http://www.mediaculture-online.de Autorin: Schnoor, Mira Alexandra. Titel: Hörspielmacher. 17 Porträts. Quelle: Herbert Kapfer (Hrsg.): Vom Sendespiel zur Medienkunst. Die Geschichte des Hörfunks im Bayerischen Rundfunk. München 1999. S. 131-148. Verlag: Belleville Verlag. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bayerischen Rundfunks. Mira Alexandra Schnoor Hörspielmacher – 17 Porträts Inhaltsverzeichnis ILSE AICHINGER.............................................................................................................................................................1 ANDREAS AMMER.........................................................................................................................................................3 INGEBORG BACHMANN..............................................................................................................................................6 KLAUS BUHLERT...........................................................................................................................................................7 HEINZ VON CRAMER.................................................................................................................................................10 FRIEDRICH DÜRRENMATT.....................................................................................................................................1 1 RAINER WERNER FASSBINDER..............................................................................................................................1 4 RAYMOND FEDERMAN.............................................................................................................................................15 HARTMUT GEERKEN.................................................................................................................................................1 8 ULRICH GERHARDT...................................................................................................................................................20 ERNST JANDL...............................................................................................................................................................21 ELFRIEDE JELINEK......................................................................................................................................................23 HEINAR KIPPHARDT.................................................................................................................................................2 6 FRIEDERIKE MAYRÖCKER.......................................................................................................................................2 7 HANSJÖRG SCHMITTHENNER...............................................................................................................................3 0 RAOUL SCHROTT.......................................................................................................................................................3 2 PAUL WÜHR..................................................................................................................................................................33 1 http://www.mediaculture-online.de 2 http://www.mediaculture-online.de ILSE AICHINGER Foto: Stefan Moses Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga wurden am 1. November 1921 in Wien als Töchter einer Ärztin und eines Lehrers geboren. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich im März 1938 verlor die jüdische Mutter sofort ihre Praxis und die Familie ihre Wohnung. Helga Aichinger konnte 1939 nach England emigrieren, der Kriegsausbruch verhinderte die geplante Ausreise der restlichen Familie. Die Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 deportiert und ermordet. Während des Krieges war Ilse Aichinger dienstverpflichtet. Nach Kriegsende begann sie ein Medizinstudium, das sie abbrach, um ihren Roman Die größere Hoffnung zu schreiben. 1952 erhielt sie den Preis der Gruppe 47. Ein Jahr später heiratete sie den Schriftsteller Günter Eich. Ihr erstes Hörspiel Knöpfe wurde 1953 beim Süddeutschen Rundfunk produziert. Es gilt heute als Hörspielklassiker und wurde mehrfach neu inszeniert. In Ilse Aichingers schmalem Werk nehmen die Hörspiele und dialogischen Szenen einen wichtigen Platz ein. 1959 produzierte der Bayerische Rundfunk die Dialoge Weiße Chrysanthemen, Französische Botschaft und Pfingstrosen, drei Texte, die sich weigern, den Hörern klare Handlungs- und Erzählzusammenhänge zu präsentieren. Die Dialoge, die aus anscheinend einfachen Erzählsituationen entstehen, machen in ihrem Verlauf die 3 http://www.mediaculture-online.de Brüchigkeit der erzählten Realität deutlich, entwickeln eine alptraumhafte, kafkaeske Logik. In den sechziger Jahren entstanden die Hörspiele Besuch im Pfarrhaus (BR/NDR 1962) und Die Schwestern Jouet (BR/ORF/ SDR/WDR 1969). "Ich schreibe, weil ich keine bessere Form zu schweigen finde."1 In ihrer Verweigerung, in ihrer Kritik ist Ilse Aichinger konsequent, sie schafft eine eigene Wirklichkeit, die alles auf den Kopf stellt und dabei klarer sieht als jeder Realismus: „Was für mich von Jahr zu Jahr wichtiger wird, ist nicht das Bedürfnis, etwas zu beschreiben, sondern das Sprechen aus dem Schweigen heraus. Wobei die Pausen des Schweigens immer länger, die Texte immer kürzer werden.“2 Ilse Aichinger hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter 1991 den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Die beiden wichtigsten aber, der Büchnerpreis und der Hörspielpreis der Kriegsblinden wurden ihr nicht verliehen. Zu Ilse Aichingers 70. Geburtstag schrieb Peter Horst Neumann in der Zeit. "Ihre Texte sind ohne Falten und ohne die Blässe des Alterns: sprachfeste Literatur, etwas abseits zuletzt, aber vom Besten dieses Jahrhunderts."3 1 Zit. n. Karina Urbach: „Man muß seine Angst zähmen". Gespräch in München: Ilse Aichinger erhielt den Großen Literaturpreis. In: Münchner Merkur v. 29./30.5.1991. 2 Zit. n. Rolf Seeliger: „Schreiben statt sich umzubringen". tz-Gespräch mit der Dichterin Ilse Aichinger. In: tz v. 3.6.1991. 