Harry Schröder SCHOSTAKOWITSCH - DAS GEHEIMNIS DER 14. SINFONIE 2 Harry Schröder SCHOSTAKOWITSCH Das Geheimnis der 14. Sinfonie pro literatur Verlag 3 Harry Schröder: Schostakowitsch - Das Geheimnis der 14. Sinfonie Erschienen im plV pro literatur Verlag, Mammendorf © 2006 by Harry Schröder, 73614 Schorndorf Alle Rechte vorbehalten! 1. Auflage 2006 ISBN 3-86611-192-4 4 INHALT VORWORT ............................................................................ 6 DIE 14. SINFONIE - EIN STECKBRIEF ....................................... 10 VORHABEN UND ABGRENZUNGEN DIESES BUCHES .................... 12 ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER 14. SINFONIE......................... 14 SUBTILE UND EXPONIERTE HINWEISE...................................... 19 BRÜCKEN ZU GOETHES FAUST ................................................ 22 Die musikalische Verbindung zu Franz Liszts »Mephistowalzer«................................ 22 Die Assoziation zu Goethes »Faust« .............................. 30 Die geographische Beziehung zum »Faust« .................... 32 Die biographische Beziehung zum »Faust« ..................... 33 Eine weitere, kuriose Verbindung zum »Faust« ............... 35 DER TRANSFER ZU MUSSORGSKI ............................................ 36 DAS FLOHLIED ...................................................................... 40 DER KREUZLOSE SELBSTMÖRDER............................................ 43 VIELE MOSAIKSTEINE ERGEBEN EIN GANZES - EINE ERSTE ZUSAMMENFASSUNG ............................................. 46 SCHOSTAKOWITSCH UND BACH .............................................. 48 BACH - DSCH ............................................................ 49 Der 7. Satz und seine Verbindung zu Bach ..................... 51 DSCH - SDCH ............................................................ 60 Schostakowitschs Opus 135 die »Leipziger Sinfonie«......................................... 60 DER TON »Des« ALS AUTOBIOGRAPHISCHES KÜRZEL ................ 62 DES-DUR UND G-MOLL........................................................... 67 VERGÄNGLICHKEIT................................................................ 70 UNVERGÄNGLICHKEIT............................................................ 78 VERBINDLICHKEIT................................................................. 83 DIE ZAHL 11......................................................................... 85 JESU, MEINE FREUDE............................................................. 92 ANMERKUNGEN ZU DEN EINZELNEN SÄTZEN ............................ 95 1. Satz »De profundis« ............................................... 95 2. Satz »Malagueña« .................................................. 97 3. Satz »Loreley« ....................................................... 97 5. Satz »Auf Wacht« ................................................... 98 6. Satz »Sehen Sie, Madame!«..................................... 99 7. Satz »Im Kerker der Santé«....................................101 8. Satz »Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel« ........................101 9. Satz »An Delwig« ...................................................102 TARNUNG.............................................................................103 RECHTFERTIGUNG .................................................................106 Anmerkungen .......................................................................110 Personenregister ...................................................................111 Verzeichnis der benutzten Literatur ..........................................113 Über den Autor .....................................................................114 5 VORWORT »Schostakowitsch - Das Geheimnis der 14. Sinfonie«. Dieser Buchtitel klingt recht theatralisch und nicht unbedingt nach Sachbuch. Fast würde man im Inhalt dieses Druckwerks einen Roman erwarten, ein detektivisches Kinderbuch oder eine anderweitig mysteriöse Erzählung. Aber doch keine Schrift, welche sich die Auseinandersetzung mit einer Sinfonie eines renommierten russischen Komponisten zur Aufgabe macht! Es war der Komponist selbst, der aus Beweggründen, die nachfolgend noch eingehend beleuchtet werden sollen, Anlass zu diesem Buchtitel gab. Einer textlich-musikalischen Schnitzeljagd gleich verstreute Schostakowitsch nämlich zahlreiche Hinweise. Für sich allein genommen birgt keiner dieser Indizien irgendeinen Fingerzeig auf geheime Botschaften, aber die Menge der gefundenen Anspielungen wirkt erdrückend. Mosaikähnlich führen sie beim Zusammensetzen hin zu einem Bild: Zum Bild eines bedrängten und gepeinigten Künstlers, der versucht, Botschaften dort unterzubringen, wo sie im eigenen Land nicht enttarnt werden können. Wie eine Flaschenpost soll die Botschaft möglichst weit, fernab der eigenen Küste, gefunden und verstanden werden. Sicherlich sind längst nicht alle versteckten Hinweise erspürt worden. Und so birgt dieses Buch auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Aber die hiermit veröffentlichen Fundstücke könnten der Ausgangspunkt für die weitere intensive und spannende Auseinandersetzung mit dieser Sinfonie sein. Denn - und dies scheint ziemlich sicher zu sein - es handelt sich bei der 14. Sinfonie um das Vermächtnis Schostakowitschs. Aussagen zu seiner persönlichen und künstlerischen Entwicklung sind bisher kaum bei einem anderen Werk in 6 einem solchen Ausmaß gefunden und entschlüsselt worden, wie es nun hier der Fall ist. Natürlich wird in diesem Buch auch spekuliert. Diese unwissenschaftlichste und suspekteste Form aller Methoden der Annäherung an ein Forschungsobjekt ist da nötig, wo man den verbalen Auskünften des Urhebers nicht immer glauben kann. Es gibt genügend Hinweise dafür, persönlichen Statements - auch in Briefen und sogar auch gegenüber nahestehenden Mitmenschen - zu misstrauen. Für mich zählte deshalb bei meiner Recherche einzig und allein die Partitur! Das Einholen von Informationen mittels Sekundärliteratur war für das Erstellen eines historischen und zeitgenössischen Blicks auf den Komponisten sicherlich unumgänglich, stand bei meiner Arbeit aber zu keiner Zeit im Mittelpunkt. Im Gegenteil empfand ich es lange Zeit als hinderlich, Aussagen von Schostakowitsch, von seinen Biografen, von Zeitzeugen und von den Analytikern seiner Musik mit dem in dieser Sinfonie Gefundenen in Einklang zu bringen. Und so wird man in diesem Buch manche Überlegung finden, die das bisher übermittelte Schostakowitschprofil nicht in der Gänze übernehmen will. Schuld hieran ist wiederum die Prämisse, die Musik in erster Linie allem Urteil zugrunde zu legen. Denn welche Äußerung, wenn nicht die Musik selbst, darf man einem Komponisten eigentlich abnehmen? Ursprünglich hatte ich nie vor, mich mit der Musik Schostakowitschs eingehender auseinanderzusetzen. So sehr nahe stand mir diese eigentlich nie. Erst durch die intensive Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten reiften bei mir auch Zutrauen und Begeisterung zu dessen Schaffen. 7 Allzu sehr war der Name Schostakowitsch für mich auch mit dem früher üblichen Beigeschmack eines systemkonformen, patriotischen, marschverherrlichenden Kulturschaffenden in den Reihen der sowjetischen kommunistischen Partei verbunden. Ein Urteil, welches sich beim nahen Blick auf die 14. Sinfonie Schostakowitschs dann schnell verflüchtigte. Und warum gerade die 14. Sinfonie? Schuld daran ist unser Oberschulamt. Es setzte dieses Werk auf die Liste der Abiturthemen, was für mich, als den Leiter eines damaligen Musikleistungskurses, die intensive unterrichtsgemäße Aufbereitung dieses Werkes zur Folge hatte. Zunächst war ich hierbei recht ratlos, denn gute Literatur über diese Sinfonie war damals im Jahr 2001 kaum zu finden. Zumindest keine, die sich ausschließlich auf dieses Werk konzentrierte und nicht noch das Durchforsten unzähliger, für diese spezielle Sache überflüssiger, weiterer Kapitel verlangte. Auch analytisches Material, welches sich auf das Aufzählen von Zwölftonreihen und das Vermitteln einiger weniger Hintergrundinformationen beschränkte, befriedigte mich nicht. Denn schon damals nach der unterrichtsbedingten ersten Annäherung, aber vor der eigentlichen durchdringenden Beschäftigung mit ihr erschien mir diese Sinfonie als extrem tiefgründig. Ein Eindruck, der sich später nachdrücklich bestätigte. Und so habe ich das Unternehmen gewagt, eine eigene Sichtweise der 14. Sinfonie zu erarbeiten. Dieser Prozess kam dadurch ins Rollen, dass mir musikalische Motive auffielen, welche ich mit Liszts »Mephistowalzer« in Verbindung brachte. Bei einem zunächst unverfänglichen Nachforschen stellten sich schnell weitere Verbindungen zu anderen Werken heraus. Umkehr und Versuch, die Sache schnellstmöglich zu vergessen, waren nun nicht mehr möglich. Zumindest ab dem Zeitpunkt als ich ahnte, welche Bedeutung meinen Entdeckungen bezüglich des 8 Schostakowitschbildes, aber auch bezüglich der Anstrengungen des Komponisten, beizumessen war, gab es kein Zurück mehr. Also entledige ich mich mit der Veröffentlichung dieser Schrift auch der Bürde, eine Flaschenpost Schostakowitschs mit dem Etikett »14. Sinfonie« gefunden und dechiffriert zu haben. Und diese nun vier Jahre dauernde Auseinandersetzung mit dem Werk war spannend wie ein Krimi. Vielleicht gelingt es mir ja, ein wenig von dem Gefühl der Überraschung und des Erstaunens mit diesem Buch weiterzugeben, wie es sich seinerzeit auch in mir formte. Arnold Schönberg eröffnete seine Harmonielehre aus dem Jahr 1911 mit dem berühmten Satz »Dieses Buch habe ich von meinen Schülern gelernt«1. In Abwandlung dieses Zitats kann ich nun behaupten: »Dieses Buch wurde von meinen Schülern angeregt.« Denn mehrmals, auch bereits nach dem Absetzen des Sternchenthemas 14. Sinfonie, waren die sinfonischen Inhalte und natürlich auch meine neuesten Erkenntnisse Gegenstand für Diskussion und Auseinandersetzung im Unterricht. Und hierbei kam so manch interessanter Gedanke von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Abiturgruppen, denen ich nun hier an dieser Stelle für diese Ideen danken möchte. Danken möchte ich ebenfalls vielen Kolleginnen und Kollegen, die mir entweder mit ihren Kenntnissen der russischen Sprache zur Seite standen oder aber geduldig meine begeisterten Ausführungen über sich ergehen ließen. Ein besonderer Dank gilt meiner Frau, die immer wieder Anlaufstelle für die Mitteilung meiner interessanten Beobachtungen war und manch schwierigen Sachverhalt mit mir diskutierte. Schorndorf, im August 2006 9 DIE 14. SINFONIE - EIN STECKBRIEF Entstehungszeit: 1969 Widmung: Benjamin Britten Besetzung: Kastagnetten, Holzblock, Tom-tom (3 verschiedene Tonhöhen), Peitsche, Röhrenglocken, Vibraphon, Xylophon, Celesta, Sopran- und Bass-Soli, 10 Violinen/4 Violen/3 Violoncelli/2 Kontrabässe m.5 Saiten. Die Sätze: 1. Satz De profundis Originaltext: Federico Garcia Lorca Russischer Text: I. Tinjanow Deutscher Text: J. Morgener 2. Satz Malagueña Originaltext: Federico Garcia Lorca Russischer Text: L.Geleskul Deutscher Text: J. Morgener 3. Satz Loreley Originaltext: Apollinaire nach Clemens Brentano Russischer Text: M. Kudinow Deutscher Text: J. Morgener 4. Satz Der Selbstmörder Originaltext: Apollinaire Russischer Text: M. Kudinow Deutscher Text: J. Morgener 5. Satz Auf Wacht Originaltext: Apollinaire Russischer Text: M. Kudinow Deutscher Text: J. Morgener 10 6. Satz Sehen Sie, Madame! Originaltext: Apollinaire Russischer Text: M. Kudinow Deutscher Text: J. Morgener 7. Satz Im Kerker der Santé Originaltext: Apollinaire Russischer Text: M. Kudinow Deutscher Text: J. Morgener 8. Satz Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel Originaltext: Apollinaire Russischer Text: M. Kudinow Deutscher Text: J. Morgener 9. Satz An Delwig Originaltext (russisch): Wilhelm Küchelbeker Deutscher Text: J. Morgener 10.Satz Der Tod des Dichters Originaltext (deutsch): Rainer Maria Rilke Russischer Text: T. Silman 11.Satz Schlussstück Originaltext (deutsch): Rainer Maria Rilke Russischer Text: T. Silman Aus urheberrechtlichen Gründen muss darauf verzichtet werden, die kompletten Liedtexte abzudrucken. 11 VORHABEN UND ABGRENZUNG DIESES BUCHES Mit dieser Arbeit liegt keine umfassende Analyse der 14. Sinfonie im herkömmlichen Sinn vor. Weder wird hier versucht, dieses Werk formal zu durchleuchten und Formschemata der einzelnen Sätze zu erstellen, noch ist es ein Anliegen, strukturelle Elemente, Zwölftonreihen oder andere Modi mit ihren möglichen Permutationen aufzuzählen. Auch eine durchgängige Interpretation der Texte, in historischen, persönlich-autobiographischen oder musikalischen Zusammenhängen findet nicht statt. Hierfür gibt es inzwischen einige gute Bücher, allen voran das ausgezeichnete und empfehlenswerte Buch von Andreas Wernli Dmitri Schostakowitsch aus der Reihe Frequenzen #01 (Rüffer+Rub Sachbuchverlag, Zürich, 2004 / ISBN 3907625-19-6). Vielmehr soll in dem vorliegenden Buch versucht werden, die zweite, subtile Ebene des Werkes zu durchleuchten. Diese Ebene wird von Schostakowitsch nicht über die gesamte Ausbreitung der Sinfonie in gleichem Maß genährt, sondern findet sich nur bruchstückhaft. Und so muss sich diese Ausarbeitung ebenso auf Bruchstücke der Komposition beziehen, dabei manche Sätze bevorzugen und wieder andere links liegen lassen. Nicht immer verlaufen die Wichtigkeiten in dieser untergründigen Ebene parallel zu den Aufsehen erregenden Aussagen des offensichtlichen Materials. Zum Beispiel lässt sich eine verbergende Beschaffenheit im 8. Lied der Sinfonie Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel nicht ausmachen. Gerade hier verfährt ja der Text rücksichtlos mit dem Peiniger Schostakowitschs, und gerade hier sollte man eigentlich Verborgenes vermuten. Punktuell also führt dieses Buch in die untergründige, perforierte Ebene der Sinfonie. Nicht den Anspruch erhebend, hiermit eine umfassende analytische Betrachtung des Werkes vornehmen zu wollen, sondern bereits 12 Bekanntes um einige bis Zusammenhänge zu bereichern. heute nicht bekannte Ein Hinweis soll an dieser Stelle noch auf die Sprache des Originalwerkes, beziehungsweise dessen deutscher Übertragung, erfolgen. Selbstverständlich erfolgte die Textierung in Schostakowitschs Sinfonie in russischer Sprache, wobei die Dichter allerdings internationaler Herkunft waren und ihre Gedichte dem Komponisten auch in ihrer ursprachlichen Version vorlagen. Die deutsche Übersetzung hält sich in der Regel sehr eng an die russische Version an und liegt deshalb auch meist den Zitaten in diesem Buch zugrunde. Bei Abweichungen, welche für die jeweilige Aussage bedeutend sind, wird darauf hingewiesen. 13 ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER 14. SINFONIE Schon viele Jahre vor der eigentlichen Entstehung der 14. Sinfonie im Jahr 1969 trug Schostakowitsch die Idee zu diesem Werk mit sich herum. »Erstmals kam mir der Gedanke daran im Jahr 1962. Ich orchestrierte damals Mussorgskis Vokalzyklus Lieder und Tänze des Todes, ein großartiges Werk, schon immer bewunderte ich es. Damals dachte ich nur, dass ein gewisser Mangel dieses Werkes seine Kürze sei: im ganzen Zyklus nur vier Lieder. Ob man nicht Mut fassen und versuchen sollte, den Zyklus fortzusetzen, dachte ich.«2 Ein Briefwechsel mit Isaak Glikman, welchen Krysztof Meyer in seinem Buch über Schostakowitsch als einen der wenigen wirklichen Freunde des Komponisten bezeichnet, aus dem Jahr 1966 belegt die frühe Fertigung von Skizzen zu diesem Werk. Schließlich gab ihm ein Krankenhausaufenthalt Anfang des Jahres 1969 Ruhe und Abgeschiedenheit, dieses lang projektierte Werk auch zu vollenden. Die Belegung der Quarantänestation - die Moskauer Bevölkerung war einer sehr ansteckenden Grippeepedemie ausgesetzt - ließ keinerlei Besuch zu. Nicht einmal seine Ehefrau durfte zu ihm, und jegliche Kommunikation musste per Brief erfolgen. Die Arbeit ging sehr zügig voran. Bereits nach einem knappen Monat Aufenthalt im Moskauer Kreml-Krankenhaus schrieb er am 17. Februar 1969 an Glikman: »Offensichtlich entlässt man mich in etwa zehn Tagen aus dem Krankenhaus. Gestern habe ich den Klavierauszug meiner neuen Sinfonie beendet.«3 Weitere zwei Wochen später war auch die Partitur ausgearbeitet und Schostakowitsch konnte sein neues Werk seinen Künstlerkollegen Iwan Bunin, Rudolf Barschai und Kirill Kondraschin vorstellen: »Irgendwann im Frühjahr 1969 rief mich Dmitri Dmitrijewitsch an und bat, bei ihm vorbei zu kommen und seine neue Komposition einzusehen....Ihm schmerzten die Hände und er konnte kaum spielen. Den Vokalpart sang er selbst mit ziemlich leiser Stimme,... Man spürte, dass dieses Werk Dmitri Dmitrijewitsch besonders 14 teuer war. Nach dem Spiel, bereits beim Teetrinken, erwähnte er beiläufig, dass er mehrere Nächte lang nicht geschlafen habe, nachdem er das Manuskript der Partitur zum Abschreiben weggegeben hatte: Ich überlegte die ganze Zeit, ob es mir gelingen würde, das Werk aus dem Kopf niederzuschreiben, wenn das Original plötzlich abhanden gekommen wäre.«4 Offenbar schien Schostakowitsch diese Sinfonie besonders am Herzen zu liegen und Gedanken an einen möglichen Verlust oder an die Unmöglichkeit seiner Fertigstellung bereiteten ihm Unbehagen: »Ich habe sehr schnell gearbeitet. Ich fürchtete, dass mir während der Arbeit an der 14.Sinfonie irgendetwas zustößt, zum Beispiel die rechte Hand hört endgültig auf zu funktionieren, ich erblinde plötzlich etc. Diese Gedanken haben mir ziemlich zugesetzt. Doch es ist alles gut ausgegangen. Die Hand funktioniert halbwegs, die Augen sehen noch...«5 Die gezielte Auswahl der Gedichte, welche in der 14. Sinfonie vertont werden, lässt auf eine längerfristige Vorarbeit schließen. Wie noch später dargestellt werden wird, sind diese Texte in ihrer Infrastruktur so sorgsam zusammengestellt worden, dass sie neben ihrem offensichtlichen Inhalt auch dazu taugen, die verborgene Ebene dieser Komposition mitzutragen. Unmöglich lässt sich ein solches Vorhaben - ein vielschichtiges, in jeder seiner Ebene schlüssiges Werk zu fertigen - in kurzer Zeit vorbereiten. Die Briefe Schostakowitschs an Glikman offenbaren aber auch diesbezüglich Hinweise: »Alles, was ich innerhalb vieler Jahre schrieb, war eine Vorbereitung auf diese Komposition.«6 In welcher Weise sollten sich seine früheren Werke dann vorbereitend in die 14. Sinfonie einbringen? Könnte man die früheren Sinfonien als die direkten stilistisch-musikalischen Wegbereiter der 14. Sinfonie betrachten, oder bezieht sich Schostakowitschs Andeutung doch auf eine nichtmusikalische Ebene? Betrachtet man seine musikalisch-kompositorische Entwicklung so ergibt sich keine erkennbare und 15 nachvollziehbare direkte Linie zur 14.Sinfonie. »Die 1.Symphonie, die Diplomarbeit Schostakowitschs, stellt die Basis dar, von der aus sich seine Symphonik entwickelt. Die 2. und 3. sind der experimentellen Phase zuzurechnen; die 4. stellt in der Symphonik Schostakowitschs einen Wendepunkt dar: In ihr sind Elemente der experimentellen Phase enthalten, gleichzeitig ist aber eine Hinwendung zur Tradition festzustellen. Sie leitet die 'mittlere' Periode ein. Der Einschnitt zwischen mittlerer und später Periode ist schwieriger auszumachen; ein augenfälliger Wandel in der Konzeption ist in der 13. und 14. Symphonie festzustellen, in denen Schostakowitsch das Wort einbezieht. Mit der 15. Sinfonie kehrt er wieder zur reinen Instrumentalmusik zurück.