintritt besessen hat: „Wenn der proaktive
Status (das heißt jener vor der Entlassung, Anmerkung des
Verfassers) (...) ungünstig ist, wie im Falle derer, die aus
Gefängnissen oder Heilanstalten entlassen werden, dann ist der
Ausdruck „Stigmatisierung“ angebracht, und man kann
erwarten, dass der ehemalige Insasse sich bemühen wird, seine
Vergangenheit zu verheimlichen und Wiederbegegnungen (mit
früheren Vertrauten, Anmerkung des Verfassers) zu vermeiden.“466 Und weiter: „Wenn der einzelne, dadurch dass er
zum Insassen geworden ist, einen niedrigen proaktiven Status
gewonnen hat, dann wird man ihm draußen in der Welt mit
Vorbehalt begegnen, und er wird diese Erfahrung meist in einem
auch für Leute ohne Stigma schwierigen Augenblick machen,
nämlich wenn er sich um eine Arbeit oder eine Wohnung
bemüht.“467
465
Goffman 1961, S. 53
Goffman 1961, S. 75
467
Goffman 1961, S. 76
466
235
9. Sozialer Wandel durch Umwertung der Kapitalien
Goffmans Studie zeigt sehr anschaulich, wie sich gesellschaftliche Macht in den Funktionsprinzipien bestimmter Institutionen
wiederfindet. Sie wirkt direkt auf die Identitäten der Menschen,
die an die Institutionen gebunden sind. „Totale Institutionen“
sind natürlich ein Extremfall gesellschaftlicher Einflussnahme
auf menschliche Identitäten. In den viel weniger dramatischen
Zusammenhängen des alltäglichen Lebens „normaler“ Gesellschaftsmitglieder ist die Beeinflussung der Identitäten
gleichwohl auch vorhanden. Und immer lässt sich ein Muster
herausfinden: diejenigen Individuen oder Gruppen, die über
gesellschaftlich relevantes Kapital verfügen, sind davor gefeit,
gesellschaftliche Außenseiter zu werden, weil sie entweder mit
der vorgängigen Wertordnung konvergieren können, also z.B.
konkurrenzfähig bleiben, oder sogar die Macht besitzen, die
gesellschaftliche Wertordnung nach ihren Interessen und
Bedürfnissen zu gestalten. Den Besitzlosen bleibt nur die Anpassung, die gemäß des oben erwähnten sozialpsychologischen
Ansatzes, der auch von Bourdieu aufgegriffen wurde, in eine
Akzeptanz im Sinne von „amor fati“ umschlagen kann. Wenn
dies jedoch misslingt, genügt nur eine symbolische Kennzeichnung durch die Gesellschaft, um das Individuum endgültig
zum Außenseiter zu machen und im Extremfall seiner Identität
zu berauben. Ohne reale Machtdifferentiale verkennen zu
wollen, die den Unterdrückten oft keine andere Wahl lassen, als
sich in ihr Schicksal zu fügen, möchte ich am Beispiel der
Studien über Winston Parva und Asyle in totalen Institutionen
deutlich machen, dass gesellschaftliche Machtdifferentiale in
vielen Fällen durch nichts anderes begründet sind, als durch eine
symbolische Hervorhebung, deren Legitimation aus sich selbst
erfolgt. So schreibt Schwingel: „Symbolische Macht ist (...) in
der Lage, soziale Differenzen zu produzieren und auszudrücken,
die ihre Grundlage nicht (nur) in den unterschiedlichen
materialen (ökonomischen und kulturellen) Eigenschaften von
Akteuren (oder Gruppen von Akteuren) haben, sondern auf die
genuine Eigenwirkung des Symbolischen zurückzuführen
sind.“468
468
Schwingel 1993, S. 104
236
Aber die Bedeutungen, die den sozialen Sachverhalten verliehen
werden, können sich auch wandeln, und die symbolischen
Voraussetzungen für gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse (z.B. gesellschaftliche Werte) können von denen,
die an ihrer Synthese beteiligt sind, auch anders interpretiert
werden, so dass sich letztlich auch gesellschaftliche Macht- und
Ohnmachtverhältnisse wandeln können, wenn deren symbolische Fundierung sich wandelt. Es ist daher denkbar, dass die
Macht des Symbolischen auch von den Beherrschten genutzt
wird. Schwingel schreibt dazu: „Hervorzuheben ist in diesem
Zusammenhang die Tatsache, dass der politische Kampf von
eminent praktischer um nicht zu sagen vitaler Bedeutung
besonders für die dominierten Gruppen und Klassen ist, und
zwar deshalb, weil (zumindest auf der Ebene der Praxis)‚ die
Herrschenden immer schon ‚existieren‘ - die Beherrschten
dagegen nur, wenn sie sich mobilisieren und sich mit Mitteln zur
Repräsentation ausstatten.“469 Der marxistische Ansatz, wonach
es nur der Bewusstwerdung (und damit der Uminterpretation
bisheriger Verhältnisse) bedarf, um gesellschaftliche Differentiale „für sich“ zu wandeln, liegt bei diesem Befund nahe. Es
handelt sich dabei um einen schwierigen Prozess, der auf
erheblichen Widerstand der Herrschenden trifft und auch einen
besonderen Kraftaufwand der Beherrschten erfordert. Entsprechend merkt Schwingel an: „Die - sozialstrukturell bedingten Schwierigkeiten, mit denen die beherrschten Gruppen und
Klassen konfrontiert sind in ihrem Versuch, sich selbst öffentlich
bemerkbar zu machen, der normativen Kraft des Faktischen
entgegen zu treten und den Zirkel der (symbolischen) Reproduktion zu durchbrechen, sind in erster Linie darauf zurückzuführen,
dass ihnen hierzu nicht nur die materiellen, sondern ebenso die
symbolisch-kulturellen Mittel fehlen. Dies hat zur Folge, dass
die dominierten Klassen, um einen politisch effektiven Kampf
führen zu können, auf Verbündete angewiesen sind, die ihnen
die notwendigen (symbolischen) Mittel zur Durchsetzung einer
Weltsicht (und also zur Artikulation bisher unausgesprochener
Interessen) zur Verfügung stellen, die sich von der eingelebten,
die symbolischen (und folglich materiellen) Verhältnisse stabili469
Schwingel 1993, S. 154
237
sierenden Sicht grundlegend unterscheidet.“470 Nach Bourdieus
Ansicht spielen die Intellektuellen bei diesem Kampf als Verbündete eine große Rolle. Sie sind es, die über genügend
Charisma und symbolisches Kapital verfügen, um (Neu-)Definitionen gesellschaftlicher Werte vornehmen zu können und
bestehende Legitimitätskonstruktionen symbolisch destruieren
und neue Legitimität symbolisch konstruieren zu können.
