Vertonung unendlicher Dezimalbrüche

Werbung
Jörg Schäffer, München
[email protected]
http://www.joerg-schaeffer.de
FRACTIONS I – Vertonung von Dezimalbrüchen
Eine interdisziplinäre Annäherung zum Thema „Unendlich“
in Mathematik und Musik
A) Einführung
Musik, bzw. ihr vorangehende kompositorische Vorgänge beziehen ihr Formenrepertoire und
ihre Gestaltungsprinzipien zunächst oft aus außermusikalischen Quellen, oder können dahin
zurückgeführt werden. Pythagoras etwa (6. Jh. v. Chr.) erklärt die Musik aus Zahlenproportionen heraus, Grundlage sind jedoch spirituelle Ansichten ( Ulrich Michels, 1985, Bd. 1, S.
175). Ebenso gehen Lieder, Oper und Sakralmusik auf zunächst außermusikalische Sujets
zurück. Die Programmmusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bezieht sich oft auf Naturphänomene (PASTORALE, MOLDAU, CATALOGUE D’OISEAUX etc.) oder Werke der bildenden Kunst
(z. B. BILDER EINER AUSSTELLUNG). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich
bspw. in der seriellen Musik wiederum mathematisch strukturelle Bezüge.
Gegenüber künstlerisch und ästhetisch inspirierten musikalisch/kompositorischen Ansätzen
zur Vertonung außermusikalischer Inhalte bzw. außermusikalischen Einflüssen auf den Kompositionsvorgang steht die wissenschaftlich geführte rational/diskursive Diskussion zur akustischen Abbildung derartiger Inhalte im sog. Auditory Display (Cramer, 1994).
Akustische Abbildungen lassen sich demzufolge in einem „analog/symbolischem Kontinuum“ einordnen, an dessen „analogem“ Ende ein direkt erzeugter elektronischer oder mechanischer Klang (Geräusch) als akustische Abbildung des jeweiligen Inhalts (Sachverhalts)
steht. Das als „symbolisch“ bezeichnete Ende beschreibt den Klang einer durch Syntax und
Semantik definierten gesprochenen Sprache.
Die einzelnen Klangstrukturen (durch Lautfolgen aufgebaute Wörter) haben einen hohen
Symbol-Charakter für den bezeichneten Gegenstand (das gesprochene Wort „Auto“ hat mit
anderen Eigenschaften eines Autos (Aussehen, Geräusch etc.) wenig gemeinsam). Im Übergangsbereich finden sich verschiedene Abbildungs- und Ikonisierungsverfahren für numerische und physikalische Daten.
Das in der vorliegenden Arbeit gewählte außermusikalische Sujet der Dezimaldarstellung der
rationalen Zahlen 1/n mit n = (1, 2, 3, …) diente als Sinnbild des Unendlichen, da mehrere
Aspekte des Unendlichen abgedeckt werden. Erstens ist die Folge (1, 2, 3, …) selber unendlich, zweitens ist die Menge der diese Zahlen angehören (rationale Zahlen) überall dicht, d. h.
zwischen jedem Paar (1/n, 1/(n + 1)) liegen unendlich viele weitere Zahlen und schließlich
existieren für einige Zahlen unendliche periodische Dezimalbrüche.
Für die Vertonung interessant sind vor allem auch die Fragen wie das Unendliche in die Endlichkeit geholt wird (End- bzw. Abbruchbedingungen). Die meisten Schritte des Vertonungsverfahren liegen überwiegend am „symbolischen“ Ende des „symbolisch/analogen Kontinuums“ (s. o.) doch sollten die künstlerisch/kompositorischen Fragestellungen aus dem Material heraus entwickelt und beantwortet werden (analoger Aspekt). Es ergibt sich damit ein
Brückenschlag zwischen Musik und Mathematik.
Formangebote aus beiden Bereichen werden miteinander in Korrespondenz gebracht so dass
Eigenschaften mathematischer Strukturen direkt sinnlich wahrnehmbar werden.
B) Aspekte des Unendlichen in der Musik
Der Begriff des Unendlichen in der Musik lässt sich aus mehreren Blickwinkeln betrachten:
1. begrifflich,
2. akustisch,
3. inhaltlich/ästhetisch: Unendlich als Programm bzw. Thema der Musik bzw. formal als
Kompositionsstrategie.
1. Begriffliche Aspekte
Einen interessanten Querschnitt über die Begriffsverbindung „Unendlich“ und „Musik“ bietet
die Internet Recherche. Viele Beiträge operieren mit der Behauptung die Musik selbst sei bereits unendlich bzw. durch Musik werde das Unendliche berührbar oder fassbar. Oftmals gleiten die Verfasser in esoterische Spekulationen bzw. spirituelle Erklärungsversuche. Mehrfach
werden auch Auflösungs- bzw. Verschmelzungsphantasien beschrieben (verschmelzen mit
dem (unendlichen) Kosmos durch Musik/der Musik).
