Zum Thema " Menschenbilder "

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Thema
MENSCHENBILDER
AUSGABE NR. 3
•
2006
SCHWERPUNKT „MENSCHEN”
DAS FRAGEN DES MENSCHEN
NACH SICH SELBST SEITE 4
DAS MENSCHBILD IM AT SEITE 6
DAS MENSCHENBILD DES GG SEITE 8
DER MENSCH IM ISLAM SEITE 10
IMPRESSUM SEITE 13
MASSSTAB MENSCH SEITE 14
Zum Menschenbild in der Bioethik – am Beispiel Peter Singer
Der Mensch: Tier oder Person?
Erich Fried
Ein Hund
der stirbt
und der weiß
dass er stirbt
wie ein Hund
und der sagen kann
dass er weiß
dass er stirbt
wie ein Hund
ist ein Mensch
Das Entsetzen war groß, als 1946
im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses die Praxis der Euthanasie
und die grausamen medizinischen
Versuche an Menschen während
der nationalsozialistischen Herrschaft öffentlich wurden. Wenn
in der Zeit danach in die neue
Verfassung der Bundesrepublik
Deutschland mit Artikel 1 des
Grundgesetzes die unantastbare
Menschenwürde als normative
Richtschnur aufgenommen wurde, dann darf man das praktizierte Unrecht wohl als eine der
Ursachen dafür ansehen.
zum Thema_Ausgabe3.indd 1
Inzwischen ist festzustellen, dass
das vom Grundgesetz intendierte
Menschenbild mancherorts in Frage gestellt wird und zu bröckeln
beginnt. Ja, manche sprechen sogar schon von einem drohenden
Epochenwechsel, von tiefgreifenden Veränderungen im Kern der
westlichen Ethik.
Nirgends wird dies deutlicher als
im Bereich der Bioethik. Der Australier Peter Singer spielt hierbei
eine entscheidende Rolle. Wer ist
dieser Mann und welches Menschenbild propagiert er?
In Grundzügen lässt sich Singers
Position folgendermaßen umreißen:
Singer unterscheidet zwischen
Mensch und Person: Alle Personen
sind Menschen, aber nicht alle
Menschen sind Personen.
◗
Personen sind Menschen mit
Rationalität, Selbstbewusstsein,
Wahrnehmungsfähigkeit,
Zukunftsorientierung, Überlebensinteresse, Lust- und Schmerzempfindung.
◗
Ungeborene, Neugeborene
(bis zum 28. Lebenstag), geistig
◗
Schwerstbehinderte, Kranke im
Koma oder mit extrem eingeschränkten Hirnfunktionen, Demente u. a. sind dagegen „bloß“
Menschen.
◗
Personen haben ein absolut
schutzwürdiges Lebensrecht. Wer
hingegen nicht Person, sondern
schlicht Mensch ist, wird aus dem
Kreis jener, die Menschenwürde
und Menschenrechte für sich beanspruchen können, ausgeschlossen.
◗
Nach Singers Philosophie des
Utilitarismus können Menschen
getötet werden, wenn eine Ko-
17.10.2006 11:00:37 Uhr
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Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Als Menschen begannen, über sich selbst nachzudenken, sind sogleich Bilder
vom Menschen entstanden. Zeugnisse davon finden wir seit alters her nicht nur
in der bildenden Kunst, sondern auch im Wort: im Mythos und in der Religion,
in der Dichtung wie in der Philosophie. Erfahrungen des Menschen mit sich
selbst, mit anderen, mit Natur und Geschichte, ja mit Gott gingen in die
verschiedenen Menschenbilder ein. Das, was einen zutiefst betraf, oder das, was
man neu zu entdecken vermeinte, wurde zum „Wesen des Menschen“ erklärt
bzw. als gültiges Menschenbild beansprucht.
Für das alltägliche Leben haben Menschenbilder eine große Bedeutung, auch
wenn dies nicht immer bewusst ist. Sie liefern dem Einzelnen und der Gesellschaft ein Daseinsmodell und Orientierung für die Lebenspraxis.
Nun machen Menschen aber immer wieder neue Erfahrungen, und diese veranlassten oft zur Kritik an überkommenen Menschenbildern und zur Konzeption
von Alternativen. So ist die Geschichte des Menschen auch eine sich wandelnder
Menschenbilder. Das führte in der Neuzeit mehr und mehr zu der Einsicht,
dass es immer illusorischer werde, ein für alle verbindliches Menschenbild
zu erstellen, was im übrigen gar nicht erstrebenswert sei, da jedes Menschenbild den Menschen auf einen überholbaren Entwurf seiner selbst fixiere und
reduziere. So zutreffend dieses Bedenken ist, so richtig ist aber auch, dass jeder
Mensch in seinem Denken und Handeln implizit von einem Menschenbild
geprägt und beeinflusst wird. Wer sich dessen bewusst wird, der steht bald vor
der wichtigen Frage, was denn das Unaufgebbare eines Menschenbildes sei,
was den wirklichen Wert des Menschen ausmache. Ist dies zunächst eine ganz
persönliche Frage, mit der jeder Einzelne sich auseinanderzusetzen hat, so hat
sich darüber hinaus auch jede Gemeinschaft von Menschen der Frage zu stellen,
nach welchem Menschenbild sie ihr Tun und Gestalten ausrichten will, geht
es doch letztlich darum, welches Gesicht sich eine Gesellschaft geben will. Eine
rechtsstaatliche Demokratie basiert nun mal auf einem anderen Menschenbild
als eine Diktatur, wie sie z. B. unter den Nationalsozialisten geherrscht hat.
Die Frage „Was ist der Mensch?“ löst gerade in unserer Zeit Irritationen aus.
Nicht nur, dass uns die verschiedenen Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, ganz Unterschiedliches mitteilen, das wir kaum noch zu einem
einheitlichen Bild zusammenfügen können. Auch liefern uns die Massenmedien
täglich Menschen und Ereignisse aus allen Erdteilen und aus unterschiedlichen
Kulturen ins Haus, die uns mitunter ein ganz anderes Bild vom Menschen vor
Augen führen. Zwar erfahren wir in der wie auch immer gearteten Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, zunächst ein Infragegestelltwerden des
Eigenen, können aber dann – aus der Distanz zu uns selbst – auf einer höheren
Stufe neu fragen: Was macht den Menschen in seinem Kern aus?
Als im Sommer 2000 der damalige amerikanische Präsident Clinton an der
Seite von Wissenschaftlern die gelungene Entschlüsselung des menschlichen
Genoms verkündete, hatte sich damit die Frage nach dem Menschen ein für alle
Mal erledigt? Ist nun die Frage, was der Mensch sei, endgültig geklärt, nämlich:
die Gesamtheit seiner Gene?
Die Anthropologie beschreibt den Menschen als „weltoffenes“ Wesen, das in
der Lage sei, über sich hinauszufragen. Der Mensch sei ein Suchender, befindet
sie. So haben sich auch die Autoren dieser Zeitung auf die Suche gemacht und
verschiedene Antworten aus Vergangenheit und Gegenwart zusammengetragen.
MS
Diese mögen Ihnen bei Ihrer Suche Orientierung geben.
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sten-Nutzen-Kalkulation zu ihren
Ungunsten ausfällt, d.h. wenn das
Weiterleben eines menschlichen
Wesens für irgendjemanden keinen Gewinn erbringt bzw. wenn
das Interesse des einen höher bewertet wird als das Interesse des
anderen.
Nach dem Prinzip des Präferenzutilitarismus, einer auch von
Singer vertretenen modernen
Variante des Utilitarismus, ist zu
prüfen, welche Präferenzen Lebewesen haben (z. B. weiterleben
zu wollen); diese sind dann gegen
andere Präferenzen abzuwägen.
Definition des
Utilitarismus
Präferenzutilitarismus
Utilitarismus (engl. utilitarianism,
von lat. utilitas, Nutzen) nennt
man die ethische Position, die
eine Handlung danach bewertet,
ob sie im Vergleich mit anderen
Handlungsalternativen die größte Anzahl positiver, nicht-moralischer Werte, z. B. Glück, Reichtum, Gesundheit, Vorteil, Freude
usw., hervorbringt.
Peter Singer: „Der klassische Utilitarist betrachtet eine Handlung
als richtig, wenn sie ebenso viel
oder mehr Zuwachs an Glück für
alle Betroffenen produziert als
jede andere Handlung, und als
falsch, wenn sie das nicht tut.“
Nach dem Prinzip der Glücksmaximierung gilt: Gibt etwa das Elternpaar eines behinderten Ungeborenen oder Neugeborenen
an, dieses Kind töten zu wollen
und es mit einer zweiten Schwangerschaft zu versuchen, so ist diese Erwartung eines zweiten gesunden Kindes Grund genug für
Singer, im Hinblick auf die „Gesamtsumme des Glücks“ dieses
Vorhaben gutzuheißen. Es wäre
aber auch denkbar, dass die Aufzucht dieses behinderten Neugeborenen für das Elternpaar ein
großes Glück darstellt; in diesem
Fall spräche zunächst nichts dagegen, das Kind am Leben zu lassen.
Es geht um die Glücksmaximierung der Eltern; die vermutete
Unfähigkeit oder eingeschränkte
Fähigkeit des Behinderten, Freude oder Glück zu erfahren, kann
mit dem Glück oder Unglück der
Eltern nicht konkurrieren.