9.1. Legitimationsprobleme
Eine Gesellschaft, in der keine Anomie im Sinne Durkheims und
Mertons herrscht, bietet ihren Mitgliedern ein ausreichendes
Maß an Orientierung und Verhaltenssicherheit. In einer idealtypischen Konzeption (beispielsweise der von Parsons) werden
Gesellschaftsmitglieder so sozialisiert, dass die vorhandenen
Wertstrukturen verinnerlicht werden und deren Befolgung in der
alltäglichen Rollenwahrnehmung völlig problemlos erscheint.
Gesellschaftliche Institutionen bieten die dafür notwendigen
Handlungsanleitungen. Habermas hat diesen Zusammenhang am
Beispiel religiöser Systeme verdeutlicht. Demnach besteht die
Grundfunktion „von weltstabilisierenden (...) Deutungssystemen
(...) darin, Chaos zu vermeiden, das heißt Kontingenzen zu
überwinden.“ Herrschaft ist nach Habermas’ Deutung als
„Spezialisierung dieser ‚sinngebenden‘ Funktionen“ zu verstehen. Religion und der dazu gehörige institutionelle Apparat
helfen der Konstituierung der Ich- und Gruppenidentität, da sie
die Wertstrukturen vorgeben und deren Implementierung im
gesellschaftlichen Prozess gewährleisten. Dabei sorgen sie dafür,
dass „Grundrisiken der menschlichen Existenz verarbeitet
werden konnten. (...) Krisen des Lebenszyklus und Gefahren der
Sozialisation wie auch an Verletzungen der moralischen und
körperlichen Integrität (Schuld, Einsamkeit, Tod).“471
Die Verinnerlichung der Werte vermittelt Verhaltenssicherheit
und sichert eine kooperative Verhaltensbereitschaft in den
jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen, die immer auch geprägt
sind vom Vorhandensein sozialer Ungleichheit, die eine Funktion der asymmetrischen Machtverteilung in den Gesellschaften
ist. Sozialisation dient insoweit dazu, diese Ungleichheits470
471
Schwingel 1993, S. 157
Habermas 1973a, S. 163
238
beziehungen akzeptieren zu lernen, auch wenn dies auf Seiten
des Individuums mit Verzicht und Unterprivilegierung einhergeht. Bourdieu hat diese Bereitschaft mit seinem Habituskonzept
erklärt. Ich will ihn daher an dieser Stelle nochmals zitieren:
„Mit Marx zu behaupten, dass der Kleinbürger die Grenzen
seines Hirns nicht zu überschreiten vermag (...), heißt feststellen,
dass sein Denken denselben Beschränkungen unterliegt, wie
seine materielle Lage, dass seine Lage ihn gewissermaßen
doppelt beschränkt, nämlich einmal durch die materiellen
Schranken, die sie seinem Handeln auferlegt, und sodann durch
die Schranken, die sie seinem Denken setzt - und damit
wiederum seinem Handeln -, und die ihn dazu bringen, seine
eigenen Grenzen zu akzeptieren, ja zu lieben.“472
Gesellschaftliche Ungleichheit und ökonomisch determinierte
Machtverhältnisse werden mit Hilfe symbolischen Kapitals
legitimiert. Der gesellschaftlichen Integration dienend verlangt
„der Einsatz legitimer Macht (...) die Berücksichtigung eines
Legitimationsgefälles zwischen verschiedenen Interessenbereichen.“473 Das symbolische Kapital, dem die Legitimierungsfunktion zufällt, wird zumeist von den Institutionen geliefert, die
ihr Mandat entweder aus einer besonderen moralischen
Berufung ableiten oder die realen ökonomischen Machtverhältnisse repräsentieren. So erfolgt die „Legitimation von
Macht auch im Gewande von expliziten, moralisch oder
juristisch begründeten Normen (...); aber, was Normen und
Rechte aus der Binnenperspektive moralisch ‚argumentierender‘
Akteure auch immer sein mögen, es lässt sich nur zum Preis
einer philosophisch-idealisierenden, das heißt von den realen
historischen und sozialen Bedingungen vollkommen absehenden
Sicht (so Habermas) verleugnen, dass Normen – und vor allem
das allgemeinverbindliche Recht – immer auch bestimmte
bestehende (oder herbeigesehnte) Kräfteverhältnisse sanktionieren und festschreiben.“474 In der idealtypischen, nicht
desintegrierten Gesellschaft sind solche ungleichen Kräfteverhältnisse nicht problematisch, soweit sie hinreichend, z.B.
nach Maßgabe von Vernunftkriterien, die einer allgemeinen
472
Bourdieu 1979, S. 378
Habermas 1973a, S. 91
474
Schwingel 1993, S. 171 f
473
239
Willensbildung folgen, legitimiert sind und Machtverhältnisse
vorliegen, die weitgehend den Konsens der Gesellschaftsmitglieder finden. In diesem Sinne weist Schwingel darauf hin,
dass Legitimation für Verhältnisse sozialer Ungleichheit oft
dadurch geliefert wird, dass auf bestehende normative
Strukturen verwiesen wird. Aber diese können illegitim an sich
werden. Es sind gleichwohl noch immer Normen, die gesellschaftliche Verhältnisse allgemeinverbindlich regeln.
Nach Habermas lassen sich aber rechtfertigungsfähige Normen
von solchen unterscheiden, „die Gewaltverhältnisse stabilisieren.
Soweit Normen verallgemeinerungsfähige Interessen ausdrücken, beruhen sie auf einem vernünftigen Konsens (...).
Sofern Normen nicht verallgemeinerungsfähige Interessen
regeln, beruhen sie auf Gewalt.“475 Soziale Systeme, in denen
Herrschaftsverhältnisse bestehen, die illegitim werden und sich
in Gewalt transformieren, sind vielfach dadurch gekennzeichnet,
dass sich in ihnen ein Wandel der Werteordnung ereignet hat.