3 Peter Horst Neumann: Grüner Esel und größere Hoffnung. In: Die Zeit v. 1.11.1991 4 http://www.mediaculture-online.de ANDREAS AMMER Foto: Sessner Ein Kritiker bezeichnete ihn als "einen der für die Weiterentwicklung des Hörspiels vielversprochendsten jüngeren Autoren".4 Andreas Ammer, Jahrgang 1960, ist ein unerschrockener Montagekünstler, der aus dem Reservoir der Tonarchive und aus dem der Literatur der Klassiker und der Avantgarde schöpft. Ein Visionär des Hörspiels als große Radioform, die die verschiedenartigsten Stile zusammenführen kann: Pop und Klassik, Rap, Lautpoesie und O-Toncollagen. Andreas Ammer hat seit seinem furiosen Hörspieldebüt 1990 das Genre immer wieder in Frage gestellt, ironisch gebrochen und spielerisch erweitert. Bereits sein erstes Hörspiel Orbis auditus Das Lautlexikon, 1990 beim Bayerischen Rundfunk produziert, überraschte die Kritiker durch seine Form der enzyklopädischen Montage. Honoriert wurde die innovative Kraft dieses Stückes mit dem Preis Hörspiel des Jahres 1990. In den Jahren 1991 und 1992 folgten die Hörspiele Kaiser Wilhelm Overdrive und Die Benjamin Loops. Bei der Produktion von Radio Inferno von 1993 brachte die Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks Andreas Ammer mit dem Partner zusammen, mit dem er in den folgenden Jahren seine bislang erfolgreichsten Stücke konzipierte, produzierte und aufführte: dem Musiker und Komponisten FM Einheit. 5 http://www.mediaculture-online.de Auf Radio Inferno, das einige internationale Auszeichnungen erhielt, zum Beispiel den japanischen Morishige-Preis und eine Goldmedaille beim International Radio Festival of New York, folgte 1994 Apocalypse live, ein Stück, bei dem Ammer die Sicherheit der Produktionsstudios verließ und sich auf das spannende, aber auch risikoreiche Terrain einer Live-Aufführung begab. Mit diesem Stück zog Ammer in den Olymp der Hörspielautoren ein: er erhielt neben dem Prix Italia Spezialpreis den Hörspielpreis der Kriegsblinden, die wichtigste Auszeichnung im deutschsprachigen Raum. Mit Odysseus 7 beendete Ammer 1997 gemeinsam mit der Musikerin Ulrike Haage und FM Einheit die Trilogie seiner großen Hörspiel-Opern, auch dieses Stück wurde live im Marstall in München aufgeführt und erschien wie mehrere andere seiner Produktionen auf CD. Ammer, der als Autor und Journalist für Kulturprogramme des Fernsehens und des Hörfunks arbeitet und mehrere Bücher veröffentlicht hat, produzierte im Herbst 1998 beim Bayerischen Rundfunk zwei neue Hörspiele: den Remix Loopspool (gemeinsam mit dem Musiker Console) und 7 Dances of the Holy Ghost (gemeinsam mit Ulrike Haage). INGEBORG BACHMANN Foto: Piper Verlag "Der Schriftsteller - und das ist in seiner Natur - wünscht sich Gehör zu verschaffen."5 Im März 1959 fand im Bundeshaus in Bonn die Verleihung des Hörspielpreises der 5 Ingeborg Bachmann: Werke. Bd.3. Hrsg v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München 1982, S. 275. Im folgenden: Bachmann 1982. 6 http://www.mediaculture-online.de Kriegsblinden statt. In die engere Wahl der Jury waren acht von 14 Hörspielen gekommen, darunter Stücke von Heinrich Böll, Alfred Andersch, Peter Hirche und Günter Eich. Die Auszeichnung bekam aber eine Produktion des Bayerischen Rundfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk: Der gute Gott von Manhattan der 33jährigen österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann. Ein "unverwechselbares Liebesgedicht"6 nennt die Jury in ihrer Begründung Bachmanns berühmtestes Hörspiel. Erzählt wird die Geschichte einer rauschhaften Liebe, die daran scheitert, daß der Mann sich der Bedingungslosigkeit der Frau, der Ausschließlichkeit dieser Liebe entzieht: "Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe."7 Ingeborg Bachmann wurde am 25.6.1926 in Klagenfurt geboren. Ihr Studium der Philosophie schloß sie 1950 mit einer Promotion über Martin Heidegger ab. Seit 1946 veröffentlichte sie Prosatexte, zwei Jahre später erschienen ihre ersten Gedichte. Bachmanns erstes Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen wurde 1952 beim österreichischen Sender Rot-Weiß-Rot urgesendet. 1953 erhielt sie den Preis der Gruppe 47, dem 1964 die bedeutendste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur folgte, der Büchner-Preis. Im Wintersemester 1959/60 hielt Ingeborg Bachmann als erste Dozentin Vorlesungen über Poetik an der Universität in Frankfurt am Main. In den sechziger Jahren arbeitete sie eng mit dem Komponisten Hans Werner Henze zusammen und schrieb die Libretti für seine Opern Der Prinz von Homburg (1960) und Der junge Lord (1965). Henze wiederum schrieb die Musik zu Bachmanns zweitem Hörspiel Die Zikaden, das 1955 vom Nordwestdeutschen Rundfunk produziert wurde. Von 1953 bis 1957 lebte Ingeborg Bachmann in Italien. Später folgten Aufenthalte in München und Zürich, bis sie 1965 ihren Wohnsitz endgültig nach Rom verlegte. Am 26.September 1973 erlitt sie in ihrer Wohnung an der Via Giulia im Schlaf schwere Brandverletzungen. Sie starb am 17.Oktober 1973 im Alter von 47 Jahren. „Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die anderen, wenn sie ihm, in Lob und Tadel, zu verstehen geben, daß 6 Zit. n. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.3.1959. 7 Bachmann 1982, S.276. 7 http://www.mediaculture-online.de sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar.“8 KLAUS BUHLERT Foto: Sessner Seine Bandbreite ist immens. Sie umfaßt Kompositionen für das Theater, für den Film und das Hörspiel ebenso wie eigene Regiearbeiten und Hörspieltexte. Die Vita des Klaus Buhlert, der 1950 in Oschersleben in Sachsen-Anhalt geboren wurde und 1972 in den Westen ging, ist abwechslungsreich und spannend. Nach einem Studium der Musik, Akustik und Informatik ging der 30jährige an das renommierte Massachusetts Institute of Technology in Cambridge/USA und bekam kurz darauf einen Lehrauftrag für die noch junge Disziplin der Elektronischen und der Computer-Musik an der Technischen Universität Berlin. Im wissenschaftlichen Betrieb hielt es den kreativen Musiker jedoch nicht lange. 1983 lernte er in London den Regisseur George Tabori kennen und schrieb für ihn seine erste Bühnenmusik. Daneben arbeitete er als Komponist für die Hörspielabteilungen vieler Sender der ARD. Für den Bayerischen Rundfunk schrieb er unter anderem die Komposition zu Verwandlungen von Richard Huelsenbeck, dem Hörspiel des Jahres 1994. Innerhalb kurzer Zeit gehörte Buhlert zu den begehrtesten Komponisten der Hörspielszene. Gründe dafür sind, neben seiner 8 Ebd., S. 277. 