Für den Präferenzutilitarismus ist
eine Handlung moralisch falsch,
die der Präferenz irgendeines Wesens entgegensteht, ohne dass diese Präferenz durch entgegengesetzte Präferenzen ausgeglichen
wird.
Eine Person zu töten, die es vorzieht weiterzuleben, ist daher,
gleiche Umstände vorausgesetzt,
ein Unrecht. Dass ein Ermordeter
sich nicht mehr darüber beklagen
kann, dass seine Präferenzen missachtet wurden, ist unerheblich.
Peter A. D. Singer, geb. 6.7.46
in Melbourne/Australien, Philosoph und Ethiker. Er hat in Oxford/England, an der New York
University und der La Trobe
University gelehrt und war von
1977-1999 Prof. für Philosophie
an der Monash University in
Melbourne. 1999 als DeCamp
Professor of Bioethics an das
Center for Human Values der
Princeton University berufen.
1996 kandidierte er erfolglos
für die Grüne Partei um einen
Sitz im australischen Senat.
17.10.2006 11:00:39 Uhr
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Für Präferenzutilitaristen ist die
Tötung einer Person in der Regel
schlimmer als die Tötung eines
anderen Lebewesens, weil allein
Personen zukunftsorientierte Präferenzen haben.
Folgen:
Da Embryonen keine Personen
sind und auch keine eigenen Präferenzen haben, darf an ihnen
geforscht und dürfen sie getötet
werden, weil andere Präferenzen
vorliegen, z. B. das Interesse der
Forscher oder das einer ganzen
Gesellschaft.
Fragen:
Nach Immanuel Kant darf der
Mensch niemals nur als Mittel
zum Zweck benutzt werden. Gilt
dies auch für menschliches Leben
in einer seiner Entwicklungsstufen? Umfasst also der Schutz der
Menschenwürde als selbstständiges Grundrecht menschliches
Leben in all seinen Phasen?
Einwand:
Wer, wie Peter Singer, einen Teil
der Menschen aufgrund bestimmter Eigenschaften als Personen definiert, denen bestimmte
Rechte zustehen, urteilt willkürlich, da er aus der Machtposition
desjenigen, der über diese Eigenschaften verfügt, agiert. Halten
die jeweiligen Machthaber andere Eigenschaften für relevant, ändert sich die Definition von „Person“. Wer heute noch als Mensch
mit unveräußerlichen Rechten
gilt, wird morgen ein Fall für die
Giftspritze.
Fakten:
Bereits 1993 erlaubte das höchste
britische Gericht im Falle des im
Koma liegenden Fußballfans Anthony Bland, Maßnahmen einzuleiten, sein Leben zu beenden.
Das Gericht hatte festgestellt,
„dass Anthonys Leben nicht lebenswert“ wäre. Damit wurde die
Rechtsprechung dazu gebracht,
den Begriff der Lebensqualität
statt den der Unantastbarkeit des
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3
„Je höher entwickelt das
bewusste Leben eines
Wesens, je höher der Grad
von Selbstbewusstsein und
Rationalität, umso mehr
würde man dieses Lebewesen vorziehen, wenn
man zwischen ihm und
einem Wesen auf einer
niedrigeren Bewusstseinsstufe zu wählen hätte.“
(Peter Singer)
Moses, der biblische Gesetzgeber.
San Pietro in Vincoli, Rom
Lebens als Grundlage von Entscheidungen zu akzeptieren.
Ende 1993 hat das niederländische
Parlament beschlossen, dass Ärzte
jenen Patienten tödliche Injektionen geben dürfen, die unerträglichen Leiden ohne Aussicht auf
Besserung ausgesetzt sind und
um Sterbehilfe ersuchen.
Im März 1996 erklärte ein Bundesappellationsgericht in den USA
das Verbot der Sterbehilfe für verfassungswidrig.
Für Norbert Hoerster, Mainzer
Rechtsphilosoph, lässt sich das
Recht auf Leben nur gründen
auf ein Interesse am Leben beziehungsweise Überleben. Den
Wunsch nach Überleben, nach
eigenen zukünftigen Bewusstseinszuständen oder Erlebnissen,
könnten menschliche Föten (noch)
nicht hegen. Somit würde auch
kein Überlebensinteresse verletzt,
MS
„indem man sie tötet“.
Wo menschliches Leben existiert,
kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht
entscheidend, ob der Träger sich dieser
Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren
weiß. Die von Anfang an im menschlichen
Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten
genügen, um die Menschenwürde zu
begründen.“
(Bundesverfassungsgericht)
17.10.2006 11:00:40 Uhr
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Streifzüge durch die philosophische Anthropologie
Das Fragen des Menschen nach sich selbst
Die philosophische Anthropologie (griechisch anthropología,
„Menschenkunde“) ist die Disziplin der Philosophie, die auf den
Menschen schlechthin reflektiert,
die sich also mit dem Wesen des
Menschen befasst. Da der Mensch
jenes Seiende ist, das sich zum
Ganzen des Seienden denkend
und handelnd verhält, geht er
wesenhaft mit ein in die Deutung aller Seinsbereiche und ihrer
Einheit. Jede Philosophie enthält
also, ob ausdrücklich oder nicht,
eine Lehre vom Menschen. Dasselbe gilt natürlich auch von Weltanschauungen.
fügt hinzu: „Im Grunde könnte
man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei
ersten Fragen auf die letzte beziehen.“ Und da es sich hier um die
Grundfragen des menschlichen
Philosophierens handelt, kann
Anthropologie nur als philosophische Anthropologie aufgefasst
werden. Sie wäre die fundamentale philosophische Wissenschaft.
Erst im späten 19. Jahrhundert
wird erneut der Versuch gemacht,
die Philosophie anthropologisch
grundzulegen. Beispielhaft sei
hier Ludwig Feuerbach genannt.
Er ist ein typischer Vertreter des
aufblühenden Atheismus und war
ein Schüler Hegels.
Seit alters her haben sich Menschen Menschenbilder gemacht
und diese auch irgendwann in
Bild und Wort zum Ausdruck gebracht. Es sind metaphorische
Selbstdeutungen, mit denen sie
sich ihrer selbst vergewissern. Anthropologien dagegen sind rationale Diskurse vom Menschen und
setzen eigentlich erst im neuzeitlichen Denken ein.
Der Mensch:
Horizont des Denkens
Während vorher in Religion, Mythos und in der griechisch-abendländischen Philosophie über den
Menschen in der Weise nachgedacht wurde, dass nicht der
Mensch der letzte Horizont des
Denkens war, sondern Gott bzw.
die göttliche Weltordnung, so
vollzieht sich in der europäischen
Neuzeit die bewusste Hinwendung zum Menschen. Und dieser
Vorgang ist bemerkenswert, denn
in dem Augenblick, als der europäische Mensch mit der Durch-
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Hegels Weltvernunft
setzung des kopernikanischen
Weltbildes seine herausragende
Stellung im religiösen und metaphysischen Weltbild verlor,
begann er, sich selbst als Mittelpunkt der Weltgeschichte zu betrachten.
Wenn auch der Terminus „Anthropologie“ erstmals bereits
im späten 16. Jahrhundert auftauchte, wurde er erst im 18.
Jahrhundert zur Bezeichnung einer philosophischen Disziplin. Als
erster und am eindringlichsten
hat der Philosoph Immanuel Kant
die Aufgabe, die einer philoso-
phischen Anthropologie gestellt
sei, ausgesprochen. Er unterschied
eine physiologische von einer
pragmatischen
Anthropologie.
Die eine betrachte den Menschen
unter empirischen und kulturellen
Gesichtspunkten, die andere unter ethischen – und hier setzt Kant
an. Das Feld der Philosophie lässt
sich demnach auf folgende Fragen
bringen: „1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich
hoffen? 4. Was ist der Mensch?
Die erste Frage beantwortet die
Metaphysik, die zweite die Moral,
die dritte die Religion, und die
vierte die Anthropologie.“ Kant
Dessen Philosophie bedeutete
eine radikale Abkehr von der anthropologischen
Fragestellung,
insofern Hegel nicht vom Menschen, sondern von der Weltvernunft ausging. Der Mensch war
für ihn nur noch das Prinzip, in
dem die Weltvernunft zu ihrem
vollkommenen Selbstbewusstsein
und damit zu ihrer Vollendung
gelangt (gemeint ist das Zu-sichselbst-Kommen des absoluten
Geistes). Für Feuerbach ist Weltvernunft nur ein neuer Begriff
für Gott und bezeichnet ein abstraktes Sein. Seine Philosophie
will sich aber dem konkreten,
wirklichen Menschen zuwenden.
Das Absolute der Philosophie und
Religion sieht Feuerbach nicht als
wirkliche Realitäten, sondern als
Wunschbilder des menschlichen
Herzens. So deutete er den christlichen Schöpfungsglauben in sein
17.10.2006 11:00:41 Uhr
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„Der Mensch glaubt an Götter, weil er den Trieb hat, glücklich zu sein. Er glaubt
ein seliges Wesen, weil er selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen, weil er
selbst vollkommen zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst
nicht sterben will. Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in
seinen Göttern als seiend vor. Die Götter sind die in wirkliche Wesen verwandelten
Wünsche des Menschen.“ (Feuerbach)
Gegenteil um: Nicht Gott hat den
Menschen erschaffen, sondern
der Mensch erschuf Gott „nach
seinem Bilde“. Theologie, also
Rede von Gott, gerät zur Anthropologie.
