DOKTOR FAUST Oper von Ferruccio Busoni Spielzeit 2016/17 DIE HANDLUNG Symphonia Oster-Vesper und Frühlings-Keimen. 1. Vorspiel Nach einem Vorwort des Dichters sieht man den Gelehrten Doktor Faust in seinem Studierzimmer. Drei Krakauer Studenten, von Fausts Famulus Wagner angemeldet, überreichen das Buch „Clavis Astartis Magica“. 2. Vorspiel Faust ruft Dämonen mit Hilfe des Buches herbei. Doch erst der letzte Geist, Mephistopheles, erweist sich als nützlich, indem er Fausts Gläubiger tötet. Während man überall das Osterfest feiert, verschreibt sich Faust nicht ganz ohne Gewissensbisse dem Teufel. Intermezzo In einer Wittenberger Kapelle betet ein Soldat, dessen Schwester von Faust verführt und verlassen worden ist. Die Rache des Mannes fürchtend, sucht Faust die Hilfe Mephistos, der dafür sorgt, dass der Soldat von einem Leutnant als angeblicher Mörder umgebracht wird. 1. Bild Faust, inzwischen ein berühmter Magier, erscheint mit Mephistopheles auf der Hochzeit des Herzogs von Parma. Faust führt Gaukelspiele vor und erweckt Gestalten aus der Bibel zum Leben. Zum Ärger ihres Gemahls entbrennt die Herzogin für den Magier und folgt ihm. In Gestalt des Hofkaplans legt Mephistopheles dem Herzog aus Gründen der Staatsräson eine andere Braut ans Herz. 2. Bild Zurück in Wittenberg, gerät Faust unter Studenten in einen Gelehrtenstreit. Ein Disput zwischen lutherischen und katholischen Studenten führt dazu, dass beide Parteien gegeneinander ansingen. Als sich der Tumult gelegt hat, soll Faust von seinen Frauengeschichten erzählen. Während er noch von der Herzogin berichtet, kommt Mephistopheles mit einem toten Säugling – dem letzten Andenken an die verlassene Geliebte. Aus dem sich als Strohbündel entpuppenden und verbrennenden Leichnam entsteht plötzlich die schöne Helena. Doch dieses Idealbild bleibt eine für Faust uneinholbare Illusion. Schlagartig erkennt er die Vergänglichkeit allen Strebens. Da tauchen die drei Krakauer Studenten auf und kündigen Faust an, dass er bald sterben wird. 3. Bild Im Winter. Fausts ehemaliger Famulus Wagner ist Rektor der Universität geworden. Eine Bettlerin entpuppt sich als Erscheinung der Herzogin, die Faust wieder das tote Kind gibt. Der ermordete Soldat versperrt Faust den Weg in die Kirche. An einem Kruzifix hängt Helena. Nachdem Faust das tote Kind beschworen hat, stirbt er. An der Stelle, wo das tote Kind lag, erhebt sich ein Jüngling als Reinkarnation des Faustschen Willens. 2 Hans-Jürgen Schöpflin (Mephistopheles), Albrecht Pöhl (Faust) 3 „NICHTS IST GETAN, ALLES ZU BEGINNEN ...“ Zwischen drei großen Gestalten des westlichen europäischen Kulturkreises sah Ferruccio Busoni sich hin und hergerissen, als ihn die Suche nach einer ihm gemäßen Titelfigur für ein Musiktheater-Vorhaben beschäftigte, mit welchem er als opus summum sein schriftstellerisches, denkerisches und kompositorisches Lebenswerk zusammenfassen und krönen wollte. Geheimnisumwittert war eine jede dieser Figuren, jahrhundert-fern einerseits und in manchem uns doch auch nah zugleich: Merlin, der Zauberer aus dem Umfeld der Artus-Sage, der Verführer Don Juan und Faust, der Mann der Wissenschaft und des schrankenlosen Erkenntnistriebes, der bei der Verfolgung seiner Ziele zu jedem Mittel greift. Zwischen drei bedeutenden Opern des 20. Jahrhunderts – nicht zufällig allesamt zur Kategorie der sogenannten „Künstleropern“ gehörend – fühlte meinerseits auch ich mich hin und hergerissen, als es nach nahezu 45 Jahren ununterbrochenen Einsatzes für „die Oper, das unmögliche Kunstwerk“ galt, die eigenen lebenslangen Bestrebungen zum Schluss noch einmal in die Bemühung um einen besonders wertvollen und signifikanten Beitrag innerhalb der Gattung münden zu lassen. Hans Pfitzners Musikalische Legende „Palestrina“, ein Werk, dessen exorbitanten Besetzungsanforderungen nachzukommen selbst den größten Opernhäusern nur mit Mühe gelingt, stand eben deshalb natürlich von vornherein nicht zur Debatte – glücklicherweise können wir aber wenigstens durch die Vorspiele zu den drei Akten, die im Mai auf dem Programm des 5. Sinfoniekonzertes stehen, an die Uraufführung dieses einzigartigen Meisterwerkes vor genau hundert Jahren in München erinnern. Blieben die beiden Werke, die mit ihren Protagonisten zugleich auch ein Zeitalter in unser Blickfeld rücken, dem im Jahr des Reformations-Jubiläums besonders allgemeines Interesse entgegengebracht wird: die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts mit ihren durch Martin Luther ausgelösten Glaubenskämpfen. Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ spiegelt diese ebenso wie sie den historischen Hintergrund bilden für den allerdings zeitlos aktuellen Stoff, dem sich Busoni mit seinem DOKTOR FAUST schließlich endgültig zuwandte. Es wurde ein Kunstwerk auf einsamer Höhe daraus: eines, das sich Ausführenden wie Rezipierenden nicht eben an den Hals wirft, sondern beide gleichermaßen fordert – zu guter Letzt dafür 4 Hans-Jürgen Schöpflin (Mephistopheles), Peter Kubik (Soldat). 