«7 Eine offensichtliche, zwingende musikalische Linie scheint sich also wohl nicht durch sein sinfonisches Schaffen zu ziehen. Zumindest keine, deren musikalische Errungenschaften sich in der 14. Sinfonie widerspiegeln. Allerdings muss man natürlich dabei berücksichtigen, dass das Schreiben Schostakowitschs allzu häufig durch Kritik und Vorgaben der Obrigkeit geformt und beeinflusst wurde Was verbergen und beinhalten dann also die dieser Sinfonie vorausgehenden Werke Schostakowitschs, wenn sie - gemäß des obigen Zitats Schostakowitschs - der Vorbereitung dienten und was genau sollten sie vorbereiten? Die Antwort kann nur im ideellen Bereich zu finden sein und man muss sich mit der Vermutung arrangieren: Dienten die Vorgängerwerke der 14. Sinfonie vielleicht dazu, auf die in dieser Sinfonie enthaltenen beiden Ebenen offenliegend und verborgen - hinzuführen? Erstere, die offenliegende Ebene, ist in ihrer Vorbereitung durch frühere Werke durchaus nachvollziehbar. Sie demonstriert Schostakowitschs Einstellung zu Terror und Gewalt und klagt die Tyrannen - allen voran Stalin - angesichts ihres unmenschlichen Wirkens massiv an. 16 Spätestens in der 13. Sinfonie können wir uns ja von der humanistischen Gesinnung Schostakowitschs überzeugen, der sich hier mit der Vertonung von Jewtuschenkos Gedicht Babij Jar für die Verfolgten und Erniedrigten einsetzt. Aber auch die früheren Sinfonien ohne vertonte Worte liefern in ihrer teilweise skurrilen Karikatur Anhaltspunkte für Kritik und Verspottung der Obrigkeit. Freilich meistens unausgesprochen, einzig subtiler Empfindung und Fantasie des Hörers ausgesetzt. Aber auch die 10. Sinfonie kann als Meilenstein auf der Straße zur 14. Sinfonie angesehen werden. Volkow sieht den 2.Satz dieser Komposition als Schmähung Stalins an: »Die zehnte Symphonie, die man mit Fug und Recht als sein vollkommenstes Werk bezeichnen kann, hat ein klares Sujet: die Konfrontation zwischen Künstler und Tyrann. Der zweite Satz, ein wildes Furcht erregendes, den Hörer überwältigendes Scherzo, ist ein musikalisches Portrait Stalins. Das hat mir Schostakowitsch selbst einmal gesagt, und sein Sohn Maxim hat es später bestätigt.«8 Die also nach außen hin wahrnehmbaren und in ihrer Kritik unmittelbar verständlichen Ebenen dieser Werke sorgte durchaus für manchen Eklat. So veranlasste das den Antisemitismus in der Sowjetunion anklagende Gedicht Jewtuschenkos Babij Jar - textliche Vorlage zur 13. Sinfonie Schostakowitschs - den Umstand, dass diese Sinfonie einige Jahre lang nach der Uraufführung kaum mehr gespielt wurde. Allzu sehr geriet der Dichter nach der Publikation seines Werkes in die öffentliche Kritik, was sich natürlich auch in der Aufführungsrate der 13. Sinfonie Schostakowitschs widerspiegelte. Die erste öffentliche Aufführung der 14. Sinfonie war dann allerdings auch nicht dazu geeignet, auf allzu großes Entgegenkommen der Beaufsichtigungsbehörden zu hoffen. Diese Voraufführung des Werkes am 21. Juni 1969 rief nämlich den Herzanfall eines der beiwohnenden Zuhörer, ausgerechnet des Musikfunktionärs und SchostakowitschKritikers Apostolow, hervor: 17 »Bei der fünften Nummer meiner Symphonie wurde dem Musikfunktionär Pawel Iwanowitsch Apostolow übel. Er schaffte es, aus dem brechend vollen Saal herauszugehen, und ist einige Zeit später gestorben.«9 Diese öffentliche Voraufführung sollte dazu dienen, einen Mitschnitt des Werkes zu ermöglichen. Aus diesem Grund bat der Komponist auch um Ruhe während des Konzerts. Apostolows lautstarkes Aufstehen inmitten der Aufnahme sorgte zunächst für den Verdacht eines absichtlichen Protests. Völlig zu Unrecht, wie sich dann ja später herausstellte. Aber auch aufgrund der anklagenden Texte gestaltete sich die Akzeptanz der 14. Sinfonie seitens der Zensur schwierig. Zwar wurde kein offizielles Aufführungsverbot des Werkes ausgesprochen, aber kaum fand sich ein Veranstalter, der es gewagt hätte, die eigentliche Uraufführung vorzunehmen. Diese fand dann allerdings doch am 29. September 1969 in der Leningrader Kapella statt. Bei den verborgenen Ebenen der Vorgängerwerke lässt sich allerdings nur spekulieren. Allzu wenig wurden untergründige Inhalte bisher schlüssig dargestellt. Dennoch lässt sich aber unabhängig vom bisher Gefundenen aufgrund der Äußerung gegenüber Glikman erahnen, welche immense Bedeutung die 14. Sinfonie seitens ihres Urhebers beigemessen wurde. Und auch die oben dargestellte Besorgnis Schostakowitschs bezüglich der ungehinderten Fertigstellung des Werkes verstärkt diesen Eindruck der Wichtigkeit. 18 SUBTILE UND EXPONIERTE HINWEISE Die genaue Untersuchung der 14. Sinfonie offenbart verborgene Botschaften, die auf den ersten Blick oder beim ersten Hören nicht wahrnehmbar sind. Offenbar sind diese so sehr gestreut, so geschickt und unscheinbar arrangiert, dass auch die nähere Auseinandersetzung kaum zu deren überzeugender Wahrnehmung führt. Bei meiner Recherche bezüglich der 14. Sinfonie erhielt ich auch gelegentlich die desillusionierende Kritik, ich würde musikalische Allgemeinplätze zu hintergründigen Symbolismen aufwerten. Zugegeben: Viele dieser hintergründigen Erscheinungen sind allgemeiner Art und könnten ebenso in manch anderem Werk anderer Komponisten stehen, sind also nicht zwangsläufig spezifisch-musikalische Elemente der 14. Sinfonie Schostakowitschs. In ihrer Vielzahl liefern diese allerdings schon eine beeindruckende Eindringlichkeit der Aussage und führen einem Puzzlespiel gleich - zu einer gemeinsamen Aussage. Ginge es hierbei nicht um die rechtfertigende Stellungnahme eines existenziell bedrängten Künstlers zu äußerlicher Handlung und innerer Einstellung, so könnte man aufgrund der Schlüssigkeit dieser vielen Hinweise sogar respektlos von einem Indizienprozess sprechen. Dieses - die Positionen umkehrende - Bild wirkt dann umso nachhaltiger, wenn man die Statements Schostakowitschs in seiner 14. Sinfonie nicht nur als Rechtfertigung betrachtet, sondern gleichzeitig als Anklage gegenüber dem blutbefleckten stalinistischen Regime. Warum wandte Schostakowitsch dieses Verfahren der breit gestreuten Indizien eigentlich an? Die Antwort hierauf gibt gewissermaßen schon die oben genannte Kritik verschiedener, befragter Fachleute an meiner Verwertung offensichtlich allzu allgemeiner musikalischer Aussagen. Hätte Schostakowitsch an einer einzigen Stelle einen überdeutlichen Hinweis auf mögliche dissidentische Hinweise geliefert, so wäre die sowjetische 19 Zensurbehörde sicherlich sofort tätig geworden und hätte in die öffentliche Verbreitung des Werkes eingegriffen. Keineswegs war Schostakowitsch im Jahr 1969 in der Lage, frei und ungehindert komponieren zu können. Allzu sehr bedrohten Arbeits- und Aufführungsverbot seine Existenz. Als exponierte Hinweise bezeichne ich in meiner Arbeit Auffälligkeiten jeder Art. Diese kann man häufig nicht funktionell einordnen, sie beeindrucken als klanglicher Effekt, als Blickfang oder einfach nur als markant gestaltendes musikalisches Gebilde. So wirkt etwa das schrille, sogar im Kontrabass auffallend hoch gestaltete Aufeinanderprallen der musikalischen Linien im Takt 12 der Malagueña wie ein Aufschrei, der nicht überhört werden kann (vgl. Notenbeispiel 21). Ohne das Wissen seines Hintergrunds freilich ist dieser nicht interpretierbar, oder zumindest nicht in der vom Komponisten angelegten untergründigen Weise. Auch der merkwürdige Auf- und Abstieg zu Beginn des siebten Satzes, in der Abwärtsrichtung spiegelbildlich um einen Halbtonschritt versetzt, birgt Geheimnisse. Häufig finden sich diese exponierten Hinweise also am Satzanfang oder auch nach einer Zäsur. Manchmal ist es sehr schwierig, die Hinweise des Komponisten wahrzunehmen. Sie erschließen sich dann erst nach intensivster Auseinandersetzung: Weder sind sie zu hören noch zu sehen. Aber gerade hierbei ist die Bestätigung, etwas Wichtiges entdeckt zu haben, meist besonders eindrucksvoll. Und nicht selten ist der Beweis für die berechtigte Vermutung eines außerordentlichen Fundes in einem erhöhten Maß befriedigend und faszinierend. Ein Beispiel für solch einen subtilen Hinweis Schostakowitschs finden Sie unter anderem im vierten Satz Der Selbstmörder. Hier werden Sie beim Analysieren der Singstimme feststellen, dass an keiner Stelle ein Kreuz als Akzidenz verwendet wurde. Sämtliche Alterationen geschehen mittels . 20 Bei den subtilen Hinweisen kann es durchaus auch vorkommen, dass bestimmte Textstellen zusammen mit deren eng verbundenen Art der Vertonung eine neue Deutung erfahren. Zu gegebener Zeit wird auch hiervon die Rede sein. Ein bekannter deutscher Komponist, dem ich von meinen zahlreichen Funden in dieser Sinfonie Bericht erstattete, schrieb mir hierauf: »Es ist schwer, in der Musik von Schostakowitsch nichts zu finden.« In der Tat sind die Stellen, bei denen man einen autobiographischen Bezug vermuten kann, überaus reich gesät. Man muss nur in der Hand haben, diese auch adäquat zu verstehen. 21 BRÜCKEN ZU GOETHES FAUST Der Brückenschlag Schostakowitschs zu Goethes Faust geschieht auf mehrere Weisen. Nehmen wir uns zunächst also den Weg vor, welcher sich mir auch als erster erschloss. Die musikalische Mephistowalzer. Verbindung zu Franz Liszts Schostakowitschs Liebe zum Werk Franz Liszts ist bekannt: »Ungern spielte er Debussy und Ravel, am liebsten Bach, Beethoven und Liszt, denn vom Kompositorischen her interessierten ihn diese am meisten.«10 Dass er den Lisztschen Mephisto-Walzer – ein pianistisches Standardwerk - gut kannte, ist deshalb anzunehmen. Franz Liszt schrieb sein virtuoses Werk in den Jahren 1858 und 1859; der genaue Titel lautet Mephisto-Walzer – Episode aus Lenaus »Faust«: Der Tanz in der Dorfschenke. Die romantische Dichtung Nikolaus Lenaus Faust – Ein Gedicht (1836) liegt diesem Klavierwerk zugrunde. Lenaus Werk ist bestimmt von Weltschmerz und Melancholie; man kann ihn als einen übersteigendromantisierenden Vertreter des Wiener „Sturm und Drang“ ansehen. Er dichtete den Faust auf seine ihm eigene Weise, wobei er sich literarisch nicht immer sehr geschickt anstellte: »Der größtenteils eingesetzte Paarreim (aabb) und der kurzatmige Rhythmus sorgen gelegentlich für unfreiwillige, entfernt an Limericks erinnernde Komik: 'Hier unterschreib’ ich den Vertrag,/Weil ich nicht länger zweifeln mag.'«11 Die Listzsche Klavierkomposition nimmt sich nur eines Teils der gesamten Dichtung an, nämlich des 6. Abschnitts, von Lenau mit Tanz betitelt: 22 Nikolaus Lenau: Faust. Ein Gedicht (1836) Der Tanz Dorfschenke Hochzeit. Musik und Tanz. Mephistopheles als Jäger (zum Fenster herein) Da drinnen geht es lustig zu; Da sind wir auch dabei, Juchhu! (Mit Faust eintretend) So eine Dirne lustentbrannt Schmeckt besser als ein Foliant. Faust Ich weiß nicht wie mir da geschieht, Wie mich's an allen Sinnen zieht. So kochte niemals noch mein Blut, Mir ist ganz wunderlich zumut. Mephistopheles Dein heißes Auge blitzt es klar: Es ist der Lüste tolle Schar, Die eingesperrt dein Narrendünkel, Sie brechen los aus jedem Winkel. Fang eine dir zum Tanz heraus, Und stürze keck dich ins Gebraus! Faust Die mit den schwarzen Augen dort Reißt mir die ganze Seele fort. Ihr Aug' mit lockender Gewalt Ein Abgrund tiefer Wonne strahlt. Wie diese roten Wangen glühn, Ein volles, frisches Leben sprühn! An diese Lippen sich zu schließen, 's muß unermeßlich süße Lust sein, Die schmachtend schwellen, dem Bewußtsein Zwei wollustweiche Sterbekissen. Wie diese Brüste ringend bangen In selig flutendem Verlangen! Um diesen Leib, den üppig schlanken, Möcht' ich entzückt herum mich ranken. Ha! wie die langen schwarzen Locken Voll Ungeduld den Zwang besiegen Und um den Hals geschwungen fliegen, 23 Der Wollust rasche Sturmesglocken! Ich werde rasend, ich verschmachte, Wenn länger ich das Weib betrachte; Und doch versagt mir der Entschluß, Sie anzugehn mit meinem Gruß. Mephistopheles Ein wunderlich Geschlecht fürwahr, Die Brut vom ersten Sünderpaar! Der mit der Höll' es hat gewagt, Vor einem Weiblein jetzt verzagt, Das viel zwar hat an Leibeszierden, Doch zehnmal mehr noch an Begierden. (Zu den Spielleuten) Ihr lieben Leutchen, euer Bogen Ist viel zu schläfrig noch gezogen! Nach eurem Walzer mag sich drehen Die sieche Lust auf lahmen Zehen, Doch Jugend nicht voll Blut und Brand. Reicht eine Geige mir zur Hand, 's wird geben gleich ein andres Klingen, Und in der Schenk' ein andres Springen! Der Spielmann dem Jäger die Fiedel reicht, Der Jäger die Fiedel gewaltig streicht. Bald wogen und schwinden die scherzenden Töne Wie selig hinsterbendes Lustgestöhne, Wie süßes Geplauder, so heimlich und sicher, In schwülen Nächten verliebtes Gekicher. Bald wieder ein Steigen und Fallen und Schwellen; So schmiegen sich lüsterne Badeswellen Um blühende nackte Mädchengestalt. Jetzt gellend ein Schrei ins Gemurmel schallt: Das Mädchen erschrickt, sie ruft nach Hilfe, Der Bursche, der feurige, springt aus dem Schilfe. Da hassen sich, fassen sich mächtig die Klänge, Und kämpfen verschlungen im wirren Gedränge. Die badende Jungfrau, die lange gerungen, Wird endlich vom Mann zur Umarmung gezwungen. Dort fleht ein Buhle, das Weib hat Erbarmen, Man hört sie von seinen Küssen erwarmen. Jetzt klingen im Dreigriff die lustigen Saiten, Wie wenn um ein Mädel zwei Buben sich streiten; Der eine, besiegte, verstummt allmählich, Die liebenden beiden umklammern sich selig, Im Doppelgetön die verschmolzenen Stimmen Auf rasend die Leiter der Lust erklimmen. 24 Und feuriger, brausender, stürmischer immer, Wie Männergejauchze, Jungferngewimmer, Erschallen der Geige verführende Weisen, Und alle verschlingt ein bacchantisches Kreisen. Wie närrisch die Geiger des Dorfs sich gebärden! Sie werfen ja sämtlich die Fiedel zur Erden. Der zauberergriffene Wirbel bewegt, Was irgend die Schenke Lebendiges hegt. Mit bleichem Neide die dröhnenden Mauern Daß sie nicht mittanzen können bedauern. Vor allen aber der selige Faust Mit seiner Brünette den Tanz hinbraust; Er drückt ihr die Händchen, er stammelt Schwüre, Und tanzt sie hinaus durch die offene Türe. Sie tanzen durch Flur und Gartengänge, Und hinterher jagen die Geigenklänge; Sie tanzen taumelnd hinaus zum Wald, Und leiser und leiser die Geige verhallt. Die schwindenden Töne durchsäuseln die Bäume, Wie lüsterne, schmeichelnde Liebesträume. Da hebt den flötenden Wonneschall Aus duftigen Büschen die Nachtigall, Die heißer die Lust der Trunkenen schwellt, Als wäre der Sänger vom Teufel bestellt. Da zieht sie nieder die Sehnsucht schwer, Und brausend verschlingt sie das Wonnemeer. Der Text gibt die Szenerie in der Dorfschänke wieder und korrespondiert mit der Szene in Auerbachs Keller in Goethes Faust. Das Leipziger traditionelle Studentengasthaus wurde hier also in eine Dorfschänke umgewandelt. Aber auch Inhalt und Handlung dieser Szene müssen sich der schwülstig-fantasievollen Umformung des Romantikers unterwerfen. Ein Umstand, auf welchen wir später noch gründlich zurückkommen müssen. Lediglich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das Musizieren im Wirtshaus bei Lenau in anderer Weise ausgeübt wird, als bei Goethe. Ist es bei Letzterem ein Lied, welches Mephisto den Mitzechern vorträgt, so erfolgt seine musikalische Äußerung in der Lenau-Fassung durch die Violine, die auf teuflische Weise erklingt und die Geiger des Dorfes ... die Fiedel zu Erden werfen lassen. 25 Liszts Mephisto-Walzer-Komposition gibt diesen furios-ekstatischen Tanz mit Vehemenz wieder. Die Tempobezeichnung Allegro vivace (quasi presto) sorgt für wilde Rastlosigkeit und nervöse Unruhe. Der Beginn erfolgt mit Mephistos Stimmen der Geige, ein musikalisches Fragment, welches sich bei Liszt nach einer einleitenden Übereinanderschichtung mehrerer Quinten folgendermaßen äußert: Notenbeispiel 1 Für uns ist es wichtig zu erkennen, dass sich Franz Liszt in seinem Klavierwerk Mephisto-Walzer wirklich der Lenauschen Faust-Fassung anschließt: Die leeren Quinten als leere Saiten der Violine des Beginns belegen dies eindeutig. Wagen wir an dieser Stelle nun bereits den Versuch einer allerersten Annäherung an Schostakowitschs 14. Sinfonie: Der zweite Satz dieser Sinfonie Malagueña bringt – nach dem chromatisch strukturierten ersten Takt - ebenfalls das Spiel mit den leeren Saiten eines Instruments. Notenbeispiel 2 Aufgrund der Auswahl der Töne - diese geben allesamt die leeren Saiten der Gitarre wieder - könnte man hier eine - allerdings noch höchst unscheinbare Korrespondenz der Sinfonie mit dem Mephisto-Walzer 26 einräumen. Die Wiedergabe leerer Saiten von Streichinstrumenten in der Klaviermusik ist allerdings nicht sehr ungewöhnlich; viele Komponisten haben sich dieser lautmalerischen Möglichkeit angenommen. Allerdings erhält diese Übereinstimmung wesentlich mehr Gewicht beim Erörtern des nächsten, wesentlich kapitaleren, Brückenschlags. Dieser ist in den Takten 47/48 der Malagueña zu finden. Hier führt die Stimme der Solo-Violine zu einer weiteren, prägnanten motivischen Verbindung zur Listzschen Komposition hin. Das Glissando von »h« nach »d« ist ihre allererste musikalische Äußerung in der gesamten Sinfonie. Das genaue Betrachten dieser Figur – und vor allem der nachfolgende Vergleich mit der Korrespondenzstelle im Mephisto-Walzer - offenbart deren Wechselwirkung mit der Stimme der 1.Violine: Ein Glissando wird durch das vielmalige Repetieren des »e« abgelöst; knapp drei Takte später übernimmt die Solo-Violine wieder das »e« und führt es nun zum »a« weiter: Notenbeispiel 3 Die Korrespondenzstelle in Liszts Mephisto-Walzer ist unübersehbar und fällt beim erstmaligen Betrachten der Noten sofort ins Auge: Notenbeispiel 4 27 Unübersehbar ist hier auch die Art der Verbindung: Das Glissando beginnt mit dem »h« und endet mit dem »d«; sowohl Anfangs- als auch Zielton stimmen mit Notenbeispiel 3 überein. Die sich anschließende Tonwiederholung des »e« und die daraufhin folgende Wendung zum a (bzw. A-Dur bei Liszt) vervollständigen in verblüffender Konsequenz die Übereinstimmung beider Fragmente. Mag man – beiden Beweisführungen zum Trotz - hier noch immer den Zufall für die Übereinstimmung verantwortlich machen, so soll ein drittes motivisches Bindeglied für Klarheit sorgen. Und zwar – man muss bei Liszt wieder einmal an einer auffälligen Position suchen - formiert sich das Hauptthema des Mephisto-Walzers aus einer Motiventwicklung heraus, welche man ab Takt 93 finden kann: Notenbeispiel 5 Das Gegenstück in Schostakowitschs 14. Sinfonie gestaltet sich folgendermaßen: Notenbeispiel 6 Allerdings muss man hier im dritten Satz der Sinfonie nachsehen (T.168/169) bis man das Motiv in dieser überzeugend übereinstimmenden Form findet. Ähnlich den Verarbeitungsschritten im Mephisto-Walzer begibt sich dieses Motiv auch bei Schostakowitsch zunächst durch mehrere Stadien der Umformung. Besonders interessant: Beide Musikbeispiele 5 und 6 hintereinander gespielt ergänzen sich zu einer Art 6taktigen Periode, welche durchaus auch harmonisch in ihrem Vorder- und Nachsatz annähernd übereinstimmt. 28 Kommen wir nun wieder auf die bereits angesprochene Umwandlung Lenaus zu sprechen: Aus dem Goetheschen Gesang wird hier die teuflisch gespielte Geige. Ist der Mittelteil von Schostakowitschs Malagueña nicht eben jener verführerischer Geigenklang, der von Lenau mit den Worten »Erschallen der Geige verführende Weisen skizziert wurde«? Das erste Auftreten der Violine in der Malagueña lässt sich durchaus als exponierte Erscheinung werten, der Beginn mit dem Glissando weist deutlich zum MephistoWalzer; und nun, im Mittelteil dieses spanischen Tanzsatzes, erschallt ein Walzer. Nicht nur verwirklicht dieser Abschnitt die in der Listzschen Komposition musikalisch und in dessen Textvorlage verbal geforderte Teufelsgeige, nein, auch die Fremdhaftigkeit des Walzers inmitten eines spanisch geprägten Tanzsatzes belegt dessen unübersehbare Eigentümlichkeit. Übrigens gibt es in der Malagueña weitere lautmalerische Klänge, welche ländlich-derben Geigenklang suggerieren wollen: Notenbeispiel 7 Leere Saiten der Violinen stehen hier für die Unbeholfenheit der bäuerlichen Tanzmusik, von dem sich der nachfolgende geschwinde Walzer der Solo-Violine eben teuflisch-virtuos abhebt. 