9.2. Hysteresiseffekte
Im Zusammenhang mit der Diskussion der Identitätsperspektive
in der Habitustheorie Bourdieus war der Hysteresiseffekt zur
Sprache gekommen, der für das Individuum die Wirkung haben
kann, dass es aufgrund der Unangepasstheit der habituellen
Dispositionen des Handelns im Verhältnis zu den realen
Bedingungen seiner Lebenswelt in eine Desintegrationssituation
geraten kann; desintegriert in sozialer Hinsicht, wenn es ihm
nicht gelingt, seine personale Identität in Einklang mit seiner
sozialen Identität zu bringen, seine soziale Rolle, die ihm von
der Gesellschaft übertragen wird, angemessen auszufüllen. In
einer kurzlebigen und oberflächlichen Welt kann sich eine
Handlungsorientierung, die sich an traditionellen Wertemustern
orientiert, schnell in eine Don-Quichotterie wandeln. Schwingel
deutet die Auswirkungen des Hysteresiseffektes folgendermaßen: „Selbstverständlich ist die Übereinstimmung von
Habitus und Feld nicht a priori garantiert, sondern sie kann
ebenso gut fehlen – was gewöhnlich zum Scheitern der
habituellen Strategien innerhalb des betreffenden Feldes führt.
475
Habermas 1973a, S. 153
240
Hierbei können zwei Fälle des Scheiterns, wiederum idealtypisch, unterschieden werden: einerseits das grundsätzliche
Scheitern innerhalb eines Feldes aufgrund eines sozusagen
veralteten, verrückten, das heißt von Grund auf unpassenden
Habitus (...); andererseits das Nichtgelingen von einzelnen
Strategien, deren für den Akteur negative Folgen aber durch
spätere Entscheidungen (zumindest prinzipiell) wieder ausgeglichen werden können.“476 Die Folgen dieser nicht gelingenden
Assimilation von Habitus und Feld für das Individuum wurden
im ersten Kapitel ausführlich beschrieben.
Die Desintegration kann aber auch auf der gesellschaftlichen
Ebene stattfinden. Diese Situation kann gegeben sein, wenn sich
der Hysteresiseffekt auf die normativen Strukturen der
Gesellschaft bezieht und die soziale Realität anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Diesen Gedanken beziehe ich beispielsweise
auf die Situation einer konservativen Ethik, derzufolge
Wertestrukturen hochgehalten werden, die aufgrund der
Unangepasstheit mit den realen gesellschaftlichen Verhältnissen
desintegrierend wirken. Mead hat dieses Problem auch benannt
und den Einfluss restriktiver Institutionen auf die Identitätsentwicklung gesehen. Hierfür steht folgendes Zitat: „Oppressive,
stereotype und ultrakonservative gesellschaftliche Institutionen –
wie die Kirche –, die durch ihre mehr oder weniger starre und
unbewegliche Fortschrittsfeindlichkeit unsere Individualität
zerstören oder jeden persönlichen oder originellen Ausdruck der
Gedanken und des Verhaltens der einzelnen Identität oder
Persönlichkeit entmutigen, sind unerwünschte, aber nicht
notwendige Ergebnisse des allgemeinen gesellschaftlichen
Erfahrungs- und Verhaltensprozesses. Es gibt keine notwendigen
oder unüberwindlichen Gründe dafür, warum gesellschaftliche
Institutionen oppressiv oder starr konservativ sein sollten,
warum sie nicht vielmehr, wie das ja für viele auch zutrifft,
flexibel und fortschrittlich sein und die Individualität fördern
sollten, anstatt sie zu entmutigen.“477 Diese Forderung
unterstreicht Mead mit dem Hinweis auf die Bedeutung von
Institutionen für die Identitätsentwicklung: „Auf jeden Fall
könnte es ohne gesellschaftliche Institutionen der einen oder
476
477
Schwingel 1993, S. 75
Mead 1934, S. 308f.
241
anderen Art, ohne die organisierten gesellschaftlichen Haltungen
und Tätigkeiten, durch welche gesellschaftliche Institutionen
geschaffen werden, überhaupt keine wirklich reife Identität der
Persönlichkeit geben.“478 Die Persönlichkeit findet ihre Identität
dann, wenn gesellschaftliche Institutionen, zu denen das Individuum gehört, es zulassen, dass es sich seinen Neigungen und
Bedürfnissen gemäß entwickeln kann. Meads Klage ist aber
genau auf den Fall gerichtet, in dem gesellschaftliche Institutionen die Bedürfnisse der Menschen ignorieren. Wenn einzelne
Institutionen, mit einer partikularen Wirkung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit betroffen sind, kann dies bewirken, dass
diese Institutionen an Bedeutung verlieren. Wenn aber zentrale
Institutionen, wie z.B. die staatliche Organisation, davon betroffen ist, ist die Gesellschaft an sich gefährdet. Dies wird dann als
Tyrannei erlebt. In diesem Sinne liegt eine Desintegration der
Identität der Gesellschaft vor, die zu deren Überwindung führt.
Habermas hat dies in lapidarer Weise folgendermaßen
beschrieben: „Auch soziale Systeme haben ihre Identität und
können sie verlieren.“479
Weiter oben wurde Habermas zitiert, wonach es zu den
Aufgaben der gesellschaftlichen Institutionen gehört, die
Konstitution von Identität zu gewährleisten. Wenn diese Konstitutionsleistung misslingt und z.B. als Ergebnis der Sozialisation
in desintegrierten Gesellschaften auch desintegrierte Identitäten
der Gesellschaftsmitglieder entstehen, kann die mit den Mitteln
symbolischer Macht unterfütterte Werteordnung in Frage gestellt
werden, denn die Wirkung symbolischer Macht steht in
Abhängigkeit von der Anerkennung durch die Beherrschten.
Wenn aber diese, die als Opfer bestehender Legitimitätsverhältnisse anzusehen sind, sich selbst klar machen, wie arbiträr
und fragwürdig die ihnen auferlegte Ordnung ist, hinterfragen
sie bestehende Ordnungs- und Machtverhältnisse. Soweit die
Legitimität der realen Machtverhältnisse brüchig wird, eröffnen
sich die Möglichkeiten für alternative Deutungsmuster. So
schreibt Schwingel: „Mit der faktischen Durchsetzung einer
anderen Sicht kann – öffentlich gemachte – Kritik zu einer
478
479
a.a.O.
Habermas 1973a, S. 13
242
Veränderung der bestehenden Kräfteverhältnisse beitragen.