5 aber auch reich belohnt. Grund genug, sich mit und für Busoni zu entscheiden. Die Dichtung – Busoni nennt sein Textbuch so mit vollem Recht – wurde bereits ein Jahrzehnt vor der Komposition in Buchform veröffentlicht. Sie ist, ähnlich den von Hugo von Hofmannsthal für Richard Strauss verfassten meisterlichen Opernbüchern, auch als reine Dichtung höchst gewinnbringend zu lesen mit ihren einprägsamen Bildern und Sentenzen: gerade das faustische Streben im Menschen, das mit seiner zwanghaften Suche nach Überschreitung immer neuer Grenzen zwangsläufig auch „Segnungen des Fortschritts“ hervorbringen muss, die sich später als durchaus zweifelhaft erweisen und neue Probleme in sich bergen … „Nichts ist getan, alles zu beginnen“ – wir sind noch lange nicht fertig mit dem Thema „Faust“ und seinem „ewigem Willen“. „Nichts ist bewiesen und nichts ist beweisbar; bei jeder Lehre hab’ ich neu geirrt. Gewiss ist nur, dass wir kommen, um zu gehen, was dazwischen liegt, ist das, was uns betrifft.“ Werner Seitzer D i e große deutsche Gestalt innerhalb der dramatischen Weltliteratur, gesehen mit den Augen Eines, der durch seine Geburt von Anfang an in zwei europäischen Kulturen fest verwurzelt war und in dem Eigenart und Haltung beider Wesensarten, die Neigung zu germanischem Grüblertum und mediterrane Spiritualität, nebeneinander bestehen, sich ergänzen oder auch verschmelzen, führt zu bemerkenswerten Ergebnissen. Als Mensch und vielbewunderter Lehrer einerseits kommunikativ und seiner Umgebung zugewandt, werden Busoni und seine Ideenwelt doch zugleich von der Aura eines „großen Einsamen“ umgeben, eine Rolle, die durch sein öffentliches Wirken als Konzert-Pianist, der er für seine Zeitgenossen ja in erster Linie war, sicherlich entscheidend mitgeprägt wurde. Die Tongestalt seines musikdramatischen Hauptwerkes, um deren Vollendung er im Wettlauf mit dem Tode rang, konnte Busoni zu seinem Leidwesen nicht mehr gänzlich fertigstellen. Sein Schüler Philipp Jarnach, späterer Direktor der Hamburger Musikhochschule und erst 1982 im hohen Alter gestorben, schuf auf der Grundlage der von Busoni hinterlassenen Skizzen einen durchaus profilierten Abschluss des Werkes. Und es ist vielleicht bezeichnend, dass unter den eigenen Werken Jarnachs ein Streichquartett am bekanntesten geworden ist, das den Titel trägt: „Musik zum Gedächtnis der Einsamen“ – ein später Epilog zum Schaffen des verehrten Lehrers? In einer Zeit, in der eine besinnungslose Dauer-Kommunikation aller mit allen götzengleichen Kultstatus genießt und jeglicher Rückzug in die Stille des Nachdenkens systematisch verhindert wird, wirken Haltung und Werk Busonis einerseits aus der Zeit gefallen und andererseits geradezu hochaktuell: Ist es doch 6 Albrecht Pöhl (Faust), Hans-Jürgen Schöpflin (Mephistopheles) 7 MEPHISTOS MAGIE Konzeptionelle Gedanken zum DOKTOR FAUST Wir erleben bei Ferruccio Busoni einen Doktor Faust, der zum Zeitpunkt des Handlungsbeginns bereits einen langen, schmerzvollen Weg aus persönlichen Verfehlungen hinter sich hat und der in allen seinen Vorhaben auch sich selbst als gescheitert betrachtet. Gläubiger bedrängen sein Haus, Pfaffen entzünden den Scheiterhaufen, Valentin, der in diesem Werk namenlose Soldat und Bruder Margarethes, sinnt auf Rache. Faust selbst, der bekannte Wissenschaftler, der Meister, der kühne, rücksichtslose, süchtige, eitle, in sich verschlossene ‚Elitemensch‘, der sich, wie von Ängsten und Sehnsüchten getrieben, anstrengt, die höchste Stufe des Wissens und der Wissenschaft zu erlangen, der die bürgerlich verordneten Wissensgrenzen mit allen Mitteln zu sprengen gedenkt – er ist ein ‚Renaissance‘-Mensch, Vorreiter einer künftig autonomen Wissenschaft, um gleichsam dabei die Position und Funktion Gottes selbst einzunehmen und auf dem Weg dorthin den Pakt mit dem Teufel nicht auszuschlagen, wohlwissend oder zumindest spürend, dass dieser Pakt ein endgültiger ist. Stilistisch greift Busoni auf die Ästhetik und Mechanik des frühneuzeitlichen Puppenspiels zurück, nicht zuletzt, wie wir aus Aufzeichnungen wissen, um sich von der berühmten Vorlage Goethes abzugrenzen. Die (Opern-)Ästhetik scheint dabei wichtiger als die Mechanik, und theatralisch wird diese Dramaturgie eher durch die Rahmenhandlung des Dichters bestimmt, der das (Puppen-)Spiel mit dem gedoppelten Vorhang einleitet und ausklingen lässt. Wir finden Relikte einer Marionettenspielästhetik, hauptsächlich in den lediglich grob ausgeführten und gezeichneten Handlungsfiguren, die – besonders in den Nebenrollen (Herzog, Wagner, Zeremonienmeister, Soldat, letztlich auch in der Rolle der Herzogin) – wenig ‚durchpsychologisierte‘ Personencharakteristika aufweisen und eher mechanisch sowie funktional die Oper begleiten und das sinnliche wie übersinnliche Doppelspiel des Protagonistenpaares Doktor Faust/Mephistopheles flankieren. Dazu gesellt sich, in Anlehnung an alte Puppenspieltraditionen, der szenische Umgang mit magischen und mythischen Bühneneffekten, die wahlweise von Faust oder seinem Gegenpart Mephisto samt dessen Handlangern eingesetzt werden. Die Begegnung zwischen Faust und der Herzogin, letztlich deren Entführung, wird zunächst durch die ‚phantastische Aura‘ des Protagonisten geprägt, der unter Mithilfe mephistophelischer Magie die Herzogin in seinen Bann zieht. Wichtiger in dem 8 Hans-Jürgen Schöpflin (Mephistopheles) 9 großen Ball-Bild von Parma ist die kühle, eher distanzierte Überhöhung der Termini ‚Liebe‘ oder ‚Frau‘ sowie deren ‚Macht‘ und ‚Ohnmacht‘, die Faust in zunehmend dramatischer Form an Hand der biblischen Paarkonstellationen Salomo/Königin von Saba, Samson/Dalila und Salome/Jochanaan mit Hilfe Mephistos auf die Bühne zaubert. In diesem Bild und in den folgenden steht weniger das klassische Verhältnis von Mann und Frau im Vordergrund, sondern die