29 Die Assoziation zu Goethes Faust Schostakowitsch benutzt die Komposition Franz Liszts und dessen dichterische Vorlage lediglich um eine Brücke zu schlagen. Nicht der Lenausche Faust ist sein eigentliches ideeles Ziel, sondern die Version Goethes. Dem Tanz in der Dorfschenke entspricht hier die Szene aus dem ersten Teil der Dichtung, welche Goethe mit Auerbachs Keller in Leipzig überschrieben hat. Hier treffen Faust und Mephisto in dem Gasthaus Auerbachs Keller auf Frosch, Brandner, Siebel und Altmayer, eine muntere Schar fröhlicher, angeheiterter Studenten. Diese rätseln über die Herkunft der Ankömmlinge und werden von Mephisto unterrichtet: »Wir kommen erst aus Spanien zurück, dem schönen Land des Weins und der Gesänge.« Daraufhin singt Mephisto sein berühmtes Lied: Es war einmal ein König Der hatt einen großen Floh, Den liebt, er gar nicht wenig, Als wie seinen eignen Sohn. Da rief er seinen Schneider, Der Schneider kam heran: Da, miß dem Junker Kleider Und miß ihm Hosen an! In Sammet und in Seide War er nun angetan Hatte Bänder auf dem Kleide, Hatt auch ein Kreuz daran Und war sogleich Minister, Und hatt einen großen Stern. Da wurden seine Geschwister Bei Hof auch große Herrn. Und Herrn und Fraun am Hofe, Die waren sehr geplagt, 30 Die Königin und die Zofe Gestochen und genagt, Und durften sie nicht knicken, Und weg sie jucken nicht. Wir knicken und ersticken Doch gleich, wenn einer sticht. Die Zecher erfreuen sich am Gesang Mephistos, der die Stimmung dann noch mit einigen teuflischen Taschenspielertricks anheizt. Zunächst kündigt er an, Wein aus dem Tisch zu zaubern, und wendet sich an Frosch: »Nun sagt, was wünschet ihr zu schmecken?« Dieser antwortet daraufhin: »Gut! Wenn ich wählen soll, so will ich Rheinwein haben.« Aber nicht nur Wein vom Rhein fließt nun, sondern auch Champagner und Tokayer, und unachtsam vergossener Wein beginnt wie ein Fegefeuer zu brennen. Des Weiteren verzaubert er die Nasen der Anwesenden in Trauben und jeder schickt sich an, die Nase seines Nachbarn mit einem Messer abzuschneiden. Die jungen Männer – nun wieder bei Sinnen - rätseln darüber, was ihnen gerade widerfuhr und wollen Mephisto für erlittene Verwirrung und Betrug zur Rechenschaft ziehen: »Wo ist der Kerl? Wenn ich ihn spüre, er soll mir nicht lebendig gehen!« Doch Mephisto ist zusammen mit Faust bereits auf wundersame Weise verschwunden, was von Altmayer beobachtet wurde: »Ich hab ihn selbst hinaus zur Kellertüre – auf einem Fasse reiten sehn.« Der Transfer zu Goethes Faust geschieht in Schostakowitschs 2.Satz der 14.Sinfonie Malagueña bisher also dadurch, dass er – wie bereits beschrieben - die leeren Instrumentalsaiten als Bindeglied benutzt: In Lenaus romantischem Faust ist die Violine das Instrument, welches in der Taverne zu Gehör kommt, während die Szene in Auerbachs Keller des Goetheschen Faust ohne Violinbegleitung auskommt. Lediglich Gesang ertönt. 31 Die geographische Beziehung zum Faust Wie im vorausgehenden Abschnitt erzählt, lassen sich in der Szene von Auerbachs Keller in Goethes Faust zwei geographische Angaben bemerken: Spanien und der Rhein. Erstere geht dem Flohlied direkt voraus, während die andere der musikalischen Einlage folgt. Weitere geographische Hinweise erhalten wir zwar anschließend, »Ich will Champagner Wein,....Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden...«, doch den unmittelbaren Rahmen von Es war einmal ein König bilden eben Spanien und der Rhein. In der 14.Sinfonie Schostakowitschs spielen diese beiden Regionen ebenfalls eine bedeutende Rolle: Das erste Stück entstammt –wie auch das zweiteder Feder des spanischen Dichters García Lorcas. Die geographischen Namen Andalusien und Cordoba im Text des eröffnenden Liedes bestimmen dessen spanische Ausrichtung. Die bereits erwähnte Malagueña – eigentlich ein spanischer Tanz - setzt die Reihe der Anspielungen auf Spanien fort. Nun folgt an dritter Position ein Lied des deutschen Dichters Clemens Brentano Loreley. Dieses berühmte Stück beschreibt das Schicksal der falschen Zauberin, die ihrem Leben mit dem Sprung vom hohen Fels in den Rhein ein Ende setzt. Auch hier wieder finden sich also direkte Bezüge der 14. Sinfonie von Schostakowitsch zu Goethes Faust, welche durch diese Häufung nun nicht mehr als zufällig betrachtet werden können. Sehr zielgerichtet ordnet der Komponist seine Gesänge an, um damit die Brücke zu Goethes Faust zu bauen. Aber nicht das gesamte klassische Drama steht in Beziehung zur Komposition, sondern nur derjenige Teil, welcher von Schostakowitsch durch die geographischen 32 Begriffe zentriert wurde, nämlich das Lied Mephistos Es war einmal ein König. Wie sich zeigen wird, bildet es einen Schlüssel für die von Schostakowitsch versteckten Botschaften. Die biographische Beziehung zum Faust Auch das Werkverzeichnis Schostakowitschs weist eine Verbindung zum Faust auf. Unter der Opuszahl 146b findet man eine Orchestrierung von Beethovens Vertonung des Flohlieds. Schostakowitsch schrieb dieses Arrangement für Solo-Bassstimme und Orchester im Jahr 1975. Es wurde am 1.April desselben Jahres mit Jewgenij Nesterenko uraufgeführt. Darüber hinaus gibt es eine indirekte Beziehung Schostakowitschs zur gleichen Textvorlage durch Mussorgski, dem von Schostakowitsch überaus verehrten russischen Romantiker: »Wenn ich so Zug um Zug Mussorgskis Charakter nachgehe, staune ich, wie ähnlich unsere Naturen sind, trotz des deutlichen, ins Auge springenden Unterschieds. Natürlich ist es unschicklich, über sich selbst allerlei Gutes zu sagen (wissend, dass dies alles eines Tages gedruckt werden wird), und einige Spießbürger können mir das vorwerfen. Aber mir ist es nun einmal interessant Parallelen zu ziehen, und in diesem Fall, ich verheimliche es nicht, ist es auch angenehm.....Jedesmal, wenn ich an Mussorgskis Kompositionen arbeitete, klärte sich Wichtiges für meine eigenen Kompositionen....Über die Beziehung zwischen »Lieder und Tänze des Todes« und meiner Vierzehnten habe ich sogar etwas geschrieben und publiziert.«12 Als Fortsetzung der Lieder und Tänze des Todes von Mussorgski, welches Schostakowitsch für Orchester instrumentierte, beschrieb er seine Vierzehnte Sinfonie. In ihrer Thematik des unnatürlichen, frühen Todes knüpft sie an das Werk Mussorgskis an: »Dieselben Gedanken fanden Niederschlag in der Vierzehnten. In ihr 33 protestiere ich nicht gegen den Tod, sondern gegen die Henker, die an Menschen die Todesstrafe vollziehen.«13 Im Werkverzeichnis Mussorgskis findet sich also ebenfalls eine Vertonung des Flohlieds in der Übersetzung nach Strougowtschikow. Der Komponist fertigte sie im Jahre 1879 und widmete sie Darja Leonowa, einer Sängerin, der er sich in seinen letzten Lebensjahren zuwandte. Interessant ist hier die relative Übereinstimmung beider Komponisten bezüglich der zeitlichen Stellung des Flohlieds im Gesamtschaffen: Mussorgski schrieb das Lied zwei Jahre vor seinem Tod, während die Instrumentation Schostakowitschs der Beethovenschen Vertonung in dessen letztem Lebensjahr erfolgte. Mehr und mehr schien sich Schostakowitsch in seinen letzten Jahren mit Mussorgski zu verbinden: »Über all diese und viele andere Parallelen habe ich, ehrlich gesagt, erst in letzter Zeit nachzudenken begonnen. Wahrscheinlich ist das eines der Anzeichen beginnender Senilität. Man fällt in die Kindheit zurück: Kinder vergleichen sich gern mit großen Menschen. In der Kindheit und im Alter ist der Mensch unglücklich, weil er nicht sein eigenes Leben lebt, sondern fremde.«14 Die biographischen Beziehungen Schostakowitschs zum Faust sollen nun abschließend noch um einen weiteren Aspekt, der anscheinenden Doppelseitigkeit seiner offiziellen und persönlichen Erscheinung, bereichert werden. Es ist schon fast müßig darauf hinzuweisen. Allzu heftig wurde hieraus das Klischee geformt, Schostakowitsch mit einem offensichtlich-unglaubwürdigen und gleichzeitig einem versteckt-oppositionellen Image darzustellen. Anlass zu dieser Sichtweise gab es durchaus. Vor allem das unnachvollziehbare Konvertieren zur Kommunistischen Partei wog diesbezüglich sehr schwer. Der Komponist sah sich selbst auch in dieser zweigleisigen Rolle »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust« – und litt. Die Einschätzung Schostakowitschs – vor allem in den westlichen Ländern - widersetzte sich diesem Eindruck ebenfalls nicht und ermöglichte so das Entstehen von 34 faustisch anmutenden dramaturgischen Kunstwerken, in welchen Schostakowitsch die Hauptrolle zukam, wie zum Beispiel in der im Jahr 2000 in Leipzig uraufgeführten Oper Dmitri des Komponisten Luca Lombardi und des Librettisten Hans-Klaus Jungheinrich. Eine weitere, kuriose Verbindung zum Faust »Ich erinnere mich sehr deutlich, wie ich vorhatte, 'Das Mädchen und der Tod' nach Gorki zu schreiben, und an Deine Ratschläge bezüglich eines abschließenden Chors, der dieses Werk vollenden sollte.«15 Dieser Auszug aus einem Brief Schostakowitschs an Isaak Glikman bedarf des Empfängers weiterer Erläuterung: »Gemeint ist ein kleiner, komischer Choral, den ich kurz vor dem Krieg auf einen leicht veränderten Ausspruch Stalins über Gorkis Poem Das Mädchen und der Tod komponiert habe (Stalin sagte 'Die Sache ist stärker als der Faust von Goethe, die Liebe besiegt den Tod.') Der Ausspruch ist seinerzeit zur wichtigen Quelle einer erschöpfenden Analyse des Goetheschen Faust geworden. Diese üble Anekdote, die sich innerhalb der sowjetischen Literatur zutrug, erregte auch in Komponistenkreisen großes Aufsehen, wo man so schnell wie möglich eine Oper nach dem Sujet des Poems Das Mädchen und der Tod zustande zu bringen wünschte, da es der unfehlbaren Meinung Stalins nach nun einmal über Goethes Faust stand. Selbstverständlich äußerte Schostakowitsch den Gedanken, eine Oper nach dem Sujet dieses Poems zu schreiben, im Scherz und unter Lachen.«16 Diese kuriose Brücke Schostakowitschs zum Faust bezieht auch den Weg über Stalin mit ein. Stalins annektierte, vermeintliche Kompetenz in Sachen Kunst, Literatur und vor allem auch Musik war immer wieder Gegenstand für Schostakowitschs Verspottung und Missbilligung. Es liegt nun also nahe, auch in dieser Begebenheit, welche die sowjetische Literaturszene seinerzeit in Aufruhr 35 versetzte, eine weitere unterschwellige Verbindung zwischen der 14. Sinfonie und dem Despoten Stalin zu sehen. DER TRANSFER ZU MUSSORGSKI Mussorgskis Flohlied Pesnya Mefistofelya o blokhe unterscheidet sich deutlich von der Goetheschen Vorlage (s. Seite 30/31) dadurch, dass nun auskomponierte Lachsalven »ha, ha, ha, ha« hinzugefügt werden: Notenbeispiel 8 36 Moderato giusto Gesang Klavier Kö - nig, der hatt' ei- nen gro Floh, liebt er gar nicht Es - ßen Floh, we - nig, wie sei- nen eig - nen Ha, ha, ha, ha, ha! Den Floh? Ha, ha, ha, ha, ha! als Notenbeispiel 8 37 ein- mal ein ei- nen Floh! war Sohn. ei- nen Den Den Floh! Den Floh! Das vorausgehende Notenbeispiel gibt den Beginn des Liedes wieder. Mussorgski hat den Text Goethes durch die einbezogenen Lacher zu einem sarkastischen Spottlied umfunktioniert. Selbst am Ende des Gesangs - hier ist bereits vom übergroßen Machtmissbrauch des zum Tyrannen avancierten kleinen Schurken die Rede - verstummt das Gelächter nicht, sondern gewinnt im Gegenteil noch an Eindringlichkeit: Notenbeispiel 9 Die Brücke, die nun mittels der Vertonung Mussorgskis zum Goetheschen Faust geschlagen wird, baut sich aus zwei Elementen auf: 1.) Im 6. Lied seiner vierzehnten Sinfonie Sehen Sie, Madame! übernimmt Schostakowitsch die Idee Mussorgskis; auch hier wird der ursprüngliche Text Apollinaires durch Lachsalven bereichert. Die Textvorlage beschreibt zwar das Lachen ...Il est ici j'en ris j'en ris des belles amours que la mort a fauchées (Es [das Herz] ist hier, ich lache [laut] über die schönen Liebschaften, die der Tod niedergemäht hat), weist aber keinerlei Lachsilben auf. Dass diese dennoch in der Vertonung Schostakowitschs zu finden sind, beweist die Nähe zur Komposition Mussorgskis. Offensichtlich wurden diese Lacher vom Komponisten selbst eingefügt. Sie stellen in der Beziehung der Sinfonie zum Faust jedenfalls ein wichtiges Bindeglied dar: 38 Notenbeispiel 10 2.) Aber nicht nur die Lachsalven selbst stellen eine subtile Korrespondenz zur FaustVertonung Mussorgskis her, sondern auch ein damit verbundenes charakteristisches, musikalisch-motivisches Element. Dieses findet sich bei Mussorgski zum ersten Mal im dritten Takt (siehe Notenbeispiel 8) und besteht lediglich aus einer stufenartig aufsteigenden Fünftonfolge. Ein „Allerweltsmotiv", welches allerdings dadurch an Bedeutung für unsere Untersuchung gewinnt, dass es beim ersten Auftreten des Lachers von der Singstimme übernommen wird. Hierdurch wird die Gestik des Lachens eng mit dieser Tonleiter-Figur verknüpft: Notenbeispiel 11 Der Blick zur 14. Sinfonie Schostakowitschs, hier im nachfolgenden Beispiel die Takte 40 bis 45 wiederum des 6. Liedes, offenbart die zweite und nicht minder eindrucksvolle Verbindung dieses Satzes zum Flohlied Mussorgskis: Notenbeispiel 12 39 Untrennbar sind nun die Lachausbrüche der singenden Madame mit ebensolchen Tonleiterfolgen gekoppelt. Zunächst noch - gegenüber Musikbeispiel 12 um eine Oktave erweitert, ab Takt 40 dann aber ausschließlich auf den Quintambitus beschränkt. Übrigens sind diese Fünftonfolgen im Werk Schostakowitschs nicht auf diesen 6. Satz beschränkt, sondern finden sich z.B. auch als Einleitung zum darauffolgenden 7. Lied Im Kerker der Sante. DAS FLOHLIED Dieses Lied vom König und dem Floh manifestierte sich im Schaffen Schostakowitschs also durch die Auseinandersetzung mit den Vertonungen Beethovens und Mussorgskis. Inhaltlich stellt das diesem Lied zugrunde liegende Gedicht Goethes den unaufhaltsamen Aufstieg des Flohs dar, der - zunächst familiär aufgenommen - schließlich zu einer solch uneingeschränkten Macht emporgelangt, dass er sich die willkürliche Misshandlung seiner Mitmenschen erlauben kann, ohne befürchten zu müssen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, ohne kontrollierende oder regulierende Instanz. Der Floh wird hier als beißender Schädling dargestellt; als Ungeziefer und Schurke, klein von Größe und Herkunft, der sich aber doch mittels eigensüchtiger Quälereien und Demütigungen anderer zu behaupten weiß und seine Macht festigen kann. Lassen wir uns hier an dieser Stelle einmal auf Spekulationen ein! Schostakowitsch litt bekanntermaßen sehr unter der Bedrängnis Stalins und seines unmenschlichen Machtapparates. Die berufsund persönlichkeitsvernichtenden Möglichkeiten des stalinistischen Staats trafen ihn selbst dermaßen hart, dass er sich von seinem Trauma der massiven existenziellen Bedrängnis bis zu seinem 40 Lebensende nicht mehr erholen konnte. Dass er nicht selbst in ein Arbeitslager eingeliefert wurde oder sogar noch Schlimmeres passierte, ist lediglich dem Zufall - oder aber der Berechnung Stalins, der offensichtlich auch mit der vernichtenden Angst seiner politischen Gegner kokettierte zuzurechnen. Seine Herzkrankheit - Schostakowitsch erlitt zwei schwere Infarkte - bringt er mit seiner ständigen Sorge vor Repressalien und Aufführungsverboten seiner Kompositionen in Verbindung. Was liegt nun näher, als dass Schostakowitsch sich in seiner Musik Luft macht und Anklage gegen denjenigen hegt, der ihn so lange Zeit peinigt: Stalin. Hier im Text des Liedes als Floh, als kleiner Schurke und Emporkömmling dargestellt, deckt sich dieser Ausgangspunkt seiner Machtergreifung doch völlig mit den realen Gegebenheiten: Stalin gehörte als Sohn eines georgischen Schuhmachers und dessen Frau, beide Kinder Leibeigner, nicht gerade zur elitären Schicht. Im Jahre 1922 stieg er zum Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der KpdSU auf, nicht unbedingt zur uneingeschränkten Zustimmung Lenins, der schon damals vor der Versuchung Stalins, seine unermessliche Macht zu missbrauchen, eindringlich warnte. Zunächst von einem Triumvirat zusammen mit Kamenew und Sinowjew regiert, war die Sowjetunion ab 1927 der uneingeschränkten, blutigen Alleinherrschaft Stalins ausgesetzt, lediglich von seinen ihm ergebenen Gefolgsleuten, den im Gedicht zitierten „Geschwistern", umgeben. Die Opfer, welche die berüchtigten „Säuberungen" mit sich brachten, sind leider allzu bekannt. Allein zwischen 1937 und 1939 schätzt man die Zahl der Ermordeten auf 1,5 Millionen. Millionen von Menschen, auch ganze Volksgruppen, wurden zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert und politische Gefangene in „Gulags", sogenannte „Besserungsanstalten", eingeliefert. 41 Und die Kunst musste sich der ideologischen Vorgabe durch die Partei beugen, wobei jegliches Abweichen vom vorgegebenen Weg hart geahndet wurde. Bis zum Tod Stalins am 1. März 1953 hatte sich also ebenfalls Schostakowitsch diesem tyrannischen Diktat zu unterwerfen. Und auch seine Kunst bekam die Strenge des Regimes durch die beiden Scherbengerichte in den Jahren 1936 und 1948 drastisch zu spüren. Mit dem Flohlied bereitet Schostakowitsch dem Tyrannen in der subtilen Ebene seiner 14. Sinfonie ein verachtendes Denkmal. Bezieht sich der gesamte Text Goethes eigentlich schon auf die peinigende Herrschaft Stalins, so offenbart ein Detail allerdings den Schlüssel für ein neues Verständnis der Sinfonie. Die Rede ist von der 12. Textzeile »Hatt auch ein Kreuz daran«. Dieser Satz darf als eines der Kernstücke des Werks betrachtet werden, welches unsere soeben vorgenommene mutige Spekulation - der Identifizierung des Goetheschen Flohs als Josef Stalin - rechtfertigen wird. Gewissermaßen teilt es, die Übertragbarkeit auf den Stalinismus vorausgesetzt, die Menschen des Sowjetstaates in zwei Kategorien ein: Kreuzträger und Menschen ohne Kreuz. Erstere repräsentieren die Staatsmacht, die Partei, die Anhänger und Genossen Stalins, der ja in dem Gedicht Goethes als Träger des Kreuzes hingestellt wird. Demgegenüber stehen die Menschen, die kein Kreuz tragen, also die ihm nicht „geschwisterlich" nahe Stehenden, ihm nicht ergeben Zeitgenossen. 42 DER KREUZLOSE SELBSTMÖRDER Mit einem ersten Versuch der Decodierung soll nun der vierte Satz der Sinfonie Der Selbstmörder auf seinen hintergründigen Sinn hin untersucht werden. Zunächst einmal muss auf einen bestechenden exponierten Hinweis in diesem Satz verwiesen werden: Die Singstimme kommt völlig ohne ein Kreuz als Versetzungszeichen aus. Das ist in dieser Sinfonie einmalig. Untersuchen wir die anderen Sätze diesbezüglich, so ergeben sich die folgenden statistischen Werte: Zwar weisen nicht alle Sätze ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen # und b auf, aber dennoch gibt es - mit Ausnahme des vierten Satzes - keinen, der völlig auf # verzichtet. In manchen Sätzen treten nur wenige # auf, aber hier sind in der Regel die Anzahl der Akzidenzien insgesamt recht gering. 