Karl Marx wird dies übernehmen:
„Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen
etc.“ Nach ihm kann das Bewusstsein nie etwas anderes sein als das
Sein, und das Sein der Menschen
ist ihr wirklicher Lebensprozess:
„Nicht das Bewusstsein bestimmt
das Leben, sondern das Leben
bestimmt das Bewusstsein.“ Der
Mensch ist das Resultat gesellschaftlicher (Herrschafts-)Verhältnisse.
„Der Mensch ist unendlich größer als der Mensch“: Mit dieser
Aussage verblüfft Nietzsche, der
radikale Antichrist, und meint
damit, dass sich der Mensch in
den Dienst des dionysischen Weltgrundes stellen soll, der als Wille
zur Macht, d. h. zu seiner eigenen Steigerung, seine höchste
Erscheinung, den Übermenschen,
zeugen will. Denn „Gott ist tot“,
alles Jenseitige, also auch die Idee
Gottes, ist nur die hinausgeworfene Dimension des Menschen; er
hat damit seine Zeit vergeudet,
statt sich, sein Leben und seine
diesseitige Welt wahrhaft zu gestalten. So geht es nach Nietzsche
um die Desillusionierung aller
überlieferten Illusionen, um die
Umwertung aller bisherigen Werte, um das Ablegen der bisherigen
(christlichen) „Sklavenmoral“ und
um die Etablierung einer Herrenmoral der Vornehmen dieser Erde
als Vorläufer des Übermenschen.
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Bei aller Distanz, die man zu
Nietzsches philosophischer Lehre
haben kann, muss man einräumen, dass er die Problematik des
modernen Menschen, die sich
dann im 20. Jahrhundert zeigen
sollte, fast hellseherisch vorausgesehen hat: die Umwertung aller
Werte, den Nihilismus, den (unbedingten) Willen zur Macht (Nationalismus, Bolschewismus) usw.
Mit Max Scheler beginnt im 20.
Jahrhundert die formelle Ausarbeitung einer philosophischen Anthropologie. Er versucht erstmals
die in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie zerfallene
Sicht des Menschen zusammenzufassen und auf eine einheitliche
Perspektive zurückzuführen. Seine
Sicht einer umgreifenden Wesenseigenschaft des Menschen besagt,
dass der Mensch das weltoffene
Wesen sei, das kraft seines Geistes
sich über sein biologisches Leben
hinaus nicht nur auf die Welt,
sondern auf einen unendlichen
Horizont hin ausstrecken könne.
Geist ist dabei für Scheler ein Attribut des Göttlichen, und so sieht
er die Geschichte des Menschen
„hineingeflochten in das Werden
der Gottheit selbst“. Hier klingen
metaphysische Vorstellungen an,
die schon bei Hegel und Nietzsche
zu finden waren, und in der Tat
wurde Scheler von beiden beeinflusst. Was macht aber den Geist
zu einem werdenden Geist, was
treibt ihn an? Nach Scheler besteht der Weltgrund aus zwei entgegengesetzten Prinzipien: Dem
Geist, der „keinerlei ursprüngliche Macht oder Kraft“ besitzt,
steht der „allmächtige“ Drang
gegenüber, die Weltphantasie,
die mit unendlich vielen Bildern
geladen ist. Um den Geist mit
der in ihm angelegten Fülle der
Ideen und Werte zu verwirklichen, musste der Weltgrund den
Drang „enthemmen“ und damit
den Welt- bzw. Werdungsprozess
in Gang bringen. Die Stätte dieses
Vorgangs ist der Mensch.
Gehlen: Der Mensch
als Mängelwesen
Als weitere Klassiker der philosophischen Anthropologie des 20.
Jahrhunderts haben Arnold Gehlen, der die bekannte Formel, der
Mensch sei – im Vergleich zum
Tier – ein Mängelwesen, geprägt
hat, wobei ihm empirische Wissenschaften, allen voran Biologie
und Verhaltensforschung, Pate
gestanden haben, sowie Helmuth
Plessner zu gelten. Dieser definiert die Existenzform des Menschen als exzentrische Positionalität und meint damit: Während
alle Lebewesen einen Ort, eine
Position, ein Zentrum haben, ist
der Mensch gegenüber seinem
Zentrum exzentrisch verschoben.
Das ist der Grund, warum sich der
Mensch auf sich selbst beziehen
kann. Allerdings: Nie weiß der
Mensch wirklich, wo sein Ort ist.
Er steht im Nirgendwo. Er ist ein
heimatloser Wanderer, der den
Ort, den er eben erst gefunden
hat, schon wieder verlässt. Das
macht die Offenheit des Menschen aus, was aber auch zur Folge hat: Nie ist der Mensch restlos
mit sich identisch.
Martin Buber hat in seinem Buch
„Das Problem des Menschen“ das
Menschenbild der verschiedenen
Epochen der abendländischen Geistesgeschichte beleuchtet und dabei festgestellt, dass sich Epochen
der Sicherheit menschlichen Seins
im Kosmos mit Epochen der Unsicherheit abwechseln. Es ist nicht
erkennbar, dass das Menschenbild
des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts eine Epoche der Sicherheit menschlichen Seins auf dieser
Erde spiegelt. Die Versuche kollektivistischer Weltanschauungen,
dem Menschen Geborgenheit in
der Gemeinschaft zu geben bzw.
die Gesellschaft an die Stelle des
Menschen zu setzen (Marxismus,
Nationalismus), können getrost
als gescheitert angesehen werden. Aber auch individualistische
Lebens- und Weltanschauungen
können dem Menschen keinen
heimatlichen Ort vermitteln. Vielleicht am radikalsten kommt
dies bei Jean-Paul Sartre, dem
Hauptvertreter des französischen
Existentialismus, zum Ausdruck,
wenn er den Menschen als dasjenige Seiende bestimmt, das kein
Wesen „hat“, sondern sich sein
Wesen selbst entwerfen muss; er
ist „zur Freiheit verurteilt“. Der
Mensch unserer Tage lebt in der
Unbehaustheit. Literatur und
Kunst legen vielfach Zeugnis davon ab.
Die abendländische Tradition hat
den Menschen wesentlich vom
Geiste her bestimmt: „animal rationale“, d. h. Lebewesen mit Geist,
ist die klassische Definition des
Abendlandes. Welchem Geist sich
der Mensch öffnet, welchen Geist
er über sich walten lässt, bleibt
die denkerische Aufgabe jedes
Einzelnen, die er zu leisten und
MS
zu verantworten hat.
17.10.2006 11:00:43 Uhr
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Über die Entstehung des Menschenbildes in der Schöpfungsgeschichte
Das Menschenbild im Alten Testament
nis fest, Schöpfung passiere nicht
irgendwie, sondern sie unterliege
einem geordneten Ablauf.
Dem Schöpfungsverlauf lässt sich
entnehmen, dass der Mensch
nicht gleich zu Beginn erschaffen
worden ist. Dies wäre auch unlogisch. Denn erst müssen seine
natürlichen Lebensbedingungen
geschaffen sein – Licht, Wasser,
Land sowie die Nahrungsgrundlagen. Erst am sechsten Tag wird
der Mensch erschaffen. Er allein?
Nein. Am selben Tag werden auch
alle Tiere, die auf dem Land leben,
in ihr Dasein gerufen. Auf diese
Weise rückt die priesterliche Aufzeichnung die Tiere des Landes
und den Menschen in eine enge
Beziehung zueinander.
Schlusspunkt der
Schöpfungsabfolge
Wenn vom Menschenbild der Bibel gesprochen wird, wird nicht
selten übersehen, dass die Bibel
gleich mit zwei Schöpfungsberichten beginnt. Der erste hat die
Schöpfung der Welt insgesamt
zum Thema. Er wirkt nüchtern,
fast monoton und ist durch das
Sieben-Tage-Schema strukturiert.
Der zweite Schöpfungsbericht hingegen konzentriert sich auf die
Erschaffung des Menschen durch
Gott. Er ist sehr anschaulich gestaltet, geradezu in einem guten
Sinne naiv, so dass er auch die
Vorlage für so manchen Zeichentrickfilm abgegeben hat (z. B.
Jean Effel: „Heitere Schöpfungsgeschichte“). Beiden Schöpfungsgeschichten ist aber gemeinsam,
dass sie nicht dafür in Anspruch
zum Thema_Ausgabe3.indd 6
genommen werden können, als
Dokumentarberichte zu gelten,
so, als ob die Verfasser dem lieben Gott bei der Erschaffung der
Welt über die Schulter geschaut
hätten.
lungen zugrunde legten. Da der
erste Schöpfungsbericht unserem
wissenschaftlichen Vorverständnis eher entgegenzukommen
scheint, werden wir uns auf ihn
konzentrieren.
Nachdenken über das
Wunder der Existenz
Der erste Schöpfungsbericht (Gen
1-2, 4a) ist durch sein Schema der
sieben Tage bekannt, in welches
die Schöpfung eingeordnet wird.