verzweifelte, zwanghafte, süchtige Suche nach dem Idealbild der Frau, später durch die – schleierhafte, sich ins Nichts auflösende – Erscheinung Helenas symbolisiert. In der scheinbaren ‚Liebe auf den ersten Blick‘ zwischen Herzogin und Faust wirkt sich die von Mephisto verliehene, magische Kraft Fausts aus. Der Wunsch der Herzogin, Salomo und die Königin von Saba zu sehen, entspringt nicht einer freien Entscheidung. Da ihre Wünsche auf Fausts Suggestionen bzw. Projektionen beruhen, ist es kein Wunder, dass er weiß, was sie als nächstes sehen möchte. Die drei Visionen alttestamentarischer Paare zeigen den Wunsch des Protagonisten: In drei verschiedenen biblischen Rollen erscheinen er selbst und die Herzogin als Paar, Spiegelbilder im Spiegelkabinett. Die in ihnen artikulierte Angst vor der Weiblichkeit schlägt sich in der Bedrohlichkeit der beherrschenden, kastrierenden und mordenden Frauenfiguren aus den Visionen nieder. Die doppelte Spiegelung ermöglicht es, zwei in der Realität kaum vereinbare Bilder des Weiblichen, das Bedrohliche und das Beherrschte, zugleich zu zeigen. Werkimmanent ist die Herzogin wie Helena ein Geschöpf des Mephistopheles, das als Köder für Faust dient; psychologisch gesehen ist sie ein Wunschbild Fausts. Die Helena-Vision stellt den Wendepunkt dar, an dem sich die Machtverhältnisse zwischen Faust und Mephisto zu ändern beginnen. Was von Mephistopheles als letztes großes Täuschungsmanöver geplant war, bedeutet für Faust eine Lossagung: Ab jetzt jagt er nicht mehr wie bisher einem leeren Lebensziel nach. Mit dem Gedanken, dass das Streben nach dem Vollkommenen, das hier in der ZeusTochter Helena verkörpert ist und als vergebliche Suche nach dem Ideal weiblicher Schönheit erscheint, etwas Teuflisches sei, deutet Busoni eine Perspektive an, die am Schluss der Oper zur Überwindung einer göttlich geordneten Welt führt, in der konsequenterweise auch der Teufel keine Macht mehr ausüben kann. Eine weitere Anlehnung an frühneuzeitliche Puppenspieltraditionen oder Darstellungsformen wie beispielsweise der Commedia dell’Arte sind die permanenten Identitätswechsel von Fausts Gegenpart und Spiegelbild Mephisto, der nach seinem Auftritt als der uns wohlbekannte ‚schwarze Mann‘ in verschiedene Rollen schlüpft, als Herold und Kurier in Gestalt einer dem Meister folgenden und ihn unterstützenden ‚Dienerfigur‘, als Mönch und Hofkaplan gleichsam auf der Gegenseite der von 10 Religion und Kirche dominierten Welt und letztlich als Nachtwächter in den Kleidern eines bürgerlich gewöhnlichen Menschen, der im Finale des Werkes szenisch untertaucht und sich quasi integriert in die bürgerliche Umgebung von Wittenberg. Ganz in Anlehnung an die von Busoni vorgegebene Musik- und Theaterästhetik scheint es mir immanent, die Geschichte des Faust nicht als naturalistisch oder realistisch definierte Darstellung umzusetzen, sondern – ausgehend vom Protagonisten – einen Grundraum, einen Einheitsraum zu wählen, der den inneren Zustand der Handlungsfigur als ‚Seelenraum‘ ansichtig macht. Dieser Raum wäre die weite, verschlossene Seelenwelt des Doktor Faust, die das Verlangen nach Vollkommenheit und (geistiger) Freiheit im wahrsten Sinne des Wortes (wider-)spiegelt. Ein Raum, kein im strengen Sinne naturalistischer, der die Gedankenwelt des Forschers und Suchers symbolisiert, zunächst verschlossen, eng, dunkel, zugleich Labor, Studierstube und Bibliothek, eher surreal denn naturalistisch. Ein Innenraum und Gedankenraum, von außen bedroht durch Zeugen, Ankläger und Richter seiner bisherigen Vergehen und Verfehlungen. Ein Kabinett, von der Außenwelt abgeschlossen, eine karge Zelle, die den gealterten, vereinsamten und dennoch rastlosen Sinnforscher zeigt, der den Pakt mit dem Teufel selbst herbeizwingt, indem er dessen Erscheinung im eigenen Spiegelbild erfährt und erkennt, noch bevor sich die Handlanger des Bösen in der Gestalt von Studenten aus Krakau ankündigen. Dieser Raum, dieses Verlies, in dem beengt und geknebelt der Protagonist die uneingeschränkte Freiheit postuliert, verändert sich, erweitert sich, öffnet sich, weil Faust den neuen Weg, der zu gehen ist, selbst manisch einfordert, als letzte Konsequenz seines bis dahin gescheiterten Daseins als Mensch und Wissenschaftler. „Ich, Faust, ein ewiger Wille!“ Uwe Schwarz 11 SCHATTENHAFTE ERINNERUNG „Die sechs Stimmen der Dämonen im zweiten Vorspiel faßte ich zu einer Reihe Variationen zusammen, auf das Motiv ‚Frage und Antwort‘ gestellt. Zugleich nahm ich mir vor, diese Stimmen – einzeln aufsteigend –, von der tiefen stufenweise in die hohe Lage, von schleppender Langsamkeit schrittweise in zunehmende Bewegung zu führen, also daß die letzte Stimme zur höchsten und darum die Rolle des Mephistopheles zum ausgesprochenen Tenor werden mußte. – Es gelang mir, das szenische Intermezzo, das in der ‚uralten romanischen Kapelle‘ spielt, trotz der wechselnden Begebenheiten und Stimmungen, die darin rasch aufeinanderfolgen, auf die einheitliche Form des Rondo zu bringen. Das Gartenfest zu Parma gestaltete ich zu einer Ballettsuite, zu einem pantomimenartigen Spiel, das erst gegen Schluß von der freieren dramatischen Geste abgelöst wird. – Ein apartes Studium widmete ich dem Glockengeläute, das ich in drei ‚Zuständen‘ wiedergebe. Zu Anfang im Orchester: als eine dämmerige Nachahmung, schattenhafte Erinnerung an entfernte oder schon verklungene Schwingungen, als Ausklang der ‚Symphonia‘ sodann, von Menschenstimmen auf das Wort ‚Pax‘ übernommen und endlich von wirklichen Kirchenglocken – die Auferstehung hell verkündend – am Schlusse des Vorspiels gejubelt.