43 Der Satz mit den meisten b ist ausgerechnet der erwähnte Selbstmörder. Angesichts der hier gezählten 88 b ist das völlige Fehlen von # mit musikalischen Argumenten allein kaum erklärbar. Und noch ein weiteres Ereignis misst dem „Kreuz" besondere Geltung zu: Es handelt sich zu Beginn der Singstimme um eine musikalisch-rhetorische Figur, welche den griechischen Buchstaben Chi ( = X ) - eine Symbolfigur für Christus, den Gekreuzigten - musikalisch nachzeichnet. Notenbeispiel 13 Sträuben wir uns also nicht gegen den naheliegenden Versuch Schostakowitschs, uns mit Hinweisen auf verschiedenen Ebenen zu seinem versteckten Anliegen zu führen. Dieses kann in Zusammenhang mit dem Text nur derart gedeutet werden, dass sich Schostakowitsch selbst in die Rolle des Selbstmörders hinein begibt um hiermit eine schlüssige, auf sich, seine Person und seine Vita bezogene Aussage treffen zu können: Drei Lilien schmücken in Demut mein kreuzloses Grab. Wir erhalten hier ein Statement, welches Zweifel klärt, die bei der Beurteilung von Schostakowitschs wahrer Gesinnung stets für Uneindeutigkeit sorgten, nämlich seine wahre Verbundenheit mit der kommunistischen Partei. Eindeutig sagt er hier: Ich war keiner von denen, die ein Kreuz trugen; keiner der mit Stalin oder der kommunistischen Partei familiären Machthaber - »In Sammet und in Seide/ War er nun angetan/ Hatte Bänder auf dem Kleide,/ Hatt auch ein Kreuz daran/ Und war sogleich Minister,/ Und hatt einen großen Stern./ Da wurden seine Geschwister/Bei Hof auch große Herrn« - , sondern ich bekenne mich zu meiner kreuzlosen - und nicht der Partei 44 ergebenen Vergangenheit. Als Nichtkreuzträger war ich selbst einer der Gequälten und Gepeinigten und konnte mich gegen die Anfeindungen, Verurteilungen und Repressalien - »Die Königin und die Zofe/ Gestochen und genagt,/ Und durften sie nicht knicken,/ Und weg sie jucken nicht« - nicht wehren. Und über den verbalen Bezug des Königs lässt sich eine weitere Bestätigung obiger Darstellung anführen: Der komplette Text des Refrains des vierten Satzes der 14. Sinfonie lautet: Drei Lilien schmücken in Demut mein kreuzloses Grab. Drei Lilien, bedeckt mit Gold, das vom Winde verstreut auf den Wegen. Leis glänzen sie auf, wenn die nachtschwarzen Wolken sie tränken mit Regen und ragen in einsamer Schönheit, voll Stolz wie der Könige Stab. Die russischsprachige Übersetzung M.Kudinows von Apollinaires Gedicht übergeht das Wort König; das französische Original lautet dagegen: Majestueux et beaux comme sceptres des rois. Dieser Ausgangsfassung des Gedichts kommt die deutsche Übersetzung inhaltlich recht nahe. Der Dichter vergleicht auch hier die drei Lilien in ihrer Erhabenheit mit dem Regentenstab der Könige. 45 VIELE MOSAIKSTEINE ERGEBEN EIN GANZES - EINE ERSTE ZUSAMMENFASSUNG Hier an dieser wichtigen Stelle, nach vielen - für ein fest konturiertes Schostakowitsch-Bild - subtilen, aber dennoch eindringlichen, Hinweisen soll das Bisherige noch einmal zusammengefasst werden: Musikalische Beziehungen zum Flohlied aus Goethes Faust werden in der 14. Sinfonie über motivische Zusammenhänge geknüpft, welche für sich allein durchaus universellen Charakter haben, aber in der hier vorgefundenen Häufung beide Werke eindeutig miteinander verbinden. Auch die geographischen Anspielungen decken sich: Spanien und der Rhein bilden den Rahmen - sowohl im Drama, als auch in der Komposition - für die musikalische Eigen-Inszenierung Mephistos: Was sich im ersten als Wirtshausgesang inmitten angeheiterter Studenten offenbart, ist beim zweiten ein furioser Tanz im Dreiachteltakt: Der Mittelteil der Malagueña (ab T. 40) zeigt sich als dem Lisztschen Mephisto-Walzer nachempfundener - temperamentvoller Tanz. Weitere Übereinstimmungen ergeben sich aus Werkverzeichnis und Biographie des Komponisten. Beethovens Flohlied wurde von Schostakowitsch instrumentiert und Mussorgskis Lieder und Tänze des Todes - Werke jenes Komponisten, der in seinem eigenen Oeuvre auch eine Vertonung von Es war einmal ein König aufweist dienten Schostakowitsch als ideeller Ausgangspunkt für seine 14. Sinfonie. Aber nicht nur in der kompositorischen Weiterführung des Todesgedankens äußert sich die Nähe Schostakowitschs zu Mussorgski. Auch das Verfahren, Silben des Gelächters eigenmächtig in die Vertonung miteinfließen zu lassen, schafft Zusammenhang. Auf das besagte Flohlied aus dem Faust zentriert sich nun die Aufmerksamkeit. Mit seiner Hilfe lässt sich Satz Nr.4 der Sinfonie, das Lied Der Selbstmörder, in einem völlig anderen Licht betrachten. Verstärkt von 46 Schostakowitschs exponiertem Hinweis auf die Wichtigkeit der Akzidenzien, bekundet es das entschiedene Statement des Komponisten: Ich war nie einer von denen, sondern ich distanziere mich von jeglichem Vorwurf der ideologischen Übereinstimmung mit den grausamen Machthabern. Abschließend noch ein Wort zu Sprache und Übersetzung. Die russische Schreibung für Kreuz ist êðåñò. Dieses ist ein allgemeiner Begriff für Kreuz und bezeichnet nicht das Kreuz im musikalischen Sinne. Dennoch: Schostakowitsch richtet sich auch hierbei in Richtung geographischer Westen. Der Wink auf das Kreuz, dessen Fehlen als musikalisches Symbol hier in diesem Lied signifikant ist, wird sowohl mit der musikalischrhetorischen Kreuzfigur des Crux, als auch mit dem Allgemeinbegriff vorgenommen. Unübersehbar spielt dieser Begriff hier eine entscheidende Rolle, selbst wenn er nur in seiner bedeutungsverwandten Version gebraucht wird. 47 SCHOSTAKOWITSCH UND BACH Nicht weniger intensiv als die inneren Parallelen zu Goethes Faust sind diejenigen zu Bach. Bei der Analyse dieser Sinfonie haben sich mir diese allerdings weitaus später offenbart. Sie liegen nicht so offen und äußern sich auch weniger in musikalisch-motivischen Übereinstimmungen. Vielmehr muss man zu deren Feststellung bereits ein wenig tiefer in der musikalischen und textlichen Infrastruktur graben. Das Bachjahr 1950 ermöglichte Schostakowitsch den Besuch in der ehemaligen DDR. Als einer der Juroren nahm er am Leipziger Bach-Wettbewerb für junge Pianisten teil. Auch hielt er einen Vortrag über den großen Barockkomponisten, wobei er seine tiefe Beziehung zu dessen Werk eingestand: »Das musikalische Genie Bachs steht mir besonders nahe. Es ist unmöglich, an ihm vorüberzugehen. Ich höre seine Musik stets mit größtem Gewinn und ungeheurem Interesse. Viele seiner Werke höre ich mehrmals. Und jedesmal entdecke ich darin neue, wunderschöne Stellen. Bach spielt in meinem Leben eine bedeutende Rolle. Ich spiele täglich ein Stück von ihm. Dies ist mir ein echtes Bedürfnis, und der tägliche Kontakt mit der Bachschen Musik gibt mir ungeheuer viel.«17 Dass sich Schostakowitsch selbst kompositorisch an einem polyphonen Klavier-Zyklus versuchte, verwundert angesichts dieser Huldigung nicht. Dem Bachschen Original nachempfunden entstanden kurz nach seiner Rückkehr aus Leipzig 24 Präludien und Fugen op.87, allesamt in ihrer musikalischen Gestaltung tief mit dem Vorbild verwurzelt. Aber trotz der Rückbesinnung auf verständliche und bekannte Hörmuster wurde diese Musik aus den Reihen der Kollegen zunächst alles andere als begeistert aufgenommen. Erst als Tatjana Nikolajewa, die Gewinnerin des Leipziger Klavierwettbewerbs, im Jahr 1952 die öffentliche Uraufführung vornahm, kam ein allgemeines Interesse an diesem Werk auf. Biographisch äußert sich Schostakowitschs Vorliebe für die Musik Bachs aber nicht nur durch sein tägliches 48 Studium von dessen Werken, sondern natürlich auch durch den Aufenthalt in der eng mit der Entstehung von opus 87 in Verbindung stehenden Stadt Leipzig. Hier, an der ehemaligen Wirkungsstätte des Thomaskantors, erhielt er offensichtlich sein Anregung zu eigener polyphoner Arbeit. BACH - DSCH Beide Komponisten, Bach und Schostakowitsch, signierten einige ihrer Werke mittels einer vierstelligen Buchstabengruppe. Zumindest im Falle Bachs ist dieser Umstand unumstritten, findet sich seine Signatur doch in vielen seiner Werke an autobiographisch oder theologisch relevanten Stellen. Ein berühmtes Beispiel hierfür liefert die Kunst der Fuge, Bachs letztes zyklisches Werk: In der Quadrupelfuge dieses kontrapunktischen Meisterwerks endet die handschriftliche Aufzeichnung Bachs mit den von seinem Sohn Carl Philipp Emanuel wiedergegebenen Worten »Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben.«18 Einige Werke Schostakowitschs weisen ebenfalls das musikalische Signum ihres Schöpfers auf. Die Formulierung dieser musikalischen Signatur geht wohl auf eine Initiative Benjamin Brittens zurück, welcher Schostakowitsch 1936, dem Jahr seiner ersten großen staatlichen Bedrängnis, eine Kantate widmete. Diese Signatur des sowjetischen Komponisten, in mitteleuropäischer Weise als D(mitri) SCH(ostakowitsch) notiert, untermauerte durch ihre musikalisch-textliche Ausrichtung die Anteilnahme Brittens: Der Satz For silly fellow, silly fellow is against me, im Original Worte der Entrüstung über die gewalttätigen Machenschaften einiger Wachmänner, wurde in den Chorstimmen mit den Tönen der musikalischen Schostakowitsch-Signatur versehen. Die auf diese Weise initiierte musikalische Konfrontation Schostakowitschs mit der staatlichen Obrigkeit sollte später von diesem selbst übernommen und weitergeführt werden. 49 Berühmte Beispiele hierfür finden sich in der 10.Sinfonie. Diese wurde von Schostakowitsch selbst als ein musikalisches Portrait Stalins bezeichnet. Das DSCH-Motiv (der Buchstabe S steht für den Ton Es, da er diesen phonetisch wiedergibt) spielt hier sicherlich eine autobiographische Rolle, welche sich auf die Auseinandersetzung mit Stalin bezieht. Auch andere Werke aus Sinfonik und Kammermusik weisen eine derartige musikalische Signatur auf. In der 14. Sinfonie ist diese allerdings nicht anzutreffen. Dafür gibt es aber Stellen, welche die gleichen Töne in einer anderen Reihenfolge wiedergeben: SDCH. Bei der Recherche zu diesem Buch hielt ich mich lange Zeit mit diesem Problem auf: Hat die zu SDCH umgestellte Buchstabenfolge des originalen Monogramms die gleiche autobiographische Bedeutung? Oder verbindet nur die authentische Vierergruppe persönliches Anliegen mit der Musik? Mit dieser Frage wandte ich mich an mehrere Musikwissenschaftler und Komponisten. Die Antworten waren völlig unterschiedlich. »It's too much; warping the once proud and defiant DSCH into an agonised, plunging SDCH, the dirge spills over into massive mortification that is hammered home to horribly enervating effect«19 Dieses Textfragment aus der Besprechung der WDREinspielung Rudolf Barshais aller 15 Sinfonien Schostakowitschs von Paul Serotsky könnte stellvertretend stehen für manch weitere, ähnliche Meinung. Allerdings ist hier die 15. Sinfonie angesprochen, wobei der Sachverhalt natürlich der gleiche ist. Der autobiographische Bezug wird untermauert, die Umstellung der Buchstaben- bzw. Notenfolge mit der Depression erklärt. Dieser Meinung steht die völlig konträre Auffassung gegenüber, dass nur die authentische, originale Tonfolge auch die persönliche Betroffenheit des Komponisten widerspiegelt. Irgendwelche Permutationen der DSCH-Folge finden in dieser Sichtweise keine Berücksichtung. 50 Aus der Sichtweise eines Komponisten würde ich behaupten, dass das Komponieren mit modalen Strukturen im 20. Jahrhundert eine durchaus übliche Praxis war. Tongruppen wurden hier als tonale Bausteine eingesetzt; diese konnten auch in ihrer internen Reihenfolge geändert werden. Für diese Art des Komponierens gibt es viele Beispiele, welche von der Dodekaphonie bis hin zu Messiaens Modi reichen. Gemeinsam ist allen das Zusammenfassen mehrerer Tonhöhen zu - in ihren Bestandteilen - fest gefügten Gruppen, die sich innerhalb dieser aber auch anders anordnen durften. Geht man nun bei Schostakowitsch von einer solch modalen Schreibweise aus, so könnte man die Permutationen natürlich auf einfache Weise erklären: So, wie er zum Beispiel auch die in der 14. Sinfonie enthaltenen 12-Ton-Reihen immer wieder neu anordnet, könnte dies also ebenfalls mit seinem eigenen Signum geschehen. Doch diese Erklärung befriedigt natürlich nicht, ist nicht zwingend. Sehr lange Zeit musste ich unser Werk untersuchen um doch noch zu einer wirklich zwingenden Erklärung zu kommen. Ob und wie weit sich diese auch auf die anderen Werke Schostakowitschs mit variierter Tonfolgenreihe des DSCH übertragen lässt, bedarf weiterer Untersuchungen. Aber zumindest für die 14. Sinfonie dürfte meine Erkenntnis von Bedeutung sein. Der 7. Satz und seine Verbindung zu Bach Hier an dieser Stelle sei nun noch einmal das früher Erwähnte bekräftigt, dass die gesamte Sinfonie auch mit der 11-sätzigen Motette Jesu, meine Freude von Johann Sebastian Bach in engem Zusammenhang steht. Wie im nachfolgenden Abschnitt genau beschrieben, geht dieser aber über die bloße Übereinstimmung der fugierten Teile 51 hinaus und umfasst noch weitere Erscheinungen ideeller und formaler Art. Die Überschrift zu diesem Kapitel verschafft möglicherweise schon Ahnung: Die fugale Struktur in dem 7. Lied Im Kerker der Santé darf als ein exponierter Hinweis des Komponisten verstanden werden. Hier versucht er wiederum uns zu einer Gegebenheit zu leiten, welche für das innere Verständnis des Werkes wichtig ist. Genau genommen weist dieser Satz aber nicht nur eine Fuge auf, sondern zwei. Die erste beginnt in Takt 34 und endet in Takt 68, ist also 34 Takte lang, während sich die zweite lediglich viertaktig von Takt 100 bis Takt 103 erstreckt. Beide Fugati unterscheiden sich in erster Linie also durch ihr extrem unterschiedliches Ausmaß. In der Bachschen Motette haben wir es im 6. Satz mit einer Doppelfuge zu tun, deren beide Themen zunächst aus einem ausholenden und mannigfaltig strukturierten zweitaktigen, Notenbeispiel 14 und danach aus einem sehr kleinstrukturierten 2. Soggetto bestehen, welches nachfolgend in seiner gesamten ersten Durchführung abgebildet wird. Das Thema selbst besteht hierbei nur aus zwei Achtelnoten, die in ihren Tonhöhen durch eine aufsteigende Quarte gekennzeichnet sind: 52 Notenbeispiel 15 Zum direkten Vergleich der Längenverhältnisse werden nachfolgend die Dux-Einsätze der ersten und zweiten Fugen beider Werke abgebildet: Notenbeispiel 16 Auch wenn ich mich darauf einlasse, der Überinterpretation bezichtigt zu werden, will ich mir trotzdem nicht nehmen lassen, auf weitere Querverbindungen der Fugen hinzuweisen. Ähnliche Dimensionen werden durch eine ähnliche Tonanzahl bewirkt: im Dux der ersten Fuge der 14. Sinfonie können wir 17 Töne zählen, während Bachs Entsprechung es auf 19 Töne bringt. Die Soggetti der zweiten Fugen 53 weisen 1 Ton, bzw. 2 Töne auf; aufs Metrum bezogen stimmen sie aber überein. Weitere Gemeinsamkeiten sind die Quartstrukturen aller Themen, mit Ausnahme natürlich des zweiten Themas der Sinfonie. Diese Quartprägung des musikalischen Materials in der Sinfonie ist relativ offensichtlich, bei Bachs erstem Fugenthema muss man sich den Ambitus des ersten melodischen Abschnitts anschauen, ebenso das auskomponierte Komma nach »fleischlich«. Aber eine weitere verblüffende Korrespondenz beider erster Fugenthemen konnte ich feststellen. Wenn man sich nämlich ansieht, an welcher Stelle Schostakowitsch ein Komma oder eine Zäsur setzt, so kommt nur der dritte Takt in Frage, im Anschluss an das »as«. Hier ist der größte Pausenraum des Themas. Und nur dieser eignet sich als Einschnitt, da nachher eine modifizierte Wiederholung des Anfangs einsetzt. Vergleicht man den Verlauf der musikalischen Figur bis dorthin, so findet sich in beiden Themen zunächst eine Tonrepetition, dann ein Aufstieg, bzw. Aufschwung und schließlich der kleinintervallische Abstieg. Auch dieses ist eine Übereinstimmung, die nicht nur aufgrund des Höhenverlaufs, sondern vor allem auch bezüglich der Phrasierung auffallend ist. Schließlich noch eine weitere. Bei der Auseinandersetzung mit diesen beiden Werken habe ich zunächst hier an dieser Stelle nach der Signatur Bachs gesucht. Es war mir relativ klar, dass dieser Satz mit Bach in irgendeiner Form verbunden sein müsse. Hier wurde ich allerdings nicht fündig, sondern erst am Satzende, wie nachfolgend beschrieben. Dennoch könnte man - ein wenig Fantasie mit einbringend - das Bach-Logo hier vorfinden. Die beiden ersten verschiedenen Töne des ersten Sinfoniethemas verbinden sich nämlich mit den letzten beiden des ersten Bach-Themas zu der gesuchten Buchstabenkonfiguration. Doch der Zufall scheint bei dieser Betrachtung nicht ganz ausgeschlossen zu sein. 54 Interessant ist, dass bei Schostakowitsch dem Erscheinen des zweiten Themas ein musikalische Situation unmittelbar vorausgeht, welche bemerkenswert ist: Bei den Worten Erbarm dich, erbarm dich!, imitiert der Gesang die Stimmen der zweiten Violoncelli und Kontrabässe in Verkleinerung, während deren erste Vertreter jeweils mit einer Umkehrung dazu zu hören sind. Notenbeispiel 17 Das musikalische Motiv der Singstimme ist hierbei gleichzeitig das, was von der Schostakowitsch-Forschung allgemein als »Klagemotiv« bezeichnet wird. Es durchzieht in so mancher Variante viele Werke des Komponisten und ist in seiner Beschaffenheit mit dem traditionellen Seufzermotiv identisch. »Drückt es immer das Gleiche aus? Manchmal ist es in langsamen Sätzen zu hören, manchmal in schnelleren. Im ersten Fall überwiegt der klagende Charakter, im zweiten das starre Wiederholen. In jedem Fall bedeutet es eine - wenn auch kurze Zäsur, ein Stocken im musikalischen Fluss, ein Verharren ohne Sinn: eine Geste der Ohnmacht....Das Gemeinsame in allen seinen Varianten scheint die ohnmächtige Klage zu sein. Wie in der jüdischen Musik kann sie in Schostakowitschs Musiksprache auch zu einem Ausdruck der Aufhebung des Leidens in der Musik werden. 55 Das Motiv kann die Sinnlosigkeit des Leidens ausdrücken, die Wut darüber, den Hohn, und es kann dies alles auch maskieren durch den Anschein der Bedeutungslosigkeit.«20 Betrachten wir bei unserem Musikbeispiel noch die Stimme der Viola. In dieser finden wir zunächst das DSCHSignum - in umgekehrter und transponierter Form - und anschließend eine weitere Diminution des Seufzermotivs. Hier kombiniert der Komponist also zwei wesentliche, aussagekräftige Motive miteinander. Die Häufung kontrapunktischer Verarbeitungsweisen ist an dieser Stelle auffallend: Imitationen und Verkleinerungen, wie wir sie ja auch von der barocken Kontrapunktik her kennen, prägen das musikalische Bild. Können wir diese Stelle aufgrund dieser Eindringlichkeit an Fugenpraktik nicht auch als exponierten Hinweis werten? Will dieser nicht die Fugati als wichtiges leitendes Element kenntlich machen und einen Bogen zur Bachschen Fugenkunst schlagen? Die Korrespondenz von Im Kerker der Santé und Bachs Mittelsatz seiner Motette besteht hier also aus der relativen Übereinstimmung der Dimensionen beider Fugenthemen und - natürlich als Voraussetzung dazu überhaupt dem Vorhandensein zweier Fugenthemen. Aber dieser Umstand ist für sich allein wieder nicht aufsehenerregend und stellt beileibe noch keine zwingende Verbindung zur Bachschen Motette her. Es bedarf also weiterer exponierter Hinweise. Einen solchen finden wir in der viertaktigen Einleitung, welche von den Violoncelli und den Kontrabässen gespielt wird: Notenbeispiel 18 Hier haben wir es mit einer musikalischen Pendelfigur zu tun. Diese ist wiederum spiegelbildlich angelegt. Der Aufstieg besteht aus zwei Fünftonfolgen, 56 gefolgt von einer angehängten aufspringenden Quarte. Der Abstieg in den Takten 3 und 4 erfolgt in genau umgekehrter Weise. Jede dieser Fünftonfiguren - wir haben diese bereits im Zusammenhang mit dem 6. Satz der Sinfonie und mit Mussorgskis Flohlied erwähnt - stellt einen Ausschnitt aus einer Tonleiter dar: Takt 1: B-Dur Takt 2: e-moll Takt 3: es-moll Takt 4: A-Dur Versteht man nun diese Einleitungstakte auch als exponierte Hinweise, so ist deren Struktur zu untersuchen. Genau genommen handelt es sich hier um zwei Zweitaktgruppen, die sich in ihrer Tonhöhe jeweils genau um eine kleine Sekunde unterscheiden: B-Dur und e-moll stehen also es-moll und A-Dur gegenüber, die erste ist aufsteigend, die zweite dagegen spiegelbildlich absteigend. Diese Versetzung beider Gruppen um eine kleine Sekunde fällt ins Auge. Und hier nun, in der Halbtontransposition inmitten einer kontrapunktischen Erscheinung, der intervallgetreuen Umkehrung, liegt auch der Schlüssel für die nächste auffällige Erscheinung in diesem Satz. Und zwar finden wir diese an dessem Ende: Notenbeispiel 19 Diese vier Töne werden, den 7. Satz abschließend, von der 1. Viola, dem 1. Violoncello und den Kontrabässen gespielt, jeweils um eine Oktave getrennt. Im gleichen Rhythmus dazu spielen die zweiten Bratschen und Violoncelli das große und kleine c. Die Singstimme, hier der Bass, beendet seinen Part unmittelbar mit dem Einsatz des ersten Tones unseres Musikbeispiels 19. 