Tab. 2: Anzahl der Treffer der Suchmaschine Google (google.de) im Internet
2. Akustische Aspekte
Stellt man die Frage nach dem Unendlichen im akustischen Bereich, so ergeben sich Grenzfälle, die durch die physikalischen Eigenschaften des Schalls und seines Mediums (Luft bzw.
Materie) bedingt werden.
Unendlich laut
Physikalische Grenze: Anzahl (Dichte) und Amplitude der MaterieGas)teilchen
Unendlich leise
Physikalische Grenze: Dichte des Mediums = 0 (keine Materie bzw. Vakuum) oder Amplitude der Materie(Gas)teilchen = 0 (Absoluter Nullpunkt, 0°K)
Unendlich viele Frequenzen
Physikalische Grenze: Anzahl der Materie(Gas)teilchen
Unendlich ähnliche Frequenzen
abhängig von der Phasenlage, Verdoppelung der Intensität bzw. gegenseitige Auslöschung, in
Übergangsbereichen Schwebungen.
Diese Aufzählung ist nur eine kleine Auswahl möglicher Fragestellungen und berücksichtigt
Schall lediglich als physikalisches Phänomen. Man kommt zu einer Fülle weiterer Anregungen, wenn auf dem Gebiet der akustischen Kommunikation die Qualität des Schallsignals
befragt wird, z. B. unendlich kontinuierlich/diskontinuierlich, unendlich rauh/glatt unendlich
scharf/stumpf.
3. Inhaltlich/ästhetische Aspekte
Leitsatz für dieses Kapitel ist ein Ausspruch von Edward Grieg „Wir Komponisten projizieren das Unendliche, Unbegrenzte in das Endliche, Begrenzte“. Natürlich lassen sich viele
Konzepte des Unendlichen nicht 1:1 in die Realität übertragen, da die Realität aufgrund physikalischer und wahrnehmungspsychologischer Gründe immer Elemente des Endlichen einbringt (z. B. endlich viele Teilchen, endliche Aufmerksamkeitsdauer, endliche Anzahl an Rezeptionskanälen). Wie jedoch die Internet-Recherche zeigt, wird „Musik“ und „Unendlich(keit)“ relativ oft und intensiv miteinander assoziiert und zwar gerne vor der Folie des
Spirituellen. Kulturgeschichtlich ist dies nicht überraschend, da die Wurzeln der Musik oftmals aus dem Tanz oder archaischen Ritualen abgeleitet werden. Die damit einhergehenden
Bewusstseinszustände der Entrückung (z. B Trance) sollen zum Göttlichen bzw. Unendlichen
verbinden.
In ähnlichem Sinne findet man derartige Auflösungstendenzen als Erscheinung der sog. „unendlichen Melodie“ in der spätromantischen Musik übertragen. Motiv- und Themenlänge
nehmen ausgehend von der Barockmusik (Themenlänge ca. 4 Takte) über die Klassik (Themenlänge ca. 8 Takte) bis hin zur Romantik (Themenlänge > 8 Takte) kontinuierlich zu. In
der Konsequenz entwickelt sich in der Spätromantik die sog. „unendliche Melodie“ mit typischen Vertretern wie Richard Wagner, Anton Bruckner und Gustav Mahler. Deutlichstes
Merkmal ist das Fehlen eines Schlusseindrucks innerhalb der Sätze, der durch Modulation
und Wiederholung des Themas erzeugt wird (Ulrich Michels, 1985, Bd. 2, S. 453). Die „unendliche Melodie“ wird ständig fortgesponnen so dass der Hörer in einer ständigen schwebenden Spannung gehalten wird (z. B Gustav Mahler, SYMPHONIE NR. 1, 1. Satz). Dies wird
unterstützt durch eine zur gleichen Zeit stürmisch einsetzende Freiheit in Modulation bzw.
Akkordprogressionen, welche die typischen Kadenzvorgänge der Klassik ablösen. Den Höhepunkt setzt Wagner mit dem „Tristanakkord“ (1865), der als „Modulations-Drehscheibe“ uneingeschränkte (unendliche!) Tonartenbeziehungen ermöglicht (Ulrich Michels, 1985, Bd. 2,
S. 435 – 439; Diether de la Motte, 1995, S. 225 ff.).
Dies wiederum bereitet den Weg für die atonale Musik und die Zwölftonmusik die als Befreiung aus tonalen Fesseln empfunden werden und nun uneingeschränkte (unendliche!) Tonbeziehungen zulässt und damit völlig neuartige musikalische Entwicklungen einleitet.
Im verfeinerten intellektuellen Diskurs, jedoch eher unbeabsichtigt, stellt sich dass das Thema
„Unendlich“ in den Werken einiger Komponisten der jüngeren Moderne, da versucht wird,
durch extreme Konstellationen neue Klang- und/oder Expressionsräume zu erreichen (s. u.).