Denn schon dann, wenn die Ordnung innerhalb eines
spezifischen Feldes (und damit zusammenhängend innerhalb des
Feldes der sozialen Klassen) nicht mehr nach den gewohnten
Schemata als selbstverständliche, das heißt als die Ordnung
schlechthin, sondern als eine mögliche unter anderen, folglich
als mehr oder weniger zufällig, wahrgenommen wird, werden
Handlungsoptionen und -alternativen sichtbar, die vorher
verdeckt waren.“480
Habermas hat das Problem der Hysteresis gesellschaftlicher
Normierungsverhältnisse und deren mögliche Überwindung
auch benannt: „Erst wenn die Macht der Tradition soweit
gebrochen ist, dass die Legitimität bestehender Ordnungen im
Lichte hypothetischer Alternativen betrachtet werden kann,
fragen sich die Angehörigen einer auf Kooperation, das heißt auf
gemeinsame Anstrengungen zur Erreichung kollektiver Ziele
angewiesenen Gruppe: ob die fraglichen Normen die Willkür der
Angehörigen in der Weise regulieren, dass ein jeder von ihnen
sein Interesse gewahrt sehen kann.“481 Hinzufügen möchte ich
noch, dass dieser Ansatz wohl um so verständlicher und nachvollziehbarer wird, wenn man bedenkt, dass der Mangel einer
integrierten Identität auch nicht die Voraussetzungen dafür
liefert, dass der Habitus die Fraglosigkeit der schicksalhaften
Daseinszumutungen gewährleistet. Wozu sollte man die Grenzen
des Daseins akzeptieren, geschweige denn lieben, wenn man
erkennt, dass all die Opfer und Versagungen, die Demütigungen
und Enttäuschungen die Folge fehlgeleiteter gesellschaftlicher
Entwicklungen sind? Um dieser Frage eine vorläufige Antwort
zu geben, möchte ich an dieser Stelle nochmals Habermas
zitieren: „Das Schicksal erfüllt sich in der Enthüllung
widerstreitender Normen, an denen die Identität der Beteiligten
zerbricht, wenn diese nicht ihrerseits die Kraft aufbringen, ihre
Freiheit dadurch zurück zu gewinnen, dass sie die mythische
Gewalt des Schicksals zerbrechen, indem sie eine neue Identität
ausbilden.“482
480
Schwingel 1993, S. 108f.
Habermas 1981, S. 65
482
Habermas 1973a, S. 10
481
243
Man kann vor dem Hintergrund einer emanzipatorischen
Perspektive erkennen, dass Ungleichheit im Sinne von Diskriminierung und Unterdrückung nur auf Dauer wirksam geschehen
kann, wenn die Unterdrückten eine entsprechende Bereitschaft
an den Tag legen, die Präpotenz der Unterdrücker zu akzeptieren. Daher vermute ich, dass immer dann, wenn Ausgrenzung
nicht im Sinne eines singulären Schicksalszumutung geschieht,
wenn es also eine Gruppe von Individuen trifft, die noch dazu
potentiell in den Besitz von Kapitalien gelangen kann, die sich in
symbolische Macht transformieren lässt, sich ein Weg zur
Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse eröffnet.
Verschiedene Minderheiten sind in unserer Gesellschaft auf
diese Weise schon recht weit gekommen und haben wesentliche
Elemente von Ausgrenzung und Unterdrückung, von denen sie
früher betroffen und bedroht waren, abschütteln können.
Allerdings könnte hier auch eine Gefahr liegen: in der
zunehmend individualisierten Gesellschaft zeigt es sich, dass
sich Schicksalszumutungen der Tendenz nach singularisieren,
das heißt Individuen tragen ihre Lebensbürde zunehmend wieder
alleine, da keine Solidarisierung in einer virtualisierten Gesellschaft stattfinden kann. Unter diesen Verhältnissen ist es sehr
schwer, wirksame Kapitalien zu sammeln und symbolisch zu
transformieren. Könnte es daher sein, dass es aufgrund fehlender
gemeinsamer Interessen keine sozialen Bewegungen mehr gibt,
die gesellschaftliche Machtverhältnisse reformieren können?
Jedenfalls zeigt dieser Gedanke, dass trotz aller potentiellen
Emanzipationsmöglichkeiten und der Relativität gesellschaftlicher Erwartungen, die es mit sich bringt, dass prinzipiell jeder
Lebensstil akzeptabel sein kann, es auch weiterhin Außenseiter
geben wird – nota bene: Außenseiter weniger im Sinne einer
Gruppe, sondern als vereinzeltes Individuum unter vielen
vereinzelten Individuen.
244
10. Das „postmoderne“ Selbst – die Krise der Identität
Die Zeit ist nicht stehen geblieben, und die schrecklich-schöne
und statische Welt von Winston Parva gibt es sicherlich nicht
mehr, weil sich die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung in der fortgeschrittenen Moderne an anderen Faktoren als
dem Alt-Eingesessensein der Dorf-Bewohner festmachen.
In der Diskussion gesellschaftlicher Verhältnisse sind mittlerweile andere Begriffe maßgebend. Dazu gehören
• die Auflösung kohärenter Identitätskonzepte
• Individualisierung
• Enttraditionalisierung und
• Wertepluralismus
Jeder dieser Sachverhalte wirkt direkt auf die Identität der
Menschen, und jede dieser Wirkungen ergänzt sich zu einem
System, das sich zum geringsten Teil als Chance und Befreiung
der unterdrückten Identitäten, die wir in den klassischen
Theorien kennengelernt haben, kennzeichnen lässt.
Zum weitaus größeren Teil erweist sich dieses System als große
Gegenwartskrise der Identität.
• Die Auflösung kohärenter Identitätskonzepte
Wie bereits von mir gezeigt wurde, hat selbst Parsons in seinen
späteren Jahren erkannt, dass die Identität des Menschen nicht
mehr so stabil und einheitlich sein kann, wie von ihm in den
1950er Jahren vermutet wurde. Einer der Gründe hierfür liegt
darin, dass die Gesellschaft vielfältiger geworden ist und damit
der universelle Kosmos gesellschaftlicher Werte, die zueinander
in einem Verhältnis der Konsistenz stehen, nur eine theoretische
Utopie geworden ist. Der sichtbare Ausdruck dieser Entwicklung
ist der Rollenpluralismus, der einem Individuum mehrere und
zum Teil widersprüchliche Erwartungen zumutet. Folglich kann
auch die Identität, die sich nach Parsons’ Meinung in enger
Bindung an gesellschaftliche Wert- und Erwartungsstrukturen
entwickelt, nicht mehr widerspruchsfrei sein. Parsons sprach
dennoch von der Notwendigkeit eines angemessenen Niveaus
der Integration der verschiedenen Persönlichkeitskomponenten,
die der Rollenpluralismus induziert.
245
Wenn dieses Niveau nicht erreicht wird, gebricht es dem
Individuum jener Integrität, die im Zusammenhang mit Parsons
Konzeption von Identität steht.