Ebenfalls kennzeichnet ihn der
Versuch, das Existierende zu systematisieren. Daran lässt sich erkennen, dass der Verfasserkreis, nämlich priesterliche Kreise im Alten
Israel, in klaren Ordnungsstrukturen dachte. Aufgrund überlieferten, gesammelten Wissens und
intensiver Naturbeobachtungen
hielten die Verfasser die Erkennt-
Beide Schöpfungsberichte verdanken sich dem theologischen Nachdenken über das Wunder, dass
überhaupt etwas existiert. Dieses
Nachdenken, welches von ganz
bestimmten Menschen an einem
konkreten Zeitort erfolgt ist, hat
Spuren hinterlassen. Diese geben
Aufschluss darüber, welches Bild
vom Menschen die Verfasser ihren jeweiligen Schöpfungserzäh-
Dass für die Verfasser die Erschaffung des Menschen dennoch etwas Besonderes ist, lässt sich vor
allem an zwei Dingen ablesen. Die
Erschaffung des Menschen bildet
den Schlusspunkt in der Schöpfungsabfolge. Nach der Erschaffung des Menschen ist von keiner
weiteren Schöpfung mehr die
Rede. Das Besondere der Erschaffung des Menschen wird auch stilistisch zum Ausdruck gebracht.
Hieß es bei allen Schöpfungsakten
zuvor: „Und Gott sprach“, worauf
eine nicht personalisierte Aufforderung folgte, heißt es jetzt:
„Und Gott sprach, lasst uns Menschen machen nach unserem Bild,
uns ähnlich“ (Gen 1, 26a). Spricht
jetzt Gott sich selbst an, fordert
er sich selbst zum Erschaffen auf?
17.10.2006 11:00:43 Uhr
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Bevor darauf eine Antwort versucht wird, ist zunächst festzuhalten, dass mit dieser Aussage die
besondere Stellung des Menschen
in der Schöpfung hervorgehoben
wird: Der Mensch ist nach dem
Bilde Gottes geschaffen. Von keinem anderen irdischen Lebewesen wird dies in den priesterlichen
Aufzeichnungen ausgesagt. Wodurch äußert sich aber diese Ebenbildlichkeit? Sieht Gott letztlich
wie ein Mensch aus? Haben dann
doch die Religionskritiker recht,
die sagen, dass es eigentlich der
Mensch ist, der sich Gott nach seinem Bilde erschaffen hat (Xenophanes, Feuerbach)?
Auch wenn so eine Vorstellung
hier vielleicht mitschwingen mag,
die Koinzidenz von Gott und
Mensch liegt vielmehr nach Auffassung der priesterlichen Lehre
darin, dass der Mensch Herrschaft
ausüben kann. Konkret äußert
sich dies in Form der Herrschaft
über die Tiere (vgl. Gen 1, 26b).
Hier kommt die damals allgegenwärtige Erfahrung zum Ausdruck,
dass der Mensch über Leben und
Tod eines Tieres augenblicklich
entscheiden kann. Das ist auch
die Vorstellung, die der Mensch
von Gott hat, welcher der Herr
über Leben und Tod ist (vgl. Weish
16, 13). Bemerkenswerterweise
spricht dieser Schöpfungsbericht
nicht vom Herrschen des Menschen über andere Menschen.
Eine Erklärung hierfür findet sich
vielleicht darin, dass an dieser
Stelle vom Menschen noch vor
seinem Sündenfall (vgl. Gen 3) die
Rede ist. Dies gilt es ebenso mitzubedenken, wenn die Aufzeichnungen vom Menschen als Ebenbild Gottes sprechen. Dass diese
Gottesebenbildlichkeit auch über
den Sündenfall hinaus fortbesteht, wenngleich mit einem Riss,
äußert sich in folgender Aussage
zur Erschaffung des Menschen:
„Und Gott schuf den Menschen
nach seinem Bild; nach Gottes Bild
schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie“ (Gen 1,27).
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Eva im Garten Eden
Der Mensch existiert
als Mann und Frau
Mit diesem Satz bringt der Verfasserkreis nach gründlicher Überlegung Folgendes zum Ausdruck:
1. Den Menschen an sich gibt es
nicht, sondern er existiert stets als
Mann oder als Frau. 2. Da Mann
und Frau zugleich ihr Ebenbild
in Gott haben, kommt ihnen gemeinsam die gleiche Herkünftigkeit und die gleiche Würde zu.
Dies drückt sich auch im Hinweis
auf das Herrschen über die Tiere
aus. Denn es wird ja nicht gesagt,
dass ein Mann oder eine Frau die
Herrschermacht ausübt, sondern
es heißt, die Menschen „werden
herrschen“. D. h., in priesterlichen
Kreisen des alten Israels galt es
als ausgemacht, dass Mann und
Frau, wie wir heute sagen, gleichberechtigt sind. 3. Weder Mann
noch Frau können je für sich in
Anspruch nehmen, ein besseres
Ebenbild Gottes zu sein. Nicht im
Gegen-, nicht im Nebeneinander,
sondern nur im Miteinander sind
Mann und Frau Ebenbild Gottes,
welches keine Geschlechtsvorherrschaft kennt. Betrachtet man
die gesellschaftlichen Verhältnisse
im Mittleren Osten des sechsten
Jahrhunderts v. Chr., so ist dieses
Menschenbild priesterlicher Theologie ihrer Zeit um Jahrhunderte
voraus. Wie aber die weitere Geschichte zeigt, können auch Theologen hinter einmal errungene
Erkenntnisse wieder zurückfallen.
Wenn nun die Verfasser des ersten Schöpfungsberichtes das
Besondere der Erschaffung des
Menschen mit den Worten einleiten: „Und Gott sprach, lasst uns
Menschen machen“, stellt sich die
Frage, wer sich hinter dem „uns“
verbirgt. Sieht man genauer hin,
so enthält diese Formulierung
eine Sicherheitsvorkehrung; denn
der Verfasserkreis weiß um die
Bedeutungsschwere der Aussage
von der Ebenbildlichkeit Gottes
und um die Erkenntnisschwierigkeit, die im Grunde bis heute fortdauert, den Mensch als Ebenbild
Gottes zu begreifen. Von daher
lässt sich in Bezug auf die besagte
Sicherheitsvorkehrung Folgendes
sagen: Mit Blick z. B. auf 1 Kön 22,
19f wissen wir, dass im Alten Testament Vorstellungen von einem
Hofstaat Gottes (Engelswesen, deren Existenz vorausgesetzt wird)
anzutreffen sind. Mit Angehörigen dieses Hofstaates berät sich
Gott. Wenn Gott spricht: „Lasst
uns machen“, kann sich das auf
diese Himmelswesen beziehen,
die Gott umgeben. Sollte das auch
für Gen 1, 26 zutreffen, besteht
die Pointe darin, dass diese Him-
7
melswesen ebenso in dieses „nach
unserem Bilde, uns ähnlich“ eingeschlossen sind. Dadurch wird
bewirkt, dass eine allzu direkte,
um nicht zu sagen: eine allzu naive oder gar plumpe Bezugnahme
des Menschen auf die Ebenbildlichkeit Gottes vermieden wird.
Damit erweist sich der Verfasserkreis dieses Schöpfungsberichtes
als nicht so blauäugig, wie manche geneigt sind zu unterstellen.
Gerade weil die Vorstellung z. B.
in Ägypten anzutreffen war, dass
der Pharao als ein auf Erden lebendes Abbild Gottes anzusehen
sei, galt es den Gedanken von
der Gottesebenbildlichkeit des
Menschen gegen einseitige, die
Herrschaft Einzelner rechtfertigende Auffassungen zu schützen
und ihn auf eine verantwortbare
theologische Grundlage zu stellen: Alle Menschen sind Ebenbild
Gottes, ganz gleich ob Mann oder
Frau, ob arm oder reich, ob Herrscher oder Untertan.
Ebenbild Gottes
Dass dies Konsequenzen hat,
wird an anderer Stelle in Gen 9,
6 deutlich: Der Mensch darf kein
Menschenblut vergießen, und
zwar mit der Begründung, dass
er als Ebenbild Gottes geschaffen
worden ist. Der Angriff auf einen Menschen wird so zu einem
Angriff auf dessen Schöpfer. Dies
sagt die priesterliche Aufzeichnung nicht in die Situation des Urzustandes des Menschen hinein,
sozusagen in eine heile Welt, sondern in die Zeit nach Sündenfall
und Sintflut. Von daher besitzt
die Gottesebenbildlichkeit des
Menschen eine Schutzfunktion.
Auch hier erweist sich die Lehre
gegenüber der allenthalben erfahrbaren Wirklichkeit als hellwach und nüchtern. Denn eins hat
leider die Menschheitsgeschichte
immer wieder gezeigt: Dort, wo
Menschen in irgendeiner Form als
minderwertig angesehen wurden,
war die Hemmschwelle stets sehr
viel niedriger, sie zu töten.
TE
17.10.2006 11:00:45 Uhr
8
0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder
Das Menschenbild des
Grundgesetzes
Es ist kein Widerspruch, wenn wir
uns einerseits Menschenbilder der
Vergangenheit und Gegenwart
vor Augen führen und sich dabei
der Schluss aufdrängt, dass ein
einheitliches Menschenbild nicht
mehr möglich, sondern von einer Pluralität der Menschenbilder
auszugehen ist, und wenn nun
andererseits von dem Menschenbild des Grundgesetzes gesprochen werden soll.