Ein interessanter Schnittpunkt bildet sich hier zwischen wahrnehmungsphysiologischen bzw.
–psychologischen Rezeptionsgrenzen und der Ökonomie der eingesetzten Mittel. Das subjektive Erleben der „Unendlichkeit“ bzw. des Extrems kann im Optimum nicht mehr durch eine
Erhöhung des technischen Aufwands gesteigert werden. (Das gleichzeitige Ticken von 200
Metronomen wird kaum mehr als komplexer (qualitativer Aspekt!) wahrgenommen als dasjenige von 100 Metronomen, sondern lediglich als lauter (quantitativer Aspekt!)). Einfangen
und Erfassen der Unendlichkeit gelingt hier durch ein letztlich neuronal begrenztes „als ob“
bzw. surrogierendes „fast wie“ wohingegen die technische Realisierung des „wirklich Unendlichen“ – falls sie überhaupt möglich sein sollte – wahrnehmungsphilosophisch redundant
bleibt.
Einige (subjektiv ausgewählte) Beispiele mögen diese Ausführungen erläutern:
Unendlich laut –
Unendlich leise
John Cage: 4'33''. Die im Titel des Stückes angegebene Zeitdauer als auskomponierte Stille
(in Ensemble-Besetzung). Das Stück müsste eigentlich um die „als ob“-Grenze zu erreichen
in einem schalltoten Raum gespielt werden.
Unendlich kurz
Das Gehör kann – abhängig von Frequenz und Lautstärke – Töne bis hinunter zu 1 ms Dauer
wahrnehmen. Extrem kurze Mikrostücke würden dann ca. 10 bis 20 ms dauern. Existierende
Werke derartigen Charakters sind nicht bekannt.
Unendlich lang
Erik Satie: VEXATIONS. Dauer (in der Interpretation von John Cage): ca. 20 bis 25 Stunden;
John Cage: AS SLOW AS POSSIBLE. Dauer (in der Halberstädter (Deutschland) Interpretation für
Orgel): 639 Jahre (läuft seit dem 5. 2. 2003).
Jern Finer: LONGPLAYER. Dauer: 1000 Jahre (läuft seit dem 1. 1. 2000 bis 31. 12. 2999)
Unendlich viele Rhythmen
György Ligeti: POÉME SYMPHONIQUE. Stück für 100 Metronome (die Metronome laufen alle
mit verschiedenen Geschwindigkeiten)
Unendlich viele Frequenzen
György Ligeti: diverse Stücke wie VOLUMINA, ATMOSPHERES oder das REQUIEM. Die Werke
sind mikrotonal und polyrhythmisch komponiert. Darüberhinaus hat jedes Orchesterinstrument eine eigene Stimme (kein unisono (!) auch bei mehrfach besetzten Instrumenten, z. B.
Geigen), so dass ein enorm vielschichtiger Gesamtklang entsteht.
Unendlichkeit i. d. Mathematik
Violetta Dinescu: ECHOES (erste 20 Stellen der Zahl e als musikalisches Thema);
György Ligeti: SEEPFERDCHENETÜDE (Kompositorische Umsetzung eines Ausschnitts der Mandelbrotmenge);
Jörg Schäffer: CANTORSTAUB (Mengentheorem von Georg Cantor);
INTERMITTENZ I (FEIGENBAUM-Szenario der logistischen Gleichung);
FRACTIONS I (Dezimalbruchdarstellung, vorliegende Arbeit).
C) Vertonung von Dezimalbrüchen –
die Komposition FRACTIONS I für 12 Blasinstrumente
1. Vorbemerkungen
Die Darstellung rationaler Proportionen als Tonereignis ist im Bereich der Harmonik erschöpfend beschrieben und soll hier nur der Vollständigkeit halber kurz erwähnt werden. Bereits im
Altertum (Pythagoras, 6. Jh. v. Chr.) war das Verhältnis von Proportion und harmonischer
Tonempfindung bekannt (Ulrich Michels, 1985, Bd. 1, S. 175; Neil Bibby, 2003; Manuel Pedro Ferreira, 2002).
Physikalische Grundlage dieser Erscheinung ist die Tatsache, dass sich die Frequenzen der
Abschnitte einer unterteilten frei schwingenden Saite, bezogen auf den Grundton der ungeteilten Saite, genau umgekehrt proportional zu ihren Längen verhalten (Halbe Länge: Doppelte
Frequenz des Grundtons, drittel Länge: dreifache Frequenz des Grundtons etc.). Neuere Vertreter dieser Schule sind Hans Kayser und Rudolf Haase (Lehrstuhl für Harmonik an der
Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Wien).
