zum Thema MENSCHENBILDER AUSGABE NR. 3 • 2006 SCHWERPUNKT „MENSCHEN” DAS FRAGEN DES MENSCHEN NACH SICH SELBST SEITE 4 DAS MENSCHBILD IM AT SEITE 6 DAS MENSCHENBILD DES GG SEITE 8 DER MENSCH IM ISLAM SEITE 10 IMPRESSUM SEITE 13 MASSSTAB MENSCH SEITE 14 Zum Menschenbild in der Bioethik – am Beispiel Peter Singer Der Mensch: Tier oder Person? Erich Fried Ein Hund der stirbt und der weiß dass er stirbt wie ein Hund und der sagen kann dass er weiß dass er stirbt wie ein Hund ist ein Mensch Das Entsetzen war groß, als 1946 im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses die Praxis der Euthanasie und die grausamen medizinischen Versuche an Menschen während der nationalsozialistischen Herrschaft öffentlich wurden. Wenn in der Zeit danach in die neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mit Artikel 1 des Grundgesetzes die unantastbare Menschenwürde als normative Richtschnur aufgenommen wurde, dann darf man das praktizierte Unrecht wohl als eine der Ursachen dafür ansehen. zum Thema_Ausgabe3.indd 1 Inzwischen ist festzustellen, dass das vom Grundgesetz intendierte Menschenbild mancherorts in Frage gestellt wird und zu bröckeln beginnt. Ja, manche sprechen sogar schon von einem drohenden Epochenwechsel, von tiefgreifenden Veränderungen im Kern der westlichen Ethik. Nirgends wird dies deutlicher als im Bereich der Bioethik. Der Australier Peter Singer spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Wer ist dieser Mann und welches Menschenbild propagiert er? In Grundzügen lässt sich Singers Position folgendermaßen umreißen: Singer unterscheidet zwischen Mensch und Person: Alle Personen sind Menschen, aber nicht alle Menschen sind Personen. ◗ Personen sind Menschen mit Rationalität, Selbstbewusstsein, Wahrnehmungsfähigkeit, Zukunftsorientierung, Überlebensinteresse, Lust- und Schmerzempfindung. ◗ Ungeborene, Neugeborene (bis zum 28. Lebenstag), geistig ◗ Schwerstbehinderte, Kranke im Koma oder mit extrem eingeschränkten Hirnfunktionen, Demente u. a. sind dagegen „bloß“ Menschen. ◗ Personen haben ein absolut schutzwürdiges Lebensrecht. Wer hingegen nicht Person, sondern schlicht Mensch ist, wird aus dem Kreis jener, die Menschenwürde und Menschenrechte für sich beanspruchen können, ausgeschlossen. ◗ Nach Singers Philosophie des Utilitarismus können Menschen getötet werden, wenn eine Ko- 17.10.2006 11:00:37 Uhr 2 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Liebe Leserinnen, liebe Leser! Als Menschen begannen, über sich selbst nachzudenken, sind sogleich Bilder vom Menschen entstanden. Zeugnisse davon finden wir seit alters her nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch im Wort: im Mythos und in der Religion, in der Dichtung wie in der Philosophie. Erfahrungen des Menschen mit sich selbst, mit anderen, mit Natur und Geschichte, ja mit Gott gingen in die verschiedenen Menschenbilder ein. Das, was einen zutiefst betraf, oder das, was man neu zu entdecken vermeinte, wurde zum „Wesen des Menschen“ erklärt bzw. als gültiges Menschenbild beansprucht. Für das alltägliche Leben haben Menschenbilder eine große Bedeutung, auch wenn dies nicht immer bewusst ist. Sie liefern dem Einzelnen und der Gesellschaft ein Daseinsmodell und Orientierung für die Lebenspraxis. Nun machen Menschen aber immer wieder neue Erfahrungen, und diese veranlassten oft zur Kritik an überkommenen Menschenbildern und zur Konzeption von Alternativen. So ist die Geschichte des Menschen auch eine sich wandelnder Menschenbilder. Das führte in der Neuzeit mehr und mehr zu der Einsicht, dass es immer illusorischer werde, ein für alle verbindliches Menschenbild zu erstellen, was im übrigen gar nicht erstrebenswert sei, da jedes Menschenbild den Menschen auf einen überholbaren Entwurf seiner selbst fixiere und reduziere. So zutreffend dieses Bedenken ist, so richtig ist aber auch, dass jeder Mensch in seinem Denken und Handeln implizit von einem Menschenbild geprägt und beeinflusst wird. Wer sich dessen bewusst wird, der steht bald vor der wichtigen Frage, was denn das Unaufgebbare eines Menschenbildes sei, was den wirklichen Wert des Menschen ausmache. Ist dies zunächst eine ganz persönliche Frage, mit der jeder Einzelne sich auseinanderzusetzen hat, so hat sich darüber hinaus auch jede Gemeinschaft von Menschen der Frage zu stellen, nach welchem Menschenbild sie ihr Tun und Gestalten ausrichten will, geht es doch letztlich darum, welches Gesicht sich eine Gesellschaft geben will. Eine rechtsstaatliche Demokratie basiert nun mal auf einem anderen Menschenbild als eine Diktatur, wie sie z. B. unter den Nationalsozialisten geherrscht hat. Die Frage „Was ist der Mensch?“ löst gerade in unserer Zeit Irritationen aus. Nicht nur, dass uns die verschiedenen Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, ganz Unterschiedliches mitteilen, das wir kaum noch zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen können. Auch liefern uns die Massenmedien täglich Menschen und Ereignisse aus allen Erdteilen und aus unterschiedlichen Kulturen ins Haus, die uns mitunter ein ganz anderes Bild vom Menschen vor Augen führen. Zwar erfahren wir in der wie auch immer gearteten Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, zunächst ein Infragegestelltwerden des Eigenen, können aber dann – aus der Distanz zu uns selbst – auf einer höheren Stufe neu fragen: Was macht den Menschen in seinem Kern aus? Als im Sommer 2000 der damalige amerikanische Präsident Clinton an der Seite von Wissenschaftlern die gelungene Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündete, hatte sich damit die Frage nach dem Menschen ein für alle Mal erledigt? Ist nun die Frage, was der Mensch sei, endgültig geklärt, nämlich: die Gesamtheit seiner Gene? Die Anthropologie beschreibt den Menschen als „weltoffenes“ Wesen, das in der Lage sei, über sich hinauszufragen. Der Mensch sei ein Suchender, befindet sie. So haben sich auch die Autoren dieser Zeitung auf die Suche gemacht und verschiedene Antworten aus Vergangenheit und Gegenwart zusammengetragen. MS Diese mögen Ihnen bei Ihrer Suche Orientierung geben. zum Thema_Ausgabe3.indd 2 sten-Nutzen-Kalkulation zu ihren Ungunsten ausfällt, d.h. wenn das Weiterleben eines menschlichen Wesens für irgendjemanden keinen Gewinn erbringt bzw. wenn das Interesse des einen höher bewertet wird als das Interesse des anderen. Nach dem Prinzip des Präferenzutilitarismus, einer auch von Singer vertretenen modernen Variante des Utilitarismus, ist zu prüfen, welche Präferenzen Lebewesen haben (z. B. weiterleben zu wollen); diese sind dann gegen andere Präferenzen abzuwägen. Definition des Utilitarismus Präferenzutilitarismus Utilitarismus (engl. utilitarianism, von lat. utilitas, Nutzen) nennt man die ethische Position, die eine Handlung danach bewertet, ob sie im Vergleich mit anderen Handlungsalternativen die größte Anzahl positiver, nicht-moralischer Werte, z. B. Glück, Reichtum, Gesundheit, Vorteil, Freude usw., hervorbringt. Peter Singer: „Der klassische Utilitarist betrachtet eine Handlung als richtig, wenn sie ebenso viel oder mehr Zuwachs an Glück für alle Betroffenen produziert als jede andere Handlung, und als falsch, wenn sie das nicht tut.