“ Ferruccio Busoni in: Über die Partitur des „Doktor Faust“ (1922) BESSER MIT, WEIL: das Musiktheater-Abo ein Leckerbissen für alle ist! · Sie sparen bis zu 30 % gegenüber dem Einzelkartenkauf · Sie können kostenfreie Parkplätze bei der Volksbank Hildesheim nutzen · Sie profitieren vom Vorteilsprogramm EXKLUSIV FÜR ABONENNTEN MEIN THEATER. MEIN PLATZ. MEIN ABO! WWW.TfN-ONLINE.DE/ABOS/ 12 VOM WESEN DER MUSIK […] So wie dem Astronom der größte Teil des Himmels verborgen bleiben muß auf ewig, so werden wir das Wesen der Musik nie ganz erfassen, und weil der Gemeine im Staate der Tonkunst ebensoviel sich erdreisten darf, zu sagen und zu handeln wie der höchste Heerführer, so ist der Weg, der dem Ziele uns näher brachte, ein steig verzögerter und oft durch begangene und gepredigte Irrtümer abschreckend zögernder, äußerst mühsam zu verfolgender. Was ist das Wesen der Musik? Nicht der Vortrag eines Virtuosen, nicht die Ouvertüre zu Rienzi, nicht die Lehre der Harmonie, nicht das hinter farbig angestrichenen Grenzpfählen sich heimatlich ausladende Volkslied getrennter Nationen (schon das Trennen ist in diesem Falle ein Verleugnen). Wenn auch jede einzelne dieser Gattungen ein Körnchen des Allwesens in sich hält, insofern, als die Musik alle Elemente umschließt, aber gerade dadurch, daß sie in Gattungen zerfällt, wird sie wiederum zerpflückt, als ob das Himmelszelt zu kleinen Streifen zerschnitten würde. Was vermag der Einzelne gegen solche unübersichtliche Fülle des Materials? Seien wir den wenigen Erwählten im Tiefsten der Seele dankbar dafür, daß es ihnen gegeben ist, wenigstens im Kleinen durch Geschmack und Form, durch Eingebung und Meisterung ein Miniaturmodell jener Sphäre aufzustellen, aus der alle Schönheit und Gewalt ihnen zufließt. Das Wesen der Musik werden Menschen in seiner Echtheit und Gesamtheit niemals erkennen, kämen sie doch wenigstens dazu, zu unterscheiden, was nicht zu ihm gehört. Dem steht vor allem die „Zunft“ im Wege, wie dem Glauben das Dogma entgegensteht. Zuweilen in seltenen Fällen hat ein Irdischer vom Wesen der Musik etwas Unirdisches erlauscht, das zerfließt in den Händen, sobald man danach greift, erstarrt, sobald man es hier unten verpflanzen will, erlischt, sobald es durch das Dunkel unserer Mentalität geschleift wird, doch bleibt von seinem himmlischen Ursprung noch genug Erkennbares, daß es uns als das Höchste, Edelste und Hellste erscheint von allem Hohen, Edlen und Hellen, das uns erkennbar umgibt. Nicht die Musik ist ein „Abgesandter des Himmels“, wie der Dichter meint. Sondern des Himmels Abgesandte sind gerade jene Erwählten, denen das hohe Amt aufgebürdet ist, einzelne Strahlen des Urlichts durch unermeßlichen Raum uns zuzubringen. Heil dem Propheten. Ferruccio Busoni (1924) 13 OKKULTE ANWANDLUNGEN Der Mystiker Busoni sucht Ewigkeit in Tönen Das Wort ‚okkult‘ kann leicht in die Irre führen. Der deutsch-italienische Komponist und Pianist Ferruccio Busoni war weder Spinner noch Scharlatan, sondern ein ernster Denker. Als philosophisch gebildetes Multitalent interessierte er sich für alles Spirituelle, dessen spiritistische Abart ihn laut Giuseppe Mariottis Begleittext zur CD „Ferruccio Busoni: Zwischen Mystik und Okkultismus“ genauso beschäftigte wie die Paragnosie. Eingespielt sind dort Klavierwerke aus den Jahren 1909 bis 1920; in diese Zeit fällt der Beginn der eingehenden Beschäftigung mit der Oper DOKTOR FAUST. Gleich den Dichtern Rainer Maria Rilke oder Georg Trakl suchte der Komponist in enigmatischen Chiffren eine Antwort auf jene aufklärerische Rationalität, die jeder mystischen Einsicht abschwor. Bizarre, geisterhafte Klänge verbanden sich auch mit der Phantastik E. T. A. Hoffmanns, den Busoni besonders schätzte. Zugleich ging seine esoterische Ader mit hoher Intellektualität einher, wie zum Beispiel die „Fantasia contrappuntistica“ für Klavier verdeutlicht. Die architektonisch strenge Form, deren Bezug auf Johann Sebastian Bachs „Die Kunst der Fuge“ offenkundig ist, wird zum Elixier mystischer Anschauung. Dass der geistig umtriebige Tonkünstler seine religiöse Inspiration ebenso im Christentum fand, legt die „Sonatina in diem navitatis Christi MCMXVII“ nahe – ein Kontrapunkt, der in den Oster- und Kirchenszenen der Oper DOKTOR FAUST mit Glockenklängen wiederkehrt. Im Ringen des Komponisten um geistliche Reife ist es vor allem der Klang, der zu reiner Mystik befähigen soll. Mag sich das eine oder andere zuerst diffus anhören, so kann es dem aufmerksamen Zuhörer doch eine Einfachheit entschleiern, deren Absicht nicht das Verborgene, sondern das Offenbare ist. Das wortlose, begriffsfreie ‚Sprechen‘ der „heiligen Tonkunst“ wird Busoni zum vielsagenden Schweigen und gewährt ihm Einblicke in eine Ewigkeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konzentrisch zusammenkommen – weshalb der (Klavier-)Komponist die aktuelle Tonsprache mit traditionellen Formen („Toccata, Preludio – Fantasia – Ciacona“) prophetisch verschweißt und sie in seinem Essay „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ auf künftige Entwicklungen hin befragt. Als treibende Kraft des suchenden Menschen etablierte Busoni den Zweifel, wie es die Oper DOKTOR FAUST expliziert, auf die Themen schon