Als der Parlamentarische Rat zwischen dem 1. September 1948
und dem 23. Mai 1949 in Bonn
das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausarbeitete, orientierte er sich an
der Weimarer Verfassung – man
lernte sozusagen aus deren Fehlern. Das Grundgesetz ähnelt der
Weimarer Verfassung in vielen
Punkten, weist aber auch große
Unterschiede zu ihr auf. Darauf
einzugehen, ist hier nicht der Ort
und nicht das Thema. Während
nun die Weimarer Verfassung
mit „Aufbau und Aufgaben des
Reiches“ beginnt, heißt es überraschenderweise im Grundgesetz
an vorderster Stelle: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar. Sie
zu achten und zu schützen ist Ver-
zum Thema_Ausgabe3.indd 8
pflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 Abs. 1 GG)
Das ist umso bemerkenswerter,
als z. B. auch die österreichische
Verfassung in Artikel I mit den
Worten beginnt: „Österreich ist
eine demokratische Republik. Ihr
Recht geht vom Volk aus.“ Die
Menschenwürde scheint somit die
Basis des Grundgesetzes zu sein,
der Kern, der allem Folgenden
erst seinen wahren Gehalt verleiht, und dabei mag man es als
eine positive Fügung des Schicksals ansehen, dass damals die geschichtliche Erfahrung des Missbrauchs der verfassungsmäßigen
Ordnung durch die Nationalsozialisten Pate gestanden hat.
Menschenwürde im
Grundgesetz verankert
Dazu passt gut, dass sich das
deutsche Volk dieses Grundgesetz im „Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den
Menschen“ gegeben hat (siehe
Präambel), bringt dies doch eine
transzendente Verankerung der
Menschenwürde und damit eine
tiefere Achtung des Menschen
zum Ausdruck.
Nun hat man immer wieder darüber gestritten, ob das Grundgesetz aus christlichem Geist entstanden ist und wir es demnach
mit einem christlichen Grundgesetz zu tun haben, was angesichts
einer zunehmend multikulturell
geprägten Gesellschaft und des
Schwindens christlich-konfessioneller Bindungen bis hin zu der
Tatsache, dass heute – im Gegensatz zur Gründerzeit – mehr als
ein Drittel der Gesellschaft keiner
christlichen Kirche angehört, als
problematisch angesehen wird.
Zweifellos ist das Grundgesetz
aus abendländischem Geist hervorgegangen, speist sich aber
nicht nur aus christlichem Gedankengut, sondern auch aus den
Impulsen der Aufklärung. Und so
stellt sich die Frage, ob hier nicht
etwas Unaufgebbares und sogar
Allgemeingültiges, d.h. für alle
Menschen Gültiges, „entdeckt“
und verfassungsmäßig verankert
worden ist.
Das Grundgesetz stellt also die
Menschenwürde in den Mittelpunkt und bezeichnet sie als unantastbar. Damit ist sie dem Menschen nicht vom Staat verliehen,
sondern der Staat anerkennt sie
als vorgegeben und unabänderlich, als ihm vorausliegend und
unverfügbar. Die Würde des Menschen stellt den höchsten Rechtswert der Verfassung dar. Die jeder
Staatsgewalt auferlegte Pflicht
zur Achtung dieser Würde verbietet staatliche Eingriffe in den geschützten Bereich und beschreibt
den klassischen Abwehrcharakter,
der bei allen Grundrechten im
Vordergrund steht.
Höchste Stufe der
Wertordnung
Es ist allerdings schwierig, die
Frage zu beantworten, was Menschenwürde bedeutet. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht Einigkeit
darin, dass die Menschenwürde
nicht nur dann verletzt ist, wenn
„die Behandlung des Menschen
durch die öffentliche Hand, die
das Gesetz vollzieht, ... Ausdruck
der Verachtung des Wertes, der
dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem
Sinne eine verächtliche Behandlung“ ist. Damit würde man lediglich die unabänderliche Menschenwürde z. B. auf ein Verbot
der Wiedereinführung der To-
17.10.2006 11:00:47 Uhr
zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6
desstrafe oder der Methoden des
Dritten Reiches reduzieren. Das
Grundgesetz will vielmehr etwas
anderes erreichen: Es geht ihm
darum, die freie menschliche Persönlichkeit auf die höchste Stufe
der Wertordnung zu stellen, ihren
Eigenwert und ihre Eigenständigkeit zu betonen. So hat das Bundesverfassungsgericht die Formel
entwickelt, es widerspräche der
menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und
kurzerhand von Obrigkeits wegen
über ihn zu verfügen. In einem
Kommentar zum Grundgesetz
heißt es dazu: „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn
der konkrete Mensch zum Objekt,
zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt
wird.“ Die Nähe zu den ethischen
Maximen Kants ist unverkennbar.
Ständige Reflexion
Es ist einzuräumen, dass die Konkretisierung dieser „Formel“ immer schwierig war und heute
noch kritikanfälliger geworden
ist, weil die Voraussetzungen, also
das Bild vom Menschen, der zur
eigenen Entscheidung befähigt
zum Thema_Ausgabe3.indd 9
und zur Selbstbestimmung fähig
ist, nicht mehr fraglos hingenommen werden. Andererseits wäre
zu bedenken, ob eine Konkretisierung so eindeutig überhaupt
formuliert werden könnte, dass
damit alle eventuellen Konfliktfälle in Gegenwart und Zukunft
ebenso eindeutig gelöst werden
könnten. Vielmehr bedeutet die
Offenheit dieser „Formel“ die
ständige Aufgabe der (Selbst-)Reflexion und stellt jede mögliche
Antwort damit gleich wieder auf
den Prüfstand.
Damit der Mensch seine Würde
auch realisieren, d. h. eine menschliche Persönlichkeit werden und
menschenwürdig leben kann,
braucht er Freiheiten, die ihm
vom Staat nicht beschnitten werden dürfen. Konsequenterweise
führt daher das Grundgesetz in
den nachfolgenden Artikeln diese Freiheiten auf und formuliert
sie als unverletzliche und unveräußerliche Grundrechte; diese
entsprechen allgemeinen Menschenrechten. Das Grundgesetz
sieht im Menschen eine geistigsittliche Person und geht also von
einem personalen Menschenbild
aus, wonach der Mensch als ein
mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung
ausgestattetes, mit Verstand und
freiem Willen begabtes, mit einem
Gewissen versehenes und mit anderen Menschen verbundenes soziales Wesen definiert wird.
Gleichheitsgebot in
Artikel 3
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten,
souveränen Individuums. Vielmehr hat es die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne
der
Gemeinschaftsbezogenheit
und der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne
allerdings deren Eigenwert anzutasten. Dabei bringt das Gleichheitsgebot in Art. 3 zum Ausdruck,
dass die unantastbare Würde jedem Menschen zukommt, ohne
Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat,
Herkunft, Glauben, religiöse oder
politische Ansichten.
In provozierender Absicht ließen
sich nun folgende Fragen stellen: Ist jedes Mitglied unserer
Gesellschaft wirklich eine geistig-sittliche Person, mit Verstand
9
und freiem Willen begabt, zu
eigenverantwortlicher
Lebensführung fähig? Wie steht es um
diese menschlichen Qualitäten
bei Menschen am Lebensanfang,
also Ungeborenen, und bei Menschen am Lebensende? Wird der
Mensch hier nicht zunehmend
als Objekt gesehen, über das sehr
wohl verfügt werden kann? Und
wie hat ein Staat mit Menschen
aus anderen Kulturen umzugehen, die ihren Mitgliedern die
eigenverantwortliche Lebensführung untersagen, die den freien
Willen nicht frei lassen, sondern
unterdrücken?
Weil auch an anderer Stelle dieser Zeitung manche dieser Fragen
aufgegriffen und vertieft werden,
sei hier nur so viel gesagt: Das Bild
des Menschen, das die Verfassung
errichtet, ist Gabe und Aufgabe,
ist Realität und Ideal zugleich. Der
Mensch, auch der ungeborene, ist
im Kern zu all dem befähigt und
begabt, er bleibt aber stets auf
dem Wege, sich als geistig-sittliche Person in immer vollkommenerer Weise zu verwirklichen.
Dies ist ebenfalls eine Botschaft
unseres Grundgesetzes, die jeden
von uns angeht.
MS
17.10.2006 11:00:48 Uhr
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Das Menschenbild des Islams im Spiegel christlicher Wertvorstellung - ein Vergleich
Der Mensch im Islam
In der westlichen Welt, die auf
dem christlich-abendländischen
Wertesystem gründet, ist der Dialog mit den islamischen Vorstellungen von Menschsein, Kultur
und Zivilisation mit Vorurteilen
und Ängsten besetzt.
Um in einen interkulturellen Dialog eintreten zu können, der eine
sachliche
Auseinandersetzung
über die beiden Menschenbilder
ermöglicht, ist es unabdingbar,
die Standpunkte und die Ausgangsperspektive des jeweiligen
Gegenübers zu kennen. Die
Grundlage für diesen Diskurs ist
die Frage nach dem Menschen
– und nach Gott.
Das islamische
Menschenbild
Der Mensch ist in seinem Wesen
Geschöpf Gottes. Er ist damit ein
Wesen, das ganz von Gott abhängt, in allen Bereichen und
Ausdrucksformen seines Lebens.
Als Geschöpf Gottes liegt des
Menschen Geschick in der Hand
Gottes. Gott stellt ihn auf die Probe, und er wird ihn zur Rechenschaft ziehen. So muss der Mensch
die Wahrheit finden und den rechten Weg gehen. Allerdings, so die
Lehre des Islams, ist der Mensch
unfähig, diese Wahrheit zu finden
und auf den Wegen des Guten zu
wandeln. Er ist dafür total auf die
Offenbarung und und die rechte
Anleitung Gottes angewiesen.