57 Wenn man die Struktur der einleitenden vier Takte (Notenbeispiel 18) also wieder als Hinweis versteht, mit dessen Hilfe man den Kernaussagen in dieser Sinfonie näher kommt, so ergibt sich ein interessantes, umwälzendes Ergebnis. Die Rede ist von der kleinen Sekunde Strukturmoment der Einleitung - die nun dazu dienen kann, die essientellen und verborgenen Aussagen dieses Satzes zu entschlüsseln. Der Hinweis auf die Verbundenheit dieses Satzes mit Johann Sebastian Bach, durch die beiden Fugati bereits vage angedeutet, vertieft sich durch die Betrachtung dieser letzten vier Töne B H Des C. Transponiert man diese nun um den Schlüsselwert einer kleinen Sekunde hinunter, so erhält man die Töne A B C H. Diese wiederum hängen mit dem Bachschen Signum eng zusammen. Lediglich die vertauschten Positionen der ersten beiden Buchstaben verhindern, dass die erhaltene Viertonfolge mit B A C H völlig indentisch ist. Wir finden hier also die Signatur Johann Sebastian Bachs wieder, wobei die erste und zweite Buchstabenposition des Originals miteinander verwechselt sind. Es ergibt sich nun in der Reihenfolge der Töne die arithmetische Reihe 2 1 3 4. Wenige Takte vorher -in den Takten 121 bis 123stoßen wir auf die Töne e es des c: Notenbeispiel 20 Gespielt werden diese von den Bratschen, alle anderen Instrumente schweigen, ebenso die Singstimmen. Verfahren wir hier nun genauso, wie unmittelbar vorher bei B A C H, so erhalten wir nach der Abwärtstransposition der Viertongruppe um eine kleine Sekunde die Töne Es D C H (= S D C H). Alle vier Bestandteile der Signatur Schostakowitschs finden sich hier, allerdings mit der gleichen positionellen 58 Unstimmigkeit, die auch die Transposition der Töne aus Notenbeispiel 19 mit sich brachte: Die ersten beiden Buchstaben sind vertauscht, wieder ergibt sich die Tonreihenfolge 2 1 3 4. Ordnen wir diese - der Umformung der Bachschen Signatur entsprechend - so erhalten wir die authentische Schostakowitsch-Signatur D S C H. Dass diese subtile Abgleichung der Signaturen von Bach und Schostakowitsch ausgerechnet in einem Satz zu finden ist, der durch die Fugati - die ersten dieser Art in dieser Sinfonie - schon in die Bachsche Nähe gerückt ist, lässt sich wiederum mit Zufall nicht erklären. Beide Notenbeispiele - Nr. 17 und Nr. 18 - wurden nicht aus einem größeren musikalischen Zusammenhang gelöst, in welchem sie möglicherweise die Rolle einer unbedeutenden Nebenstimme zu spielen haben, sondern werden von Schostakowitsch exponiert, teilweise solistisch und unverdeckt präsentiert. Die Umformung der Bachschen Signatur bildet die letzten vier Takte dieses Satzes. Man könnte hier nun noch eine weitere Beziehung zu den vier Anfangstakten in der Weise herstellen, dass man aus der Umkehrung, welches dem ersten Notenbeispiel (Nr. 18) innewohnt, auch die entgegengesetzte Stellung der exponierten Hinweise in diesem Satz folgert: Die erste Viertaktgruppe bewegt sich in einer engen Beziehung zur letzten Viertaktgruppe; ist gewissermaßen deren Schlüssel. 59 DSCH - SDCH Man darf also aufgrund der soeben vorgenommenen Entschlüsselung annehmen, dass die Folge S D C H in dieser Sinfonie als Signatur des Komponisten fungiert. Der Abgleich mit der Bachschen Signatur legitimiert zu dieser Annahme. Naheliegend ist die unterschwellige Verknüpfung beider Signaturen schon allein durch den Umstand, dass diese jeweils aus vier Buchstaben bestehen, welche sich in Tönen wiedergeben lassen. Rätsel, die sich mir bei der Beobachtung der Malagueña stellten, kann ich endlich als gelöst betrachten. Hier findet sich die Tonfolge S D C H in stark gehäufter Form. Wie wir noch später sehen werden ergeben sich durch die neue Erkenntnis von der lediglichen Umpositionierung der Signaturtöne aufregende autobiographische Bezüge. Es stellt sich natürlich jetzt die Frage nach dem Grund dieser Umpositionierung. Diese muss abschließend unter Berücksichtigung aller bekannten Codierungen in dieser Sinfonie noch erfolgen. Schostakowitschs Op. 135 die »Leipziger Sinfonie« Vieles in dieser Sinfonie weist auf eine mehrfach frequentierte Station Schostakowitschs hin: auf die ostdeutsche Stadt Leipzig. Hier war er als Juror und Vortragender anlässlich des Bach-Festivals im Jahr 1950 tätig und hier erhielt sein Vorhaben, das Wohltemperierte Klavier Johann Sebastian Bachs kompositorisch nachzuempfinden, Vertiefung und Bestätigung. Die Sinfonie verknüpft die Wirkungsstätte Bachs, welcher ab dem Jahr 1723 bis zu seinem Tod in Leipzig als Thomaskantor tätig war, eng mit den künstlerischen Äußerungen Schostakowitschs. Diese erhielten, wie zuvor 60 dargestellt, in Leipzig ebenfalls massive künstlerische Impulse. Ein weiterer Bezug zu dieser Stadt lässt sich bei der Reflektion des ersten Kapitels meines Buches ebenfalls nicht übersehen: Das in dieser Sinfonie als Code verwendete Lied Mephistos Es war einmal ein König wurde im Drama Goethes in Auerbachs Keller gesungen. Dieses Gasthaus war keine Erfindung Goethes, sondern gibt es heute noch immer in Leipzig und stellt für alle literarisch interessierten Touristen einen wesentlichen Anziehungspunkt dar. Es liegt also nahe, dieses Werk Schostakowitschs als die »Leipziger Sinfonie« zu titulieren! Vielleicht mag meine Darstellung ja dazu dienen, diesen Bezug der 14. Sinfonie des sowjetischen Meisters zu Leipzig aufzudecken und zu manifestieren. 61 DER TON »DES« ALS AUTOBIOGRAPHISCHES KÜRZEL Bisher war es nur denkbar, beim Antreffen der Signatur DSCH in der dazu gehörigen Musik - oder auch im vertonten Text - autobiographische Bezüge zu vermuten. In dieser Sinfonie gibt es allerdings eine diesbezügliche Ausweitung, die auf den ersten Blick überraschen mag, letztlich aber nicht unlogisch ist. Die Rede ist von dem Ton »des«, der durch die Verknüpfungen mit der modifizierten DSCH-Reihe einen stark komponistenbezogenen Wert erhält. Das folgende Beispiel (Malagueña, T. 9-12) soll dies verdeutlichen. Notenbeispiel 21 Hier ist eine starke Zuspitzung in der Musik zu erleben. Mehrere Parameter sind daran beteiligt: Rhythmus, Dynamik und Tonhöhe. Beim Anhören dieser Stelle wird man von dem klanglichen Sog, welcher ab T. 9 einsetzt, unentrinnbar mitgerissen und erst wieder bei der Entladung dieses Energieschwalls in T. 12 losgelassen. Wie eine Pfeilspitze stürzen diese Takte auf ihr Ziel. Der Klang ist - besonders durch die extrem hohe Lage des Kontrabasses - schrill und unruhig. Erst mit dem Erreichen des Tones »des« löst sich die akustische Umklammerung und sammelt sich wieder zum nächsten Anlauf. 62 Gleichzeitig mit diesem offensichtlich wichtigen Ton erklingt unsere nun durch BACH als autobiographisch legitimierte Tonfolge SDCH. Durch die extrem dichte Instrumentation der Streicher in sehr hoher Lage werden die Elemente SDCH und »des« quasi zusammengeschweißt. Fast möchte man sich diesen Prozess hier bildlich vorstellen, zumal Schostakowitsch in seiner Musik sowieso zum häufigen Einsatz von abbildenden Hypotyposis-Figuren neigt. Aber auch eine andere Stelle im gleichen Satz (Vla.,Vc.,Kb. in T. 6/7) ermahnt uns, die besondere Bedeutung des Tones »des« nicht zu übersehen: Notenbeispiel 22 In diesem Beispiel wird uns zunächst die regelmäßige Bewegung demonstriert, eine aufsteigende viergliedrige Quartlinie. Danach scheint sich diese Eigenheit - nun um eine Sekunde hinaus transponiert - fortzusetzen, aber der 7. Ton »des« durchbricht bereits diese Konsequenz. Wieder erleben wir hier, dass unsere Erwartungshaltung unterlaufen wird, wohl wiederum um auf Wichtiges hinzuweisen. Man kann sich natürlich ausmalen, welche Bedeutung dieser auf- und abwälzenden Quartbewegung bei der inhaltlichen Deutung des Textes zukommen könnte (Seht den Tod ein- und ausgehn in der Taberne.; vgl. Text der Malagueña auf S. 5/6 der Partitur). Ebenso wäre man verleitet zu mutmaßen, was die Durchbrechung dieser im Klang so rohen und fast brutalen Szene ausgerechnet durch das »des« darstellen soll. Mutmaßungen, auf welche wir uns nun nicht einlassen wollen. Übrigens beginnt der Walzer im Mittelteil der Malagueña auch mit einem exponierten »des«. 63 Offensichtlich also scheint der Komponist diesem speziellen Ton einen Bezug auf sein persönliches Wirken zu verleihen. Im Lauf der gesamten Sinfonie finden sich immer wieder Stellen, welche diese Vermutung zu nähren scheinen. Aber man muss sich davor hüten, hinter jedem Erscheinen dieses Tones sogleich eine Anspielung auf Leben und Leiden Schostakowitschs zu vermuten. Letztendlich scheint dieser lediglich die im Notenbeispiel 21 dargestellte Zusammenführung zwischen S D C H und »des« für das zu benötigen, was er über das bisher Dargestellte in seiner 14. Sinfonie noch aussagen möchte und was sich mit einer Viertonfolge anscheinend nicht bewerkstelligen lässt. Aber hierüber mag das nächste Kapitel unterrichten. An dieser Stelle soll nun lediglich ein zweiter Grund dafür aufgelistet werden, dass dem Ton »des« wirklich nur eine punktuelle Verbindung mit der Biographie des Komponisten eingeht: Wie bereits erwähnt hat die Schreibweise Schostakowitschs durch den immer wiederkehrenden Einsatz abbildender Figuren eine stilistische Nähe zu den Komponisten der Barockzeit. Manche Musiker haben ihn aufgrund seiner im Spätwerk sehr durchsichtigen und klaren, dabei aber auch ökonomischen und auf das Nötigste beschränkten Kompositionsweise mit Mozart verglichen. Ich gehe in der musikgeschichtlichen Chronologie noch einen Schritt zurück und weise Schostakowitsch zumindest in dieser Sinfonie - einen Platz in der Nähe von Heinrich Schütz zu. Und dies vorwiegend aufgrund seiner klaren, durch musikalische Figur und Symbol geprägten Setzweise. Aber auch in ihrer satztechnischen Konsequenz ist die musikalische Sprache Schostakowitschs näher dem noch stark in der Vokalpolyphonie der Renaissance verhafteten Schütz, als den meisten zeitgenössischen Kompositionstechniken. Und das folgende Notenfragment aus der Motette Ich bin eine rufende Stimme SWV 383 von Heinrich Schütz mag auch ein wenig von der Einstellung vermitteln, mit welcher 64 Schostakowitsch seine musikalischen Ereignisse in puncto Folgerichtigkeit und Konsequenz behandelt: Notenbeispiel 23 Schütz stellt hier sehr bildlich das Richten des Weges dar. Alle Unebenheiten - diese finden sich in den punktierten Rhythmen der beiden beginnenden Tenorstimmen - werden beseitigt. In der dritten Stimme (Bass) ist dieser Prozess vollzogen; alle Hindernisse sind verschwunden, der Rhythmus ist klar und regelmäßig. In unserer aufgeklärten Vorstellung von Dramatik und Handlung müsste nun das Problem eigentlich beseitigt, die Bahn frei für weitere Entwicklungen sein. Nicht so beim barocken Komponisten Heinrich Schütz! Das Richten des Weges ist ein punktuelles Ereignis. Einmal durchgeführt bedeutet dies nicht das Ende aller Bemühen, es noch einmal bewältigen zu müssen. Im obigen Musikbeispiel lässt sich dies sehr gut erkennen: Der Weg wurde also (rhythmisch) geebnet, aber kurze Zeit später 65 setzen die nächsten Stimmen ein, welche den Weg nun wieder ungerichtet vorfinden und das gleiche Spiel ein zweites Mal durchführen müssen. Natürlich sind musikalische Gründe an dieser Inkonsequenz schuld, die in der Musik Fasslichkeit und Einheitlichkeit durch Wiederholung verlangen. Schostakowitsch behandelt in seiner Sinfonie den Ton »des« ebenso punktuell, wie es Schütz vormachte. Einmal mit einem Sinn versehen bedeutet dies nicht, dass dieser seinem Objekt auf immer und ewig verhaftet ist. Im Gegenteil sollte man vermeiden, diesen immer währenden Sinn zu suchen. Denn dies führt in die Irre und in die Sinnlosigkeit. 66 DES-DUR UND G-MOLL Hatte der Ton »des« also nur punktuelle Bedeutung, so kommt dem Des-Dur-Dreiklang, bzw. der Tonart DesDur, eine über das gesamte Werk verteilte Wichtigkeit zu. Nehmen wir uns zunächst einmal den Dreiklang vor. Für Schostakowitsch ist ein Dreiklang in dieser speziellen symbolerfüllten Funktion die logische Erweiterung des einzelnen Tones. Oder anders gesagt: Der Ton bin ich, der Dreiklang sind wir. Dreiklangstöne passen zueinander, sind miteinander verwoben und vertragen sich. Auf das menschliche Miteinander bezogen könnte man etwa sagen: Ich bin der Grundton, meine Familie, meine Freunde und die, die mich verstehen und mit denen ich übereinstimme, sind die Dreiklangstöne. Diese Darstellung mag allzu platt erscheinen, zu vereinfacht und primitiv. Obwohl wir in einem solchen Denken natürlich irgendwie den Barockmenschen wieder finden würden. Dass wir auch Schostakowitsch dieses plakative Kategorisieren unterstellen, macht zunächst einmal betroffen. Aber vielleicht ist es ja auch nur Taktik? Erinnern wir uns doch daran, dass ihm nichts wichtiger war, als dass seine Werke auch weiterhin aufgeführt werden. Alles hätte er unternommen oder unterlassen, um als Komponist nicht von der Bildfläche zu verschwinden. Warum nicht also auch ein Flüchten in ein solcherart unvermutetes Tarnen, wenn es darum geht, brisante Statements nicht offenzulegen und allzu schnell entdeckbar zu machen. Schauen wir uns zunächst einmal den allerletzten Akkord des Werkes an: 67 Notenbeispiel 24 Man kann feststellen, dass sich der oberste Ton (1.Vl.) und die beiden tiefsten Töne (1.2.Kb.) zu einem DesDur-Dreiklang ergänzen. Schostakowitsch hat hier den Text konsequent umgesetzt: »Der Tod ist groß, wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.« Mitten in uns heißt in dieser Sinfonie bildlichmusikalisch gesprochen mitten in einem Des-Dur-Dreiklang. Falls wir nun versuchen wollen, dasjenige, was sich in der Mitte befindet, auf seine Struktur zu untersuchen und mit uns bekannten Stellen des Todes zu vergleichen, so werden wir ebenfalls fündig: Diese lassen sich, beim tiefsten begonnen, in eine mit dem in der Taverne ein- und ausgehenden Tod verhafteten ähnliche Quartschichtung bringen (vgl. Notenbeispiel 22): e a d g [es]. Viel mehr noch als dieses Beispiel stärken andere Stellen die Vermutung auf eine ganz besondere Verwendung des Des-Durs. Schauen wir uns zunächst einmal die Tonartengestaltung der gesamten zyklischen Sinfonie an. Ohne Zweifel beginnt und schließt der erste Satz in g-moll und verleiht dem gesamten Werk auch die Grundtonart. Die nächsten drei Sätze sind durch die Aufführungsanweisung attacca miteinander verbunden, erst nach dem vierten Satz finden wir eine Pause. Dieser vierte Satz schließt ebenfalls in g-moll. Strukturell lässt dies die Vermutung einer auch im harmonischen Sinn in sich abgeschlossenen Einheit entstehen. Der erste Satz fungiert hier gewissermaßen als langsame Einleitung, welcher die dreiteilige, bzw. dreisätzige Form nach sich zieht. 68 Ab dem fünften Satz haben wir wieder eine Einheit, die drei Sätze zusammenfügt, wiederum ineinander übergehend. Den Abschluss bildet jene bereits bekannte modifizierte BACH-Signatur. Und was noch fehlt, die Sätze 8 bis 11, fügt sich zwar nicht lückenlos aneinander, korrespondiert aber durch die immer wiederkehrende Ausrichtung auf Des-Dur miteinander. Bezüglich der Tonarten lässt sich also feststellen, dass Anfang und Ende der Sinfonie durch den Tritonusabstand bestimmt werden, der Beginn in g-moll und der Schluss in Des-Dur. Nicht nur kann man »g« und »des« als Komplementärintervalle bezeichen, sondern deren Tongeschlechter stehen sich auch noch gegenüber. Wieder einmal plakativ gedacht könnte man sagen, dass Des-Dur im Verbund von Harmonien und Tongeschlechtern die weitestmögliche Entfernung zu g-moll aufweist und dass diese beiden Tonarten also die direkten Gegenteile sind. So wie schwarz und weiß, wie hoch und tief. Oder auch wie Vergänglichkeit und Unsterblichkeit. 69 VERGÄNGLICHKEIT Die 14. Sinfonie liefert viele Facetten des Schmerzes und Sterbens, des Todes mit Fremdeinwirkung und des Selbstmords. Alle diese Prozesse des lebensbeendenden Leidens, ob gewalttätig herbeigeführt oder nicht, spiegeln die Endlichkeit des Menschen wider. Besonders das vierte Lied der Sinfonie Der Selbstmörder nach Apollinaire ist in dieser Hinsicht interessant. Hier nun soll nicht darüber spekuliert werden, welchen deutungsmäßigen oder personenbezogenen Wert den Lilien zukommt, die aus Wunde, Herz und Mund des begrabenen Selbstmörders heraus wachsen. Vielmehr soll uns bei der ja angestrebten inneren Interpretation der Sinfonie etwas anderes interessieren. (Übrigens ist der Originaltext Apollinaires mit Le guetteur mélancolique [der betrübte Wachposten] betitelt, aus dem bei russischer und deutscher Übersetzung Der Selbstmord wurde.) Die Vergänglichkeit des Menschen äußert sich rein bildlich im Vorgang des Verwesens. Die Körperlichkeit des Menschen verliert sich nach dem Tod, wird chemisch zersetzt, von Bakterien und Nekrophagen zerfressen. Schließlich bleibt nur das Skelett übrig. Der Text Apollinaires deutet diesen Zersetzungsprozess an »...sort de mon cœr qui souffre sur la couche où le rongent les vers...« (»...meinem Herzen, das auf dem Lager leidet, wo es die Würmer zerfressen...«). In Schostakowitschs musikalischer Umsetzung sieht diese Stelle dann folgendermaßen aus: 70 Notenbeispiel 25 Zunächst einmal springt wieder das bereits bekannte Klagemotiv in der Sopranstimme ins Auge, die beiden abschließenden Zweitongruppen machen dieses häufig benutzte Motiv Schostakowitschs aus. Die Streicher untermalen die Singstimme mit einem Tremolo, welches unmittelbar hier zum ersten Mal zum Klingen kommt und in unserer Fantasie Bilder von diesem besungenen schauerlichen Geschehen, dem Wurmfraß, entstehen lassen soll. Was man nicht hören kann, doch latent vorhanden ist, bezieht sich auf die Tonart dieses Satzes, welche anschließend zunehmend mehr durchscheint: g-moll. Die nächste Stelle ist die Fortsetzung des vorherigen Notenbeispiels, sie findet sich bereits vier Takte später: Notenbeispiel 26 71 Eindeutig ist hier das g-moll erkennbar, Bratschen und Solo-Violoncello und ein Teil der Tutti-Celli ergänzen sich zu diesem Akkord. Auffallend auch das dreimalige Erscheinen des Klagemotivs, nun in dreifacher Oktavlage. Sicherlich ist diese Dreiteilung der Violinen für den hier dramatisch aufheulenden sinfonischen Klang nötig. Dennoch ist die Zahl drei, das christliche Symbol für die Dreieinigkeit, an dieser Stelle auffallend stark präsent. Das vibrierende und zitternde g-moll in der Stimme der Violen und des Solo-Violoncellos wird gegen Ende des Beispiels langsamer, das »b« wechselt zum »c«. Und schließlich kommt dieses nervöse Flattern zum Verstummen. Dass es sich bei dieser musikalischen Schilderung um das Sterben handelt, hat Schostakowitsch bei der Parallelstelle, ebenfalls in diesem Satz, auffallend untermauert (T. 103). Der gleiche musikalische Prozess spielt sich nämlich in diesem Codateil als Reminiszenz ab; der musikalische Sterbeprozess erhält aber einen Ausführungshinweis: morendo (Dieses Vorgehen ist nicht einzigartig an dieser Stelle, sondern wird durch eine weitere im 6. Satz, Takt 33 in ihrer Schlüssigkeit belegt: Auch hier ist morendo mit den Worten »Hier wölbt sich über mir das Grab, hier wartet nur der Tod« gekoppelt - sinnverwandt mit unserem aktuellen Beispiel des vierten Satzes und durch die Vortragsbezeichnung auch gleich etikettiert). Hier kommt wieder die nicht ganz unberechtigte Vermutung auf, Schostakowitsch bediene sich erneut einer Metapher, ähnlich der Neigung, Figur im Text durch Figur in der Musik zu untermauern. Die Zahl drei wird noch einmal mit Geltung erfüllt bei dem nächsten Notenbeispiel, welches sich nach nur zwei Takten Überleitung - auf diese seien Sie hier schon kurz hingewiesen in auffallender Weise präsentiert (Notenbeispiel 28). 