aus den Klavierwerken hindeuten. „Nichts ist bewiesen und nichts ist beweisbar. Bei jeder Lehre hab ich neu geirrt“, hat Faust erkannt. Busoni 14 betrachtete sich selbst, die Gegensätze vereinend, als schwachen Menschen und Kämpfernatur, die – „von Zweifeln hin und her gehetzt“ – allem auf den Grund geht, aber keine Antwort findet. Es sei denn in der Musik, denn sie „steht dem Gemeinen abgewandt; ihr Körper ist die Luft, ihr Klingen Sehnen, sie schwebt … Das Wunder ist ihr Heimatland“, verkündet der Dichter im Prolog der Oper. Für den Tondichter muss sich die spirituelle Welt wesentlich in der Musik bezeugen, die das Universum erschließen soll und deren Sprache in diesem Sinn universal ist. Eingedenk seines schweren Prophetenamtes als Musiker verkörpert Busoni in seiner leidenschaftlichen Künstlerexistenz zugleich den faustischen Willen. Die Oper spielt in einer Zeit des Umbruchs. Die Geburtsstunde der Reformation liegt noch nicht lange zurück. Luther – Heiliger oder Ketzer? – ist ein Thema in den feucht-fröhlichen, spöttischen Disputen in Wittenberg, bei denen der Jurist die gesellschaftliche Instanz, der Theologe die kirchliche Autorität und der Naturgelehrte die autonome (Natur-) Wissenschaft vertritt. Die Neuzeit hat gerade erst begonnen. „Nachdem Faust – auf seinen letzten Versuch einer Annäherung an Gott – auch den Glauben von sich geworfen, schreitet er zur mystischen Handlung, die ihm sein erschöpftes Leben erneut“, schreibt Busoni 1922 über den Schluss der Oper: dort das tote Kind, hier der sich erhebende, laut Libretto nackte Jüngling, in dem der sterbliche, flüchtige Faust weiterwirkt. Selbstbestimmt wird der aufgeklärte Mensch, obschon nicht ohne ‚okkulte‘ Anwandlungen, an die vakant gewordene Stelle Gottes treten und doch die Sehnsucht nach dem ganz Anderen nicht loswerden, das allein Erlösung gewährt. Die Vergänglichkeit will durch Mystik überwunden sein. Was den Gott begrifflich aus der Welt schafft, gewinnt Raum für seine ‚verschwiegene‘ Anwesenheit. Roland Mörchen 15 16 Antonia Radneva (Herzogin von Parma), Albrecht Pöhl (Faust), Konstantinos Klironomos (Herzog), Chor, Statisterie 17 IM ZAUBERSPIEGEL Gedanken zu Ferruccio Busonis DOKTOR FAUST Erstaunliche Parallelen: 1924 sterben im Abstand von vier Monaten die Komponisten Ferruccio Busoni und Giacomo Puccini, die beide ihre letzten Werke, groß konzipierte Opern, unvollendet hinterlassen. Sowohl „Turandot“ als auch DOKTOR FAUST werden nach Ideen und Skizzen ihrer Schöpfer von anderen ergänzt. Beide Stücke sind als Krönung, als Summe des bisherigen Schaffens ihrer Schöpfer geplant, als „Haupt- und Monumentalwerk“ und als „magna opera“. DOKTOR FAUST, dessen Premiere weniger als einen Monat nach der der „Turandot“ stattfindet, ist wie diese nach einem schon oft auf der Bühne behandelten, ins Phantastische spielenden Stoff entstanden. Damit enden freilich die Parallelen: Die Konzeptionen Busonis und Puccinis könnten unterschiedlicher nicht sein. Nach Busonis ursprünglichem Libretto soll zwischen einleitender „Symphonia“ und „Vorspiel I“ eine Dichterfigur die Zuschauer ansprechen: „Die Bühne zeigt vom Leben die Gebärde, Unechtheit steht auf ihrer Stirn geprägt; auf dass sie nicht zum Spiegel-Zerrbild werde, als Zauberspiegel wirk‘ sie schön und echt.“ Die Bühne kann und darf also kein Abbild des „Lebens“, der Wirklichkeit außerhalb des Theaters liefern. Die theoretische Prosa dieser Absage an den Realismus in der Oper (z. B. bei Puccini) findet sich in Busonis Essay „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“: „Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatürlichen, als der allein ihr natürlich zufallenden Region der Erscheinungen und der Empfindungen, sich bemächtigen und dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht zu finden ist.“ Um diese Ideen und Überzeugungen auf die Bühne zu bringen, braucht Busoni, wie er im „Entwurf eines Vorwortes zu ‚Doktor Faust‘“ erzählt, eine „hervorragende historische und sprichwörtliche Figur, die mit dem Zauberischen und Unenträtselten zusammenhinge“. Über Zoroaster und Cagliostro denkt er nach, über Merlin und Don Giovanni, aber die einen sind ihm zu weit entfernt, 18 die anderen zu nah oder auf der Bühne bereits verbraucht. Natürlich kommen, wenn man so hoch greift, auch die Faust-Figur und damit Goethes Drama ins Spiel: „Die Absicht, und noch mehr die Sehnsucht, Goethes Faust mit Musik auszustatten, hat mich dringend erfüllt. Allein die Ehrfurcht vor der übermächtigen Aufgabe verhalf mir zur Entsagung.“ Die Neigung, diesem übergroßen Vorbild, diesem Anspruch von Gedankentiefe und nicht zu überbietender Sprachmacht auszuweichen, ist nur zu begreiflich. Aber auch seine programmatische Abkehr von jeder Art von Opernrealismus führt Busoni dazu, sich zwar für den FaustStoff, aber gegen Goethes Drama zu entscheiden. Zum „Zauberspiegel“, zur „Scheinwelt“ passen die etwa aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammenden Puppenspiele, die er, wie Goethe, schon als Kind kennengelernt hatte, nur zu gut: „So stellt mein Spiel sich wohl lebendig dar, doch bleibt sein Puppenursprung offenbar.