Zur musikalischen Darstellung des Unendlichen am Beispiel der Dezimalbruchvertonung sind
harmonikale Ansätze jedoch weniger geeignet, obwohl die Obertonreihe selbst ein prägnantes
Sinnbild für Unendlichkeit im akustischen Bereich ist (Joachim Ernst Berendt, 1985, S. 71).
Da das Ohr (gemeint ist hier der gesamte neuroakustische Apparat) kein Messgerät im physikalischen Sinne ist, sondern darauf ausgelegt ist, aktiv zu interpretieren und umfangreiches
erworbenes Wissen einzusetzen, bedarf die quantitative Analyse von Obertönen oder Obertonmischungen sowie die Differenzierung akkordischer Cluster außerordentlicher Schulung
(Ernst Terhard, 1998, S. 10 – 11).
Darüber hinaus ist die gezielte Herstellung frei definierter (z. B. nicht ganzzahliger) Obertonzusammenstellungen oder -folgen nur mittels elektronischer Klangerzeugung möglich, mit
Naturinstrumenten jedoch nahezu ausgeschlossen. Weiterhin beruhen die Betrachtungen der
Harmonik im wesentlichen auf statischen Phänomenen und implizieren zunächst keinen musikalischen „Verlauf“. Das Prinzip der Obertonreihe ist jedoch in der gleichschwebend temperierten Stimmung nahezu optimal „eingefangen“ so dass auch ihr Unendlichkeitsapsekt in der
Musik – zumindest latent – präsent ist.
Bei der vorliegenden Vertonung von Aspekten des Unendlichen in (periodischen) Dezimalbrüchen werden die Struktureigenshaften und Formangebote des Materials in musikalischen
Strukturen übertragen. Vorgestellt werden Kompositions- bzw. Übertragungsschemata, die
sich prinzipiell für beliebige Besetzungen akustischer Instrumente ausbauen lassen. Diese sind
jedoch nur als Wegweiser gedacht und nicht als schöpferisches Korsett. Spielbarkeit der erhaltenen Notenfolgen und Nachvollziehbarkeit der zugrundeliegenden Gedankengänge stehen
im Vordergrund.
Aus diesem Grund wurde sowohl von einer gleichschwebend temperierten Stimmung ausgegangen (12 Halbtöne pro Oktave) als auch von der Darstellung der Bruchzahlen im Dezimalsystem obwohl prinzipiell natürlich andere Stimmungen oder andere Zahlensysteme möglich
sind. Die zunächst allgemeinen Überlegungen (Kapitel C 2 und C 3) werden auf eine Besetzung von 12 Blasinstrumenten hin konkretisiert (Kapitel C 4 bis C 7). Die so entstandene
Komposition FRACTIONS I wurde als MIDI-Version am 15. 6. 2002 in Kaiserslautern uraufgeführt.
Als prominentestes strukturelles Merkmal von Bruchzahlen in linearer Schreibweise und Zeichen für „Unendlichkeit“ ist die Periodizität ihrer Zeichenketten die immer dann entsteht,
wenn wenigstens ein Faktor im Nenner des korrespondierenden Bruchs teilerfremd zu den
Faktoren der Basis des Zahlensystems ist (z. B. 1/3 oder 1/7 im Dezimalsystem, Fritz Rein-
hard/Heinrich Soeder, 2001, Bd. 1, S. 62). Zahlen werden daher zunächst als Zeichenketten
betrachtet.
Dies ist insofern interessant als dass damit Verknüpfungen zu anderen Zeichenkettensystemen
(Noten, Wörter, Gensequenzen u. ä.) hergestellt werden können. Als nächstes wird entschieden auf welche Weise die erhaltene Zeichenkette in einen Notentext umgesetzt kann. Hierzu
werden Formangebote aus Musik und Mathematik miteinander verglichen.
2. Zahlen als Zeichenketten
a) Einfluss des Zahlensystems
Zahlen werden erst in Verbindung mit einem Zahlensystem (Basis) zu einer Zeichenkette. Art
und Abfolge der Zeichen innerhalb der Kette hängen extrem vom Zahlensystem ab. Die nachfolgende
Abbildung zeigt die Zahl1 106 in verschiedenen Zahlensystemen:
11110100001001000000 ...(base 12)
1212210202001 .................(base 13)
3310021000 .......................(base 14)
224000000 .........................(base 15)
33233344 ...........................(base 16)
11333311 ...........................(base 17)
3641100 .............................(base 18)
1783661 .............................(base 19)
623351 ...............................(base 11)
402854 ...............................(base 12)
290221 ...............................(base 13)
1C0608...............................(base 14)
14B46A ..............................(base 15)
F4240 .................................(base 16)
1000000
Dezimalschreibweise
Abb. 1: Darstellung der Zahl 106 in verschiedenen Zahlensystemen (2 bis 16). Quelle: eigene Berechnungen
Dies gilt natürlich auch für die Stellenschreibweise von Bruchzahlen. Hier kommt hinzu, dass
die Periodizität ebenfalls vom Zahlensystem abhängt. Die Periodizität der Stellenschreibweise
einer Bruchzahl ist also keine eigene Eigenschaft dieser Bruchzahl, sondern ergibt sich erst
nach Wahl des geeigneten Zahlensystems (genauer: Wahl der Basis g im g-adischen System).