“ Nach dem Prinzip der Glücksmaximierung gilt: Gibt etwa das Elternpaar eines behinderten Ungeborenen oder Neugeborenen an, dieses Kind töten zu wollen und es mit einer zweiten Schwangerschaft zu versuchen, so ist diese Erwartung eines zweiten gesunden Kindes Grund genug für Singer, im Hinblick auf die „Gesamtsumme des Glücks“ dieses Vorhaben gutzuheißen. Es wäre aber auch denkbar, dass die Aufzucht dieses behinderten Neugeborenen für das Elternpaar ein großes Glück darstellt; in diesem Fall spräche zunächst nichts dagegen, das Kind am Leben zu lassen. Es geht um die Glücksmaximierung der Eltern; die vermutete Unfähigkeit oder eingeschränkte Fähigkeit des Behinderten, Freude oder Glück zu erfahren, kann mit dem Glück oder Unglück der Eltern nicht konkurrieren. Für den Präferenzutilitarismus ist eine Handlung moralisch falsch, die der Präferenz irgendeines Wesens entgegensteht, ohne dass diese Präferenz durch entgegengesetzte Präferenzen ausgeglichen wird. Eine Person zu töten, die es vorzieht weiterzuleben, ist daher, gleiche Umstände vorausgesetzt, ein Unrecht. Dass ein Ermordeter sich nicht mehr darüber beklagen kann, dass seine Präferenzen missachtet wurden, ist unerheblich. Peter A. D. Singer, geb. 6.7.46 in Melbourne/Australien, Philosoph und Ethiker. Er hat in Oxford/England, an der New York University und der La Trobe University gelehrt und war von 1977-1999 Prof. für Philosophie an der Monash University in Melbourne. 1999 als DeCamp Professor of Bioethics an das Center for Human Values der Princeton University berufen. 1996 kandidierte er erfolglos für die Grüne Partei um einen Sitz im australischen Senat. 17.10.2006 11:00:39 Uhr zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6 Für Präferenzutilitaristen ist die Tötung einer Person in der Regel schlimmer als die Tötung eines anderen Lebewesens, weil allein Personen zukunftsorientierte Präferenzen haben. Folgen: Da Embryonen keine Personen sind und auch keine eigenen Präferenzen haben, darf an ihnen geforscht und dürfen sie getötet werden, weil andere Präferenzen vorliegen, z. B. das Interesse der Forscher oder das einer ganzen Gesellschaft. Fragen: Nach Immanuel Kant darf der Mensch niemals nur als Mittel zum Zweck benutzt werden. Gilt dies auch für menschliches Leben in einer seiner Entwicklungsstufen? Umfasst also der Schutz der Menschenwürde als selbstständiges Grundrecht menschliches Leben in all seinen Phasen? Einwand: Wer, wie Peter Singer, einen Teil der Menschen aufgrund bestimmter Eigenschaften als Personen definiert, denen bestimmte Rechte zustehen, urteilt willkürlich, da er aus der Machtposition desjenigen, der über diese Eigenschaften verfügt, agiert. Halten die jeweiligen Machthaber andere Eigenschaften für relevant, ändert sich die Definition von „Person“. Wer heute noch als Mensch mit unveräußerlichen Rechten gilt, wird morgen ein Fall für die Giftspritze. Fakten: Bereits 1993 erlaubte das höchste britische Gericht im Falle des im Koma liegenden Fußballfans Anthony Bland, Maßnahmen einzuleiten, sein Leben zu beenden. Das Gericht hatte festgestellt, „dass Anthonys Leben nicht lebenswert“ wäre. Damit wurde die Rechtsprechung dazu gebracht, den Begriff der Lebensqualität statt den der Unantastbarkeit des zum Thema_Ausgabe3.indd 3 3 „Je höher entwickelt das bewusste Leben eines Wesens, je höher der Grad von Selbstbewusstsein und Rationalität, umso mehr würde man dieses Lebewesen vorziehen, wenn man zwischen ihm und einem Wesen auf einer niedrigeren Bewusstseinsstufe zu wählen hätte.“ (Peter Singer) Moses, der biblische Gesetzgeber. San Pietro in Vincoli, Rom Lebens als Grundlage von Entscheidungen zu akzeptieren. Ende 1993 hat das niederländische Parlament beschlossen, dass Ärzte jenen Patienten tödliche Injektionen geben dürfen, die unerträglichen Leiden ohne Aussicht auf Besserung ausgesetzt sind und um Sterbehilfe ersuchen. Im März 1996 erklärte ein Bundesappellationsgericht in den USA das Verbot der Sterbehilfe für verfassungswidrig. Für Norbert Hoerster, Mainzer Rechtsphilosoph, lässt sich das Recht auf Leben nur gründen auf ein Interesse am Leben beziehungsweise Überleben. Den Wunsch nach Überleben, nach eigenen zukünftigen Bewusstseinszuständen oder Erlebnissen, könnten menschliche Föten (noch) nicht hegen. Somit würde auch kein Überlebensinteresse verletzt, MS „indem man sie tötet“. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ (Bundesverfassungsgericht) 17.10.2006 11:00:40 Uhr 4 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Streifzüge durch die philosophische Anthropologie Das Fragen des Menschen nach sich selbst Die philosophische Anthropologie (griechisch anthropología, „Menschenkunde“) ist die Disziplin der Philosophie, die auf den Menschen schlechthin reflektiert, die sich also mit dem Wesen des Menschen befasst. Da der Mensch jenes Seiende ist, das sich zum Ganzen des Seienden denkend und handelnd verhält, geht er wesenhaft mit ein in die Deutung aller Seinsbereiche und ihrer Einheit. Jede Philosophie enthält also, ob ausdrücklich oder nicht, eine Lehre vom Menschen. Dasselbe gilt natürlich auch von Weltanschauungen. fügt hinzu: „Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“ Und da es sich hier um die Grundfragen des menschlichen Philosophierens handelt, kann Anthropologie nur als philosophische Anthropologie aufgefasst werden. Sie wäre die fundamentale philosophische Wissenschaft. Erst im späten 19. Jahrhundert wird erneut der Versuch gemacht, die Philosophie anthropologisch grundzulegen. Beispielhaft sei hier Ludwig Feuerbach genannt. Er ist ein typischer Vertreter des aufblühenden Atheismus und war ein Schüler Hegels. Seit alters her haben sich Menschen Menschenbilder gemacht und diese auch irgendwann in Bild und Wort zum Ausdruck gebracht. Es sind metaphorische Selbstdeutungen, mit denen sie sich ihrer selbst vergewissern. Anthropologien dagegen sind rationale Diskurse vom Menschen und setzen eigentlich erst im neuzeitlichen Denken ein. Der Mensch: Horizont des Denkens Während vorher in Religion, Mythos und in der griechisch-abendländischen Philosophie über den Menschen in der Weise nachgedacht wurde, dass nicht der Mensch der letzte Horizont des Denkens war, sondern Gott bzw. die göttliche Weltordnung, so vollzieht sich in der europäischen Neuzeit die bewusste Hinwendung zum Menschen. Und dieser Vorgang ist bemerkenswert, denn in dem Augenblick, als der europäische Mensch mit der Durch- zum Thema_Ausgabe3.indd 4 Hegels Weltvernunft setzung des kopernikanischen Weltbildes seine herausragende Stellung im religiösen und metaphysischen Weltbild verlor, begann er, sich selbst als Mittelpunkt der Weltgeschichte zu betrachten. Wenn auch der Terminus „Anthropologie“ erstmals bereits im späten 16. Jahrhundert auftauchte, wurde er erst im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung einer philosophischen Disziplin. Als erster und am eindringlichsten hat der Philosoph Immanuel Kant die Aufgabe, die einer philoso- phischen Anthropologie gestellt sei, ausgesprochen. Er unterschied eine physiologische von einer pragmatischen Anthropologie. Die eine betrachte den Menschen unter empirischen und kulturellen Gesichtspunkten, die andere unter ethischen – und hier setzt Kant an. Das Feld der Philosophie lässt sich demnach auf folgende Fragen bringen: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie.“ Kant Dessen Philosophie bedeutete eine radikale Abkehr von der anthropologischen Fragestellung, insofern Hegel nicht vom Menschen, sondern von der Weltvernunft ausging. Der Mensch war für ihn nur noch das Prinzip, in dem die Weltvernunft zu ihrem vollkommenen Selbstbewusstsein und damit zu ihrer Vollendung gelangt (gemeint ist das Zu-sichselbst-Kommen des absoluten Geistes). Für Feuerbach ist Weltvernunft nur ein neuer Begriff für Gott und bezeichnet ein abstraktes Sein. Seine Philosophie will sich aber dem konkreten, wirklichen Menschen zuwenden. Das Absolute der Philosophie und Religion sieht Feuerbach nicht als wirkliche Realitäten, sondern als Wunschbilder des menschlichen Herzens. So deutete er den christlichen Schöpfungsglauben in sein 17.10.2006 11:00:41 Uhr zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6 5 „Der Mensch glaubt an Götter, weil er den Trieb hat, glücklich zu sein. Er glaubt ein seliges Wesen, weil er selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen, weil er selbst vollkommen zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst nicht sterben will. Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor. Die Götter sind die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen.“ (Feuerbach) Gegenteil um: Nicht Gott hat den Menschen erschaffen, sondern der Mensch erschuf Gott „nach seinem Bilde“. Theologie, also Rede von Gott, gerät zur Anthropologie. Karl Marx wird dies übernehmen: „Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen etc.“ Nach ihm kann das Bewusstsein nie etwas anderes sein als das Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess: „Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ Der Mensch ist das Resultat gesellschaftlicher (Herrschafts-)Verhältnisse. „Der Mensch ist unendlich größer als der Mensch“: Mit dieser Aussage verblüfft Nietzsche, der radikale Antichrist, und meint damit, dass sich der Mensch in den Dienst des dionysischen Weltgrundes stellen soll, der als Wille zur Macht, d. h. zu seiner eigenen Steigerung, seine höchste Erscheinung, den Übermenschen, zeugen will. Denn „Gott ist tot“, alles Jenseitige, also auch die Idee Gottes, ist nur die hinausgeworfene Dimension des Menschen; er hat damit seine Zeit vergeudet, statt sich, sein Leben und seine diesseitige Welt wahrhaft zu gestalten. So geht es nach Nietzsche um die Desillusionierung aller überlieferten Illusionen, um die Umwertung aller bisherigen Werte, um das Ablegen der bisherigen (christlichen) „Sklavenmoral“ und um die Etablierung einer Herrenmoral der Vornehmen dieser Erde als Vorläufer des Übermenschen. zum Thema_Ausgabe3.indd 5 Bei aller Distanz, die man zu Nietzsches philosophischer Lehre haben kann, muss man einräumen, dass er die Problematik des modernen Menschen, die sich dann im 20. Jahrhundert zeigen sollte, fast hellseherisch vorausgesehen hat: die Umwertung aller Werte, den Nihilismus, den (unbedingten) Willen zur Macht (Nationalismus, Bolschewismus) usw. Mit Max Scheler beginnt im 20. Jahrhundert die formelle Ausarbeitung einer philosophischen Anthropologie. Er versucht erstmals die in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie zerfallene Sicht des Menschen zusammenzufassen und auf eine einheitliche Perspektive zurückzuführen. Seine Sicht einer umgreifenden Wesenseigenschaft des Menschen besagt, dass der Mensch das weltoffene Wesen sei, das kraft seines Geistes sich über sein biologisches Leben hinaus nicht nur auf die Welt, sondern auf einen unendlichen Horizont hin ausstrecken könne. Geist ist dabei für Scheler ein Attribut des Göttlichen, und so sieht er die Geschichte des Menschen „hineingeflochten in das Werden der Gottheit selbst“. Hier klingen metaphysische Vorstellungen an, die schon bei Hegel und Nietzsche zu finden waren, und in der Tat wurde Scheler von beiden beeinflusst. Was macht aber den Geist zu einem werdenden Geist, was treibt ihn an? Nach Scheler besteht der Weltgrund aus zwei entgegengesetzten Prinzipien: Dem Geist, der „keinerlei ursprüngliche Macht oder Kraft“ besitzt, steht der „allmächtige“ Drang gegenüber, die Weltphantasie, die mit unendlich vielen Bildern geladen ist. Um den Geist mit der in ihm angelegten Fülle der Ideen und Werte zu verwirklichen, musste der Weltgrund den Drang „enthemmen“ und damit den Welt- bzw. Werdungsprozess in Gang bringen. Die Stätte dieses Vorgangs ist der Mensch. Gehlen: Der Mensch als Mängelwesen Als weitere Klassiker der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts haben Arnold Gehlen, der die bekannte Formel, der Mensch sei – im Vergleich zum Tier – ein Mängelwesen, geprägt hat, wobei ihm empirische Wissenschaften, allen voran Biologie und Verhaltensforschung, Pate gestanden haben, sowie Helmuth Plessner zu gelten. Dieser definiert die Existenzform des Menschen als exzentrische Positionalität und meint damit: Während alle Lebewesen einen Ort, eine Position, ein Zentrum haben, ist der Mensch gegenüber seinem Zentrum exzentrisch verschoben. Das ist der Grund, warum sich der Mensch auf sich selbst beziehen kann. Allerdings: Nie weiß der Mensch wirklich, wo sein Ort ist. Er steht im Nirgendwo. Er ist ein heimatloser Wanderer, der den Ort, den er eben erst gefunden hat, schon wieder verlässt. Das macht die Offenheit des Menschen aus, was aber auch zur Folge hat: Nie ist der Mensch restlos mit sich identisch. Martin Buber hat in seinem Buch „Das Problem des Menschen“ das Menschenbild der verschiedenen Epochen der abendländischen Geistesgeschichte beleuchtet und dabei festgestellt, dass sich Epochen der Sicherheit menschlichen Seins im Kosmos mit Epochen der Unsicherheit abwechseln. Es ist nicht erkennbar, dass das Menschenbild des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts eine Epoche der Sicherheit menschlichen Seins auf dieser Erde spiegelt. Die Versuche kollektivistischer Weltanschauungen, dem Menschen Geborgenheit in der Gemeinschaft zu geben bzw. die Gesellschaft an die Stelle des Menschen zu setzen (Marxismus, Nationalismus), können getrost als gescheitert angesehen werden. Aber auch individualistische Lebens- und Weltanschauungen können dem Menschen keinen heimatlichen Ort vermitteln. Vielleicht am radikalsten kommt dies bei Jean-Paul Sartre, dem Hauptvertreter des französischen Existentialismus, zum Ausdruck, wenn er den Menschen als dasjenige Seiende bestimmt, das kein Wesen „hat“, sondern sich sein Wesen selbst entwerfen muss; er ist „zur Freiheit verurteilt“. Der Mensch unserer Tage lebt in der Unbehaustheit. Literatur und Kunst legen vielfach Zeugnis davon ab. Die abendländische Tradition hat den Menschen wesentlich vom Geiste her bestimmt: „animal rationale“, d. h. Lebewesen mit Geist, ist die klassische Definition des Abendlandes. Welchem Geist sich der Mensch öffnet, welchen Geist er über sich walten lässt, bleibt die denkerische Aufgabe jedes Einzelnen, die er zu leisten und MS zu verantworten hat. 17.10.2006 11:00:43 Uhr 6 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Über die Entstehung des Menschenbildes in der Schöpfungsgeschichte Das Menschenbild im Alten Testament nis fest, Schöpfung passiere nicht irgendwie, sondern sie unterliege einem geordneten Ablauf. Dem Schöpfungsverlauf lässt sich entnehmen, dass der Mensch nicht gleich zu Beginn erschaffen worden ist. Dies wäre auch unlogisch. Denn erst müssen seine natürlichen Lebensbedingungen geschaffen sein – Licht, Wasser, Land sowie die Nahrungsgrundlagen. Erst am sechsten Tag wird der Mensch erschaffen. Er allein? Nein. Am selben Tag werden auch alle Tiere, die auf dem Land leben, in ihr Dasein gerufen. Auf diese Weise rückt die priesterliche Aufzeichnung die Tiere des Landes und den Menschen in eine enge Beziehung zueinander. Schlusspunkt der Schöpfungsabfolge Wenn vom Menschenbild der Bibel gesprochen wird, wird nicht selten übersehen, dass die Bibel gleich mit zwei Schöpfungsberichten beginnt. Der erste hat die Schöpfung der Welt insgesamt zum Thema. Er wirkt nüchtern, fast monoton und ist durch das Sieben-Tage-Schema strukturiert. Der zweite Schöpfungsbericht hingegen konzentriert sich auf die Erschaffung des Menschen durch Gott. Er ist sehr anschaulich gestaltet, geradezu in einem guten Sinne naiv, so dass er auch die Vorlage für so manchen Zeichentrickfilm abgegeben hat (z. B. Jean Effel: „Heitere Schöpfungsgeschichte“). Beiden Schöpfungsgeschichten ist aber gemeinsam, dass sie nicht dafür in Anspruch zum Thema_Ausgabe3.indd 6 genommen werden können, als Dokumentarberichte zu gelten, so, als ob die Verfasser dem lieben Gott bei der Erschaffung der Welt über die Schulter geschaut hätten. lungen zugrunde legten. Da der erste Schöpfungsbericht unserem wissenschaftlichen Vorverständnis eher entgegenzukommen scheint, werden wir uns auf ihn konzentrieren. Nachdenken über das Wunder der Existenz Der erste Schöpfungsbericht (Gen 1-2, 4a) ist durch sein Schema der sieben Tage bekannt, in welches die Schöpfung eingeordnet wird. Ebenfalls kennzeichnet ihn der Versuch, das Existierende zu