“ Die alten Faust-Texte der Puppentheater und Wanderbühnen wurden offenbar erst seit dem frühen 19. Jahrhundert aufgezeichnet – vorher waren die Spieltexte mündlich weitergegebene und sorgfältig gehütete Geheimnisse der einzelnen Kompanien. Inspiriert von dem „Volksbuch“, nämlich der „Historia von D. Johann Fausten“ des Buchdruckers Johann Spiess aus dem Jahre 1587, und Christopher Marlowes „Tragical History of Doctor Faustus“ (1589) waren ganz unterschiedliche Versionen entstanden, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, bis zum bloßen Spektakel zerspielt. Alle hatten als ultimativen Knalleffekt die abschließende Höllenfahrt des Doktor Faustus, mit der der Magier seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Die Rückwendung zum Puppenspiel bedeutet für uns heutige Zuschauer, dass wir von „Doktor Faust“ nicht die Psycho-Logik und die in sorgfältig motivierten Schritten plausibel fortschreitende Handlung z. B. einer „Tosca“ erwarten dürfen. Eben waren wir noch in Parma am Hof des Herzogs, jetzt sind wir in einer Schenke in Wittenberg, und zwar nicht, weil wir auf Mephistos Zaubermantel von Ort zu Ort geflogen wären, sondern weil Busoni sich für diese Art Verknüpfung seiner Szenen gar nicht interessiert, sie vielmehr relativ unverbunden nebeneinander setzt. In den Worten des Uraufführungskritikers Wladimir Vogel, eines offenbar glühenden Parteigängers Busonis: „Doktor Faust ist ein Mysterium. Darum musste es auch jeder literarisch-romanhaften Handlung entledigt sein. Der eigentliche Kampf und Sinn wird hinter die Ereignisse verlegt. Im Vordergrunde stehen bloß ihre Resultate.“ 19 Als solches „Resultat“ kann die Szene von Gretchens Bruder, dem namenlosen Soldaten, gelten. Busoni hat kaum Interesse an der Gretchen-Tragödie (die umgekehrt in Charles Gounods „Faust“-Oper so dominiert, dass dieses Werk in Deutschland als „Margarethe“ aufgeführt wurde); er konzentriert sie auf diese eine kurze Szene, in der Gretchens Bruder – sie selbst tritt gar nicht auf – Gott um Hilfe bei seinem Rachefeldzug gegen Faust bittet und durch eine grausame Intrige Mephistos ums Leben kommt. Nicht nur was Gretchen anbelangt: Auch wir Theatergänger des 21. Jahrhunderts haben Goethes Vorbild im Kopf. Unter den vielen Unterschieden ist die Konzeption des Schlusses der auffälligste. Beide, Goethe und Busoni, gönnen ihrem Helden eine Art Erlösung. Bei Goethe ist die Erlösung ein Akt der Gnade, verdankt sich also einer Intervention von außen. Die himmlischen Heerscharen umgarnen den Teufel, klauen ihm Fausts Unsterbliches und entführen es nach oben, denn: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Das kam für Busoni so wenig in Frage wie die Höllenfahrt der alten Puppenspiele. Sein Faust wird von den Geistern der Vergangenheit bedrängt, von der von ihm verführten und im Stich gelassenen Herzogin, von dem ermordeten geharnischten Soldaten, von Helena. Er versucht zu beten, bringt aber die Worte nicht mehr zusammen. Er verzichtet, frei und selbstbestimmt, auf die Gnade von oben, und eben das gibt ihm die Kraft, sein Leben, sich selbst, seine Sehnsucht dem eigenen Kind, in dem er fortleben wird, zu vermachen: „So wirk’ ich weiter in dir, und du zeuge fort und grabe tiefer und tiefer die Spur meines Wesens bis ans Ende des Triebes. Was ich verbaute, richte du gerade, was ich versäumte, schöpfe du nach, so stell’ ich mich über die Regel, umfaß in Einem die Epochen und vermenge mich den letzten Geschlechtern: ich, Faust, ein ewiger Wille!“ Das kurze kuriose Nachspiel des Nachtwächters alias Mephistopheles einmal beiseite gelassen: Selten sind machtvollere Worte für das Finale einer Oper gefunden worden. Busoni konnte sie aufschreiben, komponieren konnte er sie nicht mehr. Was er versäumte, musste ein anderer nachschöpfen. Wolfgang Volpers 20 Hans-Jürgen Schöpflin (Mephistopheles), Albrecht Pöhl (Faust). 21 FERRUCCIO BUSONI Zu seinem 60. Geburtstage am 1. April Als Busoni vor eineinhalb Jahren die Augen schloß, da wußte die musikalische Welt, daß ihr einer ihrer stärksten Werte verlorengegangen war. Wir betrauerten den Verlust des „größten Pianisten aller Zeiten“, des genialen schaffenden Musikers, des großen Theoretikers und Schriftstellers, des Erziehers und Anregers, des wundervollen Menschen. Die unendlich fruchtbare Betätigung dieses Mannes auf jedem einzelnen dieser Gebiete könnte Bände füllen – aber Busoni gehört zu jenen Erscheinungen, die der Nachwelt außer den Früchten ihres unmittelbaren Lebenswerkes noch etwas anderes vererben, das ihren Namen erst unsterblich macht. Die Reinheit der Gesinnung war es, die einen solchen Glanz um diese Erscheinung verbreitete und die jede Begegnung mit diesem Menschen zu einem beglückenden Erlebnis gestaltete. – Der Pianist Busoni, der sich im Kindesalter die Welt eroberte, der sich aber dann aus den Sphären des Virtuosentums zur höchsten Stufe der Interpretationskunst entwickelte, ist noch in unser aller Gedächtnis. Sein unvergeßlicher Abschied vom Konzertsaal, die 3 Abende, an denen er 9 Klavierkonzerte Mozarts in einem neuen Lichte erstrahlen ließ, klingen noch lange in uns nach. Busonis produktive Tätigkeit umfaßte alle Gebiete des musikalischen Schaffens. Seine Jünglingswerke schon zeigen eine vollendete Meisterschaft. Wenn er auf diesem Wege weitergeschritten wäre – wie es die meisten seiner erfolgreichen Altersgenossen taten –, so hätte er wohl auch die Anerkennung jener gefunden, die immer und immer wieder sich gegen das Neue stemmen und die auch ihm eine Gehässigkeit und ein Mißverständnis entgegenbrachten wie kaum einem zweiten Künstler seiner Zeit. Busoni suchte das Wunderbare; seine Musik mußte sich befreien aus den engen Grenzen