8 http://www.mediaculture-online.de unerschöpflichen Phantasie, die hohe Professionalität, mit der er in seinem eigenen Produktionsstudio in Berlin die Musikaufnahmen vorbereitet und produziert. Buhlert, der immer wieder mit neuen Ideen und Projekten überraschte, so 1995 mit einem Musiktitel in dem Film Natural Bom Killers von Oliver Stone, gab sich mit dem Erreichten nicht zufrieden. Es war nur konsequent, daß er nach den jahrelangen Erfahrungen in den Studios einmal selbst ein Hörspiel inszenieren wollte. Die Möglichkeit dazu bot ihm die Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks, für die er 1995 Hotels von Raoul Schrott inszenierte. Buhlert spricht von seiner "Sucht nach überzeugenden akustischen Erzählformen und unverbrauchten Sprachbildern"9, die das Medium Hörspiel für ihn so reizvoll macht. Dem Regiedebüt, das gleich mit dem renommierten Preis Hörspiel des Jahres 1995 der Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt ausgezeichnet wurde, folgten weitere Inszenierungen der Werke des jungen Dichters Raoul Schrott, die Trilogie Nobodaddy‘s Kinder von Arno Schmidt und eigene Arbeiten wie Assault/Anschlag und Der Irre und der Blinde. Im Bayerischen Rundfunk hat Buhlert den idealen Partner für seine Hörspielarbeit gefunden, denn: "Ich suche mir genau aus, mit wem ich zusammenarbeite. Wenn ich etwas tun kann, dann kann ich es im Rahmen der Bedingungen, die ich hier beim Bayerischen Rundfunk finde."10 9 Wortlaut eines Interviews mit Mira Alexandra Schnoor. In: Hörspielnotizen. Folge 57. BR, 19.12.1997. 10 Ebd. 9 http://www.mediaculture-online.de HEINZ VON CRAMER Foto: Sessner Wieviele Hörspiele Heinz von Cramer inszeniert hat, läßt sich nur schwer schätzen, es werden wohl weit über 200 sein. Damit gehört er zu den produktivsten, aber auch kreativsten Hörspielmachern. Geboren wurde er am 12.Juli 1924 in Stettin. Nach einem Kompositionsstudium bei Boris Blacher arbeitete er von 1947 bis 1952 als Dramaturg und Regisseur beim RIAS Berlin. Seit 1952 lebt er als freier Schriftsteller, Übersetzer und Regisseur in Italien. Von Cramer ist mit den unterschiedlichsten künstlerischen Genres vertraut, er schrieb Opernlibretti für Blacher und Hans Werner Henze, veröffentlichte Erzählungen, Romane und Gedichte und führte Regie bei Theater- und Filmproduktionen. Im Zentrum seines Wirkens stand und steht aber das Hörspiel. Von Cramer sieht sich nicht als konventionellen Hörspielregisseur, sondern als Bearbeiter, als Vermittler, als Komponist. Seine Hörspielbearbeitungen und -inszenierungen beeindrucken durch die ungeheure Musikalität und Meisterschaft, mit der er aus bestehendem musikalischem Material Collagen und Montagen schafft, die den Text nicht einfach akustisch bebildern, sondern eine neue Aussageebene zum Text hinzufügen: Ich meine, daß die Dramaturgie, in der man einen Stoff darstellt, eben wenn sie musikalische Strukturen aufweist, viel freier ist, man kann freier mit der Zeit umgehen, man kann große Sprünge machen. Ich finde, wenn man diese fabelhafte Methode der Montage hat, dann sollte man sie nutzen. Man kann ungeheuer verkürzen: Ein völlig neues Zeitgefühl kann dadurch 10 http://www.mediaculture-online.de entstehen, daß kurze Momente sich unendlich dehnen und nie aufzuhören scheinen, quälend lange werden; und daß wieder sehr lange Entwicklungen zusammengedrängt werden auf einen einzigen Augenblick.11 Die Texte, die von Cramer für das Hörspiel bearbeitet, sind oft jene Meisterwerke der Weltliteratur, die sich ihrer Kühnheit, Doppelbödigkeit oder schlicht ihres Umfangs wegen der allgemeinen Rezeption nicht leicht erschließen, wie Lautréamonts Maldoror oder Laurence Sternes Tristram Shandy, den Heinz von Cramer 1986 für den Bayerischen Rundfunk inszenierte. Als Vermittler einer literarischen Kultur sieht ihn Karl H. Karst: "Nicht zuletzt ist Heinz von Cramer ein Autor, der seine Sprach-, Musik- und Regiefähigkeit einsetzt, um auszugraben, was verschüttet ist, um vermeintlich Altes in seiner Neuheit vorzustellen".12 Dem Allrounder, Perfektionisten, musikalischen Erzähler und sprachverliebten Komponisten von Cramer verdankt das deutschsprachige Hörspiel einige seiner poetischsten und schönsten Produktionen. FRIEDRICH DÜRRENMATT Friedrich Dürrenmatt (l.) erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden für Die Panne Foto: Schirner Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 als Sohn eines Pfarrers im Kanton Bern geboren. Nach einem Studium der Theologie, Philosophie und Germanistik arbeitete er eine Zeit lang als Grafiker und Werbetexter. Die Uraufführung seines ersten Theaterstückes Es steht geschrieben führte 1947 im Zürcher Schauspielhaus noch zu einem Skandal. Mit der Ehe 11 Zit. n. Paul-Josef Raue: "Was für eine wunderschöne Sprache kann das Deutsche sein". Heinz von Cramers Kunst, Hörspiele zu realisieren. In: Funk-Korrespondenz. Nr.47 v. 24.11. 1982. 12 Karl H. Karst: Ausgrabungen, was verschüttet war. In: Kölner Stadt-Anzeiger v. 7.2.1986. 11 http://www.mediaculture-online.de des Herrn Mississippi gelang Dürrenmatt fünf Jahre später an den Münchner Kammerspielen der Durchbruch und er wurde zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker. Friedrich Dürrenmatt war kein Theoretiker des Hörspiels. Aber er war einer der produktivsten und erfolgreichsten Hörspielautoren der fünfziger Jahre. Sieben seiner acht Originalhörspiele wurden zwischen 1951 (Der Prozeß um des Esels Schatten) und 1957 (Abendstunde im Spätherbst) urgesendet. Er erhielt zwei der wichtigsten Hörspielpreise: für Die Panne (in der Produktion des NDR) den Hörspielpreis der Kriegsblinden 195613 und für Abendstunde im Spätherbst (in der Produktion des ORF) den Prix Italia 1958. Alle Hörspiele Dürrenmatts wurden vom Nordwestdeutschen Rundfunk/Norddeutschen Rundfunk und vom Bayerischen Rundfunk produziert. Neben Die Panne wurden beim Bayerischen Rundfunk das Nächtliche Gespräch (1952) und Das Unternehmen der Wega (1954) inszeniert; Der Prozeß um des Esels Schatten in der Fassung des Bayerischen Rundfunks (1952) existiert leider nicht mehr. Mit der Abendstunde im Spätherbst beendete Dürrenmatt seine Auseinandersetzung mit dem Hörspiel und widmete sich fortan der Prosa und Dramatik. Weiterhin gab es von einigen seiner Theaterstücke auch Hörspielversionen, z.B. von Der Besuch der alten Dame oder von Der Mitmacher. Seine Themen und Stoffe bearbeitete Dürrenmatt für die verschiedensten Medien: Die Panne zum Beispiel gibt es als Erzählung, als Hörspiel, als Fernsehspiel und als Bühnenfassung. Sicher ging es Dürrenmatt nicht darum, die formalen Grenzen des Hörspiels zu erkunden und zu erweitern. Aber er spielte ironisch mit Hörererwartungen und experimentierte in seinen Hörspielen mit dramaturgischen Modellen, immer wieder mit Krimi-Elementen, immer wieder mit Verhör- und Prozeßsituationen. Dürrenmatt, der für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen erhielt, darunter 1986 den Büchner-Preis, starb im Dezember 1990 kurz vor seinem 70.Geburtstag in Neuchâtel in der Schweiz. 