systematisieren. Daran lässt sich erkennen, dass der Verfasserkreis, nämlich priesterliche Kreise im Alten Israel, in klaren Ordnungsstrukturen dachte. Aufgrund überlieferten, gesammelten Wissens und intensiver Naturbeobachtungen hielten die Verfasser die Erkennt- Beide Schöpfungsberichte verdanken sich dem theologischen Nachdenken über das Wunder, dass überhaupt etwas existiert. Dieses Nachdenken, welches von ganz bestimmten Menschen an einem konkreten Zeitort erfolgt ist, hat Spuren hinterlassen. Diese geben Aufschluss darüber, welches Bild vom Menschen die Verfasser ihren jeweiligen Schöpfungserzäh- Dass für die Verfasser die Erschaffung des Menschen dennoch etwas Besonderes ist, lässt sich vor allem an zwei Dingen ablesen. Die Erschaffung des Menschen bildet den Schlusspunkt in der Schöpfungsabfolge. Nach der Erschaffung des Menschen ist von keiner weiteren Schöpfung mehr die Rede. Das Besondere der Erschaffung des Menschen wird auch stilistisch zum Ausdruck gebracht. Hieß es bei allen Schöpfungsakten zuvor: „Und Gott sprach“, worauf eine nicht personalisierte Aufforderung folgte, heißt es jetzt: „Und Gott sprach, lasst uns Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich“ (Gen 1, 26a). Spricht jetzt Gott sich selbst an, fordert er sich selbst zum Erschaffen auf? 17.10.2006 11:00:43 Uhr zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6 Bevor darauf eine Antwort versucht wird, ist zunächst festzuhalten, dass mit dieser Aussage die besondere Stellung des Menschen in der Schöpfung hervorgehoben wird: Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen. Von keinem anderen irdischen Lebewesen wird dies in den priesterlichen Aufzeichnungen ausgesagt. Wodurch äußert sich aber diese Ebenbildlichkeit? Sieht Gott letztlich wie ein Mensch aus? Haben dann doch die Religionskritiker recht, die sagen, dass es eigentlich der Mensch ist, der sich Gott nach seinem Bilde erschaffen hat (Xenophanes, Feuerbach)? Auch wenn so eine Vorstellung hier vielleicht mitschwingen mag, die Koinzidenz von Gott und Mensch liegt vielmehr nach Auffassung der priesterlichen Lehre darin, dass der Mensch Herrschaft ausüben kann. Konkret äußert sich dies in Form der Herrschaft über die Tiere (vgl. Gen 1, 26b). Hier kommt die damals allgegenwärtige Erfahrung zum Ausdruck, dass der Mensch über Leben und Tod eines Tieres augenblicklich entscheiden kann. Das ist auch die Vorstellung, die der Mensch von Gott hat, welcher der Herr über Leben und Tod ist (vgl. Weish 16, 13). Bemerkenswerterweise spricht dieser Schöpfungsbericht nicht vom Herrschen des Menschen über andere Menschen. Eine Erklärung hierfür findet sich vielleicht darin, dass an dieser Stelle vom Menschen noch vor seinem Sündenfall (vgl. Gen 3) die Rede ist. Dies gilt es ebenso mitzubedenken, wenn die Aufzeichnungen vom Menschen als Ebenbild Gottes sprechen. Dass diese Gottesebenbildlichkeit auch über den Sündenfall hinaus fortbesteht, wenngleich mit einem Riss, äußert sich in folgender Aussage zur Erschaffung des Menschen: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild; nach Gottes Bild schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie“ (Gen 1,27). zum Thema_Ausgabe3.indd 7 Eva im Garten Eden Der Mensch existiert als Mann und Frau Mit diesem Satz bringt der Verfasserkreis nach gründlicher Überlegung Folgendes zum Ausdruck: 1. Den Menschen an sich gibt es nicht, sondern er existiert stets als Mann oder als Frau. 2. Da Mann und Frau zugleich ihr Ebenbild in Gott haben, kommt ihnen gemeinsam die gleiche Herkünftigkeit und die gleiche Würde zu. Dies drückt sich auch im Hinweis auf das Herrschen über die Tiere aus. Denn es wird ja nicht gesagt, dass ein Mann oder eine Frau die Herrschermacht ausübt, sondern es heißt, die Menschen „werden herrschen“. D. h., in priesterlichen Kreisen des alten Israels galt es als ausgemacht, dass Mann und Frau, wie wir heute sagen, gleichberechtigt sind. 3. Weder Mann noch Frau können je für sich in Anspruch nehmen, ein besseres Ebenbild Gottes zu sein. Nicht im Gegen-, nicht im Nebeneinander, sondern nur im Miteinander sind Mann und Frau Ebenbild Gottes, welches keine Geschlechtsvorherrschaft kennt. Betrachtet man die gesellschaftlichen Verhältnisse im Mittleren Osten des sechsten Jahrhunderts v. Chr., so ist dieses Menschenbild priesterlicher Theologie ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus. Wie aber die weitere Geschichte zeigt, können auch Theologen hinter einmal errungene Erkenntnisse wieder zurückfallen. Wenn nun die Verfasser des ersten Schöpfungsberichtes das Besondere der Erschaffung des Menschen mit den Worten einleiten: „Und Gott sprach, lasst uns Menschen machen“, stellt sich die Frage, wer sich hinter dem „uns“ verbirgt. Sieht man genauer hin, so enthält diese Formulierung eine Sicherheitsvorkehrung; denn der Verfasserkreis weiß um die Bedeutungsschwere der Aussage von der Ebenbildlichkeit Gottes und um die Erkenntnisschwierigkeit, die im Grunde bis heute fortdauert, den Mensch als Ebenbild Gottes zu begreifen. Von daher lässt sich in Bezug auf die besagte Sicherheitsvorkehrung Folgendes sagen: Mit Blick z. B. auf 1 Kön 22, 19f wissen wir, dass im Alten Testament Vorstellungen von einem Hofstaat Gottes (Engelswesen, deren Existenz vorausgesetzt wird) anzutreffen sind. Mit Angehörigen dieses Hofstaates berät sich Gott. Wenn Gott spricht: „Lasst uns machen“, kann sich das auf diese Himmelswesen beziehen, die Gott umgeben. Sollte das auch für Gen 1, 26 zutreffen, besteht die Pointe darin, dass diese Him- 7 melswesen ebenso in dieses „nach unserem Bilde, uns ähnlich“ eingeschlossen sind. Dadurch wird bewirkt, dass eine allzu direkte, um nicht zu sagen: eine allzu naive oder gar plumpe Bezugnahme des Menschen auf die Ebenbildlichkeit Gottes vermieden wird. Damit erweist sich der Verfasserkreis dieses Schöpfungsberichtes als nicht so blauäugig, wie manche geneigt sind zu unterstellen. Gerade weil die Vorstellung z. B. in Ägypten anzutreffen war, dass der Pharao als ein auf Erden lebendes Abbild Gottes anzusehen sei, galt es den Gedanken von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gegen einseitige, die Herrschaft Einzelner rechtfertigende Auffassungen zu schützen und ihn auf eine verantwortbare theologische Grundlage zu stellen: Alle Menschen sind Ebenbild Gottes, ganz gleich ob Mann oder Frau, ob arm oder reich, ob Herrscher oder Untertan. Ebenbild Gottes Dass dies Konsequenzen hat, wird an anderer Stelle in Gen 9, 6 deutlich: Der Mensch darf kein Menschenblut vergießen, und zwar mit der Begründung, dass er als Ebenbild Gottes geschaffen worden ist. Der Angriff auf einen Menschen wird so zu einem Angriff auf dessen Schöpfer. Dies sagt die priesterliche Aufzeichnung nicht in die Situation des Urzustandes des Menschen hinein, sozusagen in eine heile Welt, sondern in die Zeit nach Sündenfall und Sintflut. Von daher besitzt die Gottesebenbildlichkeit des Menschen eine Schutzfunktion. Auch hier erweist sich die Lehre gegenüber der allenthalben erfahrbaren Wirklichkeit als hellwach und nüchtern. Denn eins hat leider die Menschheitsgeschichte immer wieder gezeigt: Dort, wo Menschen in irgendeiner Form als minderwertig angesehen wurden, war die Hemmschwelle stets sehr viel niedriger, sie zu töten. TE 17.10.2006 11:00:45 Uhr 8 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Das Menschenbild des Grundgesetzes Es ist kein Widerspruch, wenn wir uns einerseits Menschenbilder der Vergangenheit und Gegenwart vor Augen führen und sich dabei der Schluss aufdrängt, dass ein einheitliches Menschenbild nicht mehr möglich, sondern von einer Pluralität der Menschenbilder auszugehen ist, und wenn nun andererseits von dem Menschenbild des Grundgesetzes gesprochen werden soll. Als der Parlamentarische Rat zwischen dem 1. September 1948 und dem 23. Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausarbeitete, orientierte er sich an der Weimarer Verfassung – man lernte sozusagen aus deren Fehlern. Das Grundgesetz ähnelt der Weimarer Verfassung in vielen Punkten, weist aber auch große Unterschiede zu ihr auf. Darauf einzugehen, ist hier nicht der Ort und nicht das Thema. Während nun die Weimarer Verfassung mit „Aufbau und Aufgaben des Reiches“ beginnt, heißt es überraschenderweise im Grundgesetz an vorderster Stelle: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Ver- zum Thema_Ausgabe3.indd 8 pflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 Abs. 1 GG) Das ist umso bemerkenswerter, als z. B. auch die österreichische Verfassung in Artikel I mit den Worten beginnt: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Die Menschenwürde scheint somit die Basis des Grundgesetzes zu sein, der Kern, der allem Folgenden erst seinen wahren Gehalt verleiht, und dabei mag man es als eine positive Fügung des Schicksals ansehen, dass damals die geschichtliche Erfahrung des Missbrauchs der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Nationalsozialisten Pate gestanden hat. Menschenwürde im Grundgesetz verankert Dazu passt gut, dass sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz im „Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben hat (siehe Präambel), bringt dies doch eine transzendente Verankerung der Menschenwürde und damit eine tiefere Achtung des Menschen zum Ausdruck. Nun hat man immer wieder darüber gestritten, ob das Grundgesetz aus christlichem Geist entstanden ist und wir es demnach mit einem christlichen Grundgesetz zu tun haben, was angesichts einer zunehmend multikulturell geprägten Gesellschaft und des Schwindens christlich-konfessioneller Bindungen bis hin zu der Tatsache, dass heute – im Gegensatz zur Gründerzeit – mehr als ein Drittel der Gesellschaft keiner christlichen Kirche angehört, als problematisch angesehen wird. Zweifellos ist das Grundgesetz aus abendländischem Geist hervorgegangen, speist sich aber nicht nur aus christlichem Gedankengut, sondern auch aus den Impulsen der Aufklärung. Und so stellt sich die Frage, ob hier nicht etwas Unaufgebbares und sogar Allgemeingültiges, d.h. für alle Menschen Gültiges, „entdeckt“ und verfassungsmäßig verankert worden ist. Das Grundgesetz stellt also die Menschenwürde in den Mittelpunkt und bezeichnet sie als unantastbar. Damit ist sie dem Menschen nicht vom Staat verliehen, sondern der Staat anerkennt sie als vorgegeben und unabänderlich, als ihm vorausliegend und unverfügbar. Die Würde des Menschen stellt den höchsten Rechtswert der Verfassung dar. Die jeder Staatsgewalt auferlegte Pflicht zur Achtung dieser Würde verbietet staatliche Eingriffe in den geschützten Bereich und beschreibt den klassischen Abwehrcharakter, der bei allen Grundrechten im Vordergrund steht. Höchste Stufe der Wertordnung Es ist allerdings schwierig, die Frage zu beantworten, was Menschenwürde bedeutet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht Einigkeit darin, dass die Menschenwürde nicht nur dann verletzt ist, wenn „die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, ... Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine verächtliche Behandlung“ ist. Damit würde man lediglich die unabänderliche Menschenwürde z. B. auf ein Verbot der Wiedereinführung der To- 17.10.2006 11:00:47 Uhr zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6 desstrafe oder der Methoden des Dritten Reiches reduzieren. Das Grundgesetz will vielmehr etwas anderes erreichen: Es geht ihm darum, die freie menschliche Persönlichkeit auf die höchste Stufe der Wertordnung zu stellen, ihren Eigenwert und ihre Eigenständigkeit zu betonen. So hat das Bundesverfassungsgericht die Formel entwickelt, es widerspräche der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen. In einem Kommentar zum Grundgesetz heißt es dazu: „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“ Die Nähe zu den ethischen Maximen Kants ist unverkennbar. Ständige Reflexion Es ist einzuräumen, dass die Konkretisierung dieser „Formel“ immer schwierig war und heute noch kritikanfälliger geworden ist, weil die Voraussetzungen, also das Bild vom Menschen, der zur eigenen Entscheidung befähigt zum Thema_Ausgabe3.indd 9 und zur Selbstbestimmung fähig ist, nicht mehr fraglos hingenommen werden. Andererseits wäre zu bedenken, ob eine Konkretisierung so eindeutig überhaupt formuliert werden könnte, dass damit alle eventuellen Konfliktfälle in Gegenwart und Zukunft ebenso eindeutig gelöst werden könnten. Vielmehr bedeutet die Offenheit dieser „Formel“ die ständige Aufgabe der (Selbst-)Reflexion und stellt jede mögliche Antwort damit gleich wieder auf den Prüfstand. Damit der Mensch seine Würde auch realisieren, d. h. eine menschliche Persönlichkeit werden und menschenwürdig leben kann, braucht er Freiheiten, die ihm vom Staat nicht beschnitten werden dürfen. Konsequenterweise führt daher das Grundgesetz in den nachfolgenden Artikeln diese Freiheiten auf und formuliert sie als unverletzliche und unveräußerliche Grundrechte; diese entsprechen allgemeinen Menschenrechten. Das Grundgesetz sieht im Menschen eine geistigsittliche Person und geht also von einem personalen Menschenbild aus, wonach der Mensch als ein mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung ausgestattetes, mit Verstand und freiem Willen begabtes, mit einem Gewissen versehenes und mit anderen Menschen verbundenes soziales Wesen definiert wird. Gleichheitsgebot in Artikel 3 Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten, souveränen Individuums. Vielmehr hat es die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne allerdings deren Eigenwert anzutasten. Dabei bringt das Gleichheitsgebot in Art. 3 zum Ausdruck, dass die unantastbare Würde jedem Menschen zukommt, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Ansichten. In provozierender Absicht ließen sich nun folgende Fragen stellen: Ist jedes Mitglied unserer Gesellschaft wirklich eine geistig-sittliche Person, mit Verstand 9 und freiem Willen begabt, zu eigenverantwortlicher Lebensführung fähig? Wie steht es um diese menschlichen Qualitäten bei Menschen am Lebensanfang, also Ungeborenen, und bei Menschen am Lebensende? Wird der Mensch hier nicht zunehmend als Objekt gesehen, über das sehr wohl verfügt werden kann? Und wie hat ein Staat mit Menschen aus anderen Kulturen umzugehen, die ihren Mitgliedern die eigenverantwortliche Lebensführung untersagen, die den freien Willen nicht frei lassen, sondern unterdrücken? Weil auch an anderer Stelle dieser Zeitung manche dieser Fragen aufgegriffen und vertieft werden, sei hier nur so viel gesagt: Das Bild des Menschen, das die Verfassung errichtet, ist Gabe und Aufgabe, ist Realität und Ideal zugleich. Der Mensch, auch der ungeborene, ist im Kern zu all dem befähigt und begabt, er bleibt aber stets auf dem Wege, sich als geistig-sittliche Person in immer vollkommenerer Weise zu verwirklichen. Dies ist ebenfalls eine Botschaft unseres Grundgesetzes, die jeden von uns angeht. MS 17.10.2006 11:00:48 Uhr 10 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Das Menschenbild des Islams im Spiegel christlicher Wertvorstellung - ein Vergleich Der Mensch im Islam In der westlichen Welt, die auf dem christlich-abendländischen Wertesystem gründet, ist der Dialog mit den islamischen Vorstellungen von Menschsein, Kultur und Zivilisation mit Vorurteilen und Ängsten besetzt. Um in einen interkulturellen Dialog eintreten zu können, der eine sachliche Auseinandersetzung über die beiden Menschenbilder ermöglicht, ist es unabdingbar, die Standpunkte und die Ausgangsperspektive des jeweiligen Gegenübers zu kennen. Die Grundlage für diesen Diskurs ist die Frage nach dem Menschen – und nach Gott. Das islamische Menschenbild Der Mensch ist in seinem Wesen Geschöpf Gottes. Er ist damit