klassischer Formen, aus dem schmalen Bereich tonaler Gebundenheit. So ging er stets voran auf dem beschwerlichen Wege, den die musikalische Produktion in den ersten 2 Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zurücklegte. In Werk und Tat, als Komponist und Interpret war er Verkünder des Impressionismus wie auch der folgenden völligen Loslösung, bis er schließlich in der von ihm geprägten „jungen Klassizität“, einer Synthese aller neuen Errungenschaften mit dem brauchbaren Material der früheren Generationen, sein Endziel erreichte. Busonis ganze Liebe gehörte der Oper. Sein erstes Bühnenwerk „Die Brautwahl“, die in dieser Saison in der Berliner Städtischen Oper aufgeführt wurde, ist eine Huldigung an des Meisters Lieblingsstadt Berlin. „Turandot“ (nach Gozzi) ist eine Ausgestaltung der vielgespielten Bühnenmusik zu Reinhardts „Turandot“-Inszenierung. „Arlecchino“ ist das geistvoll heitere, DOKTOR FAUST das ernste Selbstbekenntnis Busonis. Dieser FAUST, der leider nicht ganz vollendet wurde, stellt den vollkommensten Ausdruck aller Lebens- und Kunstanschauungen des Meisters dar; er kann in jeder Beziehung als Grundlage einer weiteren Entwicklung des musikalischen Bühnenwerkes gelten. Für uns Deutsche gewinnt dieses Werk aber erhöhte Bedeutung, weil in ihm ein Mensch, der immer über den Nationen stand, die symbolreiche deutsche Volkssage zum Ausgangspunkt seiner wesentlichsten Geistesäußerung machte. Busoni war der faustische Mensch des 20. Jahrhunderts. Sein Leben war Kampf. Und sein Sieg ist das Werk, das fortlebt, ist die Liebe von Tausenden, die er beglückte. Kurt Weill (1926) 22 Antonia Radneva (Herzogin von Parma), Konstantinos Klironomos (Herzog), Chor. 23 BUSONIS „FAUST“ UND DIE ERNEUERUNG DER OPERNFORM […] Schon das Gesamtbild von DOKTOR FAUST läßt deutlich eine ideale Einheit von Idee und Form erkennen. Busoni weiß, daß das Theater einer strengen Polyphonie nur schwer zugänglich ist, und er ist in der „Brautwahl“, in „Turandot“ von dem Stil der „Contrapuntistica“ weiter entfernt als in irgend einem seiner Werke. Aber ihn, dem die Oper wegen ihrer unendlichen Entfaltungsmöglichkeiten als die bedeutsamste Gattung musikalischer Produktion erscheint, mußte es reizen, ein Bühnenwerk in jenem Stil zu schreiben, der seinem Wesen am nächsten war. Auch in diesem Sinne ist das Werk Bekenntnis: der „faustische Drang“ des Musikers erstrebt die Gestaltung des eigensten Stoffes mit den eigensten Mitteln. So ist die Polyphonie in Busonis FAUST-Oper nicht Selbstzweck, sie ist die einzig mögliche musikalische Gestaltungsform des Faust-Stoffes, sie ist Milieu dieser Oper wie die türkische Färbung in der „Entführung [aus dem Serail]“, wie der spanische Rhythmus in „Carmen“, und ihre einzige Funktion besteht darin, die Hauptfigur des Werkes durch alle Skalen der klanggewordenen Empfindung zu begleiten. Tatsächlich geht Busonis Musik mit traumhafter Sicherheit immer dort ins rein Polyphone über, wo der faustische Gedanke in den Vordergrund rückt: in dem gewaltigen Ringen des II. Vorspieles, in der ganzen Schlußszene, ja sogar in der Studentenszene des zweiten Bildes, die ja eine einzige Diskussion über den faustischen Kampf zwischen Geist und Körper darstellt. Aber auch hier ergibt sich eine Steigerungsmöglichkeit: in der ganzen FAUST-Musik, angefangen von den beiden zuerst erschienenen Orchesterstudien, spielt sich überall der Kampf ab zwischen den sinnlichen und geistigen Triebkräften, zwischen harmonischer Melodiebegleitung und kontrapunktischer Stimmverflechtung – nur dort, wo der endliche Sieg des Göttlichen in FAUST ahnend hervorleuchtet, im Kredo des II. Vorspieles, steigert sich auch die Polyphonie bis zu ihrer reinsten, strengsten, „kirchlichsten“ Form. Die rein musikalische Formgestaltung durch das Medium der Bühne zeigt sich also auch in der Charakterisierung der Figuren. Die Absicht Richard Wagners, jede Idee und jede Gestalt durch ein „Motiv“ anzukündigen, mußte eine literarische Beeinflussung der musikalischen Formgebung mit sich bringen, die zweifellos für das Musikdrama eine starke Bedeutung erlangt hat. Aber die abgeschlossenen musikalischen Sätze der Oper formen sich unbewußt aus abstraktem Material, und die Einbeziehung einer motivischen Charakterisierung in die musikalische 24 Form gehört (wie es übrigens im „Tristan“ schon erreicht ist) genauso zum kompositorischen Einfall wie Melodieerfindung oder Instrumentation. Auch die Carmen hat ihr Leitmotiv: aber es umschreibt nur, in Betonung des Gegensatzes zu ihrer äußeren Erscheinung, die tragische Seite ihres Charakters, und es erscheint daher nur an den Stellen, die nicht nur für die Handlung, sondern auch für den musikalischen Aufbau Höhepunkte bedeuten. Ebenso hat Busoni die Herzogin mit einer Melodie, den Mephistopheles mit einer Folge dissonanter Akkorde ausgestattet, die mit größter Ökonomie nur an den entscheidenden Punkten und in immer neuer formaler Abwandlung auftauchen. […] Ein anderes Beispiel bühnenmusikalischer Formgestaltung: wenn Faust am Schluß die wichtigsten Gestalten seines Weges: die Herzogin, den Bruder des Mädchens, noch einmal durchlebt, nun mit dem sterbend erkennenden Blick des Vollendeten, dann erscheinen die früheren musikalischen Ereignisse in einer klanglichen Verdichtung (Übernahme des Orgelklangs ins Orchester, des Valentin-Gebets in den Männerchor). Entscheidend für die Entwicklung der Gattung ist