THEMEN DER ZEIT TAGUNGSBERICHT IX. Internationaler Aids-Kongreß in Berlin Fortschritt in kleinen Schritten Der IX. Internationale Aids-Kongreß in Berlin übertraf mit der Zahl der Teilnehmer, Vorträge und Postervorstellungen alle vorangegangenen Veranstaltungen. Doch der wissenschaftliche Austausch verdeutlichte, daß sich die Forschung über Pathogenese und Therapie der HIV-Infektion nur noch in kleinen Schritten vollzieht — zum Leidwesen der Betroffenen, die mit zahlreichen Aktionen auf ihre Probleme aufmerksam machten. Der folgende Bericht greift einzelne aktuelle Konzepte auf. Nach Schätzungen der WHO sind weltweit derzeit 13 Millionen Erwachsene und eine Million Kinder mit HIV infiziert — wobei die höchsten Zuwachsraten in Südostasien und Lateinamerika verzeichnet werden. Etwa die Hälfte der Neuinfektionen betrifft junge Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. Gleichzeitig entwickeln immer mehr Infizierte das Vollbild Aids. Inzwischen gibt die WHO die Zahl der Aidskranken mit 2,5 Millionen an — das sind 20 Prozent mehr als im Jahr 1992 (am 31. März 1993 in Deutschland 9 697, davon 5 288 verstorben). Virologie Einen interessanten Forschungsansatz, wie man eine Infektion der Immunzellen mit HIV überhaupt verhindern kann, bot Dr. Robert Gallo vom National Cancer Institute (Bethesda, USA) in Berlin: Das für Menschen harmlose Herpesvirus Typ 7 (HHV-7) besetzt auf den Lymphozyten die gleiche Bindungsstelle wie HIV, den CD4-Rezeptor. „Dies ist der erstmalige Nachweis, daß zwei verschiedene Virusarten denselben Rezeptor benutzen", erklärte Gallo in Berlin. Zumindest im Reagenzglas gelang es seinem Team, die CD4-Bindungsstellen mit Herpesviren zu besetzen, so daß für HIV keine „Andockstelle" mehr zur Verfügung stand. „Unsere Untersuchungen haben aber nicht zum Ziel, die Viruserkrankung Aids mit einem anderen Virus zu behandeln", betonte Gallo. Derzeit prüft Mitarbeiter Dr. C. Lusso, ob eine HIV-Infektion von Zellkulturen mit rekombinanten Oberflächenproteinen des Herpesvirus, die mit dem Aids-Erreger um den CD4Rezeptor konkurrieren, verhindert werden kann. Pathogenese Warum gibt es HIV-Infizierte, die noch 15 Jahre nach der Virusübertragung keine Krankheitszeichen aufweisen, während andere bereits nach fünf bis zehn Jahren am Vollbild Aids erkrankt sind? Dazu gibt es verschiedene Theorien: Obwohl sich HIV unmittelbar nach Infektion in großen Mengen im Blut nachweisen läßt, nimmt die Viruskonzentration innerhalb weniger Wochen rapide ab. Die Erreger „verstecken" sich nun in den Lymphknoten. „Interessant ist dabei", so Dr. Jay Levy (Universität of Califonia, San Francisco) in Berlin, „daß zwar bis zu 30 Prozent der dort ansässigen CD4-Lymphozyten HIV enthalten, aber nur eine von 400 dieser weißen Blutkörperchen damit beschäftigt ist, den Erreger zu vermehren". Diese Befunde deuten darauf hin, daß der menschliche Körper während der Latenzphase über einen Abwehrmechanismus verfügen muß, mit dem das Virus an der Replikation gehindert wird. Nach individuell unterschiedlichen Zeiträumen geht diese Kontrolle jedoch verloren, und im Blut erscheinen „aggressive" A1 - 2058 (26) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 30, 30. Juli 1993 HIV-Varianten, die den fatalen Verlauf dieser Infektionskrankheit beschleunigen. Dieses „Umkippen" des Systems wird an einem plötzlichen Abfall der CD4-Lymphozyten im Blut erkennbar. Weltweit versuchen die Forscher, das Phänomen dieses Zellverlustes aufzuklären. Sowohl die direkte Zerstörung infizierter Lymphozyten (zytopathischer Effekt) durch HIV als auch eine Riesenzellbildung durch Fusion infizierter und nichtinfizierter Zellen kann zur Verminderung der absoluten Zellzahl führen. Möglich sind auch Kreuzreaktionen von HIV-Antikörpern mit MHCKlasse-Il-Molekülen, welche die Wechselwirkung zwischen Antigenpräsentierenden Zellen und der Antigen-spezifischen Zellfunktion stören. Prof. Luc Montagnier (PasteurInstitut, Paris) zieht den Mechanismus des programmierten Zelltodes in Erwägung. Danach streift HIV sein Oberflächenprotein gp 120 ab, das sich nun allein an den CD4-Rezeptor der Lymphozyten heftet. Damit wurde die Zelle zwar nicht infiziert, aber sensibilisiert. Kommt es zu einer zusätzlichen Bindung von Aktivierungsantigenen oder Superantigenen (wie Mykoplasmen) am gleichen Rezeptor, wird ein Enzym aktiviert, welche die zelleigene DNS zerschneidet (Endonuklease) und zum Tod des Lymphozyten führt. Für den Verlust der CD4-Lymphozyten scheinen auch HIV-infizierte Makrophagen eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen. Im Tiermodell wurde nachgewiesen, daß infizierte Makrophagen verschiedene Cytokine in einem anderen Mengenverhältnis freisetzen, als dies normalerweise der Fall ist. Sie produzieren größere Mengen von Tumornekrosefaktor und setzen weniger Interleukin-1 frei. Dadurch könnte den CD4Zellen das fatale Signal vermittelt werden, sich selbst zu zerstören. Doch es existiert auch eine Zellpopulation im menschlichen Organismus, die HIV „in Schach" zu halten vermag: Mehrere Forschungsgruppen haben bewiesen, daß CD8 + -Lymphozyten die Virusreplikation unterdrücken, ohne die infizierten CD4-Lymphozyten und Ma- THEMEN DER ZEIT TAGUNGSBERICHT / KURZBERICHT krophagen zu zerstören. Mit fortschreitender Immunschwäche nimmt ihre Konzentration im Blut jedoch ab. CD8 + -Lymphozyten werden in großer Zahl auch bei gesunden Kindern beobachtet, deren Mütter HIVinfiziert sind. Die Art der Immunantwort — ob vorwiegend zellulär oder humoral — wird wahrscheinlich auch durch zwei Untergruppen der CD4-Lymphozyten beeinflußt: Während TH1CD4-Zellen Cytokine bilden, welche die zelluläre Abwehr stimulieren (Interleukin-2 und Interferon-Gamma), induzieren TH2-CD4-Zellen die Bildung von Antikörpern (durch Freisetzung von Interleukin-4 und Interleukin-10). Normalerweise befinden sich beide Zellpopulationen in einem Gleichgewicht. Wird eine der beiden Zelltypen überaktiv, unterdrücken seine Cytokine die Produktion der anderen. Im Labor konnte nachgewiesen werden, daß Lymphozyten von HIV-infizerten Personen weniger TH1-spezifische Cytokine freisetzen — was im Organismus eine verminderte zelluläre Immunantwort zur Folge hat. Langzeitüberlebende zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit „harmloseren" HIV-Varianten infiziert sind und eine ausgeprägte Aktivität der TH1- und CD8 + -Lymphozyten aufweisen. Außerdem beobachtet man nur geringe Viruskonzentrationen im Blut sowie das Fehlen von „enhancing antibodies". Diese Antikörper sind „fehlgeleitet", denn anstatt HIV zu neutralisieren, ermöglichen sie es dem Virus, Makrophagen und T-Lymphozyten über besondere Bindungsstellen zu infizieren. Latenzphase Lange Zeit wurde unterschätzt, daß während der Latenzphase der HIV-Infektion in den Lymphknoten immunologische Veränderungen stattfinden, die das Fortschreiten der Erkrankung beeinflussen. Bereits seit 1986 betonen Prof. Paul Racz und Dr. Klara Tenner-Racz vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (Hamburg), daß die Keimzentren der Lymphknoten ein wichtiges Vi- rusreservoir