Die Religionswissenschaftler sprechen hierbei von einer so genannten „theozentrischen Anthropologie“ – einer Lehre vom Menschsein,
zum Thema_Ausgabe3.indd 10
die von Gott durchdrungen und
auf ihn ausgerichtet ist.
Das christliche
Menschenbild
Der Mensch ist Person, d. h. ein
Lebewesen, das sich selbst, seine
Mitmenschen und seine Umwelt
erkennt, eine Seele hat, Anteil
hat an der animalischen Natur
und sterblich ist, ein Lebewesen,
dem Einmaligkeit und Subjekthaftigkeit zukommt und das dennoch nicht einzig („Monade“)
ist, sondern stets mit anderen
existiert, mit ihnen die Welt gestaltet, Freude und Leid teilt. Der
Mensch ist ein geschlechtliches
Lebewesen, Mann oder Frau; er
hat bestimmte Bedürfnisse und
Fähigkeiten; er entscheidet sich
für bestimmte Handlungen und
gegen andere; er trägt Verantwortung, kann schuldig werden
und muss Rechenschaft für sein
Tun und Lassen ablegen. Er ist
ein Lebewesen, das in sich ein
bestimmtes Streben, ein Auf-etwas-aus-sein, trägt, das im Fluss
der Zeit Beständiges sucht, sich
nach seinem Schöpfer sehnt und
auf dessen Erbarmen angewiesen
bleibt.
Islamisches und
christliches
Menschenbild –
Gemeinsamkeiten und
Unterschiede
Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede, wie Christen und Muslime ihr „Menschsein“ verstehen.
Grundlage dieses Verständnisses
sind die Schöpfungsberichte im
Alten Testament und im Koran.
Aus der „Geschöpflichkeit“ und
der „Gottesebenbildlichkeit“ leiten sich Würde und Auftrag des
Menschen gegenüber Gott und
der Gesamtschöpfung für das
christliche Menschenbild ab.
Geschöpf Gottes –
Würde des Menschen
Der Mensch ist ein Geschöpf
Gottes nach christlichem wie nach
islamischem Verständnis. Diese
Gemeinsamkeit ist ein Fundament,
eine gemeinsame Wurzel der drei
abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.
Aus Sicht des Islams sind alle Menschen trotz aller natürlichen und
kulturellen Unterschiede in ihrer
Geschöpflichkeit gleich: Mann
und Frau, Erwachsene und Kinder,
Greise und Minderjährige, Gläubige und Ungläubige. Alle Menschen
sind in ihrer menschlichen Grundwürde gleich, daher gebührt ihnen eine gerechte Behandlung.
Von der grundsätzlichen Würde
des Menschen als Geschöpf Gottes
spricht der Koran in der Sure 17,
70: „Und Wir haben den Kindern
Adams Ehre erwiesen ... Und Wir
haben sie vor vielen von denen,
die Wir erschaffen haben, eindeutig bevorzugt.“ Rotraud Wielandt, Professorin für Islamkunde
und Arabistik an der Universität
Bamberg, bemerkt dazu kritisch:
„Stark traditionalistisch orientierte Theologen sprechen zwar
auch von der ‚Menschenwürde‘,
zeigen aber vielfach, dass sie sich
diesen Begriff nicht sachlich angeeignet haben, selbst da, wo
dies in der schon angedeuteten
Weise vom Koran her möglich
wäre. Sie stellen nämlich einen
Konnex her zwischen Würde und
vorgängiger Pflichterfüllung des
Menschen, indem sie sagen, dass
dem Menschen diese Würde nur
in dem Maße zuteil wird, wie er
die Gebote erfüllt. Eine derartige
Interpretation widerspricht jedoch dem Begriff der Menschenwürde.“
Ähnlich wie im Diskurs christlicher
Theologen verschiedener Konfessionen sind muslimische Theologen nicht immer einer Meinung.
Festzuhalten ist, dass der Mensch
im Schöpfungsplan Gottes eine
Sonderstellung einnimmt. Diese
– man könnte auch sagen – Bevorzugung des Menschen in der
Schöpfung macht eine Beziehung
von Gott zu den Menschen deutlich, die deren besondere Würdigung in der Zusammenschau der
Gesamtschöpfung ausmacht. Kurz
gesagt, die Würde des Menschen
ist die Ableitung göttlicher Schaffenskraft. Diese fundamentale
theologische Aussage ist dem islamischen und dem christlichen
Menschenbild gemeinsam.
Gottesbildlichkeit und
Verantwortung
Nach christlich-jüdischem Verständnis ist der Mensch das Abbild Gottes. Im Schöpfungsbericht
des Alten Testaments (Gen 1, 2728) heißt es: „Gott schuf also den
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Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid
fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie
euch und herrscht über die Fische
des Meeres, über die Vögel des
Himmels und über alle Tiere, die
sich auf dem Land regen.“
Hierarchische
Beziehung zwischen
Gott und Mensch
Die hier beschriebene Ebenbildlichkeit des Menschen im christlich-jüdischen Verständnis zeigt
auf der einen Seite eine hierarchische Struktur der Beziehung
Gottes zu den Menschen mit
einem klaren Auftrag von Gott
her. Auf der anderen Seite wird
die partnerschaftlich-dialogische
Seite der Beziehung Gottes zu
den Menschen deutlich. Gott
überträgt dem Menschen die Verantwortung über seine Schöpfung
und stellt ihn an deren Spitze.
Hierbei setzt Gott in den Menschen großes Vertrauen. Dieses
Vertrauen ist nur durch Gottes
Liebe zu den Menschen möglich.
Der Mensch als von Gott geliebtes
Geschöpf ist Gottes Abbild – sein
Ebenbild. Deshalb ist es möglich,
dass sich der Mensch als Kind
Gottes betrachten kann.
Im Koran hingegen ist der Begriff
der Gottesebenbildlichkeit oder
des Abbildes Gottes nicht anzutreffen. In der islamischen Überlieferung, so Rotraud Wielandt, ist er
jedoch nicht völlig abwesend, da
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er im Haddith (Überlieferung von
Gewährsmännern Mohammeds)
bei einer Autorität bezeugt ist,
die allerdings von muslimischer
Seite als nicht glaubwürdig eingestuft wird. Den Grund dafür kann
man darin sehen, dass der Begriff der Gottesebenbildlichkeit
die Versuchung in sich bergen
könnte, die vom Islam so stark betonte Grenze zwischen Geschöpf
und Schöpfer zu verwischen und
den Menschen in einer Weise als
gottähnlich darzustellen, die die
Einzigkeit Gottes in Frage stellen
könnte.
Die hier erfolgende Abgrenzung
zwischen Gott und den Menschen
ergibt eine stark theozentrische
Beziehung. Man könnte auch
sagen, dass der Mensch einen
stark servilen Charakter gegenüber Gott einnimmt. Zwar hat der
Mensch im islamischen Verständnis ebenfalls den Auftrag, Gottes
Schöpfung zu bewahren – allerdings als von Gott eingesetzter
„Verwalter“ ohne partnerschaftliche Beziehung zum „Auftraggeber“.
Zum besseren Verständnis könnte
man eine Analogie aus dem militärischen Sprachgebrauch herstellen, nämlich die zu Befehls- und
Auftragstaktik. In der Befehlstaktik gilt die genaue Umsetzung der
vom Befehlshaber geforderten
Befehle. Die Auftragstaktik lässt
hingegen eigenverantwortliches
Handeln je nach Situation und militärischer Lage bis auf die unterste Führungsebene zu.
Festzuhalten ist, dass Gottese-
benbildlichkeit nach christlichjüdischem Verständnis immer
Eigenverantwortung auf der
Grundlage vertrauensvoller und
partnerschaftlicher
Beziehung
zwischen Gott und den Menschen
bedeutet.
Dem Islam ist die Gottesebenbildlichkeit suspekt, da sie für
die Muslime die Versuchung der
Gottähnlichkeit impliziert und damit der absolute Respekt vor Gott
verloren gehen könnte.
Der Unterschied in dieser Frage
scheint für das Menschenbild im
islamischen und christlichen Sinne
mitunter weitreichend zu sein, da
sich in den praktischen Vollzügen
menschlichen Zusammenlebens
wie z. B. in der Kultur, in Frömmigkeit und Politik die christliche und
die muslimische Welt auseinanderentwickelt haben und sich teilweise fremd geworden sind.
Das islamische
Menschenbild ist
anders
hinzuschauen und nicht nur extreme Positionen zum Thema
„Menschenwürde“ im interreligiösen Dialog und in der politischen
Diskussion heranzuziehen.
Unüberbrückbar scheint die Vorstellung, dass der Islam die Gottesebenbildlichkeit ablehnt. Damit unterliegt der Mensch dem
„unbedingten“ Gehorsam gegenüber Gott und kann sich damit
nicht im westlichen Sinne eigenverantwortlich entfalten.
Ob es allerdings der westlichen
Welt
mit ihren jüdisch-christlichen Wurzeln zum Vorteil gereicht hat, sich durch so genannte
Eigenverantwortlichkeit von Gott
zu emanzipieren, müsste an anderer Stelle diskutiert werden.