Parsons beschreibt damit nicht nur das hinlänglich bekannte
Problem der Rollenkonflikte, sondern auch die Gefährdung der
Identität durch gesellschaftliche Diskontinuitäten. Im Grunde ist
hier bereits eine Überwindung seiner eigenen theoretischen Sicht
angedeutet, deren Statik unerschütterlich schien und in der rein
theoretisch kein Raum für gesellschaftliche Außenseiter gegeben
war. Vielmehr scheint sich damit seine Sicht den Widersprüchen
und Spannungen einer modernen und komplizierteren Welt zu
öffnen.
Erikson und Mead hatten diese Perspektive zweifellos schon viel
früher eingenommen und trotz ihrer robusten Identitätskonzepte
theoretisch auffüllbare Spielräume für die Ambivalenzen des Individuums mit der Gesellschaft, die sich in den (Entwicklungs-)
Problemen der Identität manifestieren, gelassen, so dass letztlich
doch in dieser erstmodernen483 Betrachtung das Konzept der
integrierten Identität behauptet werden konnte. Davon ausgehend konnte auch die Abweichung als misslungene Integration
oder verfehlte Balance definiert werden.
Für die soziologische Theorie, die sich mit der Soziogenese
menschlicher Persönlichkeiten befasst, wird es jedoch in der
fortgeschrittenen Moderne problematisch, an dem Konzept
„integrierte Identität“ der klassischen Identitätssoziologie (mit
der dualen Perspektive der Integration in sich selbst und in den
gesellschaftlichen Strukturen) festzuhalten. Die Gründe dafür
liegen in den eingangs beschriebenen strukturellen Veränderungen der Gesellschaft selbst, auf die die Individuen zu
reagieren haben.
So stellt sich für Hettlage die Frage, „warum wir gerade heute so
intensiv auf der Suche nach unserer Identität sind. Die Antwort
wird nicht gerade erleichtert durch die Erkenntnis, dass wir es
aufgrund unserer komplizierten gesellschaftlichen Verknüpfung
gar nicht mit einer einzigen und eindeutigen Identität, sondern
mit verschiedenen Identitäten zu tun haben.“484 Auch Joas
kommt zu dieser Erkenntnis, wenn er von der „Auflösung des
483
484
vgl. Koenen 2000, S. 101
Hettlage 2000, S. 10
246
vormals kohärenten Selbst in eine fragmentierte Identität, ein
Patchwork von Identitäten“485 schreibt. Bohn und Hahn dazu:
„Die besondere Schwierigkeit, die sich für das Individuum (...)
ergibt, ist, dass es sich als Einheit und Ganzheit in keiner realen
Situation mehr zum Thema machen kann. Im Recht, in der
Wirtschaft, in der Medizin, ja selbst in der Familie taucht es nur
noch als Rollenträger auf.“486 Und den widersprüchlichen
Rollenerwartungen, die alle Lebensbereiche des Menschen
treffen, ist es geschuldet, dass eine Einheitlichkeit der Identität
vielfach nicht mehr möglich ist. Dabei geht es nicht nur um
verschärfte Rollenkonflikte. Diese wären in Anbetracht einer
stabilisierenden gesellschaftlichen Struktur, die den Individuen
handlungsleitend zur Seite stünde, verkraftbar. Diese Stabilität
geht jedoch seit einiger Zeit und mit fortschreitender Dynamik
verloren und wirkt sich als Labilisierung der gesellschaftlichen
Institutionen aus.
• Enttraditionalisierung
An die Stelle stabilisierender Institutionen wie z.B. Familie,
Religion, Beruf, Nationalität und Sprache und den damit verbundenen Werten treten Labels und Konsumgewohnheiten, NewSpeeches und neudefinierte und nivellierende GeschlechterRollen sowie Identifikationen mit Menschen, die von einer
profitorientierten PR-Industrie zu kurzem Starruhm gelangen.
Diese Faktoren sind nichts weniger als identitätszerstörend, weil
sie so ephemer sind. Sie bewirken kurzlebige Identitätsfolien,
die keine dauerhafte Prägung im System der personalen Identität
hinterlassen. Die vielen jungen Menschen, die diesen Angeboten
verfallen, die damit zum Teil auch Schaden nehmen, wenn sie
z.B. eine „Schönheitsoperation“ auf sich nehmen, um ein
Gesicht oder eine Figur wie Britney Spears zu haben oder ein
Tattoo wie Justin Timberlake, haben gar nicht die Chance, zu
einer eigenen und unverwechselbaren Identität zu gelangen. Im
schlimmsten Fall verkommen sie zu misslungenen Klonen einer
oberflächlichen Konsumwelt, deren Persönlichkeiten aus ephemeren Zuständen der sozialen Identität, die bestimmte kurz485
486
Joas 1997, S. 238f.
Bohn und Hahn 1999, S. 35
247
fristige Zeiterscheinungen zu reproduzieren trachtet, bestehen
und einer vollkommen verkümmerten persönlichen Identität,
deren Ingredienzen eben nicht unverwechselbaren Identitätsaufhänger sind, die nur bei diesem einen Menschen vorliegen.
Vielmehr handelt es sich um eine Aneinanderreihung von
Eigenschaften, wie sie etliche andere Klone der Konsumwelt
besitzen: gleichartige Jobs (keine Berufe!), gleichartige
Konsumgewohnheiten, gleichartige Kleidung, gleichartiges
Aussehen usw.
Bei Berger und Luckmann war von Habitualisierungen die Rede,
die Institutionen bilden und Handlungssicherheiten vermitteln.
Die fortgeschrittene Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass
Menschen von gesellschaftlichen Verbindlichkeiten, die sich aus
Habitualisierungen ergeben, in zunehmendem Maße freigesetzt
werden. Das Unvermögen bestehender Institutionen, die
Menschen gesellschaftlich zu inkludieren, bzw. sogar das
Verschwinden solcher Institutionen ist als Tendenz zur Enttraditionalisierung zu deuten. Enttraditionalisierung impliziert auch
den Sachverhalt, dass die Bedeutung dessen, was in der Vergangenheit galt, in der Gegenwart und in der Zukunft nicht mehr gilt
bzw. gelten wird.
Die in dieser Welt handelnden Individuen können nicht auf der
Basis von altem Wissen, Erfahrung und Tradition ihr Leben
gestalten. Diese Erfahrungssachverhalte, die hilfreiche Handlungsanleitungen für Menschen in segmentären und traditionalistischen Gesellschaftsformationen waren, haben an Bedeutung
verloren.