72 Hier springt die auffahrende orchestrale Figur ins Auge, allein schon durch die Optik erfährt dieses Geschehen unsere Aufmerksamkeit. In Halbtonabstand lässt der Komponist ein Instrument nach dem anderen einsetzen, um sich der anführenden 1. Violine anzuschließen. Ein Cluster, welches sich nach und nach formiert und zu einem lautstarken Geschrei ansetzt. Durch die chromatischen Rückungen - die vier letzten punktierten Achtelnoten sind hiermit gemeint - intensiviert sich die Klage. Was darauf folgt sind zwei Glockenschläge: Die Totenglocke wird zum Klagen gebracht und symbolisiert das leibliche Ende des Sterbenden. Diese Interpretation habe ich immer wieder hören können, wenn ich zum Beispiel mit meinen Schülern über diese Stelle gesprochen habe. Und ehrlich gesagt ist mir bisher auch nichts grundlegend Anderes hierzu eingefallen. Aber man muss sich diesen musikalischen Abschnitt in seiner Gesamtheit einmal ansehen, um von dieser augenfälligen Vermutung wieder abzurücken: 73 Notenbeispiel 27 Entscheidend für meine Sichtweise ist nicht so sehr diese klangliche Aufhäufung. Vielmehr wundere ich mich über die süßlich getönte, versöhnlich stimmende Überleitung, welche ich zwischen den beiden vorausgehenden Notenbeispielen bewusst ausgelassen habe und nun nachliefere: 74 Notenbeispiel 28 Ich erinnere nun noch einmal an Schostakowitschs Vorwurf gegenüber denjenigen Komponisten, die den Tod beschönigen und die Hoffnung auf das Leben nach dem Tod schüren. Richard Strauss etwa oder Guiseppe Verdi. Entweder ist diese Stelle nun ein sehr übertriebener Teil der angekündigten Polemik, fast schon eine Parodie, oder aber es gibt doch noch eine andere Deutungsweise. Jedenfalls klingt sie extrem zart und durch die Flageoletts luftig und transparent. Einen klanglich schwebenden Charakter erhält sie durch die pentatonische Färbung. Falls man sich darauf einlassen mag, kann man auch hier, so wie bei der Coda der Loreley, Anklänge an Wagners Rheingold hören. Eingerahmt werden diese beiden Takte - um dies noch einmal zu bekräftigen - durch das vorausgehende gmoll, das leibliche Ende, der Sterbevorgang, und durch das nachfolgende anschwellende Cluster. Alle drei monotheistischen Weltreligionen - der Islam, das Judentum und das Christentum - stimmen in dem Glauben überein, dass die Seele in den Himmel aufsteigt, während die leibliche Hülle verwest. Im Volksglauben finden sich mythologische Darstellungen vom Auffahren der Seele ins Paradies. Fast ist man geneigt zu vermuten, dass Schostakowitsch die Verklärung auch hier in diesem Satz in ein musikalisches Bild gegossen hat: Tod, Verklärung und Auffahren der Seele. Abwegig eine solche Unterstellung bei einem Künstler, der beharrlich das Leben nach dem Tod leugnete? Christliche Tugend und Ethik waren Schostakowitsch ein Anliegen. Ohne Zweifel. Davon zeugen viele Werke, die 75 nicht nur die Lebensbedingungen im eigenen Land anprangerten, sondern im christlich-humanistischen Sinn Frieden und Nächstenliebe forderten. Aber das Paradies? Es ist sicherlich sehr gewagt, diese Überlegungen hier preiszugeben. Viele derjenigen Autoren, die über Schostakowitsch selbst schrieben und ihn auch noch kannten, werden beim Lesen dieser Zeilen die Nase gerümpft haben. Am Anfang meines Buches weise ich darauf hin, dass ich die eigentlichen Erkenntnisse aus der Musik gezogen habe. Die Partitur war beim Konzipieren dieses Buches meine wichtigste Quelle. Alle anderen Quellen, Sekundärliteratur der verschiedensten Art, sollten lediglich darin gefällig sein, musikhistorische Umstände näher zu beleuchten. Zumindest dann, wenn diese für meine eigenen Untersuchungen relevant waren. Überwiegend die Musik sollte das sagen, was Schostakowitsch selbst nie äußerte. Er empfahl ja selbst, genau auf die Musik zu hören. Aus den Zusammenhängen von Text, Musik und dem bisherigen Hintergrundwissen erschließt sich mir der 4.Satz der Sinfonie unausweichlich auf eine Weise, die mit der christlichen Anschauung vom Weiterleben der Seele nach dem Tod übereinstimmt. Wir werden im Kapitel über die Motette Jesu, meine Freude von Johann Sebastian Bach weitere Unterstützung für diese ungewöhnliche Sichtweise der Auffassung Schostakowitschs erhalten. Nun muss aber noch festgehalten werden, dass sich dieses musikalisch skizzierte leibliche Enden eng mit der Tonart g-moll verbindet. Auch die auf unsere vorausgehenden Notenbeispiele folgende Satzcoda steht in dieser Tonart und beschließt diesen Satz auf diese Weise. Diese vier ersten Sätze können als eine Einheit betrachtet werden, denn der allererste Beginn wird genauso durch g-moll geprägt wie der Schluss. In der deutschen Übersetzung findet man in der Coda - kurz vor dem bereits erwähnten morendo - die 76 Worte »Ihre [der Lilien] Schönheit ist nur ein Fluch, wie das Schicksal ihn meiner Vergänglichkeit gab.« Die Originalvorlage Apollinaires umgeht diesen Begriff der Vergänglichkeit, ebenso wie die russische Übertragung. Inhaltlich jedoch decken sich sämtliche Ausgaben, bei allen ist das leibliche Ende des Menschen im vereinsamten Grab Inhalt und Aussage. Freilich bietet der gesamte Text natürlich an der Oberfläche viel Raum für Spekulationen bezüglich der inhaltlichen Bezogenheit auf den Komponisten. Uns soll hier an dieser Stelle beim Untersuchen der subtilen Ebene nur interessieren, dass Schostakowitsch für die Darstellung der leiblichen Endlichkeit die Tonart g-moll manifestierte. 77 UNVERGÄNGLICHKEIT Es sandte mir das Schicksal frühen Schlaf. Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume. Ich leb in euch und geh durch eure Träume, da uns, die wir vereint, Verwandlung traf. Ihr glaubt mich tot. Doch: dass die Welt ich tröste, leb ich mit tausend Seelen weiter dort im Herz der Freunde. Nein, ich ging nicht fort: Unsterblichkeit vom Tode mich erlöste. (Michelangelo) Im 9. Lied der Sinfonie An Delwig sind auffällige harmonische Wendungen zu hören. Nicht nur werden wir durch aneinandergereihte Dreiklänge klanglich durch das Stück begleitet, sondern diese formieren sich sogar zu einer Funktionstonalität. Eine regelrechte Kadenz ist schon zum Beispiel in den Takten 7 und 8 anzutreffen, selbst wenn der traditionelle Quintfall hier vermieden wurde. Gefestigt werden die darauf folgenden Takte in ihrer Harmonik durch einen Orgelpunkt »des« in den Kontrabässen, der wiederum in eine Kadenz über Doppeldominante und Dominante leitet. Besonders auffällig ist das Kadenzgeschehen in den Takten 35 und 36. Durch die Ausführungsanweisung ritenuto verstärkt erleben wir hier eine beeindruckend klare Kadenz. Sogar der Quintfall - in neuer Musik meist als unbeliebtes Relikt einer harmonisch überfrachteten Zeit bewertet - findet sich hier. Man kann nicht umgehen, dieses harmonische Ausrufungszeichen wieder als exponierte Erscheinung anzusehen. Leitet es doch eine Vokalphrase ein, bei der die inhaltliche Deutung dieser Sinfonie einen immensen Schub erhält: Notenbeispiel 29 78 Reines, in dieser Sinfonie auf diese ungetrübte Weise nie gehörtes, Des-Dur erklingt nun durch die Bassstimme und verleiht dem Begriff der Unvergänglichkeit die wohlklingende und vertrauensvolle Farbe. Bis zum Satzende bleibt Schostakowitsch seinem eingeschlagenen Weg treu und verlässt die neu geformte Klanglichkeit nicht mehr. Warum markiert Schostakowitsch hier den Begriff der Unvergänglichkeit so auffällig? Die Hoffnung auf Unsterblichkeit hat den Komponisten immer schon, auch in anderen Werken, beschäftigt. Gemeint ist offensichtlich die künstlerische Unsterblichkeit, das Weiterbestehen des Geschaffenen auch über den Tod hinaus. Schwer hat sich in Schostakowitschs Leben manch künstlerischer Prozess gestaltet; meist waren dort, wo es um echtes Entwickeln und Formen der Künstlerpersönlichkeit Schostakowitsch ging, auch gleichzeitig Kontrolle und Begrenzung von außen präsent. Vieles musste mit unendlichen Sorgen um die gefällige staatliche Akzeptanz und damit verbundenen möglichen Repressalien geschrieben werden. Muss man als Künstler befürchten, dass derlei schwer errungene Werke mit dem Tod vergessen sein sollten? »Das alles ist so unfair. Die Menschen leiden, quälen sich, denken - soviel Verstand, soviel Talent. Und kaum sind sie tot, werden sie vergessen. Wir müssen alles tun, um die Erinnerung an diese Menschen wachzuhalten. Wie wir uns ihnen gegenüber verhalten, so wird man sich auch eines Tages auch uns gegenüber verhalten. Wir müssen uns erinnern, wie schwer es auch sein mag.«21 Als eine hehre, gute und wichtige Sache wird der Begriff der Unvergänglichkeit von Schostakowitsch musikalisch gestaltet. Man soll sie nicht überhören, diese Mahnung an alle Nachkommenden, welche mit zunehmendem Lebensalter und Todesnähe bei Schostakowitsch an Eindringlichkeit zunimmt. 79 Interessant in diesem Zusammenhang ist natürlich auch der Schlusssatz der Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti, dessen Text diesem Kapitel vorangestellt wurde: »Leb ich mit tausend Seelen weiter dort im Herz der Freunde.« Der Dichter Wilhelm Küchelbeker sagt es in Schostakowitschs Lied mit anderen Worten, meint aber letztlich das Gleiche: »Denn unvergänglich ist der Geist, das freie, freudig-stolze Wesen, das Bündnis, das die Menschen eint, die von den Musen auserlesen.« Ist es wirklich die Angst, nach dem Tod vergessen zu werden, die Schostakowitsch bei der Wahl seiner vertonten Texte treibt, oder vielleicht doch auch noch etwas anderes? Mit Sicherheit ist jeder Künstler darauf bedacht, dass sein Schaffen die Zeit überdauert. Konnte Schostakowitsch aufgrund seiner übergroßen künstlerischen Anerkennung nicht die Gewissheit haben, dass seine Kompositionen auch weiterhin auf dem Spielplan zu finden sein werden? Konnte ein Komponist, dem es bereits mit knapp neunzehn Jahren gelang, eine Sinfonie zu schreiben, die internationales Aufsehen erregte, wirklich am Fortleben seiner Werke in den Repertoires der großen Bühnen und Orchester dieser Welt zweifeln? Es fällt schwer, dies zu glauben. Wir erinnern uns daran, dass Schostakowitsch darauf bedacht war nichts zu unternehmen, was die Aufführung seines Werkes behindern könnte. Keine unreflektierte Äußerung zu tätigen, die ihm angelastet werden konnte und keine verbale Anklage gegen die Missstände in seinem Land zu erheben. Dazu gehört auch, keinen Deutungen seiner Musik zuzustimmen, die dort die Obrigkeit kritisiert finden wollen. »Was dachte er über das Leben, über sich und die Zeit, und zwar nicht in Tönen, sondern in einfachen menschlichen Worten? Immer wieder bat man ihn, Memoiren zu schreiben - er verschloss sich, lehnte ab: Hören Sie doch meine Musik, da ist alles gesagt. Man bat ihn, den Sinn dieses oder jenes Werkes entdecken zu helfen - er brachte das Gespräch auf ein anderes Thema. Die 80 ersten Gespräche mit Schostakowitsch versetzten meinen Hoffnungen einen argen Stoß. Wie ich ihn auch ausfragte, gelang es mir doch nicht, etwas aus ihm herauszulocken.«22 Nichts zu äußern, was Anstoß erregt, war das Motto seiner künstlerischen Aktivitäten. Zumindest nach den beiden großen Scherbengerichten in den Jahren 1936 und 1948. Erst wieder in einer Zeit politischen Tauwetters, nach Stalins Tod und besonders nach dem XX. Parteitag im Jahr 1956 - hier enthüllte Chruschtschow in einer denkwürdigen Geheimrede die verbrecherischen Machenschaften Josef Stalins - ließ sich etwas unbesorgter mit der Wahrheit umgehen. Aber längst war dieser politische Wandel noch kein Freibrief für künstlerische Agitation geworden. Im Gegenteil engte sich die Situation für die Künstler wieder ein, als Breschnjew nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 an die Macht gelangte. Schostakowitsch hätte also zu keiner Zeit Gedanken geäußert, die Anlass geben konnten, ihn staatlicherseits zu bedrängen. Auch über das Dasein nach dem Tod reflektierte er derart, dass er nicht aneckte. Seine Statements zur 14. Sinfonie fielen derart aus, dass man die besungene Unvergänglichkeit des Geistes nur schwerlich religiös deuten kann. In seiner 14. Sinfonie scheint alles auf den Atheisten Schostakowitsch hinzuweisen. An das Publikum gerichtet sagte er vor der ersten Aufführung des Werkes »unter anderem, dass er in seiner Symphonie mit anderen Komponisten polemisiere, die in ihrer Musik ebenfalls den Tod darstellten. Er erwähnte Mussorgskis Boris Godunow, Giuseppe Verdis Othello und Aida und Richard Strauss' Tod und Verklärung - alles Werke, in denen nach dem Tod Linderung, Trost und neues Leben folgen. Für ihn jedoch bedeute der Tod das totale Ende, dem nichts mehr folgt.«23 Der letzte Satz der Sinfonie, Nr. 11 Schlussstück, scheint die einführenden Worte des Komponisten zu bestätigen. Ein durchgehender Pulsschlag, alternierend von Schlaginstrumenten und Streichern durchgeführt, assoziiert 81 den Herzrhythmus. Der Zyklus erfährt hier sein Motto: »Wenn wir mitten uns im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.« Gemeint ist der Tod, allgegenwärtiges Thema der Sinfonie, welcher uns zu allen unvermuteten Zeiten der Lebensfreude ereilen kann. Und unvermittelt reist der rhythmische Puls ab, verursacht von einem plötzlichen Herzrasen, welches in ein Kammerflimmern übergeht: Der Komponist löst die klangliche Darstellung so, wie wir dies bereits von der Malagueña her kennen (vgl. Notenbeispiel 21). Es folgt nach diesem dramatischen Geschehen das Nichts. Kein besänftigendes und tröstliches Nachspiel Schostakowitsch hatte dies ja bereits angemeldet - und kein Hinweis darauf, dass das Leben im geistlichen Bereich seine Fortsetzung findet. Alexander Solschenizyn, der sehr gläubige russische Literaturnobelpreisträger, war tief brüskiert und kündigte seinem langjährigen Freund die Freundschaft auf. Einer der Gründe hierfür war das untröstliche Ende dieser Sinfonie, mit welchem er sich seines Glaubens wegen nicht arrangieren konnte. Es ist bekannt, dass Schostakowitsch anstrebte, in einem Gespräch mit Solschenizyn Klärung zu erlangen. Ob dies auch die unchristliche Botschaft dieser Sinfonie hätte betreffen sollen, oder eher andere Vorwürfe, ist nicht klar. Weitere Anklagen Solschenizyns standen im Raum: »In einem Brief an Schostakowitsch stieß er sich vor allem an Apollinaires A la Santé: Der Dichter sei nur wenige Tage eingesperrt gewesen, und sein Leiden lasse sich nicht mit dem der Millionen Menschen vergleichen, die in sowjetischen Gefängnissen und Lagern geschmachtet hätten. Zudem hielt er Schostakowitsch für einen Opportunisten, der kein einziges Mal seine Unterschrift für die Sache der Dissidenten gegeben habe.«24 Zu diesem Gespräch kam es jedoch nie. Solschenizyn lehnte es ab. 82 VERBINDLICHKEIT Wie sehr ist ein Komponist dem gegenüber verpflichtet, das er sich in seinen Werken zu Eigen macht? Die Frage stellte ich mir während der Arbeit an diesem Buch bewusst erneut, eigentlich hatte ich sie beim eigenen Komponieren schon völlig verinnerlicht. Bachs christliche Vorstellung von dem nachkörperlichen Leben wurde von Schostakowitschs Maßnahme mit in dessen Sinfonie aufgesogen. Wie sieht es hierbei mit der Verbindlichkeit Schostakowitschs gegenüber Bach aus? Man muss sich klar machen, dass es mit dem Heranziehen dieses Vokalwerks eine andere Bewandtnis hat, als mit den übrigen Einbindungen der anderen Komponisten. Die mannigfachen Wege über Goethes Faust sollen zum Flohlied weisen, welchem ja eine zentrale subtile Bedeutung in dieser Sinfonie zukommt: Liszts MephistoWalzer diente zum musikalisch-motivischen Annähern an Goethe. Mussorgskis Flohlied bringt den Code mit sich und liefert beim Vergleich von vertontem Text und Textvorlage wertvolle Hinweise zur Spurensuche in der 14. Sinfonie. Wohin soll aber Bachs Motette zielen? Über die 11Sätzigkeit zur 11-Gliedrigkeit in der Sinfonie? Möglich. Aber das Problem der 11er-Strukturen ist mit einer wahrscheinlich relativ unzugänglichen Lösung verknüpft. Der Judas-Aspekt ist hier mehr Spekulation als konkreter Inhalt. Oder soll die Motette zu Schostakowitschs atheistischem Jenseitsdenken führen? Dies ist sehr unwahrscheinlich, denn Bach würde hier als Ausgangspunkt die Richtung vorgeben, in welche sich Schostakowitsch in der Erwartungshaltung der Betrachter automatisch einschwenken müsste. Nein, mit dem Inkorporieren Bachscher Musik betreibt Schostakowitsch einen zu den übrigen Zitaten umgekehrten Weg: Die untergründige Ebene der 14. Sinfonie wird nicht über Jesu, meine Freude erreicht, sondern sie führt direkt dorthin! 83 Unwahrscheinlich, dass Schostakowitsch auf belanglose Art auf möglicherweise zufällige Übereinstimmungen beider Werke hinweisen wollte. Ebenso unwahrscheinlich, dass Schostakowitsch bei der Feststellung kongruenter Botschaften beider Werke die nicht gesuchte geistliche Mission des Motettentextes ignorierte. Die Verbindlichkeit des Komponisten verlangt hier sorgsamen Umgang mit dem Material. Unglaublich bedachtsam hat Schostakowitsch die Textauswahl vorgenommen. Eine Arbeit, welche sich angesichts der Passgenauigkeit der Gedichte zu beiden Ebenen über viele Jahre erstreckt haben muss. Deshalb ist anzunehmen, dass er mit dem musikalischen Material genauso sorgsam verfährt, abwägt und prüft. Es bleibt nun noch die Möglichkeit, dass die Ähnlichkeiten und Querverbindungen von Motette und Sinfonie wirklich rein zufälliger Natur sind. Man muss selbst prüfen und abwägen, für welche Version man sich entscheidet. Fest steht, dass die Nähe beider Werke Ungereimtheiten aufwirft. Die Partitur will es so! 84 DIE ZAHL 11 Dass in dieser Sinfonie der Zahl 11 offenbar eine besondere Bedeutung zukommt, überrascht nicht. Dem Umgang mit dieser Zahl in Verbindung mit Satz- und Taktanzahl begegnen wir im Werk Schostakowitschs häufiger. Nicht nur diese Sinfonie weist 11 Sätze auf, auch andere zyklische Werke tun dies, zum Beispiel die Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti. Aber es gibt in dieser Sinfonie durch die Zahl 11 strukturierte Elemente, die über diese Grobstruktur hinausgehen. Der in Bezug auf die 11-Gliedrigkeit auffälligste Satz ist der zweite Malagueña. Hier dreht sich vieles um die 11. Sie sorgt nach einem prägnanten rhythmischen Motiv, welches sich nur aus Tonwiederholungen ergibt, für die erste Zäsur im Satz: Notenbeispiel 30 Ab Takt 12 folgt die nächste 11-Taktgruppe, wieder auf die gleiche Weise abgeschlossen. Nach der nun eingeschobenen 6-Taktgruppe folgt erneut eine 11-gliedrige Taktgruppe. In der Coda des Satzes (ab T.87) spielen die Streicher zunächst 11 Takte allein, bevor sich die Kastagnetten dazu gesellen. Dieser nun beginnende letzte Abschnitt umfasst erst einmal drei ganze Takte (3/8-Takt), dann folgen drei 4/4-Takte. Zusammen gerechnet ergeben sich hierbei aber insgesamt 33 Achtelnoten, die - auf den diesem Satz zugrunde liegenden 3/8-Takt bezogen ebenfalls 11 Takte ausmachen. Eine besondere Bedeutung der Zahl 11 in diesem Satz lässt sich also nicht übersehen. Doch es gibt noch einen weiteren spannenden Hinweis. Dieser betrifft das Tonmaterial. Hierzu müssen wir im nächsten Satz Loreley nachschauen. Die Singstimme, zunächst der Sopran, simuliert zwei 12-Ton-Reihen, aber 85 der für die Erfüllung dieses Prinzips entscheidende 12.Ton fehlt jedes Mal: Erste 11-Ton-Reihe (Takte 4 bis 10): Zweite 11-Ton-Reihe (Takte 10 bis 15): Verfolgt man den Verlauf der nun in T.18 einsetzenden Bassstimme, so ergibt sich ein ähnliches Bild. Dieses ändert sich auch bis zum Takt 119 kaum, die unvollständigen 11-Ton-Reihen lösen sich gegenseitig ab. Aber hier nun begegnen wir zum ersten Mal in diesem Satz einer vollständigen Reihe, welche sich von Takt 119 bis Takt 123 in der Sopranstimme erstreckt. Betrachtet man die anderen Sätze hinsichtlich des konsequenten Gebrauchs der Zwölftönigkeit, so kann man das Folgende feststellen: Reduzierungen auf die 11Tönigkeit kommen fast ausschließlich in diesem 3. Satz vor. Allerdings lieferte der Beginn der Malagueña bereits einen Hinweis darauf, dass die 12-tönige Struktur unterlaufen wird. Hier brechen die Stimmen der Violinen mit Erreichen des 11. chromatischen Tones h - vom c ausgehend - ab. Der furiose Beginn dieses Satzes und das abrupte Hinwenden zu dem, was man als das genaue Gegenteil der klanglich objektivierenden Zwölftönigkeit betrachten kann, zur harmonisch inspirierten Struktur leerer Gitarrensaiten, lassen den Hörer in seiner Erwartungshaltung bitter auflaufen. Hier wird dieser unausweichlich darauf gestoßen, dass es etwas Wichtiges mit dem Beginn auf sich haben muss: 86 Notenbeispiel 31 Untersuchen wir an dieser Stelle doch einmal, was Schostakowitsch überhaupt dazu veranlassen könnte, 12tönige Elemente in seine 14. Sinfonie einzubinden. In früheren Werken finden wir derartige kompositorische Mittel kaum, eher noch in seiner letzten Sinfonie. Schostakowitsch selbst äußerte sich in einem Brief an A. Abramow im Jahr 1966 zu diesem Problem und gestand zu, dass Zwölftonmusik durchaus »als Mittel zum Ausdruck eines künstlerischen Zwecks beim Komponieren Anwendung finden kann, aber als Selbstzweck taugt sie nicht, wie übrigens jeder Selbstzweck.