auch die Umdeutung naturalistischer Wirkungen in die Ausdruckssphäre der absoluten Musik. Wenn Mephisto die Gläubigen vor der Tür tötet, so überläßt die Musik die Schilderung des krassen Vorgangs der Phantasie des Hörers und begnügt sich mit einer zart lösenden, befreienden Gebärde. Eine ähnliche Kontrastwirkung wird in der Szene im Münster erreicht, die Orgel ist hier nicht als reines Stimmungsmoment behandelt, sie will keineswegs den Eindruck eines Gottesdienstes erwecken, sondern sie gibt den Gefühlsgehalt der Szene in einer dem Schauplatz der Handlung entsprechenden „Instrumentation“; so ergibt sich auch hier eine neue musikalische Form aus dem Wechsel von ruhig betenden und leidenschaftlich bewegten Orgelklängen, von Militärmusik, Kampf, Mord und völligem Zurücksinken in kirchliche Stille. Diese wechselseitige Befruchtung der musikalischen und der theatralischen Phantasie ist auf jeder Seite der Partitur nachzuweisen. Als Ergebnis des Zusammentreffens einer Persönlichkeit mit ihrem durch ein Leben erkämpften Stoff ist Busonis FAUST etwas Einmaliges – wie die „Zauberflöte“ und die „Missa solemnis“. […] Kurt Weill (1927) 25 DOKTOR FAUST Doktor Faust Albrecht Pöhl Wagner (sein Famulus, später Rektor der Universität) Uwe Tobias Hieronimi Mephistopheles Hans-Jürgen Schöpflin Der Herzog von Parma Konstantinos Klironomos Die Herzogin von Parma (seine Gemahlin) Antonia Radneva Der Zeremonienmeister Uwe Tobias Hieronimi Des Mädchens Bruder, Soldat Peter Kubik Drei Studenten aus Krakau Aljoscha Lennert/Peter Kubik/Levente György Jurist Levente György Theologe Piet Bruninx Naturgelehrter Peter Kubik Ein Leutnant Jan Kristof Schliep Gravis Piet Bruninx Levis Levente György Asmodus Peter Kubik Beelzebuth Jan Kristof Schliep Megäros Konstantinos Klironomos Wittenberger Studenten Jan Kristof Schliep/Aljoscha Lennert/Peter Kubik/ Levente György Drei Solostimmen aus der Höhe Martina Nawrath/Antonia Radneva/Neele Kramer Der Dichter Uwe Schwarz Oper von Ferruccio Busoni Text vom Komponisten Ergänzt und vollendet von Philipp Jarnach AUFFÜHRUNGSMATERIAL Breitkopf & Härtel, Wiesbaden am 21. Mai 1925 in Dresden am 15. April 2017 in Hildesheim AUFFÜHRUNGSDAUER ca. 3 Stunden, inklusive einer Pause URAUFFÜHRUNG PREMIERE Werner Seitzer Uwe Schwarz AUSSTATTUNG Philippe Miesch CHÖRE Achim Falkenhausen DRAMATURGIE Roland Mörchen MUSIKALISCHE LEITUNG INSZENIERUNG Fotografieren sowie Ton- und Bildaufzeichnungen sind nicht gestattet und verstoßen gegen das Urheberrechtsgesetz. Opernchor des TfN Wir danken Herrn Alexander von Glenck (Zürich) für seine großzügige finanzielle Unterstützung dieser Produktion. Extrachor des TfN und Studierende der HMTM Hannover Orchester des TfN Statisterie des TfN Werner Seitzer 26 Uwe Schwarz Philippe Miesch Achim Falkenhausen Albrecht Pöhl Hans-Jürgen Schöpflin Uwe Tobias Hieronimi Antonia Radneva 27 IMPRESSUM Regieassistenz und Abendspielleitung Natascha Flindt Musikalische Studienleitung Kathryn Bolitho Musikalische Assistenz Mark Johnston, Shuichiro Sueoka Inspizienz Konstanze Wussow Soufflage Marina Brandenburger TECHNIK/WERKSTÄTTEN Technische Leitung Guido aus dem Siepen*, Alexander Maxein Ausstattungsleitung Hannes Neumaier*, Melanie Slabon Technische Leitung Produktion Andrea Radisch* Konstruktion David Maiwald Bühnentechnik Eckart Büttner*, Holger Müller, Christoph Bormann Beleuchtung Lothar Neumann*, Lars Neumann, Reinhold Bernhards, Karlheinz Kranz Ton Achim Hausherr*, Attila Bazso Maske Carmen Bartsch-Klute* Requisite Silvia Meier*, Carlotta Zarsteck Schneidereien Annette Reineking-Plaumann*, Egon Voppichler*, Kerstin Joshi Werkstättenleitung Werner Marschler* Tischlerei Johannes Niepel* Malsaal Thomas Mache* Schlosserei Johannes Stief* Dekoration Danja Eggers-Husarek, Anita Quade * Abteilungsleiter/-in Gefördert durch: Konstantinos Klironomos 28 TfN · Theater für Niedersachsen Theaterstr. 6, 31141 Hildesheim www.tfn-online.de Spielzeit 2016/17 Intendant Jörg Gade | Prokuristen Claudia Hampe, Werner Seitzer Redaktion Roland Mörchen | Probenfotos Jochen Quast Porträtfotos T.Behind-Photographics, außer Albrecht Pöhl: Andreas Hartmann/ Uwe Schwarz, Hans-Jürgen Schöpflin, Aljoscha Lennert: privat Texte Seiten 2, 5ff, 8ff, 18ff: die Texte von Werner Seitzer, Uwe Schwarz und Wolfgang Volpers sind Originalbeiträge für dieses Programmheft; Seiten 14-15: der Text von Roland Mörchen erschien erstmals unter der Überschrift „Vielsagendes Schweigen“ in Evangelische Kommentare Nr. 3/1998, S. 176, und wurde vom Verfasser für dieses Programmheft durchgesehen und erweitert; Seiten 12-13 aus: Ferruccio Busoni: Von der Macht der Töne. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Siegfried Bimberg, Leipzig 1983: Philipp Reclam jun., S. 141f, 149f; Seiten 22-25 aus: Kurt Weill: Musik und Theater. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Stephen Hinton und Jürgen Schebera. Berlin 1990: Henschel, S. 216 f; 38ff Gestaltung ProSell! Werbeagentur GmbH, Hannover Layout Jolanta Bienia | Druck Sattler Direct Mail GmbH & Co. KG Sponsoren/Partner: Freunde des Theater für Niedersachsen e. V. Medienpartner: Peter Kubik Aljoscha Lennert Levente György Piet Bruninx Jan Kristof Schliep Martina Nawrath Neele Kramer 29 30 Hans-Jürgen Schöpflin (Mephistopheles), Chor 31 „DER MENSCH IST DEM VOLLKOMMENEN NICHT GEWACHSEN. ER STREBE DENN NACH SEINEM EIGENEN MASSE UND STREUE GUTES AUS, WIE ES IHM GEGEBEN.“ Faust