Der bereits beschriebene Hysteresiseffekt kann für die Individuen bei der Bewältigung der Anforderungen ihres Lebens sogar
schädlich sein, wenn er ihnen den Zugang zu einer voraussetzungslosen Weltsicht nimmt, auf deren Grundlage sie, gleichsam vogelfrei, ihren Weg in der Gesellschaft der Postmoderne
suchen können. Gross befindet daher, dass sich die Menschen
entscheiden müssen, „wenn sich die Zukunft nicht mehr von
selbst aus der Vergangenheit ergibt.“487 Und in der Tat fragt man
sich, welchen Stellenwert die Institutionen Familie, Gesangverein und Kirchengemeinde und das in ihnen angelegte
487
Gross 2000, S. 57
248
Rezeptwissen und die ihnen eigenen Handlungsweisen zur
Bewältigung des Altages in einer globalisierten Welt noch
besitzen. Sie verlieren ihre Bedeutung spätestens in der dritten
Generation, spätestens dann, wenn sich die Enkel nach langer
und aufwändiger Ausbildung auf die Suche nach ihren Plätzen in
der postmodernen Berufswelt begeben müssen.
Gross weist darauf hin, dass umso mehr entschieden werden
muss, je instabiler die Welt ist. Und je mehr in dieser Welt ad
hoc entschieden wird, umso flüssiger werden ihre Strukturen,
umso bedeutungsloser die Institutionen und Traditionen. Damit
reagieren die Individuen nur auf die jeweilige neue Situation und
richten sich immer von Neuem auf die Situation ein; so
„konstruiert die moderne Gesellschaft in ihren entsprechenden
‚legislativen’ Organen eben neue Ordnungen für neue Gegebenheiten, für die überkommene Regeln nicht ausreichen.“488 Die
vielen Entscheidungsoptionen machen das Individuum zwar
freier, sie vermitteln ihm jedoch ein geringeres Maß an
Sicherheit, nicht zuletzt weil es immer der kognitiven Dissonanz
ausgeliefert ist, sich möglicherweise falsch entschieden zu
haben. Auf diese Weise werden Lebensweisen multioptional und
Gewissheiten wie die unserer Großeltern, den einzigen und
richtigen Platz in ihrem Leben ein für alle Mal eingenommen zu
haben, sind (glücklicherweise ?) perdu.
• Individualisierung
Die Zersplitterung der Persönlichkeit ist eine Begleiterscheinung
tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, die auch die
Stellung des Individuums in der Gesellschaft berühren. Trotz der
Schwächung der Persönlichkeit und gerade wegen der Schwächung der Institutionen, ist das Individuum in zunehmendem
Maße alleine: „Schon seit geraumer Zeit hat (...) ein grundlegender Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
eingesetzt und immer weitere Schichten der Bevölkerung erfasst.
Diesen Wandel, in dem sich allmählich – zum Teil inmitten
andauernder traditionaler Vergemeinschaftungen und überkommener sozial-moralischer Milieus – ein Anspruch und ein Zwang
zum eigenen Leben herauszubilden beginnt, bezeichnen wir als
488
Gross 2000, S. 59
249
‚Individualisierungsprozess‘.“489 Das Individuum muss sich
somit, ausgehend von den unmittelbaren Notwendigkeiten seiner
Lebenssituation, seinen eigenen Weg suchen und ist auf sich
allein gestellt. Die Institutionen, die im klassischen Sinne als
wertewahrend anzusehen sind und auf diese Weise dem
Individuum Orientierung und Sicherheit vermittelt haben,
tendieren dazu, einer einheitlichen, sich an den vorherrschenden
Machtverhältnissen orientierenden Linie zu folgen. Sie sind aber
in ihrer sozialisatorischen Bedeutung zunehmend in den Hintergrund getreten. Vogt hat eine Beschreibung dieser Situation in
der Terminologie Bourdieus geliefert und darauf hingewiesen,
dass die Einbindung in institutionelle bzw. familiale Strukturen
als Besitz von Sozialkapital zu begreifen sei. Genau diese
Einbindung schwindet jedoch: „Waren die Netzwerke früher in
starkem Maße ‚gegeben‘ aufgrund von stabilen familiären und
verwandtschaftlichen Verbänden, aufgrund von enger Milieubindung, von klassenspezifischen (...) Verkehrskreisen, wuchsen
die Akteure also weitgehend in traditional geprägte Netze hinein,
so hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Enttraditionalisierung und Individualisierung sind die Stichworte für
entsprechende Entwicklungen: die soziale und die räumliche
Mobilität nimmt zu, fest gefügte Klassen und Milieus sind kaum
vorzufinden, Familien werden immer kleiner (durch sinkende
Kinderzahlen) und instabiler, soziale Wert- und Normhierarchien
werden im gleichen Maße wähl- und gestaltbar wie biographische Verlaufsmuster. Patchworkfamilien und ‚Bastelbiographien‘ prägen die soziale Landschaft.“490 Diesen Gedanken
zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Verlust sozialen
Kapitals im Sinne einer Labilisierung sozialer Bindungen mit
einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaftsmitglieder einhergeht und mit der Bedeutungsminderung bis hin
zum Bedeutungsverlust traditionaler Wertmuster, die von den
Institutionen, die bisher die Menschen in der traditionalen
Gesellschaftsformation festgehalten haben, getragen wurden.
Die Schwächung der Institutionen fordert dem Individuum ab,
dass es sich außerhalb schützender und prägender sozialer Sachverhalte eine Identität selbst aufbaut. Dies verheißt zusätzliche
489
490
Hitzler 1999, S. 234
Vogt 2000, S. 94f.
250
Probleme. So schreibt Koenen: „Neben die Wahrnehmung der
hergebrachten, bereits längst inkludierenden Ungleichheiten der
Stände und Klassen, der Schichten und Milieus sowie der
Existenz- und Reproduktionsrisiken treten neue Erfahrungen von
Exklusion und Exkommunikation.“491 Die Einrichtungen der
Sozialstaatlichkeit werden abgebaut und setzen viele Menschen,
die z.T. seit Generationen entsprechend inkludiert waren, frei.
Auch die Mechanismen der Globalisierung mögen zwar eine
Inklusion geographisch weit entfernter Arbeitsmärkte und deren
Subjekte implizieren. In erster und für diese Gesellschaft
erfahrbarer Konsequenz werden Menschen aus den Systemen
sozialer Absicherung im Rahmen der Berufswelt freigesetzt und
damit ihrer gesellschaftlichen Position beraubt.