darstellen. Ihre Befunde wurden kürzlich durch Einsatz neuer, hochsensibler Techniken (zum Beispiel Polymerasekettenreaktion) bestätigt und untermauert (Arbeitsgruppe Fauci; NIAID, Bethesda). Für die HIV-Infektion der Keimzellen sind follikuläre dendritische Zellen (FDC) verantwortlich, deren physiologische Aufgabe es ist, Antigen-Antikörper-Komplexe an ihrer Oberfläche zu binden und diese immunologisch aktiven Zellen, die ein bevorzugtes Angriffsziel von HIV sind, darzubieten. Diese Funktion wird von HIV ausgenutzt. Da die wichtigsten Zielzellen des Virus, die T-Helferzellen, auch durch die Keimzentren wandern, ist es möglich, daß diese Zellen durch dargebotenes HIV in den Lymphknoten infiziert werden. Dies hat zur Folge, daß die Zahl der HIV-infizierten T-Lymphozyten in den Lymphknoten 10 mal 15 höher ist als im peripheren Blut. Hierbei handelt es sich allerdings um eine latente Infektion: Der Erreger nistet sich zwar in den Lymphozyten ein, vermehrt sich aber (noch) nicht. Latent infizierte Zellen produzieren daher kaum virale Antigene, die von der Immunabwehr erkannt werden können. Die Arbeitsgruppen um Prof. Racz und Prof. A. Haase (Universität Minnesota, Minneapolis) konnten nachweisen, daß in allen Stadien der HIV-Infektion im Lymphknoten eine außergewöhnlich hohe Zahl von latent infizierten Lymphozyten und Makrophagen („Freßzellen") vorhanden ist. Im Gegensatz dazu werden follikulär dendritische Zellen nicht infiziert (Dr. Jörn Schmitz, Hamburg). Es kommt lediglich zu einer vorübergehenden Bindung von HIV an ihrer Oberfläche. Dr. med. Vera Zylka-Menhorn Diabetes: GSG bringt Verbesserungen „Die gesundheitspolitische Bilanz ist negativ" — diese Feststellung traf die Bundesregierung im Hinblick auf die Lage der diabeteskranken Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Auf eine kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten zu diesem Thema räumte die Regierung ein, daß es unbestreitbar Defizite in der Versorgung der chronisch kranken Menschen gebe. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz GSG seien verbesserte Rechtsgrundlagen geschaffen worden, um chronische Erkrankungen zu verhindern, frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. 4) So werde der besonderen gesundheitspolitischen Bedeutung der Gesundheitsuntersuchung in dem neuen Gesetz dadurch Rechnung getragen, daß die ärztlichen Leistungen einem gesonderten Teilbudget mit überproportionalem Zuwachs zugeordnet werden. Für den Bereich der Behandlung sei im GSG vorgesehen, ärztliche Leistungen zu Leistungskom- plexziffern zusammenzufassen. Darüber hinaus sollen fallbezogene Bewertungen für die üblicherweise von Hausärzten erbrachten Leistungen eingeführt werden, um diese im Vergleich zu technischen Leistungen höher bewerten zu können. Im Bereich der Unterstützung von Selbsthilfegruppen sei seit dem 1. Januar 1993 durch das Gesundheitsstrukturgesetz auch die Möglichkeit geschaffen worden, Selbsthilfegruppen und Kontaktstellen mit einer gesundheitsfördernden oder rehabilitativen Zielsetzung durch Zuschüsse zu fördern. Darunter fallen zum Beispiel die Förderung von Modellvorhaben zur Prävention beziehungsweise Früherkennung von Spätkomplikationen sowie zur Qualitätssicherung in der allgemeinärztlichen Praxis; ferner die Fortentwicklung der Diabetikerschulung sowie Forschungsvorhaben über die Ursachen des Diabetes mellitus und die Möglichkeiten einer verbesserten Behandlung. EB Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 30, 30. Juli 1993 (27) A1-2059