Der Bruch 1/3 bspw. stellt sich im Dezimalsystem in der Stellenschreibweise bekanntermaßen
als 0,33333…. Periode 3, im Ternalsystem (zur Basis 3) einstellig als 0,1. Der Bruch 1/2 im
Dezimalsystem als 0,5 bekannt, nimmt im Ternalsystem die Form 0,1 an. Folgendes Schaubild vergleicht die Stellenschreibweise der Bruchzahlen 1/2, 1/3 und 1/10 in verschiedenen
Zahlensystemen.
Abb. 2: Darstellung von 1/210, 1/310 und 1/1010 (Der tiefgestellte Index 10 bedeutet, dass die Zahlen
im Dezimalsystem dargestellt sind) im Dual-, Ternal- und Dezimalsystem.
Bei periodischen Brüchen sind die ersten 76 Stellen angegeben. Quelle: eigene Berechnungen. In der
ersten Spalte folgt der Darstellung der Bruchzahl im Dezimalsystem eine Darstellung im Dual- und im
Ternal-System in kleinerer Schrift.
Ganz bewusst wurden hier bei periodischen Bruchzahlen überperiodische Stellen angegeben
und diese als Quadrat gesetzt. So fällt auf, dass sich charakteristische Muster bilden. Diese
Musterbildung ist ein Formangebot, dass von der Komposition aufgegriffen werden sollte.
Folgende Übersicht zeigt Periodendauern und die ersten 50 Nachkommastellen der Brüche
1/n mit n = (1, 2, 3, …, 50).
Abb. 3: Darstellung der Zahlen 1/n mit n = (1, 2, 3, …, 50). Von periodischen Brüchen sind
die ersten 50 Stellen angegeben. Die Zahlen der äußeren rechten Spalte bezeichnen die
Periodenlängen l. Der Stern markiert Situationen für l = n – 1. Quelle: Adrian Jenkins, 1985,
S. 26.
Anhand der Materialzusammenstellung (Abb. 3) fällt folgendes auf: die Periodenlängen 1, 2,
3 und 6 kommen besonders häufig vor. Das führt hinsichtlich einer optimalen Kompositionstechnischen Darstellung zu mehreren Fragen:
 Wie lassen sich Perioden mit gleicher Länge (z. B. 0,333… und 0,666…) voneinander
absetzen,



bzw. wie lässt sich ein qualitativer Aspekt, der nur aus dem Unterschied der an der Periode beteiligten Zahlen besteht, verstärken?
Ist der Unterschied zwischen den Periodenlänge bspw. von 1 und 2 (quantitativer Aspekt!) von sich aus groß genug um gestaltgebend zu wirken oder bedarf es weiterer
Verstärkungsfaktoren qualitativer Art?
Wie bzw. wie lang darf/kann/muss die Periode dargestellt werden um sich von nichtperiodischen Brüchen zu unterscheiden?
Die Problematik, insbesondere der ersten beiden Punkte lässt sich verdeutlichen, wenn Perioden grafisch dargestellt werden:
Abb. 4: Darstellung1 von 1/310, 1/1010 und 1000!10 im Dualsystem
(numerisch ca. 70 Stellen, quadratisch gesetzt in Anlehnung an Abb. 2) und grafisch (ca.
7000 Stellen). Für die grafische Darstellung wurde jeder 0 ein weißer Pixel und jeder 1 ein
schwarzer Pixel zugeordnet und die Pixelkette quadratisch umbrochen. Bei den Brüchen
wurden aperiodische Anfangsfolgen weggelassen. 1000! dient lediglich dem Vergleich.
Aus Abbildung 4 geht besonders in der grafischen Darstellung deutlich der Unterschied zwischen periodischen (1/3 bzw 1/10) und aperiodischen (1000!) Zahlen hervor. Auffällig ist
jedoch auch, dass das 1/10-Muster eine Vergrößerung des 1/3-Musters ist. Dies ist jedoch
lediglich ein quantitativer Aspekt. Um den Perioden qualitativere Eigenschaften zu geben und
Redundanz zu reduzieren, sie also „interessanter“ zu machen, wurde das Prinzip der „systematischen Auslöschung“ erfunden.
b) systematische Auslöschungen
Das Verfahren der systematischen Auslöschung ist recht einfach und führt schnell zu komplexen Ergebnissen. Bspw. ist beim Bruch 1/3 die Dezimalschreibweise 0,33333…, die Periode
ist 3. Dies bedeutet, das nach 3-maligem Auftauchen der 3 die nächsten drei Stellen durch 3
„leere“ Platzhalter ersetzt (gelöscht) werden – neue „Periode“ also: 333xxx . Dieses Verfahren wird auf jede neu entstandene Periode systematisch angewendet.