Identitätsbehauptung ist unter der Bedingung des Verschwindens
ökonomischer und sozialer Sicherungen einfach nicht mehr
möglich, weil ein Angepasstsein an die sozialen Strukturen die
einzige Möglichkeit der sozio-ökonomischen Aufrechterhaltung
der sozialen Identität beinhaltet: „Wo die Angewiesenheit der
‚Systeme’ auf das ‚variable Kapital’ von Arbeitskräften und auf
die politische Zustimmung von Bürgern abnimmt und die
moralische Verpflichtung der politischen Gesellschaft für die
Wohlfahrt ihrer Büger abgekoppelt werden kann, stellen
Ambivalenz, Verweigerung und kritische Abgrenzung der
Individuen gegen die ‚Systeme’ keine effektiven Machtpotentiale mehr dar.“492
• Wertepluralismus
Abels sieht die Gefährdung der Identität in der „Pluralität von
Orientierungen, die alle gleichberechtigt nebeneinander
stehen“493, begründet. Wenn die wertvermittelnden Institutionen
ihre Bedeutung verlieren, schwindet auch die Verbindlichkeit
bestimmter Werte. In diesem Zustand sind gesellschaftliche
Werte und Normen dekonturiert, weil sich im Verhältnis zu einer
bestimmten Wertorientierung mit großer Wahrscheinlichkeit eine
oder sogar mehrere alternative Wertorientierungen finden lassen,
die fakultativ als Handlungsalternativen dienen können. Abels
491
Koenen 2000, S. 102
Koenen 2000, S. 103
493
Abels 1997a, S. 4
492
251
bezeichnet diese Entwicklung auch als „Destruktion von
Gültigkeit“494, die als Wertepluralismus die Gesellschaft in einen
anomischen Zustand bringt, der eine postmoderne Variante des
Konzeptes „gefährdete Identität“ generiert. Dies mag man, wenn
man so will, als ein Gewinn an Autonomie der Individuen
ansehen. Es ist jedoch mit einer ganz besonderen Gefährdung
verbunden: „Die Destruktion zentraler Werte gibt dem Einzelnen
nur vordergründig ein Stück Freiheit zurück (gegenüber dogmatischen Denkformen), im Kern aber erhöht sie sein Risiko: die
Geltung von Werten muss von ihm selbst entschieden werden,
und nie kann er sicher sein, dass ihm andere darin auf Dauer
zustimmen.“495 So kann eine Festlegung auf bestimmte
Werthorizonte und damit auf eine bestimmte Identität schon
gefährlich werden. Sie kann Karrieren blockieren und soziale
Beziehungen zerstören. Und dennoch gilt es für die meisten
Menschen, sich an den Zwängen des Alltags zu orientieren, sich
innerhalb der Restriktionen ihrer Lebenswelt zu bewegen und
nach Möglichkeit eine Konstruktion einer (temporären) sozialen
Identität zu realisieren. Dabei bleibt es aber eine bemerkenswerte Erkenntnis, dass die soziale Realität keineswegs als
einheitlich zu bezeichnen ist, sondern trotz der für die meisten
Menschen bedrückenden Restriktionen in eine Vielfalt von Sinnund Wertzusammenhängen zerfällt: „Die Menschen orientieren
sich an diesen sehr heterogenen und zum Teil antagonistischen,
sozial mehr oder weniger stimmig vororganisierten
Sinnkonglomeraten. Aber sie basteln diese individuell – was
keineswegs bedeuten muss: besonders originell – zu ihren je
eigenen Lebenswelten zusammen. Das heißt, dass das tatsächliche Handeln nicht (jedenfalls nicht mehr) durch irgendwelche
sozial gültigen Ordnungen prädeterminiert ist.“496
Gleichzeitig bewirkt eine besondere, von den Massenmedien
unterstützte Einstellung, der zufolge nichts auf der Welt nicht
prinzipiell erfahrbar und beherrschbar wäre, dass ehemals
vorhandene Gewissheiten grundsätzlich hinterfragt werden. Zu
den Auswirkungen dieser vielfältigen Einflüsse auf den
Menschen schreibt Hitzler, „dass der Mensch heute mental
494
ebd.
Abels 1997a, S.7
496
Hitzler 1999, S. 231
495
252
typischerweise ‚im Freien‘ steht und berieselt, beregnet,
überschüttet wird mit religiösen, esoterischen, chauvinistischen,
nationalistischen, internationalistischen, klassenkämpferischen,
konsumistischen, ökologischen, sexistischen und dergleichen
Ideen mehr. Angesichts dieser breiten Angebots-Palette gibt es
für die Vielzahl von – freiwilligen und auferlegten –
Entscheidungssituationen, in die die alltägliche Lebenswelt des
individualisierten Menschen zersplittert ist, keine verlässlichen
‚Rezepte‘ mehr.“497
Schließlich gelange ich zu dem einzigen positiven Aspekt dieser
Entwicklungen, deren Auswirkungen ironischerweise nur den
Außenseitern der erstmodernen Welt zugute kommen. Es ist ein
Kennzeichen der fortgeschrittenen Moderne, dass Menschen
durchaus Chancen zu tiefgreifenden Änderungen ihrer Lebensverhältnisse haben, dass sie sich also, mehr als dies früher der
Fall war, den Zumutungen eines sozial konstruierten Schicksals
entziehen können. Dies wird auch in der Diskussion über das
„postmoderne Selbst“ thematisiert. Joas z.B. stellt den Gedanken
in Frage, dass eine Identitätsentwicklung, die ausschließlich im
Rahmen der institutionellen Vorgaben bleibt, die also von
traditionellen Bindungen geprägt ist, als ideal anzusehen sei: „Im
poststrukturalistisch-postmodernen Diskurs wird nicht mehr eine
größere Schwierigkeit für Identitätsbildungsprozesse als Zug der
Zeit beklagt, sondern umgekehrt der Zwang in der Zumutung
– auch in der Selbstzumutung – von Konsistenz und Kontinuität
der Person hervorgehoben.“498 Als Beispiele für diese
Entwicklung benennt Joas „die postmoderne Infragestellung des
Identitätskonzepts im Feminismus, in den HomosexuellenBewegungen sowie in den Debatten über Rassismus und Ethnizität ...“499
Die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den Bewegungen
einhergegangen sind, waren meistens auch darauf gerichtet,
Veränderungen institutionell vorgegebener Machtstrukturen zu
bewirken. Damit geht auch eine Lösung von den grundlegenden
Wertestrukturen der Gesellschaft bzw. eine Vervielfältigung
497
Hitzler 1999, S. 235
Joas 1997, S. 238f.
499
ebd.