F-PB
Auflösung des „zum Thema"Rätsels aus Heft 02/2006
... als die christliche Vorstellung
vom „Menschsein“. Dennoch
ist die Überzeugung, dass der
Mensch Geschöpf Gottes ist, die
beiden Religionen gemeinsame
Basis.
In Fragen der Menschenrechte,
insbesondere der Unantastbarkeit
der Menschenwürde, ist in Nuancen ein Unterschied feststellbar,
wobei es in der islamischen Gelehrtenwelt keinen verbindlichen
Konsens gibt. Hier gilt es genauer
Lösungswort: WELTFRIEDEN
17.10.2006 11:00:52 Uhr
zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6
13
Impressum
zum Thema –
Themenheft für Soldaten zum
Lebenskundlichen Unterricht
Herausgeber:
Katholisches Militärbischofsamt
Am Weidendamm 2, 10117 Berlin
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Verlag:
MEDIKOM Gesellschaft für Medien
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Fax: (0221) 990 33-299
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Sabine Heines
Fon: (0221) 990 33-210
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Karl Marx
Der Mensch ist das Ensemble der gesellschaftlichen
Verhältnisse. Erst durch eine Revolution dieser
Verhältnisse, d. h. die Beseitigung des Privateigentums,
kann der Mensch sich von aller Entfremdung befreien.
Herrlichkeit und Ehre gekrönt.
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Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Men-
ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit
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Psalm 8, 5-6
schen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast
Texte:
Manfred Suermann (MS), Frank Peter
Bitter (F-PB), Thomas Elßner (TE),
Petra Hammann (PH)
Baron de Montesquieu
Zwei Arten von Menschen:
Die einen denken,
die anderen amüsieren sich.
Kardinal Karl Lehmann
Es geht uns darum, dem Traum vom perfekten Menschen zu widersprechen
– einem Traum, der letztlich zutiefst inhuman ist:
Nur allzu schnell wird der Mensch, der immer ein unvollendetes und daher
auch unvollkommenes Wesen ist, dabei zum Schadensfall,
zur vermeidbaren Belastung oder zum untragbaren Versicherungsrisiko.
Bilder:
S.1 Zentaur: Getty Images/Cal State
California History Collection,
S. 3 Moses: Getty Images/The Bridgeman Art Library, S. 4 Mädchen: stock.
xchng, S. 6 Hände von Gott und
Adam: Getty Images/ The Bridgeman
Art Library, S. 7 Eva: Getty Images/
Jenny Holm, S. 11 Mann hält die
‚Bibel‘ und Person hält den ‚Koran‘:
Getty Images/Steve Wisbauer, Nahaufnahme Kreuz: Getty Images/Purestock, Palästinenserin: Getty Images/
Abid Katib, S. 13 zwei Mädchen:
stock.xchng, S. 15 Schatten: stock.
xchng, S. 16 Temporary Blindness:
Getty Images/Oliver Bevan
Friedrich Hebbel
Der Mensch ist ein Blinder,
der vom Sehen träumt.
Immanuel Kant
Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an
sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder
Jean-Paul Sartre
Der Mensch ist nichts anderes,
als wozu er sich macht.
zum Thema_Ausgabe3.indd 13
jenen Willen, sondern muss in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch
auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als
Zweck betrachtet werden.
17.10.2006 11:00:53 Uhr
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0 3 / 2 0 0 6 • zum Thema Menschenbilder
Menschenbilder im Wandel oder in der Kontinuität?
Ein Sprint durch Geschichte, Philosophie und Theologie
Maßstab Mensch
Er liegt schon sehr lange auf
meinem Regal. Immer wieder
einmal nehme ich ihn in die
Hand, räume ihn von einer Ecke
in die andere, ohne so recht zu
wissen, was ich mit ihm anfangen soll. Zum Wegwerfen ist er
mir irgendwie zu schade, billig
war er auch nicht gerade. Aber
jetzt, wo ich mir zu Menschenbildern Gedanken machen soll,
kommt er mir gerade recht, mein
„Maßstab Mensch“. Genauer gesagt ist der Maßstab ein Zollstock
oder, wie man in Bayern sagt, ein
Meterstab. Er beginnt im Jahre 0
(das es nach unserer christlichen
Zeitrechnung natürlich gar nicht
gibt) mit der Geburt des Gottmenschen Jesus von Nazareth.
„Feindesliebe“ steht da als Stichwort. Das ist sicher nicht das Einzige, was man über Jesus sagen
kann, aber vielleicht das Revolutionärste im Vergleich zu den
Menschenbildern der Antike, wo
sich die Philosophen vorwiegend
mit dem Verhältnis von Leib und
Geist, Individuum und Staat auseinandersetzten.
Weiter geht es mit Riesenschritten auf meinem Meterstab: „Wirble nicht wie ein Kreisel herum“,
meint Marc Aurel im Jahre 150.
Das passt auch heute noch. Man-
zum Thema_Ausgabe3.indd 14
che Dinge ändern sich eben nie.
„Erblicke den Geist als das eigene
Selbst“ – der Neuplatoniker Plotin (ca. 205-270) ist keine leichte
Kost. Plotin verstand sich als Asket, der so weit ging, dass er sich
sogar seiner physischen Erscheinung schämte.
Der Heilige Augustinus (354-430)
war dagegen in jungen Jahren bis
zu seiner Bekehrung alles andere
als ein Kostverächter. Vielmehr
hat er die Höhen und Tiefen des
menschlichen Lebens kennen gelernt. Kein Wunder also, wenn er
zu sich selber sagt: „Wer bist du?
Und ich antwortete: Ein Mensch.
Und siehe, der Leib und die Seele
sind mir gegenwärtig, das eine
draußen, das andere drinnen.
... Doch besser ist, was drinnen
ist.“ Der Mensch, das sich selbst
fremde Wesen. Doch hier bleibt
Augustinus nicht stehen, sondern
kommt, so belehrt mich mein Meterstab, zu der Erkenntnis: „Gott
ist mir näher als ich selbst.“ Das
erinnert mich an Augustins berühmten Ausspruch: „Unruhig ist
unser Herz, bis es Ruhe findet bei
dir.“
Die Zeit der Völkerwanderung
überspringend, bin ich auf mei-
nem Meterstab schon im frühen
Mittelalter angelangt. Im Islam
des siebten Jahrhunderts, also zu
Zeiten Mohammeds, entwickelt
sich nun ein ganz neues Menschenbild. Christen wie Muslime verstehen sich als Geschöpfe
Gottes. Doch könnte der Mensch
im Islam niemals „Teilhaber der
göttlichen Natur“ (1. Petrusbrief
1, 4) werden, sondern bleibt stets
von seinem Schöpfer getrennt.
Jeder Mensch verstehe sich als
ein „muslim“, als ein „sich Gott
Ergebender“, ein Diener, der
aufgefordert ist zu völliger Hingabe seiner selbst an Gott. Diese Grundhaltung von Gehorsam
und Unterwerfung steht der
christlichen Berufung zur Freiheit
(Galaterbrief 5, 13) fast konträr
gegenüber. Der Gehorsam gegenüber Gottes unveränderlichen
Geboten ist ein anderer als der
des liebenden und geliebten Kindes gegenüber dem Vater. Diese
unterschiedlichen Vorstellungen
von Gehorsam setzen sich fort im
Verhältnis zu den Mitmenschen:
Allenfalls den Angehörigen der
monotheistischen
Religionen
spricht der Islam die volle Würde
der Person zu. Auch wenn sich
Kirchengeschichte manchmal anders darstellte, ist der Christ dazu
aufgerufen, in jedem Menschen
Gottes Ebenbild und damit seine
Schwester oder seinen Bruder zu
entdecken und zu achten.
Diese Ebenbildlichkeit bestätigt
Maximus Confessor (der „Bekenner“, 580-662): „Gott und Mensch
nehmen einander zum Vorbild.“
Auf die Spitze getrieben wurde
das in der Person Jesu Christi, der
Gott, der Mensch wurde.
Johannes Scotus Eriugena (ca.
810-877) klingt dagegen schon
wieder resignierend wie Augustinus. „Der Mensch kennt sich
selbst und kennt sich auch nicht“,
behauptet jener; „für mich selbst
war ich ein großes Rätsel geworden“, bemerkt dieser. Mit Selbstund Gotteserkenntnis beschäftigten sich aber nicht nur die
gesamte mittelalterliche Philosophie und Theologie. „Mensch, erkenne dich selbst“, fordern heute
Sahaja Yoga ebenso wie Esoterikbücher oder kostspielige Selbsterfahrungskurse. Alte und neue
Meditationsübungen
boomen,
manchmal durchschaut man nur
schwer, wes Geistes Kind sie sind.
Im Hochmittelalter, in dem ich
mittlerweile auf meinem Meterstab angelangt bin, stoßen
unterschiedliche Vorstellungen
17.10.2006 11:00:53 Uhr
zum Thema Menschenbilder • 0 3 /2 0 0 6
aufeinander – und damit auch
Gottes- und Menschenbilder. „Ich
glaube, um zu verstehen“ (Anselm von Canterbury, 1033-1109)
ist etwas anderes als „Erkenne
dich selbst“ und „Nichts darf geglaubt werden, was ich nicht verstehe“ (Petrus Abaelardus, 10791142). Die Beziehung Mensch
– Gott lässt sich offenbar nicht
vom Menschenbild isolieren. In
dieser unauflöslichen Spannung
steht der Gläubige wie der Atheist. Die Gretchenfrage an Faust:
„Sag, wie hast Du’s mit der Religion?“ muss jeder irgendwann
beantworten, spätestens, wenn
er nach sich selber fragt.