Abb. 5: Systematische Auslöschungen am Beispiel 1/3 und 1/7
Der Begriff „kleinster Idiotyp“ bezeichnet hier die jeweils neue Periode.
Die erhaltenen Zahlenreihen lassen sich ähnlich wie in Abb. 4 visualisieren:
Abb. 6: Visualisierung systematischer Auslöschungen am Beispiel von 1/3 und 1/7.
Verfahren in Anlehnung von Abb. 4. Gezeigt ist jeweils der kleinste Idiotyp3 (1 Periode vgl.
Abb. 5) in größer werdenden Maßstäben. Den Ziffern ist jeweils schwarz (1/3) oder ein Grauwert (1/7) zugewiesen. Linke Säule: 1/3, Rechte Säule: 1/7
2 Genauer
gesagt: der Kristallografie entlehnt. Dort sind die systematischen Auslöschungen bestimmter Reflexe
ein probates Mittel zur Raumgruppenbestimmung. Die Periodizität von Kristallen und von periodischen Dezimalbrüchen bilden hier gewissermaßen die „gestaltgebende Klammer“.
3 Der Begriff Idiotyp entstammt der Genetik und bezeichnet dort die genetische Gesamtausstattung einer lebenden Zelle. Er wurde hier verwendet, um gegenüber die eher kristallinen Erscheinung der Perioden eine gewisse
Lebendigkeit zu setzen.
Die Einzelbilder aus Abb. 6 lassen sich überlagern und führen dann zu reizvollen grafischen
Strukturen:
Abb. 7: Visualisierung der Überlagerung systematischer Auslöschungen am Beispiel 1/3 und
1/7. Im Falle 1/3 ist nur die obere Hälfte der Abbildung dargestellt, die untere Hälfte ist leer.
Niedrige Auslöschungen sind in hellen Grautönen dargestellt, hohe in dunklen.
3. Von der Zeichenkette zum Notentext
Einer der wichtigsten und weitreichendsten Arbeitsschritte ist die Übertragung der vorbereiteten Zeichenkette in einen Notentext. Dies kann entweder direkt (ohne vorherige Bearbeitung
der Zeichenkette) oder indirekt (nach einer Veränderung der Zeichenkette bspw. durch Seg-
mentierung, Löschungen, Umbruch oder andere Symmetrieoperationen) erfolgen. Der direkte
Fall wird außerordentlich selten realisiert und führt nur in Ausnahmefällen zu überzeugenden
Ergebnissen.
Der vorliegende Fall ist ein indirekter, da die Zeichenkette durch systematische Auslöschungen verändert wurde.
Ein sehr einfaches Verfahren Ziffern- oder Zeichenfolgen in Musik umzusetzen bieten sog.
Abbildungsverfahren (engl. „mapping“). Die folgende Grafi k zeigt einige einfache Beispiele.
Darüberhinaus sind natürlich viele weitere Möglichkeiten denkbar: Motivmapping, Verzierungsmapping, dynamisches Mapping etc. und natürlich beliebige Mapping-Kombinationen.
Abb. 8: Einige Beispiele für Mapping von Zeichenketten auf einen Notentext.
Für die Vertonung der Dezimalbrüche wurde ein tonhöhenbezogener Ansatz gewählt. Dies
ergab sich aus zwei stark korrespondierenden Formangeboten zur Ordnung der Elemente in
Mathematik (Zahlen) und Musik (Töne). In der Mathematik erfolgt die Anordnung der Zahlen
– repräsentiert durch Ziffern – in Abhängigkeit ihres Wertes aufsteigend oder absteigend:
(0) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 oder 9 8 7 6 5 4 3 2 1 (0).
Beim Zählen wird diese Folge zyklisch durchlaufen. Eine Sonderstellung nimmt dabei die 0
ein. Sie hat keinen eigentlichen „Wert“ sondern hat eher Abstandshalterfunktion und kann
damit
durch die Beeinflussung der „Phasenlage“ einer Ziffernfolge deren Wert erheblich beeinflussen.
Die Tonleiter kann als dazu korrespondierendes Formangebot der Musik aufgefasst werden:
Die Ordnung der Töne – repräsentiert durch Noten – erfolgt nach der Tonhöhe aufsteigend
oder absteigend. Die Musik kennt eine Vielzahl von Tonleitern (modale, außereuropäische,
diatonische, pentatonische etc.). Gemeinsam ist ihnen ein zyklischer Charakter, mit der Oktave als kleinstem Zyklus.