498
253
verschiedener Wertoptionen einher, was insgesamt einer
Schwächung der vorherrschenden Ordnung, wenn nicht sogar
deren Veränderung gleichkommt. So ist es fraglich, ob eine
unbedingte Anbindung von Identität an gesellschaftliche Institutionen wünschenswert ist, vor allem dann, wenn hysteresisch
geprägte Institutionen nicht im Einklang mit der realen
Lebenswelt der Menschen und ihren Bedürfnissen stehen, ob es
nicht vielmehr sogar wünschenswert sein kann, dass die Identität
des Menschen in geringerem Maße mit Zugehörigkeiten und
Interdependenzen begründet wird. Dies ist Fluch und Segen
zugleich. Was sich, optimistisch betrachtet, als eine Befreiung
der Individuen von gesellschaftlicher Festlegung ausnimmt,
kann andererseits der Verlust an Verhaltenssicherheit und
Ordnung sein. Wo universalistische gesellschaftliche Bewertungen und in deren Folge Verhaltenserwartungen fehlen, kann
es (theoretisch) keine umfassende Repressionen und
Ausgrenzungen geben. Und das Individuum hat die Möglichkeit
und den Zwang, sein Leben so zu gestalten, dass es den
Anforderungen jeweiliger „single purpose communities“ genügt,
„in denen oft völlig heterogene Relevanzsysteme ‚gelten‘, von
denen jedes lediglich einen begrenzten Ausschnitt seiner
individuellen Erfahrungen betrifft. Keines der bereitstehenden
Weltdeutungsangebote kann allgemeine soziale Verbindlichkeit
beanspruchen. In jeder der vielen und vielfältigen Sinnwelten
herrschen eigene Regeln und Routinen, mit prinzipiell auf die
jeweiligen Belange beschränkter Geltung, Sinn steht also sehr
wohl bereit. Zerbrochen hingegen ist die in vormodernen
Gesellschaften ‚normale‘, umgreifende kulturelle Dauerorientierung, und das Individuum muss sich notgedrungen an je
spezifischen Bezugsgruppen bzw. besser Bezugssystemen
orientieren, die somit hinsichtlich ihres Wissens- und
Bedeutungsaspektes wie Sinnprovinzen der individuellen
Lebenswelt erscheinen.“500 So spricht Hitzler nicht von
Normalität an sich, sondern von der „Normalität einer
besonderen Perspektive“, entsprechend haben Werte allenfalls
„Geltung für einen bestimmten Kontext (...)“501 und, so möchte
500
501
Hitzler 1999, S. 240
Hitzler 1999, S. 242
254
ich hinzufügen, für andere Kontexte eben nicht, was
Fluchtmöglichkeiten eröffnet.
Könnte es sein, dass der Verlust einheitlicher Werthorizonte,
verbindender Institutionen, handlungsleitender Traditionen die
Unmöglichkeit mit sich bringt, zum gesellschaftlichen Außenseiter zu werden? Nur da, wo eine einheitliche und hermetische
Wertstruktur Seins- und Verhaltensdispositionen vorschreibt,
kann man auch umfassend deviant werden. Wenn wirklich die
Wertebeliebigkeit vorliegt, kann jede „erwählte“ Identität eine
Legitimation finden, wenn es nicht gerade um eine Verhaltensabweichung geht, die als „kriminell“ indiziert ist oder die sich
aufgrund des Mangels an ökonomischem und sozialem Kapital
nicht durchhalten lässt. Dies hat zur Folge, dass jede Identität,
auch die des gesellschaftlichen Außenseiters, diffus werden
kann. Es ist zwar schwer, soziale Randbedingungen der Identität
zu verändern, aber die gesellschaftliche Beurteilung bestimmter
sozialer Sachverhalte lässt sich mit bestimmten sozialen
Mechanismen leicht modifizieren.
Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass es in vielen gesellschaftlichen Bereichen den Außenseiter im Sinne der erstmodernen Gesellschaft nicht mehr gibt, sofern es ihm oder der
jeweiligen Gruppe gelingt, sich bestimmte Kapitalien
anzueignen.
Aber es wäre doch eigentlich zu schön, um wahr zu sein, wenn,
abgesehen von den Nöten der Identität, die Mehrheit der
Menschen vollständig integrierbar wäre, da sie autonom genug
ist, ihre sozialen Rollen und Verhältnisse selbst zu gestalten,
über die Modalitäten ihrer Zugehörigkeiten selbst zu befinden.
Denn: „aus der zunehmenden Ungezwungenheit des Wählens
und Entscheidens resultiert, dass das Risiko wächst, selber in die
Lage zu geraten, nicht gewählt, sitzen gelassen zu werden.“502
Und das ist das Außenseiterrisiko der fortgeschrittenen
Moderne. Es besteht darin, dass sich die Schwächung der
Institutionen, die Pluralisierung der Werte, der Verlust von
Traditionen gegen die Menschen selbst richtet, die ihrerseits
keine Verbindlichkeiten im Umgang mit ihrer sozialen Umwelt
für sich einfordern können. Sich selbst befreiend müssen sie die
502
Gross 2000, S. 74
255
Freiheiten der marktorientierten Welt auch gegen sich selbst
wirken lassen und erfahren dabei leider viel zu oft, dass sie in
einer Welt leben, in der sie seit einiger Zeit auch von politischer
Seite immer mehr zur Übernahme von „Eigenverantwortung“
angehalten werden. Im Grunde ist dies ein Ausdruck der
Tatsache, dass sie sich nicht mehr auf die Gesellschaft, die sich
in einer vormodernen Welt durch verbindliche und verbindende
Strukturen ausgezeichnet hat, verlassen können.
256
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260
Erklärung gemäß §6 Abs. 5 der Promotionsordnung des
Fachbereichs Erziehungs-, Sozial und Geisteswissenschaften
der FernUniversität - Gesamthochschule in Hagen
vom 31. Januar 2001
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Dissertation
„Identität und Macht – Eine theoretische Auseinandersetzung
mit der Soziologie gesellschaftlichen Außenseitertums“ selbständig und ohne unerlaubte fremde Hilfe angefertigt und andere
als die in der Dissertation angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt
habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder nicht veröffentlichten Schriften entnommen sind,
habe ich als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende
Dissertation hat zuvor keiner anderen Stelle zur Prüfung
vorgelegen. Es ist mir bekannt, dass wegen einer falschen
Versicherung bereits erfolgte Promotionsleistungen für ungültig
erklärt werden und eine bereits verliehene Doktorwürde
entzogen wird.
Bernhard Fischer
261
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