13 Die Ursendung von Die Panne fand 1955 in der ungekürzten Version beim Bayerischen Rundfunk statt. 12 http://www.mediaculture-online.de RAINER WERNER FASSBINDER "Alles Vernünftige interessiert mich nicht."14 Als Rainer Werner Fassbinder 1982 im Alter von 37 Jahren starb, hinterließ er in der deutschen Film- und Kulturlandschaft eine Lücke, die bis heute niemand füllen konnte. In nur 15 Jahren schuf Fassbinder ein ungeheures filmisches und dramatisches Werk, er schrieb und inszenierte Theaterstücke und Hörspiele, drehte bis zu sieben Filme pro Jahr und engagierte sich in der Filmpolitik. Seine Filmographie umfaßt über 42 Titel. Fassbinder, ein rastlos Getriebener, war sich der eigenen Gefährdung durchaus bewußt: "Schon als Kind war ich das, was man manisch-depressiv nennt. Die Arbeit hat mir sehr geholfen und tut es wahrscheinlich immer noch, um nicht in diese Gefahren reinzulaufen, die mich vielleicht nur noch depressiv sein lassen."15 Arbeit wurde für Fassbinder zur Therapie; das erklärt aber noch nicht die künstlerische Qualität und Geschlossenheit seines Werkes. Hinzu kam eine unerschöpfliche Kreativität, ja Genialität, die ihn niemals den Weg des erfolgreich Angepaßten gehen ließ. Rainer Werner Fassbinder wurde am 31.5. 1945 in Bad Wörishofen geboren. Die Schule verließ er 1964 kurz vor dem Abitur und nahm in München privaten Schauspielunterricht. 1967 schloß er sich der Münchner Theatergruppe Action-Theater an, arbeitete dort als 14 Wolfgang Limmer: Rainer Werner Fassbinder, Filmemacher. Reinbek 1981, S. 58. 15 Ebd., S. 44. 13 http://www.mediaculture-online.de Schauspieler, Bearbeiter und Regisseur, und wurde immer mehr zum führenden Kopf der Gruppe. Im April 1968 fand die Uraufführung seines ersten eigenen Stückes Katzelmacher statt. Nach dem Zusammenbruch der Gruppe gründete Fassbinder mit einigen Schauspielern das antitheater, das mit seinen unkonventionellen und provokanten Inszenierungen bald bundesweit Beachtung fand. Trotz seiner vielen Produktionen für das Theater, lag das Hauptinteresse Fassbinders beim Film. Sein zweiter Spielfilm Katzelmacher (1969) wurde ein sensationeller Erfolg und erhielt viele Preise, darunter den Preis der Filmkritik und fünf Bundesfilmpreise. Von nun an erschien Jahr für Jahr mindestens ein neuer Film Fassbinders in den Kinos oder im Fernsehen. Neben der Arbeit für das Theater und den Film schrieb und realisierte Fassbinder 1970 und 1972 zwei Hörspiele für den Bayerischen Rundfunk: die gesellschaftskritische Collage Ganz in weiß und Keiner ist böse und keiner ist gut, ein Versuch über Science Fiction. Nach der Mammutleistung der Jahre 1980 bis 1982 mit den Filmen Lili Marleen, Lola, Die Sehnsucht der Veronika Voss und der letzten Arbeit Querelle starb Fassbinder am 10. Juni 1982 in München. RAYMOND FEDERMAN Foto: Sessner Raymond Federman wurde am 15. Mai 1928 in Paris geboren. Aber als wahren Geburtstag sieht er den 16. Juli 1942 an, den Tag der Massenverhaftungen in Paris, an dem über 12000 Menschen festgenommen und nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager deportiert wurden. Um halb sechs am Morgen stürmten deutsche 14 http://www.mediaculture-online.de Soldaten in die Wohnung, um die jüdische Familie Federman abzuholen. Geistesgegenwärtig versteckte die Mutter den 14jährigen Raymond in einem Schrank. Aus dem Versteck heraus hörte er, wie seine Eltern und seine zwei Schwestern abgeführt wurden. Sie wurden in Auschwitz ermordet. Federman überlebte. Nach dem Krieg wanderte er nach Amerika aus, arbeitete in einer Fabrik in Detroit, besuchte die HighSchool und creative-writing-Kurse an der Universität, wurde Kritiker, Schriftsteller und Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft. Die Auseinandersetzung mit dem traumatischen Schrank-Erlebnis, dem Verlust der Familie, der Einsamkeit des auf sich selbst gestellten Jugendlichen, durchzieht das Werk Federmans. In den siebziger Jahren begann er mit seinen experimentellen Texten, die geprägt sind durch die Auflösung herkömmlicher Erzähl- und Formstrukturen. Mit seinem Roman Alles oder nichts, erschienen 1971, stellte Federman die Konventionen fiktionalen Erzählens radikal in Frage. Wie auch in seinen folgenden Werken spielte er mit biographischen Hinweisen, machte die eigene Biographie zur Fiktion, die er aber immer wieder durch ironische Selbstreflexion aufbrach: „Mann macht eine interessante Entdeckung, wenn man sein eigenes Leben fiktionalisiert: Bei diesem Prozeß entdeckt man seine eigene Ästhetik, und in meinem Fall beruht sie auf der Tatsache, daß es keinen Unterschied gibt zwischen dem Wirklichen und dem Fiktiven, zwischen Tatsache und Vorstellung.“16 1989 produzierte der Bayerische Rundfunk das erste Hörspiel von Federman, Die Nacht zum 21. Jahrhundert oder Aus dem Leben eines alten Mannes. Dieser ersten Arbeit folgten weitere sieben Hörspiele, die inzwischen in einer Auswahl auf Audiocassette beim Hör-Verlag erschienen sind. In seinen Werken, die er unter dem Begriff surfiction subsumiert, geht es Federman nicht um eine Handlung, sondern um das Erzählen und Konstruieren einer Geschichte, die eigentlich nicht erzählbar, nicht konstruierbar ist: 16 Zit. n. Bayerischer Rundfunk (Hrsg.): Hörspiel 89/2. München 1989, S.10. 15 http://www.mediaculture-online.de „Deshalb weigere ich mich beständig, eine Geschichte zu erzählen - egal, wie sich ein Schriftsteller bemüht, egal zu welcher Form er greift, er wird niemals in der Lage sein, dem Chaos des Lebens Gestalt zu geben. Daran wird er scheitern. Dennoch versuche ich es.“17 HARTMUT GEERKEN Foto: Wilfried Petzi "das herkömmliche hörspielstudio mit seinen niederträchtigen tricks ignorieren wir mit der größtmöglichen arroganz."18 Hartmut Geerken, geboren 1939, hat in seiner Arbeit das "herkömmliche hörspielstudio", die herkömmliche Art des Hörspielmachens und -hörens radikal in Frage gestellt und neue Formen der Produktion und Rezeption entwickelt, die das Ende der erzählten Geschichten, das Ende auch der akademischen Konstruktion und Interpretation von Hörspielen bedeuten: "'kunstwerke' beginnen, sich ihre spielregeln selbst zu setzen & sind fähig, sich selber zu organisieren, auch ohne unser künstlerisch professionelles (noch verwerflicher: professorales) zutun".19 Die Offenheit, mit der sich Geerken seinen Themen und Formen nähert, die Freiheit, die er seinem Material läßt, sind verbunden einerseits mit dem Risiko des Neuen, 17 Zit. n. Bayerischer Rundfunk (Hrsg.): Hörspiel 91/2. München 1991, S.23. 