«25 Worin könnte ein solcher künstlerischer Zweck liegen? Schostakowitsch formulierte im Jahr 1959 die Bemerkung, dass die Ausdrucksmöglichkeiten der Zwölftonmusik bestenfalls dazu imstande sind, »Zustände der Niedergeschlagenheit, der völligen Erschöpfung und der Todesangst auszudrücken.«26 Hierin, im Zitieren bestimmter Seelen- oder Gemütszustände, sahen viele Komponisten die eigentlichen Möglichkeiten einer 12-tönigen Musik. Weder für Schostakowitsch noch für viele seiner Kollegen war es nämlich interessant, die 12-Tönigkeit im Sinne einer hierdurch vertikal und horizontal konsequent durchstrukturierten Musik zu gebrauchen. Ergänzen könnte man die Bemerkungen Schostakowitschs bezüglich der Ausdrucksmöglichkeiten der Zwölftonmusik noch dahingehend, dass sie durch das Umgehen harmonischer Zentren durchaus auch dazu geeignet ist, eine im Charakter schwebende, orientierungslose, nebulös-verschleiernde Klanglichkeit zu erzeugen. 87 Zustände von Todesangst und Niedergeschlagenheit gibt es in dieser Sinfonie zur Genüge, dies würde durchaus den Einsatz der Dodekaphonie aus der Sichtweise Schostakowitschs rechtfertigen. Warum aber weicht Schostakowitsch von der Zwölftönigkeit ausgerechnet im 3. Lied zugunsten einer alle Regeln der kompositorischen Folgerichtigkeit sprengenden Elftönigkeit ab? Liegt der Grund hierzu vielleicht im Text dieses Liedes selbst und, falls ja, liefert uns diese Erkenntnis weitere Anhaltspunkte für die Bevorzugung der Zahl 11 im Spätwerk Schostakowitschs? Stellen wir diese Frage noch einmal zurück und betrachten wir die Handlung dieses Liedes. Inhaltlich geht es in dieser Volkssage um die schöne Loreley, welche durch ihren Blick allein viele Männer ins Verderben führte. Vor den Bischof zitiert, wird sie als böse Zauberin angeklagt. Doch der von Loreley selbst geforderte Tod als Strafe für das angerichtete Böse wird ihr verweigert, da der Bischof auch ihrer Schönheit erliegt. Statt dessen soll sie im Kloster ihre Tat bereuen. Auf dem Weg dorthin bittet sie ihre drei Bewacher darum, noch einmal auf dem Felsen über dem Rhein stehen zu dürfen, um das Schloss ihres Liebsten, der sie ja verlassen hat, sehen zu können. Tief unten erkennt sie ihren Geliebten in einem Boot, der ihr zuwinkt und sie zum Kommen auffordert. Loreley stürzt sich daraufhin in die Tiefe und ertrinkt in den Fluten. Halten wir hier zunächst einmal die doppelte Moral Loreleys fest. Einerseits das schöne, Männer anziehende und verführende Wesen; andererseits die Hexe, welche ihre berauschende Schönheit allein zu dem Zweck einsetzt, ihre Opfer in den Tod zu treiben. Sicherlich bestand einer der Gründe für die Aufnahme dieses Gedichtes in die Sinfonie - wie im früheren Kapitel über die Wege zu Goethes Faust beschrieben - in der Notwendigkeit, den Rhein als geographische Angabe einzubinden. Aber spiegelt sich im Schicksal der Loreley nicht auch Schostakowitschs eigenes Ergehen wieder? Anklage und Bestrafung etwa. 88 Oder ist über diesen allgemeinen Punkt hinaus gehend nicht sogar noch viel mehr ein anderer Aspekt enthalten, den es nachfolgend zu erörtern gilt: Die ganze Sinfonie steht unter dem Anliegen Schostakowitschs, Verständnis und Rehabilitation für sein Hinwenden zur kommunistischen Partei zu erlangen. Wie wir bereits lesen konnten diente dieser von seiner Umgebung nicht verstandene Schritt dazu, selbst angesichts der ständig immer wieder erfolgten Seitenhiebe der Obrigkeit endlich in Ruhe komponieren zu können. »Im Herbst dieses Jahres [1960] vollendete Schostakowitsch sein Achtes Streichquartett. Diese bittere Selbstbetrachtung, das Nachdenken über die Ruine, zu der er ausgebrannt war, ließ ihn als Gegenbild die Zwölfte Symphonie konzipieren, jenen Hymnus auf Lenin, dessen Partei er soeben als Kandidat beigetreten war. Alle Opfer schienen einen Sinn zu bekommen. Jetzt stand er nicht mehr außerhalb, sondern gehörte zur Bewegung (und er war nicht mehr ohne Schutz gegen die dreistesten Angriffe). Doch in dem Augenblick, als er endlich die Fesseln abstreifte, schien er vom Talent verlassen zu sein und produzierte den matten Abklatsch einer Symphonie. Die Zwölfte Symphonie op. 112 wurde am 1, Oktober 1961 anlässlich des XXII. Parteitags uraufgeführt: Dies war das öffentliche Bekenntnis zum System. Er opferte seinem Glauben - aber die enge Nachbarschaft des Achten Streichquartetts zur Zwölften Symphonie zeigt, dass er neben dem Glaubensbekenntnis auch die geheimen Zweifel bewahrte.«27 Aber wie muss Schostakowitsch sich bei seinem verzweifelten Schritt im Jahr 1960 gefühlt haben? Als Verräter? Als Judas? Als Nestbeschmutzer? Jedenfalls wurde er zunehmend der Unglaubwürdigkeit bezichtigt, welche durch sein offizielles, amtliches Auftreten Nahrung fand. So urteilte sein Zeitgenosse Alexander Abramow über ihn: «Allen war klar, dass man seinen offiziellen Sprüchen zu 99 Prozent nicht glauben konnte.»28 89 Sah Schostakowitsch sein Schicksal nicht auch eng mit dem der Loreley verknüpft? Erkannte er bei sich nicht vielleicht auch ihre Doppelgesichtigkeit: das nach außen hin erscheinende repräsentative Gesicht und das eigentliche Gesicht, welches doch in seiner Moral so drastisch vom sichtbaren Antlitz abweicht. Dies wäre eine weitere Erklärung für die Wahl dieses Textes; aber noch nicht für die Vertonung des Gedichts fast ausnahmslos in 11-Tongruppen. Kommen wir hier also auf die anfängliche Frage nach der verborgenen Zahlensymbolik zurück, und damit verbunden auch auf Judas. In der christlichen Zahlensymbolik steht die 11 für Verrat. Diesen beging Judas an Jesus und schied damit aus dem Kreis der zwölf Jünger aus. Aber auch die Übertretung der zehn Gebote verbindet die christliche Numerologie mit dieser Zahl. Kam sich Schostakowitsch nicht - Judas gleich - wie ein Verräter vor, der in dieser Sinfonie beteuern muss: Ich war doch keiner von denen, selbst wenn ich Parteimitglied war. Diese Sichtweise erfährt durch folgende Überlegung Vertiefung: Betrachtet man die 11-Tonreihen nicht als absolute, von jeder höheren Ordnung losgelöste Klangreihen, sondern als Tonfolgen, welche erst durch ihre Abweichung von der Norm der 12-Gliedrigkeit auffällig sind, so erscheinen die 11-Tonreihen in einem anderen Licht. Stets muss hier nämlich der Vergleich von Norm und Abweichung getätigt werden; ohne die vorgegebene Norm 12 wäre die 11 keine Abweichung und somit nicht weiter diskussionswürdig. In unserem konkreten Fall bedeutet dies den möglichen Abgleich des Kreises der Jünger mit dem chromatischen Tonvorrat. In einem Fall entsteht die Elfgliedrigkeit durch den Ausschluss von Judas, im anderen Fall durch den Verzicht auf einen vervollständigenden Ton. Beides entwächst aber einem eigentlich geschlossenen System der Zwölfgliedrigkeit. 90 Es scheint nicht ausgeschlossen zu sein, dass der letztere Punkt eine wesentliche Triebfeder für die ungewöhnliche Zahlenausrichtung dieses Werkes ist. Allerdings kommen weitere sehr gewichtige Aspekte nun noch hinzu: Die Elfsätzigkeit ist bei Schostakowitsch häufig. In seinem Spätwerk führt über diese vor allem eine Querverbindung zur Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarotti für Bass und Orchester op. 145a. Sogar gibt es hier thematische Verbindungen, die Musik scheint an vielen Stellen miteinander verwoben zu sein. Entscheidend für die Verknüpfung beider Werke dürfte wohl die Seelenverwandtschaft Schostakowitschs und Michelangelos sein. Beide arbeiteten unter einem immensen Druck, der von Staat bzw. Kirche erzeugt wurde. Und beide mussten sich in ihrem künstlerischen Wirken auch häufig den Wünschen und Vorstellungen ihrer Peiniger unterwerfen. Michelangelo verfasste eine Reihe von Sonetten, welche seinen inneren Konflikt mit Papst Julius II widerspiegeln. Unter unmenschlichen Bedingungen arbeitend fühlte er sich ausgenutzt und bedroht. Aber nicht nur zu Michelangelos Sonette führt die Spur der Elfsätzigkeit, sondern auch zu einem weiteren Werk, dessen Urheber ganz eng mit dieser Sinfonie verbunden ist, zur Motette «Jesu, meine Freude» von Johann Sebastian Bach. Das nachfolgende Kapitel soll über die verblüffenden Übereinstimmungen beider Werke unterrichten. Zum Abschluss dieser numerologischen Betrachtung soll noch ein Hinweis auf einen St.Petersburger Literaten erfolgen, welcher die Schostakowitsch-Forschung zur weiteren Untersuchung dieses Zahlenproblems eigentlich interessieren müsste. Gemeint ist Alexander Blok (1880 bis 1921). Sein im Jahr 1918 entstandenes Poem Die Zwölf behandelt genau diesen Judas-Aspekt, allerdings in einer auf die russische Oktoberrevolution bezogenen Weise. 91 JESU, MEINE FREUDE Kommen wir nun wieder zurück zu diesem Vokalwerk. Johann Sebastian Bach schrieb seine Motette wahrscheinlich im Jahr 1723, also zu Beginn seiner Dienstzeit an der Leipziger Thomaskirche. Diese währte vom Jahr 1723 bis zu seinem Tod im Jahr 1750. Belege zur genauen und unzweifelhaften Feststellung des Entstehungsdatums existieren nicht. Sicher ist lediglich, dass diese Komposition in die Leipziger Zeit hinein fällt. (Wieder begegnen wir also hier der Stadt Leipzig!). Dieses Chorwerk besitzt eine charakteristische Form: 11 Sätze sind um eine zentrale Fuge herum in der Weise angeordnet, dass jeweils zwei Sätze davon hinsichtlich Besetzung und Text miteinander korrespondieren: Da für unsere Untersuchung hauptsächlich der mittlere Satz von inhaltlicher Bedeutung ist, soll hier auf die nähere Betrachtung der übrigen Sätze verzichtet werden. Bachs Motette ist eine Sterbemotette, geschrieben zum Andenken an die Leipziger Bürgerin Johanna Maria Kees. Die zentrale theologische Aussage »Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnet. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein« findet sich in diesem mittleren 6. Satz. Dieser Mittelsatz besitzt kein Pendant, sondern steht mit seiner wichtigen Aussage völlig für sich allein. Die ihn 92 umgebende Bogenform leitet freilich zu diesem zentralen Teil hin, die gesamte Gruppierung aller Motettenteile richtet sich an diesem aus und rahmt ihn ein. Die Bedeutung, die Bach dieser Bibelstelle aus dem Römerbrief beimisst, wird durch deren Stellung im Gesamtablauf des Werkes deutlich. Aber nicht nur formal bildet der 6. Satz eine Ausnahme, sondern ebenfalls hinsichtlich der kompositorischen Struktur. Hier finden wir die bereits zitierte Doppelfuge, deren beide Themen in den Notenbeispielen 14 bis 16 dargestellt werden. Ohne Zweifel exponiert Bach seinen 6. Satz durch die fugale Setzweise und durch die Stellung im Satzablauf derart, dass es gerechtfertigt ist, hier das Zentrum des Werkes in Musik und Text zu vermuten. Verdeutlichen wir uns noch einmal den Beginn des Bibeltextes: »Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich«. Ein Polarität im Wesenszustand des Menschen wird hier angesprochen: Die Fleischlichkeit des Menschen äußert sich in seinem irdischen Dasein, in seinem Leben und Tun. Wohingegen die Geistlichkeit jene Seelenkräfte bezeichnet, die nach dem Tod des fleischlichen Körpers weiterwirken durch den zu Lebzeiten bewiesenen Glauben und durch das Wirken im Geiste Christi - und zur Auferstehung hinleiten. Auf diese Grundgerüste der Wesenszustände reduziert könnte man den 6. Satz der Motette Jesu, meine Freude als polarisiert zwischen der endlichen Fleischlichkeit und der unendlichen Geistlichkeit des Menschen ansehen. In der 14. Sinfonie Schostakowitschs finden wir die gleichen semantischen Inhalte. Was Bach hier als fleischlich und geistlich vertont, findet sich bei Schostakowitsch als Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit. Weitere Übereinstimmungen beider zyklischer Werke ist die 11-teilige Form; eine bemerkenswerte Parallele, zumal die 11-Sätzigkeit in der Musikgeschichte ja recht unüblich ist. Über erstaunliche satztechnische Verbindungen wurde ebenfalls schon diskutiert: Beide Werke weisen in 93 ihrem Innersten zwei Fugen auf. Eine davon mit ausladendem Dux, die andere dagegen sehr knapp dimensioniert. Weitere Bezugspunkte der Komponisten Bach und Schostakowitsch wurden offengelegt: die gemeinsame Beziehung zu Leipzig etwa, oder die Verwendung ihrer vierstelligen Signatur. Es ist nicht zu übersehen, dass die Verbindungen Schostakowitschs zu Bach in diesem Werk enorm tief sind. 94 HINWEISE ZU EINZELNEN SÄTZEN 1. Satz »De profundis« Mit dem Beginn der Totensequenz Dies Irae beginnt auch die 14. Sinfonie Schostakowitschs. Notenbeispiel 32 Die Violinen intonieren dieses ruhige Thema ohne jegliche Begleitung. Interessant ist die unmittelbare Fortsetzung der zweieinhalb beginnenden g-moll-Takte durch Des-Dur. Hier werden die essentiellen Tonarten der Sinfonie also gleich exponiert. Die erste Phase der 3/4Takte dauert genau 11 Takte (!), bis ein Taktwechsel erfolgt. Der Takt 28 bringt die textliche Aussage »Rot sind die langen Straßen, die Straßen von Andalusien«, Notenbeispiel 33 gefolgt von der Phrase »Grüne Olivenbäume bei Cordoba sich neigen.« Notenbeispiel 34 Die Farben rot und grün dienen hier zur Polarisierung und nehmen bereits eine der Kernaussagen voraus: Mit Kreuzen gestaltet ist das rote Thema; rot im Sinne des kommunistischen Regimes, die Farbe der 95 Machthaber und damit auch der Kreuzträger. Dem steht die grüne Farbe komplementär gegenüber, so wie sich g-moll und Des-Dur polarisieren. (Zu dieser Stelle gibt es übrigens eine Parallelstelle im 7.Satz, wiederum mit zwei sich gegenüberstehenden Textfragmenten: »Wo seid ihr Freunde, euer Sang,« und »ihr Mädchenlippen rot.« Auch hier das gleiche Bild: Durch b erniedrigte Töne beim ersten und durch Kreuz erhöhte beim zweiten Abschnitt.) Auf diese rot und grün gefärbten Textzeilen folgt die Conclusio in Textform: »Dort stehen hundert Kreuze...« Auf engem Raum wird bereits angedeutet, was sich im nächsten Satz dann so deutlich durch die auskomponierte Kreuzlosigkeit erhärtet. Auf ein Detail außerhalb dieser Sinfonie erlaube ich mir hier an dieser Stelle hinzuweisen: Der deutsche Komponist Karl Amadeus Hartmann setzte den gleichen Text Lorcas auch in seiner Musik ein, jedoch nicht als Vorlage für Vokalmusik: »Karl Amadeus Hartmann verbarrikadierte sich in der inneren Emigration, ließ seine Werke nur im Ausland erklingen und boykottierte jahrelang den von der »Reichsmusikkammer« geforderten »Ariernachweis«. Stattdessen komponierte er Miserae (1933-1934), eine sinfonische Dichtung zum Gedenken der ersten im KZ Dachau ermordeten Häftlinge - die dezidiert erste antifaschistische Komposition überhaupt. Die Widmung lautet: »Meinen Freunden, die hundertfach sterben mussten, die für die Ewigkeit schlafen - wir vergessen Euch nicht (Dachau 1933-1934)«; die Uraufführung beim Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik 1935 in Prag war ein großer Erfolg.«29 Obwohl diese Zeilen Lorcas häufiger in der Geschichte der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts in musikalische Schöpfungen eingebunden wurden, z.B. auch von Luigi Nono, wäre die Untersuchung einer möglichen Querverbindung von Schostakowitsch zu Hartmann sinnvoll. Nicht nur sind diese beiden Künstler als seelenverwandt zu werten, sondern auch andere Gemeinsamkeiten weist ihr 96 Werk auf. So haben sich beide zum Beispiel intensiv um das Einbinden jüdischer Volksmelodien in ihr Schaffen bemüht. 2. Satz »Malagueña« Über diesen Satz, die musikalische Skizzierung Stalins, wurde in diesem Buch schon Vieles geschrieben. Allzu sehr ist er ausgestattet mit Auffälligkeiten und exponierten Erscheinungen. Ein unübersehbares und eigentlich auch unüberhörbares - Charakteristikum dieses Satzes ist die starke musikalisch-figürliche Zeichnung Schostakowitschs. Das Textfragment »Seht den Tod ein- und ausgehn in der Taberne« wurde in den ihm innewohnenden Sinn in vielfältiger Weise dargestellt. Hinweise darauf erfolgten bereits bezüglich der quartenimmanenten Erscheinung der auf- und abstampfenden Basslinie. Aber auch die Singstimme ist solchermaßen angelegt, selbst wenn dies auf den ersten Blick nicht deutlich zu erkennen ist. Sie wechselt im ersten Teil - einer auf- und absteigenden Kurve gleich - hin und her zwischen diesen beiden Zweitongruppen: Wieder einmal aufschlussreich dürfte die Beobachtung sein, dass die erste Zweitongruppe das »g« als Basis hat, während die zweite sich über dem «des« aufbaut. Diese Anmerkung soll die bereits reichlich getätigten Hinweise um ein wichtiges Indiz zur Personenbindung der Sinfonie ergänzen. 3. Satz »Loreley« Auch dieser Satz stand bereits mehrfach im Mittelpunkt der Darstellungen in diesem Buch. Aufgrund vor allem textlicher Besonderheiten sollte er - als auf den 97 Erkenntnissen meiner Arbeit aufbauend - unbedingt noch weiter untersucht werden. Das Klagemotiv spielt hier eine prägende Rolle, ebenso Transpositionen des DSCH (bzw. SDCH) auf andere Tonstufen. Sehr ausgeprägt auch wieder die abbildenen Figuren: Das Aufwärtsstürmen Loreleys auf die Höhe des Felsens, musikalisch dargestellt durch die sich auftürmende Instrumentation, stützt den im Zusammenhang mit der »Vergänglichkeit« geäußerten Verdacht. Denn ebenso wie dort wurde in der »Loreley« die aufwärts gerichtete Bewegung durch musikalische Wortmalerei untermauert. 5. Satz »Auf Wacht« Auch in diesem Satz sind wieder viele biographische Anspielungen zu finden. Zum Beispiel die folgende Stelle: Notenbeispiel 35 Zwei Mal findet sich die Initialenreihe Schostakowitschs in diesem kurzen Fragment, zunächst als S D C H ab müde, dann in gleicher Form, allerdings um drei Halbtonschritte nach unten transponiert, ab nur. Das doppelte Auftreten des musikalischen Logos belegt die Wichtigkeit dieser Stelle für den Komponisten. Dem besungenen Sturmsoldat gleich sieht er sich ebenfalls in der undankbaren Rolle, seiner Pflicht gegenüber einem lebensverachtenden Regime tagtäglich nachkommen zu müssen. Die Vermutung, welche im Kapitel über die Zahl 11 geäußert wurde, verstärkt sich durch eine Stelle in den Takten 80 bis 82 (ohne Abbildung). Parallel zur soeben zitierten Passage erfolgt auch hier das Zitat der Initialen zwei Mal, nun allerdings durch den folgenden Text unterlegt: »In tiefer Sünde wie im Tode...« 98 6. Satz »Sehen Sie, Madame!« Auf den Zusammenhang dieses Satzes mit Mussorgskis Vertonung von »Es war einmal ein König« wurde bereits hingewiesen. Über diese Brückenfunktion hinaus weist er allerdings noch einige sehr auffällige Eigenheiten auf. Gemeint ist hier die Einbettung des Satzteiles »Einmal gab ich's her, einmal nahm ich's zurück,...