ein Wesen, das ganz von Gott abhängt, in allen Bereichen und Ausdrucksformen seines Lebens. Als Geschöpf Gottes liegt des Menschen Geschick in der Hand Gottes. Gott stellt ihn auf die Probe, und er wird ihn zur Rechenschaft ziehen. So muss der Mensch die Wahrheit finden und den rechten Weg gehen. Allerdings, so die Lehre des Islams, ist der Mensch unfähig, diese Wahrheit zu finden und auf den Wegen des Guten zu wandeln. Er ist dafür total auf die Offenbarung und und die rechte Anleitung Gottes angewiesen. Die Religionswissenschaftler sprechen hierbei von einer so genannten „theozentrischen Anthropologie“ – einer Lehre vom Menschsein, zum Thema_Ausgabe3.indd 10 die von Gott durchdrungen und auf ihn ausgerichtet ist. Das christliche Menschenbild Der Mensch ist Person, d. h. ein Lebewesen, das sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umwelt erkennt, eine Seele hat, Anteil hat an der animalischen Natur und sterblich ist, ein Lebewesen, dem Einmaligkeit und Subjekthaftigkeit zukommt und das dennoch nicht einzig („Monade“) ist, sondern stets mit anderen existiert, mit ihnen die Welt gestaltet, Freude und Leid teilt. Der Mensch ist ein geschlechtliches Lebewesen, Mann oder Frau; er hat bestimmte Bedürfnisse und Fähigkeiten; er entscheidet sich für bestimmte Handlungen und gegen andere; er trägt Verantwortung, kann schuldig werden und muss Rechenschaft für sein Tun und Lassen ablegen. Er ist ein Lebewesen, das in sich ein bestimmtes Streben, ein Auf-etwas-aus-sein, trägt, das im Fluss der Zeit Beständiges sucht, sich nach seinem Schöpfer sehnt und auf dessen Erbarmen angewiesen bleibt. Islamisches und christliches Menschenbild – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede, wie Christen und Muslime ihr „Menschsein“ verstehen. Grundlage dieses Verständnisses sind die Schöpfungsberichte im Alten Testament und im Koran. Aus der „Geschöpflichkeit“ und der „Gottesebenbildlichkeit“ leiten sich Würde und Auftrag des Menschen gegenüber Gott und der Gesamtschöpfung für das christliche Menschenbild ab. Geschöpf Gottes – Würde des Menschen Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes nach christlichem wie nach islamischem Verständnis. Diese Gemeinsamkeit ist ein Fundament, eine gemeinsame Wurzel der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Aus Sicht des Islams sind alle Menschen trotz aller natürlichen und kulturellen Unterschiede in ihrer Geschöpflichkeit gleich: Mann und Frau, Erwachsene und Kinder, Greise und Minderjährige, Gläubige und Ungläubige. Alle Menschen sind in ihrer menschlichen Grundwürde gleich, daher gebührt ihnen eine gerechte Behandlung. Von der grundsätzlichen Würde des Menschen als Geschöpf Gottes spricht der Koran in der Sure 17, 70: „Und Wir haben den Kindern Adams Ehre erwiesen ... Und Wir haben sie vor vielen von denen, die Wir erschaffen haben, eindeutig bevorzugt.“ Rotraud Wielandt, Professorin für Islamkunde und Arabistik an der Universität Bamberg, bemerkt dazu kritisch: „Stark traditionalistisch orientierte Theologen sprechen zwar auch von der ‚Menschenwürde‘, zeigen aber vielfach, dass sie sich diesen Begriff nicht sachlich angeeignet haben, selbst da, wo dies in der schon angedeuteten Weise vom Koran her möglich wäre. Sie stellen nämlich einen Konnex her zwischen Würde und vorgängiger Pflichterfüllung des Menschen, indem sie sagen, dass dem Menschen diese Würde nur in dem Maße zuteil wird, wie er die Gebote erfüllt. Eine derartige Interpretation widerspricht jedoch dem Begriff der Menschenwürde.“ Ähnlich wie im Diskurs christlicher Theologen verschiedener Konfessionen sind muslimische Theologen nicht immer einer Meinung. Festzuhalten ist, dass der Mensch im Schöpfungsplan Gottes eine Sonderstellung einnimmt. Diese – man könnte auch sagen – Bevorzugung des Menschen in der Schöpfung macht eine Beziehung von Gott zu den Menschen deutlich, die deren besondere Würdigung in der Zusammenschau der Gesamtschöpfung ausmacht. Kurz gesagt, die Würde des Menschen ist die Ableitung göttlicher Schaffenskraft. Diese fundamentale theologische Aussage ist dem islamischen und dem christlichen Menschenbild gemeinsam. Gottesbildlichkeit und Verantwortung Nach christlich-jüdischem Verständnis ist der Mensch das Abbild Gottes. Im Schöpfungsbericht des Alten Testaments (Gen 1, 2728) heißt es: „Gott schuf also den 17.10.2006 11:00:48 Uhr zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6 zum Thema_Ausgabe3.indd 11 11 17.10.2006 11:00:49 Uhr 12 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.“ Hierarchische Beziehung zwischen Gott und Mensch Die hier beschriebene Ebenbildlichkeit des Menschen im christlich-jüdischen Verständnis zeigt auf der einen Seite eine hierarchische Struktur der Beziehung Gottes zu den Menschen mit einem klaren Auftrag von Gott her. Auf der anderen Seite wird die partnerschaftlich-dialogische Seite der Beziehung Gottes zu den Menschen deutlich. Gott überträgt dem Menschen die Verantwortung über seine Schöpfung und stellt ihn an deren Spitze. Hierbei setzt Gott in den Menschen großes Vertrauen. Dieses Vertrauen ist nur durch Gottes Liebe zu den Menschen möglich. Der Mensch als von Gott geliebtes Geschöpf ist Gottes Abbild – sein Ebenbild. Deshalb ist es möglich, dass sich der Mensch als Kind Gottes betrachten kann. Im Koran hingegen ist der Begriff der Gottesebenbildlichkeit oder des Abbildes Gottes nicht anzutreffen. In der islamischen Überlieferung, so Rotraud Wielandt, ist er jedoch nicht völlig abwesend, da zum Thema_Ausgabe3.indd 12 er im Haddith (Überlieferung von Gewährsmännern Mohammeds) bei einer Autorität bezeugt ist, die allerdings von muslimischer Seite als nicht glaubwürdig eingestuft wird. Den Grund dafür kann man darin sehen, dass der Begriff der Gottesebenbildlichkeit die Versuchung in sich bergen könnte, die vom Islam so stark betonte Grenze zwischen Geschöpf und Schöpfer zu verwischen und den Menschen in einer Weise als gottähnlich darzustellen, die die Einzigkeit Gottes in Frage stellen könnte. Die hier erfolgende Abgrenzung zwischen Gott und den Menschen ergibt eine stark theozentrische Beziehung. Man könnte auch sagen, dass der Mensch einen stark servilen Charakter gegenüber Gott einnimmt. Zwar hat der Mensch im islamischen Verständnis ebenfalls den Auftrag, Gottes Schöpfung zu bewahren – allerdings als von Gott eingesetzter „Verwalter“ ohne partnerschaftliche Beziehung zum „Auftraggeber“. Zum besseren Verständnis könnte man eine Analogie aus dem militärischen Sprachgebrauch herstellen, nämlich die zu Befehls- und Auftragstaktik. In der Befehlstaktik gilt die genaue Umsetzung der vom Befehlshaber geforderten Befehle. Die Auftragstaktik lässt hingegen eigenverantwortliches Handeln je nach Situation und militärischer Lage bis auf die unterste Führungsebene zu. Festzuhalten ist, dass Gottese- benbildlichkeit nach christlichjüdischem Verständnis immer Eigenverantwortung auf der Grundlage vertrauensvoller und partnerschaftlicher Beziehung zwischen Gott und den Menschen bedeutet. Dem Islam ist die Gottesebenbildlichkeit suspekt, da sie für die Muslime die Versuchung der Gottähnlichkeit impliziert und damit der absolute Respekt vor Gott verloren gehen könnte. Der Unterschied in dieser Frage scheint für das Menschenbild im islamischen und christlichen Sinne mitunter weitreichend zu sein, da sich in den praktischen Vollzügen menschlichen Zusammenlebens wie z. B. in der Kultur, in Frömmigkeit und Politik die christliche und die muslimische Welt auseinanderentwickelt haben und sich teilweise fremd geworden sind. Das islamische Menschenbild ist anders hinzuschauen und nicht nur extreme Positionen zum Thema „Menschenwürde“ im interreligiösen Dialog und in der politischen Diskussion heranzuziehen. Unüberbrückbar scheint die Vorstellung, dass der Islam die Gottesebenbildlichkeit ablehnt. Damit unterliegt der Mensch dem „unbedingten“ Gehorsam gegenüber Gott und kann sich damit nicht im westlichen Sinne eigenverantwortlich entfalten. Ob es allerdings der westlichen Welt mit ihren jüdisch-christlichen Wurzeln zum Vorteil gereicht hat, sich durch so genannte Eigenverantwortlichkeit von Gott zu emanzipieren, müsste an anderer Stelle diskutiert werden. F-PB Auflösung des „zum Thema"Rätsels aus Heft 02/2006 ... als die christliche Vorstellung vom „Menschsein“. Dennoch ist die Überzeugung, dass der Mensch Geschöpf Gottes ist, die beiden Religionen gemeinsame Basis. In Fragen der Menschenrechte, insbesondere der Unantastbarkeit der Menschenwürde, ist in Nuancen ein Unterschied feststellbar, wobei es in der islamischen Gelehrtenwelt keinen verbindlichen Konsens gibt. Hier gilt es genauer Lösungswort: WELTFRIEDEN 17.10.2006 11:00:52 Uhr zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6 13 Impressum zum Thema – Themenheft für Soldaten zum Lebenskundlichen Unterricht Herausgeber: Katholisches Militärbischofsamt Am Weidendamm 2, 10117 Berlin Fon: 030/20617-112 Fax: 030/20617-113 Internet: www.katholischemilitaerseelsorge.de E-Mail: [email protected] Verlag: MEDIKOM Gesellschaft für Medien Infotainment Kommunikation mbH Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Fon: (0221) 990 33-200 Fax: (0221) 990 33-299 E-Mail: [email protected] Internet: www.MEDIKOM.de Redaktionsleitung: Sabine Heines Fon: (0221) 990 33-210 E-Mail: [email protected] Karl Marx Der Mensch ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Erst durch eine Revolution dieser Verhältnisse, d. h. die Beseitigung des Privateigentums, kann der Mensch sich von aller Entfremdung befreien. Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Anzeigen: MEDIKOM MEDIA Marzellenstraße 31-55, D-50668 Köln Fon: (0221) 990 33-300 Fax: (0221) 990 33-399 E-Mail: [email protected] Druck: Vorländer & Rothmaler GmbH & Co. KG, Siegen Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Men- ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Grafisches Konzept & Gestaltung: MEDIKOM Gesellschaft für Medien Infotainment Kommunikation mbH Anzeigenleitung: Jacqueline Schmidt Fon: (0221) 990 33-310 E-Mail: [email protected] Psalm 8, 5-6 schen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast Texte: Manfred Suermann (MS), Frank Peter Bitter (F-PB), Thomas Elßner (TE), Petra Hammann (PH) Baron de Montesquieu Zwei Arten von Menschen: Die einen denken, die anderen amüsieren sich. Kardinal Karl Lehmann Es geht uns darum, dem Traum vom perfekten Menschen zu widersprechen – einem Traum, der letztlich zutiefst inhuman ist: Nur allzu schnell wird der Mensch, der immer ein unvollendetes und daher auch unvollkommenes Wesen ist, dabei zum Schadensfall, zur vermeidbaren Belastung oder zum untragbaren Versicherungsrisiko. Bilder: S.1 Zentaur: Getty Images/Cal State California History Collection, S. 3 Moses: Getty Images/The Bridgeman Art Library, S. 4 Mädchen: stock. xchng, S. 6 Hände von Gott und Adam: Getty Images/ The Bridgeman Art Library, S. 7 Eva: Getty Images/ Jenny Holm, S. 11 Mann hält die ‚Bibel‘ und Person hält den ‚Koran‘: Getty Images/Steve Wisbauer, Nahaufnahme Kreuz: Getty Images/Purestock, Palästinenserin: Getty Images/ Abid Katib, S. 13 zwei Mädchen: stock.xchng, S. 15 Schatten: stock. xchng, S. 16 Temporary Blindness: Getty Images/Oliver Bevan Friedrich Hebbel Der Mensch ist ein Blinder, der vom Sehen träumt. Immanuel Kant Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder Jean-Paul Sartre Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht. zum Thema_Ausgabe3.indd 13 jenen Willen, sondern muss in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. 17.10.2006 11:00:53 Uhr 14 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Menschenbilder im Wandel oder in der Kontinuität? Ein Sprint durch Geschichte, Philosophie und Theologie Maßstab Mensch Er liegt schon sehr lange auf meinem Regal. Immer wieder einmal nehme ich ihn in die Hand, räume ihn von einer Ecke in die andere, ohne so recht zu wissen, was ich mit ihm anfangen soll. Zum Wegwerfen ist er mir irgendwie zu schade, billig war er auch nicht gerade. Aber jetzt, wo ich mir zu Menschenbildern Gedanken machen soll, kommt er mir gerade recht, mein „Maßstab Mensch“. Genauer gesagt ist der Maßstab ein Zollstock oder, wie man in Bayern sagt, ein Meterstab. Er beginnt im Jahre 0 (das es nach unserer christlichen Zeitrechnung natürlich gar nicht gibt) mit der Geburt des Gottmenschen Jesus von Nazareth. „Feindesliebe“ steht da als Stichwort. Das ist sicher nicht das Einzige, was man über Jesus sagen kann, aber vielleicht das Revolutionärste im Vergleich zu den Menschenbildern der Antike, wo sich die Philosophen vorwiegend mit dem Verhältnis von Leib und Geist, Individuum und Staat auseinandersetzten. Weiter geht es mit Riesenschritten auf meinem Meterstab: „Wirble nicht wie ein Kreisel herum“, meint Marc Aurel im Jahre 150. Das passt auch heute noch. Man- zum Thema_Ausgabe3.indd 14 che Dinge ändern sich eben nie. „Erblicke den Geist als das eigene Selbst“ – der Neuplatoniker Plotin (ca. 205-270) ist keine leichte Kost. Plotin verstand sich als Asket, der so weit ging, dass er sich sogar seiner physischen Erscheinung schämte. Der Heilige Augustinus (354-430) war dagegen in jungen Jahren bis zu seiner Bekehrung alles andere als ein Kostverächter. Vielmehr hat er die Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens kennen gelernt. Kein Wunder also, wenn er zu sich selber sagt: „Wer bist du? Und ich antwortete: Ein Mensch. Und siehe, der Leib und die Seele sind mir gegenwärtig, das eine draußen, das andere drinnen. ... Doch besser ist, was drinnen ist.“ Der Mensch, das sich selbst fremde Wesen. Doch hier bleibt Augustinus nicht stehen, sondern kommt, so belehrt mich mein Meterstab, zu der Erkenntnis: „Gott ist mir näher als ich selbst.“ Das erinnert mich an Augustins berühmten Ausspruch: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet bei dir.“ Die Zeit der Völkerwanderung überspringend, bin ich auf mei- nem Meterstab schon im frühen Mittelalter angelangt. Im Islam des siebten Jahrhunderts, also zu Zeiten Mohammeds, entwickelt sich nun ein ganz neues Menschenbild. Christen wie Muslime verstehen sich als Geschöpfe Gottes. Doch könnte der Mensch im Islam niemals „Teilhaber der göttlichen Natur“ (1. Petrusbrief 1, 4) werden, sondern bleibt stets von seinem Schöpfer getrennt. Jeder Mensch verstehe sich als ein „muslim“, als ein „sich Gott Ergebender“, ein Diener, der aufgefordert ist zu völliger Hingabe seiner selbst an Gott. Diese Grundhaltung von Gehorsam und Unterwerfung steht der christlichen Berufung zur Freiheit (Galaterbrief 5, 13) fast konträr gegenüber. Der Gehorsam gegenüber Gottes unveränderlichen Geboten ist ein anderer als der des liebenden und geliebten Kindes gegenüber dem Vater. Diese unterschiedlichen Vorstellungen von Gehorsam setzen sich fort im Verhältnis zu den Mitmenschen: Allenfalls den Angehörigen der monotheistischen Religionen spricht der Islam die volle Würde der Person zu. Auch wenn sich Kirchengeschichte manchmal anders darstellte, ist der Christ dazu aufgerufen, in jedem Menschen Gottes Ebenbild und damit seine Schwester oder seinen Bruder zu entdecken und zu achten. Diese Ebenbildlichkeit bestätigt Maximus Confessor (der „Bekenner“, 580-662): „Gott und Mensch nehmen einander zum Vorbild.