Wählt man eine der im westlichen Kulturkreis bekanntesten Tonleitern (C-Dur Tonleiter), so
hat man sich für eine diatonische, aus sieben Tönen bestehende Leiter entschieden. Varianten
bieten sich hier in Tonart (Abhängigkeit von den Anfangstönen: G, D, F etc.) und alternativen
im Tongeschlecht (Abhängigkeit von der Lage der Ganz- und Halbtonschritte in der Tonleiter
dur/moll) an.
Bekannte Tonleitern mit anderen Tonanzahlen sind Ganztontonleiter (6 Töne), pentatonische
Tonleiter (5 Töne) oder die chromatische Tonleiter (12 Töne). Für eine Abbildung der Ziffern
des Dezimalsystems – inklusive der 0 – bietet sich zunächst zwanglos eine pentatonische Tonleiter an (vgl. Abb. 9).
Abb. 9: Zwei Möglichkeiten der Abbildung der Ziffern des Dezimalsystems auf eine aufsteigende pentatonische Tonleiter mit Grundton c1.
a) Lösung durch Doppelbelegung, b) Lösung mit zwei Tonleitern in verschiedener Lage.
Die in Abbildung 9 vorgestellten Möglichkeiten der Abbildung der Ziffern des Dezimalsystems (inklusive der 0) auf eine pentatonische Tonleiter hat den Vorteil, dass sich kein „Phasenunterschied“ zwischen den Zyklen von Zählung und Tonleiter ergibt: Die Ziffer „0“ übernimmt die Funktion der Zahl 10 und beim Weiterzählen würde die Zahl 11, als Beginn eines
neuen Zählzyklus, mit dem Anfangston c (c2 im Fall „a“, c3 im Fall „b“) weiterführen.
Für eine eindeutige Abbildung benötigt man jedoch 2 Tonleitern (Abb. 9b). Dabei bleibt die
Frage offen, ob der qualitative Unterschied der Zifferngruppen 1 bis 5 und 6 bis 0 dem qualitativen Unterschied der beiden Tonleitern in verschiedener Lage entspricht.
Im Hinblick auf ein Ensemblespiel garantiert die Pentatonik allerdings immer einen „harmonischen“ Eindruck.
Fasst man jedoch die Null als Pause auf, so würde – im Idealfall – für die Abbildung der
verbleibenden 9 Ziffern eine entsprechende neuntönige Leiter benötigt werden. Eine Verwendung der bereits erwähnten Leitern mit fünf, sechs, sieben oder zwölf Tönen (s. o.) zur Abbildung der neun Ziffern des Dezimalsystems (ohne die Null) erfordert dagegen immer einen
Kompromiss, will man nicht auf exotische Skalen oder eine andere Zahlenbasis ausweichen.
Die in Abb. 10a vorgestellte Ausformung eines solchen Kompromisses bietet den Vorteil,
dass die üblichen Intervallbezeichnungen mit den jeweils abgebildeten Ziffern des Dezimalsystems korrespondieren und mildert so den etwas artifiziellen Charakter dieser Version. Sie
wurde auch als Abbildung für die Komposition FRACTIONS I verwendet. Als Alternative ist
natürlich ebenso eine absteigende Leiter denkbar.
Abb. 10: Einfache Abbildungsmöglichkeiten für die neun Ziffern des Dezimalsystems (ohne
die Null) auf verschiedene Tonleitern jeweils aufsteigend mit Grundton c1.
a) diatonische Dur-Tonleiter, b) chromatische Tonleiter, c) Ganztontonleiter.
Die „Phasenverletzung“ ergibt sich aus den unterschiedlichen Zykluslängen von Tonleiter
und Zählzyklus. Markiert ist jeweils das erste Auftreten. Die grau hinterlegte Abbildung a)
wurde für die Komposition FRACTIONS I verwendet.
Wendet man die Abbildung 10a auf die Ziffernfolgen der Dezimalbrüche mit dem Zähler 1
an, so ergeben sich für die Nenner 1 bis 12 folgende Sequenzen:
Abb. 11: Notensequenzen von 12 Dezimalbrüchen mit dem Zähler 1 und den Nennern 1 bis
12, abgeleitet aus dem Abbildungsvorschlag für die Ziffern 1 bis 9 des Dezimalsystems auf
eine diatonische Dur-Tonleiter mit Grundton c1 (vgl. Abb.10a). Die 0 wird als Pause interpretiert.