18 Hartmut Geerken: das interaktive hörspiel oder der anfang vom ende einer jeglichen dramaturgie. In: Folkwang Hochschul Zeitung. H. 11. Jg. 6. WS 91/92, S. 13. 19 Klaus Ramm: "das beginnt irgendwo hat kein ziel verläuft sich zieht kreise will nirgendwo ankommen & endet an einem beliebigen punkt". Hartmut Geerkens Wege in die Radiokunst und sein Verschwinden darin. Sendemanuskript BR, 15.1.1999, S. 16. 16 http://www.mediaculture-online.de Unbekannten, andererseits mit einer im Rundfunkbetrieb seltenen Spiel- und Experimentierfreude, für die Geerken zweimal mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnet wurde (1989 für südwärts, südwärts und 1994 für hexenring). Geerkens Neugier auf neue Formen, Themen und Kulturen bestimmte seine Biographie: er studierte Orientalistik, Philosophie, Germanistik und Religionswissenschaft, arbeitete als Mitarbeiter des Goethe-Instituts in Kairo, Kabul und Athen, war Mitherausgeber der Reihe Vergessene Autoren der Moderne und Diskograph des afro-amerikanischen Dichters, Philosophen und Musikers Sun Ra. Eine Berufsbezeichnung für Geerken zu finden fällt schwer: er ist Schriftsteller, Filmemacher, Komponist, Schauspieler, Jazz-Musiker, Mykologe und Hörspielmacher. „Das bestimmende Moment seiner Radiokunst ist es, immer aufs Neue Methoden zu ersinnen und im Radio sorgsamst in Gang zu setzen, die ganz bewußt nichts zum Verständnis beitragen, das aber auf grundlegende Weise.“20 Die Radioarbeit von Hartmut Geerken ist eng verbunden mit der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks. 1989 begann die Zusammenarbeit mit südwärts, südwärts, es entstanden in den folgenden Jahren 13 weitere Produktionen, die vollständig unterschiedlichen Konzeptionen und Produktionsanleitungen folgen, wie das zweiteilige interaktive Medienspiel null sonne no point, das Geerken 1996 gemeinsam mit dem Art Ensemble of Chicago auf der Bühne des Münchner Marstalls realisierte oder die Exiltrilogie Maßnahmen des Verschwindens, bestehend aus fast nächte (BR 1992), südwärts, südwärts (BR 1989) und stöße gürs (BR 1991), drei Stücke, in denen Geerken mit dokumentarischen Texten und O-Tonmaterial aus Deutschland emigrierter jüdischer Flüchtlinge arbeitete oder, als bislang letzte Produktion, bombus terrestris (BR 1998), ein Stück, in dem sich Geerken der Sprache der Hummeln widmete, darüber hinaus aber auch nach unserem meist reduzierten Verständnis von Sprache fragte: "es gehört zum arroganten selbstverständnis des menschen, daß er nur das als sprache definiert, was er versteht."21 20 Ebd., S. 2. 21 Ebd., S. 3. 17 http://www.mediaculture-online.de ULRICH GERHARDT Foto: Hans Grimm Ulrich Gerhardt, Jahrgang 1934, kam nach einer Schauspielausbildung und einem Studium der Theaterwissenschaften und Publizistik 1960 zum RIAS Berlin, wo er zunächst als Regisseur, später auch als leitender Redakteur arbeitete. Seine Bemühungen galten dem Neuen Hörspiel ebenso wie Versuchen mit der neuentwickelten Kunstkopfstereophonie. Von 1981 bis 1986 war er Chef der Hörspielabteilung des Sender Freies Berlin. Seit 1986 arbeitet Gerhardt als freier Regisseur für viele Hörspielabteilungen der ARD. Zwei bis drei Produktionen pro Jahr hat er in den neunziger Jahren für den Bayerischen Rundfunk inszeniert. Die stattliche Liste von über zwanzig Hörspielen dokumentiert die enge Zusammenarbeit zwischen Ulrich Gerhardt und der Abteilung Hörspiel und Medienkunst. Dabei hat er sich wahrlich nicht die einfachsten Texte ausgesucht, hat sich immer wieder der Herausforderung schwieriger, manchmal sperriger, immer aber spannender Texte gestellt. Belohnt wurde Gerhardts Bemühung um die akustische Umsetzung des Ungewohnten mit zahlreichen Preisen. Seine Inszenierung von Simone Schneiders Roter Stern wurde 1992 mit dem Preis der Publikumsjury bei der Woche des Hörspiels in Berlin sowie mit dem Preis Hörspiel des Monats März 1992 ausgezeichnet. Verwandlungen von Richard Huelsenbeck wurde zum Hörspiel des Jahres 1994 gewählt. 18 http://www.mediaculture-online.de Die wichtigste Auszeichnung dürfte für Gerhardt aber der Karl-Sczuka-Preis 1993 gewesen sein. Durch einen Glücksfund auf einem Berliner Flohmarkt gelangte er in den Besitz von einmaligen Tondokumenten: auf 17 hauchdünnen, zerbrechlichen Schallplattenfolien entdeckten Gerhardt und der Toningenieur Günter Heß Aufnahmen des Berliner Amateurtontechnikers Jürgen Tradt aus den Jahren 1941 und 1942. Tradt, ein ungefähr 22 Jahre alter Soldat, der an der Ostfront kämpfte, machte während eines Fronturlaubs Tonaufnahmen: von Radiosendungen, Telefongesprächen, aber auch eigenen Ansagen. Nach der Restaurierung des teilweise stark beschädigten Materials fügte Gerhardt nach einem Zufallsprinzip die Mosaiksteine dieses radioarchäologischen Fundes für die Sendereihe Readytapes neu zusammen. In der Begründung der Jury des Karl-Sczuka-Preises heißt es: „Ulrich Gerhardt hat im Bewußtsein avancierter Möglichkeiten des modernen Hörspiels den akustischen Eigencharakter der Fundstücke, ihr Gewicht als Dokumente, zum Kriterium seines Stückes werden lassen und zwingt so die Hörer in eine Erinnerung jener Vergangenheit, die zur bedrückenden Konfrontation wird.“22 ERNST JANDL Foto: Hans Grimm 22 Pressetext des Südwestfunks, Oktober 1993. 19 http://www.mediaculture-online.de "ich dir machen an mir sprachüberraschung" - Ernst Jandl 1970 im Studio des Bayerischen Rundfunks. Bei der Produktion von Das Röcheln der Mona Lisa führt der österreichische Dichter zum ersten Mal Regie und ist der einzige Sprecher seines Stückes, ein Wortartist, ein Lautdichter, der mit Sprache, Geräuschen und den technischen Möglichkeiten des Mediums experimentiert. Seit seinem furiosen Beginn mit Fünf Mann Menschen, für das er gemeinsam mit Friederike Mayröcker den Hörspielpreis der Kriegsblinden 1968 bekam, hat Ernst Jandl die Hörspiellandschaft verändert. „Die Hörspielarbeit Ernst Jandls hat grundlegende Bedeutung. Sie ist Baustein einer neuen, offenen akustischen Ästhetik. Sie hat dazu beigetragen, daß das Hör-Spiel als akustische (Radio-)Poesie, als künstlerisch gleichwertige Artikulation vom allgemeinen kulturellen Bewußtsein aufgenommen wurde.