“ Auf die Spitze getrieben wurde das in der Person Jesu Christi, der Gott, der Mensch wurde. Johannes Scotus Eriugena (ca. 810-877) klingt dagegen schon wieder resignierend wie Augustinus. „Der Mensch kennt sich selbst und kennt sich auch nicht“, behauptet jener; „für mich selbst war ich ein großes Rätsel geworden“, bemerkt dieser. Mit Selbstund Gotteserkenntnis beschäftigten sich aber nicht nur die gesamte mittelalterliche Philosophie und Theologie. „Mensch, erkenne dich selbst“, fordern heute Sahaja Yoga ebenso wie Esoterikbücher oder kostspielige Selbsterfahrungskurse. Alte und neue Meditationsübungen boomen, manchmal durchschaut man nur schwer, wes Geistes Kind sie sind. Im Hochmittelalter, in dem ich mittlerweile auf meinem Meterstab angelangt bin, stoßen unterschiedliche Vorstellungen 17.10.2006 11:00:53 Uhr zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6 aufeinander – und damit auch Gottes- und Menschenbilder. „Ich glaube, um zu verstehen“ (Anselm von Canterbury, 1033-1109) ist etwas anderes als „Erkenne dich selbst“ und „Nichts darf geglaubt werden, was ich nicht verstehe“ (Petrus Abaelardus, 10791142). Die Beziehung Mensch – Gott lässt sich offenbar nicht vom Menschenbild isolieren. In dieser unauflöslichen Spannung steht der Gläubige wie der Atheist. Die Gretchenfrage an Faust: „Sag, wie hast Du’s mit der Religion?“ muss jeder irgendwann beantworten, spätestens, wenn er nach sich selber fragt. Doch noch bin ich im (späten) Mittelalter; die Mystiker haben Hochkonjunktur. Hier finde ich auf meinem Meterstab erwähnt eine Hildegard von Bingen, die entgegen dem damaligen Trend den Menschen auch mit seiner Leiblichkeit in den Blick nimmt, oder einen Meister Eckhart, der das Jesuswort „Werde wie ein Kind, werde taub, werde blind“ aufnimmt. Viele weitere große Denker des Mittelalters wären noch zu nennen: der Kirchenlehrer Thomas von Aquin, Albert der Große ... zum Thema_Ausgabe3.indd 15 Nicht zu vergessen die Gründung von Universitäten, die Entdeckungen eines Marco Polo ... Weit verbreitet ist aber vielmehr die Vorstellung von einem naiven, da nicht aufgeklärten mittelalterlichen Menschen, der, eingezwängt in seinen Stand und unterdrückt von staatlichen und kirchlichen Mächten, bildungsarm und pestbedroht sein Dasein fristet. Die Leistungen in Handwerk und Kunst, die Fortschritte in Wissenschaft und Theologie geraten da schnell aus dem Blick. Mit der Aufklärung freilich – ich rase durch die Geschichte meines Meterstabs – verschiebt sich der Blickwinkel auf den Menschen. Descartes‘ berühmtes „Cogito sum“ („Ich denke, [also] bin ich“) leitet eine neue Ära ein, in der deutlicher als je zuvor wird, wie stark Menschen-, Gottesund Weltbild zusammenhängen. Leibniz („Der Geist ist eine kleine Gottheit“), die Aufklärer der Französischen Revolution, Hegel sind nur wenige Beispiele, die jetzt als Gegenbewegung zur bisherigen Philosophie und Theologie die (aufgeklärte!) Vernunft und damit ein Stück weit den Menschen selbst vergotten. Die Moderne, 180 Zentimeter auf dem Meterstab, geht einen Schritt weiter und nimmt stärker den Menschen in einer stetig zusammenrückenden Welt in den Blick. Während Kierkegaard (1813-1855) davon spricht, dass der Mensch das Selbst ist, und Wittgenstein (1889-1951) meint: „Ich bin meine Welt“, betont der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (18781965), dass das Ich (nur) am Du wird. Hier enden die 200 Zentimeter meines Meterstabes abrupt. Das Menschenbild der so genannten Postmoderne, in der wir jetzt stecken, scheint noch nicht hinreichend klar zu sein. Ist es das einer Mutter Teresa, also das Antlitz der Ausgestoßenen und Aussätzigen? Oder das eines Johannes Paul II., der unermüdlich die Personwürde eines jeden Menschen vom Lebensbeginn an bis zu seinem Ende betonte? Oder eher das – ich karikiere – des Selbstverwirklichten, der, ganz postmodern, nicht egoistisch, aber einem unbestimmten Humanismus ohne Gott anhängend, andere, anything goes, toleriert und selbst respektiert werden möchte? 15 Welchen Maßstab müssen wir an uns anlegen, welchen legen andere an uns an? Blieb das Menschenbild immer gleich oder gibt es mehrere davon, und wandeln sich diese im Laufe der Geschichte? Das Bild, das wir uns vom heutigen Menschen, also von uns selbst machen, ist, egal mit welcher „Brille“ betrachtet, sicher nicht dasselbe wie das vor mehreren hundert Jahren. Zweifellos stehen wir aber in geschichtlicher, philosophischer und religiöser Kontinuität. Viele Grundfragen wie das Verhältnis Geist – Seele – Leib, Glaube – Vernunft, Mensch und Gott, Ich und Du, Individuum und Kollektiv werden immer wieder gestellt und freilich immer wieder anders, aber nie völlig neu beantwortet. Die Bewertung dieser bunten Menschen-Bilder kann dabei einem biblischen Grundsatz folgen: Alles ist zu prüfen, das Gute zu behalten (1. Thessalonicherbrief 5, 21), um das Wahre, Wesentliche und Identische zu bewahren und in personalen Beziehungen zu entfalten. PH 17.10.2006 11:00:53 Uhr 16 0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder Franz Kafka: Heimkehr Das Menschenbild in der Literatur – ein Beispiel Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will. zum Thema_Ausgabe3.indd 16 Das biblische „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ hat in der abendländischen Geistesgeschichte tiefe Spuren hinterlassen. Besonders in der Kunst begegnet einem dieses Motiv immer wieder. Dürer, Rembrandt und andere haben sich diesem Thema immer wieder zugewandt. Vor allem die Heimkehr zum Vater, die liebevolle Aufnahme in die Geborgenheit beim Vater fanden immer wieder ihren wunderbaren Ausdruck. Verlorenheit: Thema des 20. Jahrhunderts Das änderte sich im 20. Jahrhundert. Die Verlorenheit wurde zum beherrschenden Thema. Seinen wohl radikalsten Ausdruck fand das Motiv bei Rodin. Während bei Dürer der verlorene Sohn, der bei den Schweinen gelandet war, noch betete und dabei den Blick auf eine im Hintergrund sichtbare Kirchturmspitze richtete, ist der Verlorene bei Rodin wirklich einsam und verlassen. „Der Schrei“ hieß das Kunstwerk zunächst, aber es ist keiner mehr da, der ihn hören könnte. Auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts hat das Thema mehrfach seinen Niederschlag gefunden. Rilke nahm sich seiner an in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ und André Gide gestaltete es in einer seiner Meistererzählungen. Hier ist der Sohn zwar wieder heimgekehrt, aber – wie aus dem Dialog mit dem jüngeren Bruder, einer neu hinzugefügten Figur, hervorgeht – er weiß letztlich keinen Grund dafür an- zugeben. Dem Jüngeren, der auch unbedingt fort und seine Freiheit bzw. Unabhängigkeit erlangen will, signalisiert er Resignation und Enttäuschung „über die Welt da draußen“ und über sich selbst. Er ist ein an der Freiheit Gescheiterter. Kafkas Heimkehr Auch die Kurzgeschichte „Heimkehr“ von Franz Kafka wird bei der Rezeption des biblischen Gleichnisses in der Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder genannt. Nur wissen wir nicht, ob Kafka die biblische Erzählung überhaupt gekannt hat. Für einen Juden, der seine Wurzeln im osteuropäischen Judentum hatte, dürfte das Neue Testament nicht zur bevorzugten Lektüre gehört haben. Dennoch, die Thematik „Heimat haben bei Gott oder verloren sein ohne Gott“ betrifft Altes wie Neues Testament gleichermaßen. Und insofern kann die Erzählung mit einer gewissen Berechtigung hinzugenommen werden. Welches Menschenbild offenbart die Geschichte? Der Heimkehrer hat zwar den Weg nach Hause gefunden, er weiß, wo seine Heimat ist, aber eine wirkliche Heimkehr findet nicht statt. Er bleibt außen vor, den Weg ins Innere, in die Geborgenheit der Gemeinschaft, findet er nicht; dazu müsste er die Küchentür öffnen, aber das wagt er nicht. Es ist seines Vaters Haus, das weiß er, aber ihm ist zugleich alles fremd. „Herüber aus den Kindertagen“ kommen noch Erinnerungen, aber das war einmal; damals hatte für ihn alles noch Bedeutung, heute kommt es ihm so vor, „als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt“ und habe mit ihm nichts mehr gemein. So findet der Heimkehrer keine Heimat mehr vor, keinen Ort, wo er hingehört. Es ist der entwurzelte, letztlich vereinsamte Mensch. Aus der Geborgenheit der Religion, d. h. der Rückbindung an Gott, ist er herausgefallen. MS 17.10.2006 11:00:55 Uhr