« in das musikalische Geschehen. Zunächst muss festgehalten werden, dass diese Aussage in ihrem Kern wieder das ambivalente Ergehen Schostakowitschs trifft. Und zwar sowohl auf sein Komponieren - das Verurteilen seiner als formalistisch angeprangerten Werke mit dem späteren Anlauf der Rehabilitierung - als auch auf sein Funktionärsdasein mit dem unverstandenen Eintritt in die Partei bezogen. Stark ist diese Stelle durch Parameter seiner Initialenreihe verknüpft: Notenbeispiel 36 Der Abschnitt des Weggebens steht auch musikalisch dem des Zurücknehmens gegenüber. Der Ambitus beider Teile macht genau eine verminderte Quarte aus, das Rahmenintervall der Initialreihe. Durch die Töne S C H wird der autobiographische Bezug weiter gefestigt. Die Geste des Hin- und Hergebens wird durch die Instrumente im darauf folgenden Satzabschnitt charakteristiert, übrigens in formal völliger Übereinstimmung mit der gesanglichen Darstellung des Einund Ausgehens des Todes in der Malagueña. Den Positiv- und Negativausschlägen einer Parabel gleich schwingt sich die musikalische Szene zunächst in die Höhe, um daraufhin von einer völlig entgegengerichteten Bewegung abgelöst zu werden (Takte 32 bis 41). 99 Aus diesem Geschehen heraus entwächst das musikalische Gelächter, auf welches ebenfalls hingewiesen wurde, gewissermaßen als Abspaltung. Es beeindruckt die musikalische Satzweise in diesem 6. Gesang. Völlig unselbstständig sind hier die Instrumentalstimmen geführt. Zunächst in Form eines Orgelpunktes (bis Takt 11), dann als eng mit der Singstimme verknüpfte, meist unisono geführte, Stützstimmen. Die Darstellung der Pendelbewegungen löst diese ab und führt hin zum auskomponierten Lachen. Ließe sich der Begriff »Unisono« auf die Weise semantisch deuten, dass innerhalb der textlichmusikalischen Szenerie Übereinstimmung herrscht, so könnte man hier einen Kernsatz der gesamten Sinfonie vermuten. Gewissermaßen würde dies die demonstrierte Übereinstimmung des Urhebers mit den Inhalten bedeuten. Oder in diesem konkreten Beispiel: Ich, der Komponist habe mein wechselseitiges Verhalten leben müssen, und zu diesem Entschluss stehe ich. Aber heute lache ich darüber. Weiterhin ist aufschlussreich, dass Schostakowitsch diesen Satz mit dem um eine kleine Terz aufwärts transponierten Bach-Initial unterschreibt, Notenbeispiel 37 einige Takte später gefolgt von einer weiteren Anspielung auf den barocken Meister: Notenbeispiel 38 100 Hier finden sich die Rahmentöne aus Beispiel 37, wobei das »cis« durch enharmonische Verwechslung zustande kommt. Der erste Abschnitt dieses Fragments findet seine Umarbeitung im zweiten. Durch die Augmentation dieser Tongruppe werden wir hingeführt zu Bach und dem ihm gewidmeten 7. Satz der 14. Sinfonie. Nr. 7 Im Kerker der Santé Auch dieser Satz war bereits mehrfach im Gespräch. Über all die bereits aufgelisteten Auffälligkeiten hinaus verdient eine Stelle besondere Beachtung. Wieder in reinem Des-Dur vertonte Schostakowitsch die Textphrase »Nein, ich bin nicht der, als der ich einst geboren«: Notenbeispiel 38 Erneut also eine Anspielung auf die erzwungenen Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsumständen. Nr. 8 »Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel« Mit Sicherheit dürfte dieser Satz ganz eng mit den anfänglich ablehnenden Reaktionen der sowjetischen Öffentlichkeit auf dieses Werk im Zusammenhang stehen. Eine offene, verbal sehr dreist und abfällig inszenierte Beschimpfung Stalins scheint hier das Anliegen zu sein. Und stets wird die ungestüme Dramatik durch jene musikalischen Figuren begleitet, welche wir bereits im 6. Satz als hämisches Gelächter vorgefunden haben. 101 Ein wildes Stück, das durch seine dichten ClusterKlänge im krassen Widerspruch zu den harmonisch getönten Passagen der Freundesverbundenheit steht. Zum Beispiel zur Nr. 9. Nr. 9 »An Delwig« Welch ein Kontrast zum vorhergehenden Satz! Man könnte meinen, dass mit der vorausgehenden Generalpause der Fall Stalin für Schostakowitsch abgehakt ist: Plötzlich und unvermittelt brechen die wüsten Beschimpfungen ab, um freundschaftlicheren Klängen Raum zu geben. Harmonisch führt der Komponisten hier zu einer der Kernaussagen hin, zur Unvergänglichkeit des Geistes. Stets wieder gesäumt von Elementen, welche die Ich- oder Wirbezogenheit einräumen. 102 TARNUNG In einem seiner populärsten Werke, seiner 14. Sinfonie, hat Schostakowitsch also verborgene Inhalte untergebracht. Daten, die für das Schostakowitsch-Bild sehr wichtig sind, und die dem Komponisten beim Chiffrieren wohl auch ebenso wichtig waren. Warum wusste man davon bisher noch nichts? Häufig erntete ich bei meinen Recherchen Kritik und Unverständnis. Fachlich kompetente Menschen, die ich befragte, winkten ab mit dem Argument »Schon wieder einer, der dem neuen Sport erlegen ist und versteckten Geheimnissen im Werk Schostakowitschs nachjagt.« Und tatsächlich: Wenn man im Internet nachschaut und testet, was die Suchmaschinen hergeben, wenn man sie mit den Keywords »Schostakowitsch«, »versteckt«, »Botschaft« usw. füttert, dann versteht man diese harsche Abfuhr. Besonders im Schostakowitsch-Jahr 2006 scheint alle musikalische Welt auf Spurensuche zu sein. Wilden Vermutungen bezüglich Tonartenfolgen wird ebenso nachgeforscht wie Zahlenakrobatik. Und hinter jeder musikalischen Grimasse scheint sich gleich grotesk formulierte Verachtung und Widerwillen gegenüber Stalin und seinem Regime zu verbergen. Warum ist dies so? Weil der Komponist selbst dafür sorgte, sich kaum zu seinem Werk äußerte und damit den Nährboden für Spekulation und Geheimniskrämerei züchtete. Aus Angst. Spätestens seit dem Erscheinen von Wolkows Bestseller Testimony Erzählungen des gereiften Schostakowitschs über sein wechselhaftes Leben und Wirken in Russland - war die musikalische Welt sensibilisiert für Sensationen aus dem sowjetischen Musikbereich. Auch die weitere Vor- und Nachgeschichte dieses Buches, das Schmuggeln des Manuskripts in den Westen und die nacheditorialen Authentizitätsvorbehalte, heizten das Interesse der musikalisch-sensationsgierigen Welt noch an. 103 Heute, nach hunderten Stunden der Auseinandersetzung mit der 14. Sinfonie und deren Entstehung verstehe ich die Haltung derjenigen Musikwissenschaftler, die sagen: »Verschont uns mit irgendwelchen neuen Theorien«. Längst hätte ich die Finger von meinem Schostakowitsch-Projekt gelassen, wenn ich nicht die besondere Priorität spüren würde, die von meinen Funden auszugehen scheint. Ich hätte mir viel Zeit, Geld und Missbilligung ersparen können. Aber die Umstände wollten es, dass ich ausgerechnet in einer Sinfonie essentielle Aussagen Schostakowitsch aufgespürt habe, die seitens der Musikwissenschaft offensichtlich noch nicht in ihren Tiefen ergründet war. Wenn ich Literatur über dieses Werk durcharbeite, dann finde ich viele vernünftige und nachvollziehbare Interpretationen der vertonten Gedichte: In allen diesen lassen sich Übereinstimmungen mit dem bedrängten Leben Schostakowitschs finden: Ungerechtigkeit, Bedrängnis, Strafe und natürlich die hämische Rache an Stalin; alles dies findet sich in den Texten der 14. Sinfonie. Und es ist berechtigt, hier authentische Belege zu seiner Existenz zu vermuten. Aber Schostakowisch wollte uns noch mehr mitteilen. Doch dies durfte offensichtlich nicht allzu bald entdeckt werden. Denn es handelt sich um sein Vermächtnis, sein Versuch der Rehabilitation, seine Botschaft an die Nachkommenden. Die Zeitgenossen in seiner Heimat war es nicht zugedacht. Diesen gegenüber bestand seitens des Komponisten wenig Zutrauen: »In Schostakowitschs letzten Jahren gab es in der Sowjetunion selbst jedoch keinerlei positive Entwicklungen mehr. Er ging dem Tod entgegen und sah keinen Grund für Hoffnung. Der Tod wurde zum Generalthema des Spätwerks.«30 Also kleidete er wohl die kritischen Äußerungen in ein solches Gewand, welches sich in seinem Heimatland nicht ablegen ließ. Auch sein D S C H-Logo ist ja aufgrund seiner sprachlichen Beschaffenheit eher dem Westen zugänglich. 104 Es ist ein kluger Schachzug, Schätze dort zu verstecken, wo man sie nicht vermutet! Kein Mensch würde annehmen, dass in einem Werk, welches bereits an der Oberfläche so viel Kritik übt, eine weitere, möglicherweise noch aussagekräftigere, Ebene anzutreffen ist. Dies ist sicherlich auch der eigentliche Grund dafür, dass die Verbindungen zu Goethe und Bach bisher noch nicht entdeckt wurden. 105 RECHTFERTIGUNG Gerd Ruge führte im Jahr 1959 ein Gespräch mit Schostakowitsch. Sein Bericht über dieses Zusammentreffen vermittelt ungefähr das Bild, welches sich der Westen zur damaligen Zeit von dem Komponisten und seiner Funktion in der sowjetischen Öffentlichkeit zurecht schneiderte. In die Rolle der Ergebenheit eines gestraften und gedemütigten Kindes schien sich der Komponist hierbei zu flüchten, zumindest wenn man der Dokumentation Ruges Glauben schenken kann: »Dann öffnet sich die Tür zu einem unbehaglichen und unpersönlichen Büroraum: dem Empfangszimmer des Verbandsvorstandes, in dem an diesem Nachmittag Dimitri Schostakowitsch 'Sprechstunde' hält, in dem er als Vorstandsmitglied Bittsteller empfängt und Ratschläge erteilt. Obwohl ich angemeldet war, scheint er von meinem Besuch überrascht und wirkt unvorbereitet...Wenn er antwortet, blickt er im Zimmer herum, fährt sich ständig mit zitternden Händen durch das kurze Haar, reibt sich die Augenbrauen, setzt die Brille auf und ab. Er spricht schnell und dennoch oft stockend, so als kontrolliere er sich bei jedem Satz, um ja nichts Falsches zu sagen. Selten ist es mir so schwer geworden, ein Gespräch zu führen...Er tut regelmäßig seine Arbeit im Verband. Er reist mit einem Diplomatenpass um die Welt, und er ist außerdem ein Komponist. Dimitri Schostakowitsch ist ein gehetzter Mann, und vielleicht erklärt sich daraus jene Nervosität, die dem Besucher wie Unsicherheit vorkommt. Vielleicht ist er tatsächlich ganz zufrieden damit, dass ihn die Partei vom 'Irrweg des Formalismus' zurückholte - als eine strenge und harte Lehrerin, die zu strafen, aber auch zu belohnen und zu verzeihen weiß. Niemand kann sagen, was ihn diese Entscheidung gekostet hat, und niemand kann wissen, was hinter dem zuckenden Gesicht vorgeht.«31 Wenn wir nun abschließend noch einmal die Mitteilungen Schostakowitschs in seiner 14.Sinfonie überblicken, dann können wir an vorderster Position seinen Versuch der Rechtfertigung entdecken: Ich war keiner von denen! 106 Anders als viele seiner Zeitgenossen, die nicht weniger bedroht waren als er, blieb er seiner Nation treu, verließ das Land nicht. Einer möglicherweise drohenden Ausbürgerung, wie sie Galina Wischnewskaja und Mstislaw Rostropowitsch, dem Künstlerehepaar, widerfuhr, kam er durch das stärkere Einbringen in die Staatsangelegenheiten zuvor. Ein Umstand, welcher ihm schwer zu schaffen gemacht haben muss angesichts seiner Freundschaft mit diesen beiden. Und natürlich auch gegenüber Solschenizyn, dem es ja noch übler erging. In die innere Emigration flüchtete er, lebte behutsam seinen Widerstand unter dem Deckmantel der Konformität. Und musste sich hierbei auch zum Beispiel den Vorwurf Solschenizyns gefallen lassen, denn er hielt »Schostakowitsch für einen Opportunisten, der kein einziges Mal seine Unterschrift für die Sache der Dissidenten gegeben habe«.32 Konnte es für Schostakowitsch schlimmere Anschuldigungen geben, als diese? Fassen zusammen: wir abschließend nun noch einmal Eine mögliche Grundaussage Schostakowitschs durch sein mosaikhaftes Spurenlegen initiiert - könnte also sein: Das menschenverachtende Handeln der Despoten und Henker, von Stalin und seinen Handlangern, kann zwar den leiblichen Tod bewirken, nicht aber das geistliche Weiterexistieren verhindern. Und es kann nicht den Fortbestand meiner geschaffenen Kunstwerke und der meiner Leidensgenossen und Freunde gefährden, die ihre Kunstwerke unter unsäglichen Mühen und Gefahren erstellt haben. Dies alles zur Anklage Stalins vorbringen zu können war die Absicht meiner Konvertierung zur Partei und zum damit verbundenen Flüchten in die innere Emigration. 107 Im nun folgenden Zitat bezieht sich Schostakowitsch eigentlich auf die Rehabilitation seiner Kompositionen, die im Lauf seiner Wirkungsphase immer wieder dem Vorwurf des Formalismus und Revisionismus ausgesetzt waren. Aber könnte es sich nicht ebenso auch auf seine von außen unverstandenen Schritte des Konvertierens zur Partei beziehen? »Wir wollen nicht weiter über die Berichtigung von Fehlern sprechen. Das führt zu nichts. Wichtiger ist etwas anderes. Mir gefällt das Wort 'Rehabilitierung'. Noch mehr beeindruckt mich das Wort 'posthume Rehabilitierung'. Um eine Erfindung unserer Ära handelt es sich dabei allerdings nicht. Bei Nikolaj I. beklagte sich einst ein General, dass irgendein Husar seine Tochter entführt, sie sogar geheiratet habe. Aber der General war dagegen. Der Imperator dachte eine Weile nach und erließ dann folgenden Beschluss: 'Ich befehle, die Ehe zu annullieren. Das Mädchen ist als Jungfrau zu betrachten. Trotzdem gelingt es mir nicht, mich als Jungfrau zu fühlen.«33 108 Anmerkungen 1 Arnold Schönberg: Harmonielehre. Wien 1922, S.V 2 Lothar Seehaus: Dmitrij Schostakowitsch. Leben und Werk. Wilhelmshaven 1986, S.177 3 Dmitri Schostakowitsch: Chaos statt Musik? Briefe an einen Freund, herausgegeben und kommentiert von Isaak Dawydowitsch Glikman, deutsch herausgegeben von Reimar Westendorf. Berlin 1995, S. 272 (Glikman) 4 K.I.Kondraschin: aus einem Manuskript (Erstveröffentlichung); Chandos Multimedia-CD-Rom DSCH Shostakovich, 2000 5 Glikman, S.272 6 Glikman, S.273 7 Karen Kopp: Form und Gehalt des Symphonien des Dmitrij Schostakowitsch. Bonn 1990, S.88 8 Solomon Volkow: Stalin und Schostakowitsch. Berlin 2004, S.387 9 Glikman, S. 279 10 Krzysztof Meyer: Dmitri Schostakowitsch. Leipzig, 1980, S.54 11 Michael Lösch: Goethes Faust. München 1999, S.107 12 Glikman, S. 279 13 Glikman, S. 272 14 Glikman, S. 277 15 Glikman, S.59 16 Glikman S.60 17 Meyer, S.353 18 Anmerkung Carl Philipp Emanuel Bachs im Autograph der Kunst der Fuge 19 Paul Serotsky in einer Besprechung der Gesamteinspielung Rudolf Barshais der Sinfonien Schostakowitschs mit dem WDR-Sinfonieorchester http://www.musicweb-international.com//classrev/2002/Aug02/ Shostakovich_symphonies_Barshai3.htm 20 Bernd Feuchtner: Dimitri Schostakowitsch. Kassel 2002, S.163/164 21 Solomon Volkow: Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch. Neuausgabe von Michael Koball, Berlin-München 2003, S.187 22 Alexander Abramow: Macht und Infantilität des Genies in Vremja i my. New York, Jerusalem, Paris 1981, S.163 23 Meyer, S.493 24 Andreas Wernli: Dmitri Schostakowitsch/Frequenzen #01. Zürich 2004, S.42 25 Schostakowitsch, Brief an A.Abramow vom 9.3.1966, in: Erfahrungen, S.246 26 D.Schostakowitsch in Erfahrungen, S.141 27 Feuchtner, S. 191 28 Alexander Abramow: Macht und Infantilität des Genies, S.77 29 Hartmut Lück: Musik in einem unfriedlichen Zeitalter. Aus Politik und Zeitgeschichte; Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament. 11/2005, 14. März 2005 / S. 23 30 Feuchtner, S. 211 31 Gerd Ruge: Ein Interview mit Schostakowitsch, in Musik und Szene, Theaterzeitschrift der Deutschen Oper am Rhein, 4.Jahrg. 1959/60, Nr.5 32 Andreas Wernli: Dmitri Schostakowitsch/Frequenzen #01. Zürich 2004, S.42 33 Solomon Volkow: Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, S.187 109 Notenbeispiele: Die folgenden Notenbeispiele wurden der Taschenpartitur zu Schostakowitschs 14. Sinfonie Op. 135, Verlag Sikorski Hamburg 1970 Ed.Nr. 2174, entnommen: 2, 3, 6, 7, 10, 12, 13, 16-22, 24-39 Die folgenden Notenbeispiele wurden der Notenausgabe Franz Liszt: MephistoWalzer, herausgegeben von August Schmid-Lindner, Schott Verlag Mainz ISMN M-001-08925-8, entnommen: 1, 4, 5 Die folgenden Notenbeispiele wurden der Notenausgabe Johann Sebastian Bach: Jesu, meine Freude, Breitkopf & Härtel Ed. Nr. EB7227, entnommen: 14, 15, 16 110 Personenregister Abramow, Alexander 89 Apollinaire 10f, 37, 77, 82 Apostolow, Pawel 18 Bach, Johann Sebastian 48, 51ff, 58ff, 63, 69, 76, 83, 91ff, 101 Barschai, Rudolf 14, 50 Beethoven, Ludwig v. 33, 34 Brentano, Clemens 10, 32, 70 Breschnew, Leonid 80 Britten, Benjamin 10 Bunin, Iwan 14 Claudius, Matthias 108 Chruschtschow, Nikita 80 Debussy, Claude 22 Geleskul, L. 10 Glikman, Isaak 14f, 107 Goethe, Johann Wolfgang v. 22, 25, 30ff, 36f, 40, 42, 46, 48, 61, 83, 88, 108 Gorki, Maxim 107f Hartmann, Karl Amadeus 96 Jewtuschenko, Jewgeni 17 Papst Julius II 91 Jungheinrich, Hans-Klaus 35 Kamenew, Lew Borissowitsch 41 Kees, Johanna Maria 92 Kondraschin, Kyrill 14 Kudinow, M 10f Küchelbeker, Wilhelm 11, 79 Lenin, Wladimir 41, 89 Lenau, Nikolaus 22, 25f, 29, 31 Liszt, Franz 8, 22, 26ff, 46, 83 Lombardi, Luca 35 Lorca, Federico Garcia 10, 96 Meyer, Krysztof 14 Michelangelo Buonarroti 78f, 85, 91 111 Morgenew, J. 10f Mussorgski, Modest 14, 33f, 36ff, 40,m 46, 81, 83, 99 Nesternko, Jewgeni 33 Nikolaj I. 110 Nikolajewa, Tatjana 48 Ravel, Maurice 22 Rilke, Rainer Maria 11 Rostropowitsch, Mstislaw 107 Ruge, Gerd 106 Schönberg, Arnold 8 Schostakowitsch, Maxim 17 Schubert, Franz 107f Schütz, Heinrich 64ff Serotsky, Paul 50 Silman, T. 11 Sinowjew, Grigori 41 Solschenizyn, Alexander 81f, 106 Stalin, Josef 16f, 40ff, 50, 80, 102ff, 107ff Strauss, Richard 81 Strougowtschikow, 34 Tinjanow, I. 10 Verdi, Guiseppe 81 Wagner, Richard 75 Wernli, Andreas 12 Wischnewskaja, Galina 107 Wolkow, Solomon 17, 103 112 Verzeichnis der benutzten Literatur Alexander Abramow: Macht und Infantilität des Genies in Vremja i my. New York, Jerusalem. Paris 1981 Chandos Multimedia-CD-Rom DSCH Shostakovich. 2000 Hans Heinrich Eggebrecht: Bachs Kunst der Fuge. München-Zürich 1984 Bernd Feuchtner: Dimitri Schostakowitsch. Kassel 2002 Goethe-Gesamtausgabe, Band III. Frankfurt am Main 1979 Detlef Gojowy: Schostakowitsch. Reinbek bei Hamburg 1983 Stephen Jackson: Dmitri Shostakovich. London 1997 Karen Kopp: Form und Gehalt des Symphonien des Dmitrij Schostakowitsch. Bonn 1990 Michael Lösch: Goethes Faust. München 1999 Hartmut Lück: Musik in einem unfriedlichen Zeitalter. Aus Politik und Zeitgeschichte; Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament. 11/2005, 14. März 2005 Natalja Walerewna Lukjanowa: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Mainz-München 1993 Artin Malia: Vollstreckter Wahn. Berlin 1998 Krzysztof Meyer: Dmitri Schostakowitsch. Leipzig, 1980 Maximilien Rubel: Stalin. Reinbek bei Hamburg 1975 Dmitri Schostakowitsch: Chaos statt Musik? Briefe an einen Freund, herausgegeben und kommentiert von Isaak Dawydowitsch Glikman, deutsch herausgegeben von Reimar Westendorf. Berlin 1995 Dmitri Schostakowitsch, Brief an A.Abramow vom 9.3.1966, in: Erfahrungen Dmitri Schostakowitsch: 14. Symphonie op. 135. Taschenpartitur. Sikorski Hamburg 1970 Dmitri Schostakowitsch: Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti für Bass und Orchester. Taschenpartitur. Sikorski 1974 Lothar Seehaus: Dmitrij Schostakowitsch. Leben und Werk. Wilhelmshaven 1986 Paul Serotskys Besprechung der Gesamteinspielung Rudolf Barshais der Sinfonien Schostakowitschs mit dem WDR-Sinfonieorchester http://www.musicweb-international.com//classrev/2002/Aug02/ Shostakovich_symphonies_Barshai3.htm Andreas Wernli: Dmitri Schostakowitsch/Frequenzen #01. Zürich 2004, S.42 Solomon Wolkow: Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch. Neuausgabe von Michael Koball, Berlin-München 2003 Solomon Wolkow: Stalin und Schostakowitsch. Berlin 2004 113 Über den Autor: Harry Schröder, Jahrgang 1956, studierte Dirigieren und Komposition in Graz und Stuttgart. 1986 erhielt er einen Kompositionspreis des ORF für contentio für Solo-Violoncello und 8 Streichinstrumente. Viele seiner Werke (Kammermusik, Chor, Klavier, usw.) wurden bei verschiedenen Verlagen herausgegeben oder vom Rundfunk produziert. Harry Schröder unterrichtet derzeit Musik an der Freien Waldorfschule Winterbach-Engelberg und lebt in Schorndorf. Falls Sie dem Autor eine Mitteilung machen wollen: [email protected] 114