“23 „Ernst Jandl, geboren 1925 in Wien. Nach Militärdienst, Kriegsgefangenschaft und Studium der Germanistik und Anglistik arbeitet er als Gymnasiallehrer in Wien. 1957 schreibt er sein erstes Hörspiel: die auswanderer, das erst 13 Jahre später produziert wird. Ernst Jandl tritt hauptsächlich als Lyriker in Erscheinung, veröffentlicht seit 1952 Lyrik und Prosa in Zeitschriften und Anthologien. Nach verschiedenen Publikationen 1966 der Gedichtband Laut und Luise. Im gleichen Jahr lernt Jandl den Hörspieldramaturgen des Bayerischen Rundfunks, Hansjörg Schmitthenner, kennen, der ihn auffordert, für das Hörspiel zu schreiben. Und dann - Schmitthenner berichtet: „Eines Tages lag ein Umschlag auf dem Tisch. Inhalt: Fünf Mann Menschen. Was ich las, war etwas völlig anderes, als ich erwartet hatte, aber auch etwas völlig Neues, das sich von allem unterschied, was bisher als Rundfunktext unter der Bezeichnung Hörspiel vorgelegt worden war.“24 Ernst Jandl schreibt die meisten seiner Hörspiele Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Dann tritt eine längere Hörspielpause ein. Jandl, dem viele Literaturpreise verliehen wurden, so erhielt er 1984 den Büchner-Preis, wird 1989 als einer der wichtigsten und wegweisenden Autoren des Neuen Hörspiels mit dem Frankfurter Mann Menschen" von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. In: Wendelin Schmidt-Dengler (Hrsg.): Ernst Jandl Materialienbuch. Darmstadt und Neuwied 1982, S. 95 -109, hier S. 102. 20 http://www.mediaculture-online.de Hörspielpreis ausgezeichnet. Zwanzig Jahre nach seiner ersten Hörspielregie bei Das Röcheln der Mona Lisa sitzt Ernst Jandl im Frühjahr 1990 wieder als Regisseur im Studio, diesmal gemeinsam mit dem Komponisten Ernst Kölz. Wieder leitet er eine Produktion des Bayerischen Rundfunks: szenen aus dem wirklichen leben, eine Kurzoper über die Vergeblichkeit einer Zweierbeziehung, die Jandl ursprünglich für die Bühne geschrieben hatte, für die er dann aber als geeignetes Medium das Hörspiel wählte, erhält den Preis Hörspiel des Monats April 1990 der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. In der Begründung der Jury heißt es: "Die Mischung von Lakonik, Infantilität und Pathos, welche Sprache und Musik hier bieten, ist im zeitgenössischen Hörspiel ganz einmalig."25 ELFRIEDE JELINEK Foto: Hans Grimm "Der Höhepunkt der Woche war das Hörspiel."26 Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek, 1946 in Mürzzuschlag (Steiermark) geboren, fühlt sich dem Medium Rundfunk und besonders dem Hörspiel sehr nahe: "Ich habe bis zu meinem 20. Lebensjahr nur Radio gehört. Aus pädagogischen Gründen hat meine Mutter nicht gewollt, daß ich mein Musikstudium durch Fernsehen unterbreche."27 25 Pressetext der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste v. 11.5.1990. 26 Wortlaut eines Interviews mit Christoph Lindenmeyer. In: Hörspielnotizen Folge 25. BR, 31.7.1992. 27 Ebd. 21 http://www.mediaculture-online.de Elfriede Jelinek wuchs in Wien auf. Schon während der Schulzeit hatte sie Orgel- und Klavierunterricht am Wiener Konservatorium. Später studierte sie hier auch Komposition sowie Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Als Studentin begann sie mit dem Schreiben und erhielt bereits 1966 zwei österreichische Literaturpreise. Es folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen, darunter 1998 der Büchner-Preis. Mit ihren Prosawerken und Theaterstücken provozierte Jelinek die unterschiedlichsten Reaktionen bei Kritik und Publikum, die von heftigster Ablehnung bis zu glühender Bewunderung reichen. Entlarvung durch Satire gelingt ihrem musikalisch-artistischen Spiel mit Sprachschablonen, Stereotypen und Phrasen, die sie oft als Zitate der Werbung, Politikerreden oder der Trivialliteratur entnimmt. Elfriede Jelinek nennt ihre Art, mit Sprache umzugehen, "ein Mittelding zwischen Literatur und Komposition"28. Viele ihrer Texte verlangen nach einem akustischen Raum, daher ist das Hörspiel der geeignete Ort für ihre Arbeiten. Im Hörspiel, nach Jelinek eine "Heimstatt für sprachexperimentelle Literatur"29, ist es ihr mehr als in jedem anderen Medium möglich, die Sprache wie musikalisches Material zu behandeln und komplexe Sprachkompositionen zu schaffen, die nicht auf visuelle Vermittlung oder auf eine Handlung angewiesen sind. Lange bevor sie ihre ersten Stücke für die Bühne schrieb, arbeitete Jelinek für den Rundfunk: „Meine ersten Erfahrungen mit Dramatik waren Hörspielerfahrungen. Weil ich auch Musikerin bin und Komposition studiert habe, habe ich überhaupt keine Schwierigkeiten, mich in einen Hörraum hineinzuversetzen und eine Partitur für Sprecher zu erstellen. Ich gehe da nach rein musikalischen Gesichtspunkten vor.“30 Konsequent war es daher, mit der Komponistin Olga Neuwirth zusammenzuarbeiten, mit der sie das Hörspiel Todesraten für den Bayerischen Rundfunk konzipierte, das 1997 von der Akademie der Darstellenden Künste als Hörspiel des Monats Juni ausgezeichnet wurde. Im Herbst 1998 wurde Elfriede Jelineks Hörspiel er nicht als er vom Bayerischen Rundfunk produziert. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Zit. n. Gunna Wendt: „Wer nicht fühlen will muß hören". Zu den Hörspielen von Elfriede Jefinek. Sendemanuskript BR, 8.11.1996. 22 http://www.mediaculture-online.de HEINAR KIPPHARDT Foto: Isolde Ohlbaum "Wenn die Wahrheit von einer Wirkung bedroht schien, opferte (ich) die Wirkung."31 Heinar Kipphardt war ein politisch engagierter Schriftsteller, der mit unbequemen Themen, akribisch recherchiert und dokumentiert, nicht nur literarische, sondern auch gesellschaftliche und politische Diskussionen in Gang brachte. Geboren wurde er 1922 in Schlesien. Nach dem Ende des Krieges studierte er Medizin, daneben auch Philosophie und Theaterwissenschaft. Er spezialisierte sich auf Neurologie und Psychiatrie und arbeitete als Assistenzarzt an verschiedenen Kliniken. Nach der Promotion zum Dr. med. siedelte er 1949 nach Ost-Berlin über und arbeitete bis Ende 1950 an der Universitätsnervenklinik der Charité. Ab 1951 war Kipphardt Dramaturg am Deutschen Theater Berlin unter dem Intendanten Wolfgang Langhoff. Im Februar 1959 kündigte Kipphardt seinen Vertrag, da es zu Differenzen mit den DDR-Kulturbehörden gekommen war. Ihm wurden "revisionistische" Aktivitäten vorgeworfen, da er auch westliche Autoren in den Spielplan aufgenommen hatte. Kipphardt ging nach Düsseldorf, wo er für sechs Monate als Dramaturg des Schauspielhauses arbeitete. Dann zog er 1960 nach München und arbeitete als freier Schriftsteller. 1970 nahm er wieder einen Dramaturgenposten an, seinen letzten. Diesmal wurde er Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele und wieder geriet er in eine politische Auseinandersetzung. Diesmal ging S. 150. 