Doch noch bin ich im (späten)
Mittelalter; die Mystiker haben
Hochkonjunktur. Hier finde ich
auf meinem Meterstab erwähnt
eine Hildegard von Bingen, die
entgegen dem damaligen Trend
den Menschen auch mit seiner
Leiblichkeit in den Blick nimmt,
oder einen Meister Eckhart, der
das Jesuswort „Werde wie ein
Kind, werde taub, werde blind“
aufnimmt.
Viele weitere große Denker des
Mittelalters wären noch zu nennen: der Kirchenlehrer Thomas
von Aquin, Albert der Große ...
zum Thema_Ausgabe3.indd 15
Nicht zu vergessen die Gründung von Universitäten, die Entdeckungen eines Marco Polo ...
Weit verbreitet ist aber vielmehr
die Vorstellung von einem naiven, da nicht aufgeklärten mittelalterlichen Menschen, der, eingezwängt in seinen Stand und
unterdrückt von staatlichen und
kirchlichen Mächten, bildungsarm und pestbedroht sein Dasein
fristet. Die Leistungen in Handwerk und Kunst, die Fortschritte
in Wissenschaft und Theologie
geraten da schnell aus dem Blick.
Mit der Aufklärung freilich – ich
rase durch die Geschichte meines
Meterstabs – verschiebt sich der
Blickwinkel auf den Menschen.
Descartes‘ berühmtes „Cogito sum“ („Ich denke, [also] bin
ich“) leitet eine neue Ära ein, in
der deutlicher als je zuvor wird,
wie stark Menschen-, Gottesund Weltbild zusammenhängen.
Leibniz („Der Geist ist eine kleine Gottheit“), die Aufklärer der
Französischen Revolution, Hegel
sind nur wenige Beispiele, die
jetzt als Gegenbewegung zur bisherigen Philosophie und Theologie die (aufgeklärte!) Vernunft
und damit ein Stück weit den
Menschen selbst vergotten.
Die Moderne, 180 Zentimeter auf
dem Meterstab, geht einen Schritt
weiter und nimmt stärker den
Menschen in einer stetig zusammenrückenden Welt in den Blick.
Während Kierkegaard (1813-1855)
davon spricht, dass der Mensch
das Selbst ist, und Wittgenstein
(1889-1951) meint: „Ich bin meine
Welt“, betont der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (18781965), dass das Ich (nur) am Du
wird. Hier enden die 200 Zentimeter meines Meterstabes abrupt.
Das Menschenbild der so genannten Postmoderne, in der wir jetzt
stecken, scheint noch nicht hinreichend klar zu sein. Ist es das einer
Mutter Teresa, also das Antlitz der
Ausgestoßenen und Aussätzigen?
Oder das eines Johannes Paul II.,
der unermüdlich die Personwürde
eines jeden Menschen vom Lebensbeginn an bis zu seinem Ende
betonte? Oder eher das – ich karikiere – des Selbstverwirklichten,
der, ganz postmodern, nicht egoistisch, aber einem unbestimmten
Humanismus ohne Gott anhängend, andere, anything goes, toleriert und selbst respektiert werden möchte?
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Welchen Maßstab müssen wir an
uns anlegen, welchen legen andere an uns an?
Blieb das Menschenbild immer
gleich oder gibt es mehrere davon,
und wandeln sich diese im Laufe
der Geschichte? Das Bild, das wir
uns vom heutigen Menschen, also
von uns selbst machen, ist, egal mit
welcher „Brille“ betrachtet, sicher
nicht dasselbe wie das vor mehreren hundert Jahren. Zweifellos
stehen wir aber in geschichtlicher,
philosophischer und religiöser
Kontinuität. Viele Grundfragen
wie das Verhältnis Geist – Seele
– Leib, Glaube – Vernunft, Mensch
und Gott, Ich und Du, Individuum und Kollektiv werden immer
wieder gestellt und freilich immer
wieder anders, aber nie völlig neu
beantwortet. Die Bewertung dieser bunten Menschen-Bilder kann
dabei einem biblischen Grundsatz
folgen: Alles ist zu prüfen, das
Gute zu behalten (1. Thessalonicherbrief 5, 21), um das Wahre,
Wesentliche und Identische zu bewahren und in personalen Beziehungen zu entfalten.
PH
17.10.2006 11:00:53 Uhr
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Franz Kafka: Heimkehr
Das Menschenbild in der
Literatur – ein Beispiel
Ich bin zurückgekehrt, ich habe
den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters
alter Hof. Die Pfütze in der Mitte.
Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den
Weg zur Bodentreppe. Die Katze
lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um
eine Stange gewunden, hebt sich
im Wind. Ich bin angekommen.
Wer wird mich empfangen? Wer
wartet hinter der Tür der Küche?
Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich,
fühlst du dich zu Hause? Ich weiß
es nicht, ich bin sehr unsicher.
Meines Vaters Haus ist es, aber
kalt steht Stück neben Stück, als
wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich
teils vergessen habe, teils niemals
kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich
auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an
der Küchentür zu klopfen, nur von
der Ferne horche ich, nur von der
Ferne horche ich stehend, nicht
so, daß ich als Horcher überrascht
werden könnte. Und weil ich von
der Ferne horche, erhorche ich
nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn
vielleicht nur zu hören, herüber
aus den Kindertagen. Was sonst
in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das
sie vor mir wahren. Je länger man
vor der Tür zögert, desto fremder
wird man. Wie wäre es, wenn jetzt
jemand die Tür öffnete und mich
etwas fragte. Wäre ich dann nicht
selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.
zum Thema_Ausgabe3.indd 16
Das biblische „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ hat in der abendländischen Geistesgeschichte tiefe
Spuren hinterlassen. Besonders in
der Kunst begegnet einem dieses
Motiv immer wieder. Dürer, Rembrandt und andere haben sich
diesem Thema immer wieder zugewandt. Vor allem die Heimkehr
zum Vater, die liebevolle Aufnahme in die Geborgenheit beim Vater fanden immer wieder ihren
wunderbaren Ausdruck.
Verlorenheit: Thema
des 20. Jahrhunderts
Das änderte sich im 20. Jahrhundert. Die Verlorenheit wurde zum
beherrschenden Thema. Seinen
wohl radikalsten Ausdruck fand
das Motiv bei Rodin. Während
bei Dürer der verlorene Sohn, der
bei den Schweinen gelandet war,
noch betete und dabei den Blick
auf eine im Hintergrund sichtbare
Kirchturmspitze richtete, ist der
Verlorene bei Rodin wirklich einsam und verlassen. „Der Schrei“
hieß das Kunstwerk zunächst,
aber es ist keiner mehr da, der ihn
hören könnte.
Auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts hat das Thema mehrfach seinen Niederschlag gefunden. Rilke nahm sich seiner an in
den „Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge“ und André Gide
gestaltete es in einer seiner Meistererzählungen. Hier ist der Sohn
zwar wieder heimgekehrt, aber
– wie aus dem Dialog mit dem jüngeren Bruder, einer neu hinzugefügten Figur, hervorgeht – er weiß
letztlich keinen Grund dafür an-
zugeben. Dem Jüngeren, der auch
unbedingt fort und seine Freiheit
bzw. Unabhängigkeit erlangen
will, signalisiert er Resignation
und Enttäuschung „über die Welt
da draußen“ und über sich selbst.
Er ist ein an der Freiheit Gescheiterter.
Kafkas Heimkehr
Auch die Kurzgeschichte „Heimkehr“ von Franz Kafka wird bei
der Rezeption des biblischen
Gleichnisses in der Literatur des
20. Jahrhunderts immer wieder
genannt. Nur wissen wir nicht,
ob Kafka die biblische Erzählung
überhaupt gekannt hat. Für einen Juden, der seine Wurzeln im
osteuropäischen Judentum hatte,
dürfte das Neue Testament nicht
zur bevorzugten Lektüre gehört
haben. Dennoch, die Thematik
„Heimat haben bei Gott oder
verloren sein ohne Gott“ betrifft
Altes wie Neues Testament gleichermaßen. Und insofern kann
die Erzählung mit einer gewissen
Berechtigung
hinzugenommen
werden. Welches Menschenbild
offenbart die Geschichte? Der
Heimkehrer hat zwar den Weg
nach Hause gefunden, er weiß, wo
seine Heimat ist, aber eine wirkliche Heimkehr findet nicht statt.
Er bleibt außen vor, den Weg ins
Innere, in die Geborgenheit der
Gemeinschaft, findet er nicht;
dazu müsste er die Küchentür öffnen, aber das wagt er nicht. Es ist
seines Vaters Haus, das weiß er,
aber ihm ist zugleich alles fremd.
„Herüber aus den Kindertagen“
kommen noch Erinnerungen, aber
das war einmal; damals hatte für
ihn alles noch Bedeutung, heute
kommt es ihm so vor, „als wäre
jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt“ und habe
mit ihm nichts mehr gemein. So
findet der Heimkehrer keine Heimat mehr vor, keinen Ort, wo er
hingehört. Es ist der entwurzelte,
letztlich vereinsamte Mensch. Aus
der Geborgenheit der Religion, d.
h. der Rückbindung an Gott, ist er
herausgefallen.
MS
17.10.2006 11:00:55 Uhr
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