23 http://www.mediaculture-online.de es um die Programmheftgestaltung zu Wolf Biermanns Stück Der Dra-Dra. Auf zwei Seiten des Programmheftes sollten prominente Deutsche, darunter auch der damalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, als kapitalistische Drachen abgebildet werden. Die Idee stammte nicht von Kipphardt, sondern von einem anderen Dramaturgen. Obwohl die beiden problematischen Seiten nie erschienen, kam es zu einem öffentlichen Skandal und Kipphardt mußte seinen Posten niederlegen. Er zog sich nach Angelsbruck zurück, lebte weit weg von Theaterlärm und politischem Gezänk in einer umgebauten alten Mühle.. Hier arbeitete er an einem seiner wichtigsten Werke: dem Fernsehspiel, Roman und Hörspiel März (BR 1977), einer schonungslosen Attacke auf die Zustände in psychiatrischen Kliniken in Deutschland. 1982 wurde ein langjähriges Theaterprojekt beendet, dessen Uraufführung Kipphardt nicht mehr erleben konnte: Bruder Eichmann. Kipphardt, der zahlreiche Preise erhielt wie den Nationalpreis der DDR, den Gerhart-Hauptmann-Preis und den Adolf Grimme-Preis, starb im November 1982 an Herzversagen. FRIEDERIKE MAYRÖCKER "Ich will verschwinden hinter meiner Biographie. Im Vordergrund steht die Bibliographie."32 Friederike Mayröcker verweigert sich den herkömmlichen Formen des Erzählens, auch des biographischen und autobiographischen Erzählens. Auf die Frage, ob sie einmal ihre 32 Zit. n. Sigrid Löffler: Ich will verschwinden hinter meiner Biographie. In: Süddeutsche Zeitung v. 4./5.3. 1995. 24 http://www.mediaculture-online.de Memoiren schreiben würde, antwortet sie: "Ich glaube nicht. Schon deshalb nicht, weil ich mich nicht chronologisch an alles erinnern kann. Es gibt so viele weiße Flecken, wo ich überhaupt nicht weiß, was damals war."33 Friederike Mayröcker wird am 20. Dezember 1924 in Wien geboren. Ein Jahr später erkrankt sie an Gehirnhautentzündung und leidet bis ins vierte Lebensjahr unter Fieberanfällen. Nach dem Tod der Großeltern 1934/1935 gerät die Familie in materielle Not. Von 1942 bis 1945 ist Friederike Mayröcker als Luftwaffenhelferin eingezogen. Neben dieser Tätigkeit bereitet sie sich in Abendkursen auf die Staatsprüfung in Englisch vor, die sie 1945 ablegt. Von 1946 bis 1969 arbeitet sie als Hauptschullehrerin für Englisch: „In dieser Zeit habe ich schon sehr unter dem Unterrichtenmüssen gelitten, und es nie erwarten können, am frühen Nachmittag nach Hause zu kommen, um mit dem Arbeiten anzufangen. Da habe ich dann oft in ein zwei Tagen ein langes Gedicht gemacht.“34 Mayröcker, die bereits im Alter von 15 Jahren zu schreiben begann, erwirbt nach dem Krieg ihre erste Schreibmaschine, die allerdings einen Defekt hat. Da die Taste für 'ß' fehlt, wird das 'sz' von nun an zum Erkennungszeichen ihrer Texte. 1954 lernt sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie eine enge, produktive Freundschaft und Lebenspartnerschaft verbindet. Friederike Mayröcker veröffentlicht seit 1946 Lyrik, Prosa und Kinderbücher und schrieb über 30 Hörspiele, einige davon zusammen mit Ernst Jandl. Für Fünf Mann Menschen erhielten Jandl und Mayröcker 1968 den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Die Texte der Friederike Mayröcker, die eingesteht, daß sie gern mehr Leser hätte, werden oft als schwierig und schwer zugänglich bezeichnet. Sie verlangen von Hörern und Lesern große Aufnahmefähigkeit, Sensibilität und eigene Produktivität. Läßt man sich auf Friederike Mayröcker ein, wird man belohnt durch die explosive Kraft ihrer Sprache und, besonders in den Hörspielen, die Musikalität ihrer Dichtung: „Was ich vom Hörspiel fordere, ist: es muß akustisch befriedigen, faszinieren, reizen, das heißt der akustische Vorgang muß beim Hörer eine ganz bestimmte Reaktion hervorrufen, etwas, das in der Nähe musikalischen Genusses liegt, aber statt von Tönen von Worten und Geräuschen ausgelöst wird.“35 33 Zit. n. Siegfried J. Schmidt: "Es schießt zusammen". Gespräch mit Friederike Mayröcker. In: Siegfried J. Schmidt(Hrsg.): Friederike Mayrocker. Frankfurt a.M. 1984, S. 260-283, hier S. 274. 34 Ebd., S. 263. 35 Zit. n. Klaus Schöning (Hrsg.): Schriftsteller und Hörspiel, Reden zum Hörspielpreis der Kriegsblinden. Königstein/Ts. 1981, S.78. 25 http://www.mediaculture-online.de HANSJÖRG SCHMITTHENNER Foto: Fred Lindinger Hansjörg Schmitthenner war ein Glücksfall für den Bayerischen Rundfunk: ein Visionär, der weit über die Grenzen des damaligen Hörspielbegriffs hinaus offen war für radiophone Erkundungen, Entdeckungen und Wagnisse - für die elektroakustische Kunst gleichermaßen wie für die sprachexperimentelle. Zu einem entscheidenden Erlebnis wurde für Schmitthenner die Begegnung mit den Werken und Arbeitsweisen des Club d'essai Anfang der fünfziger Jahren in Paris: „Ich hörte in Elektronenröhren erzeugte Klänge, Klangfarben und Klangereignisse, die ich noch nie zuvor gehört hatte. [ ... ] Es war mir nicht möglich, die 'gehörten' Erfahrungen in München in die eigene Arbeit einzubringen. Es gab weder das Geld noch die in Paris entwickelten Apparaturen zur Erzeugung solcher Kunstwerke. Vor allem aber hatte man im Deutschland der fünfziger Jahre gar kein Interesse für progressive Unternehmungen.“36 Allen Widerständen zum Trotz begleitete Schmitthenner als aufmerksamer Dokumentar die radiophone Kunst aus Paris. Auch Jahre später stieß er an die Grenzen des ästhetischen Wagemuts und der Experimentierfreude der Rundfunkverantwortlichen: „1966 kam ich, immer weiter auf der Suche nach dem eigenständigen radiogenen 36 Hansjörg Schmitthenner: Eine Stelle, wo vorher nichts da war - Bemerkungen zu dem Hörspiel "Fünf Mann Menschen" von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. In Wendelin Schmidt-Dengler (Hrsg.): Ernst Jandl Materialienbuch. Darmstadt und Neuwied 1982, S. 95-109, hier S. 98. 26 http://www.mediaculture-online.de Kunstwerk, in den Radiophonie Workshop der BBC in London. [ ... ] Dort lernte ich Ernst Jandl kennen."37 Es war sicher ein trauriger Moment für den innovativen Kopf und Förderer einer Kunst, die eigenständig und abseits des mainstream existierte, daß der ersten Zusammenarbeit mit Ernst Jandl ein Riegel vorgeschoben wurde und die Produktion von Fünf Mann Menschen nicht beim Bayerischen Rundfunk, sondern beim Südwestfunk realisiert wurde. Schmitthenners Zeit als Dramaturg und Hörspielleiter (1950-1974) war wohl gerade wegen seines ästhetischen Mutes, eine sehr erfolgreiche, was sich in zahlreichen nationalen und internationalen Preisen für die Hörspiele des Bayerischen Rundfunks ausdrückte. Neugier, große Offenheit, und Kreativität waren Eigenschaften Schmitthenners, die nicht nur seine Arbeit als Hörspieldramaturg und Leiter der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks auszeichneten. Auch als Schriftsteller, Schauspieler und Realisator ungewöhnlicher Hörwerke wie der dreiteiligen akustischen Collage Welthören überwand der 1908 in Colmar geborene Schmitthenner immer wieder formale und ästhetische Grenzen. Als Hansjörg Schmitthenner im Mai 1993 starb, schrieb Christoph Lindenmeyer, damaliger Leiter des Hörspiels im Bayerischen Rundfunk über seinen Vorgänger: er "blieb bis in seine letzten Tage ein sensibel Horchender, der die Welt mit seinem Gehör beobachtete und der sich in Stimme, Klang, Geräusch und wohl auch in der Stille Menschen erschloß und ihre Zeit und ihre Welt."38 37 Ebd., S. 101. 38 Christoph Lindenmeyer: "Ich hörte mich sozusagen leben ...“ In: epd/Kirche und Rundfunk. Nr. 49 v. 26.6.1993. 27 http://www.mediaculture-online.de RAOUL SCHROTT Foto: Wilfried Petzi Es ist ein ungewöhnlicher Lebenslauf. Raoul Schrott wird 1964 geboren, er wächst auf in Tunis und Landeck, studiert Literatur- und Sprachwissenschaft in Innsbruck, Norwich, Paris und Berlin, promoviert 1988 zum Dr. phil., arbeitet 1986 als Sekretär des französischen Schriftstellers Philippe Soupault, danach drei Jahre als Lektor am Istituto orientale in Neapel. Er lebt in der Provence, er lebt in Tirol, er entscheidet sich, sein Geld als freier Schriftsteller zu verdienen. Bereits 1989 erscheint ein erster Lyrikband: Makame. Schrott erhält Stipendien und Literaturpreise, die ihm seine Arbeit möglich machen: lesen, reisen, schreiben, hören. 1994 beginnt die Zusammenarbeit mit der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks. In der Originaltondokumentation lingua franca sonora, einer vierteiligen akustischen Spurensuche, läßt Schrott die Poesie der Sprachminderheiten Frankreichs hörbar werden, Gedichte in den fast vergessenen Sprachen wie dem Okzitanischen, Bretonischen, Korsischen und Baskischen. 1995 folgt dann als erstes Hörspiel, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Klaus Buhlert, Hotels - Ein Triptychon, das von der Deutschen Akademie der darstellenden Künste zum Hörspiel des Jahres 1995 gewählt wird. In der Begründung der Jury heißt es: 28 http://www.mediaculture-online.de „Aus der Zusammenarbeit des Autors Raoul Schrott und des Musikers Klaus Buhlert entstand ein Radiokunstwerk, das ‚Klangereignis' ist, und dennoch von Impulsen der Sprache beherrscht wird. Dabei stellen Sprache, Geräusch und Musik das Material einer lyrischen Reise durch Orte und Zeiträume dar, mit der das Lebensgefühl einer distanzierten Weltbetrachtung Gestalt annimmt, ohne zu einem elegischen oder gar sentimentalischen Bekenntnis zu werden.“39 Ein Jahr später produziert der Bayerische Rundfunk, wieder in der Regie von Klaus Buhlert, Finis Terrae, ein Hörspiel, das zwei Reisen an das Ende der Welt beschreibt, zu den Randpunkten der Erde ebenso wie zu den weißen, unbekannten Flecken der eigenen Seele. 1998 realisiert Schrott gemeinsam mit Buhlert zwei Großprojekte beim Bayerischen Rundfunk: Die Erfindung der Poesie, eine zwölfteilige akustische Anthologie über die Ursprünge der Dichtung, in der Schrott frühe Zeugnisse der Dichtkunst in ihren Originalsprachen liest, sie übersetzt und kommentiert, und Tropen, eine fünfteilige Reihe, in der Schrott neue eigene Gedichte vorstellt. PAUL WÜHR Foto: Georg Eichinger Ich glaube, daß hier eine große Chance des Hörfunks liegt: Daß er näher an die Wirklichkeit herankommt als die Kamera, da er weniger verfälscht, weniger scheu macht."40 Mit diesen Möglichkeiten des Rundfunks arbeitete Paul Wühr in seinen OriginalTon-Hörspielen, die er seit den siebziger Jahren produzierte. Das bekannteste, Preislied, realisierte er 1971 beim Bayerischen Rundfunk und erhielt dafür den Hörspielpreis der 39 epd/Kirche und Rundfunk. Nr. 7 v. 31.1.1996. 40 Zit. n. Barbara Brunnen: Preislied. In: Abendzeitung v. 4.6.1971. 29 http://www.mediaculture-online.de Kriegsblinden. Wühr war sich der Problematik der Manipulation in einer Zeit bewußt, die noch weit entfernt war von den heutigen technischen Möglichkeiten der Ton- und Bildbearbeitung und Verfälschung. "Das Original-Ton-Hörspiel hat nur eine Zukunft, wenn die immer neu zu entwickelnden Methoden streng gemessen werden an der Verantwortung vor dem, der das dokumentarische Material liefert."41 Paul Wühr, geboren am 10.Juli 1927 in München, unterrichtete von 1949-1983 an einer Münchner Volksschule. Seit 1947 schrieb er, zunächst abseits der literarischen Öffentlichkeit, ein umfangreiches Werk. Bekannt wurde er in den sechziger Jahren durch seine Hörspiele. Während die ersten Arbeiten noch in der Nähe des traditionellen Hörspiels standen, ging Wühr mit seinen Original-Ton-Hörspielen neue Wege. In Verirrhaus (BR 1972) arbeitete Wühr mit O-Tonmaterial junger Patienten einer psychiatrischen Anstalt, Trip null (BR 1973) basiert auf Interviews mit jungen Drogenkonsumenten. Auch mit So eine Freiheit, einem Hörspiel über die sexuellen Erfahrungen von Frauen, begab sich Wühr in einen gesellschaftlichen Randbereich: "Die Realisierung war jahrelang unmöglich, weil diverse Hörspielredaktionen offenbar vor der Direktheit der Aussagen und auch vor dem z.T. drastischen Vokabular zurückschreckten."42 Als das Hörspiel 20 Jahre später vom Sender Freies Berlin produziert wurde, war es, jetzt nur noch historisch interessant, seiner Sprengkraft beraubt. Auch in den achtziger Jahren widmete Wühr, der seit 1986 am Trasimenischen See in Umbrien wohnt, seiner Heimatstadt München akustische Porträts: Soundseeing Metropolis München (WDR 1986) und Faschang Garaus (WDR 1989).1983 erschien ein Hauptwerk Wührs, Das falsche Buch, ausgezeichnet mit dem Bremer Literaturpreis. Der Autor, der sich bewußt dem öffentlichen Kulturbetrieb entzieht, wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, darunter dem Petrarca-Preis (1990) und dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1997). 41 Zit. n. Klaus Schöning (Hrsg.): Schriftsteller und Hörspiel. Reden zum Hörspielpreis der Kriegsblinden. Königstein/Ts. 1981, S.89. 42 Jörg Drews: „Ich komm‘ vielleicht a bissl langsamer zum Kern ...“. Der Hörspielautor Paul Wühr. Sendemanuskript BR, 11.7.1997, S. 9. 30 http://www.mediaculture-online.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 31