In Abb. 11 wird die Problematik dieser einfachen Verfahrensweise deutlich: zur Darstellung
von 1/3 müsste der Ton e unendlich oft repetiert werden. Die Lösung dieser Problematik kann
– allenfalls rational gestützt – eigentlich nur künstlerisch erfolgen und bewegt sich dabei im
Spannungsfeld zwischen Vollständigkeit und optimaler Darstellung. Sie hängt u. a. (neben der
eigenen personellen und ästhetischen Disposition) von der Art, Auswahl und Anordnung des
Materials (konstante oder variable Zahlenbasis, welche und wieviele Dezimalbrüche werden
zur Vertonung ausgewählt, erfolgt die Vertonung mehrer Dezimalbrüche sukzessiv, simultan,
alternierend, welche Reihenfolge wird gewählt) sowie von zahlreichen kontextualen Bedingungen ab (ästhetische Intention, Instrumentarium und Besetzung, technische Voraussetzungen der Spieler, beabsichtigte Spieldauer, Anzahl der Aufführungen, Aufführungssituation,
Produktionsmodi etc.). Im einfachsten Fall kann man natürlich nach einer definierten Anzahl
von Repetitionen abbrechen.
Andere Lösungen wären bspw. ein Diminuendo oder ein Accelerando des zu repetierenden
Tons sowie die Verwendung spezieller Artikulationen (Vibrato, Flatterzunge etc.). Durch
Verwendung von Fermaten oder ad lib.-Anweisungen stellt man die Lösung des Periodenproblems weitgehend dem Interpreten anheim.
Weiterhin besteht auch die Möglichkeit, Perioden nach einer gewissen Anzahl von Repetitionen miteinander zu kombinieren oder eine charakteristische Periodenlänge regelmäßig wiederkehren zu lassen. Bildet man nicht „alle möglichen“ Dezimalbrüche ab, sondern beschränkt sich auf eine gewisse Anzahl bspw. mit großen Zählern und/oder Nennern, so könnte
ein Periodenbeginn durch den Einsatz von Schlagwerk markiert werden.
Für die Komposition FRACTIONS I wurde das bereits vorgestellte Verfahren der systematischen
Auslöschung angewendet (vgl. Kap. C2b). Aus den uniform wiederkehrenden Perioden entstehen damit interessante „löchrige“ Strukturen, die, sich ständig neu kombinierend und überlagernd, genügend Transparenz und Freiraum für eine größere Anzahl an Dezimalbrüchen
bieten. Aus dem einfachen „mehr“ beim Zufügen weiterer Dezimalbrüche wird damit ein
„komplexer“.
Auch im Rhythmus sollten sich Periodenqualitäten widerspiegeln. Daher wurden für „3er“Perioden (Ziffer oder Periodenlänge 3, 6, 9 etc.) triolische Strukturen, für „gerade“ Perioden
reguläre Notenwerte verwendet. Die „kleinsten Indiotypen“ für 1/3 und 1/7 (vgl. Abb. 5) nach
der ersten Auslöschung können damit in folgende Muster umgesetzt werden:
Abb. 12: kleinste Idiotypen nach erster Auslöschung von 1/3 und 1/7 (vgl. Abb. 5) nach Abbildungsvorschrift (vgl. Abb. 10a) rhythmisch ausnotiert (s. o.)
4. Zeitrahmen und Grenzen
Für die Komposition FRACTIONS I gab es bereits vor Kompositionsbeginn einige Vorgaben:
Spieldauer: ca. 10 - 20 Minuten
Besetzung: 12 Bläser
Aufführung: im Rahmen der Veranstaltung „Tag der Mathematik“ der Universität Kaiserlautern
Aufführungsort und -zeit: Universität Kaiserlautern, Hörsaal, 15. 6. 2002, etwa mittags.
Die Komposition sollte nach folgenden Maximen aufgebaut werden:
1. Transparenz und Nahvollziehbarkeit
2. Vertonung so vieler Dezimalbrüche wie möglich
3. Vertonung von möglichst viel Periodeninformation
4. Vermeidung zusätzlicher Redundanz
Jedes Instrument übernimmt definierte Dezimalbrüche. Der Besetzung sollte eine nachvollziehbare Abbildungsvorlage zugrunde liegen.
Da der Zeitrahmen limitiert ist und es sich bei der Besetzung ausschließlich um einstimmig
spielende (im konventionellen Sinn!) Instrumente handelt, und gleichzeitig möglichst viel
Periodeninformation erklingen soll, müssen die Dezimalbrüche parallel vertont werden. Dies
wird zu Überlagerungen führen (gleichzeitig vorliegende Periodeninformationen verschiedener Dezimalbrüche, die aber von ein und demselben Instrument gespielt werden) für die Abbildungsregeln gefunden werden müssen.
Um eine gewisse Übersichtlichkeit zu erhalten sollten die musikalischen Motive der Dezimalbrüche aufeinanderfolgend einsetzen. Es wird im 4/4-Takt notiert, mit angemessenem Tempo.
Die Komposition folgt der Ordnung der Zahlen ohne Auslassungen. D. h. begonnen wird mit
1/1, dann folgt 1/2, dann 1/3 etc. Es werden periodische und nichtperiodische Dezimalbrüche
vertont. Jeder Dezimalbruch bekommt eine eigene „Stimme“.
Zur Vermeidung von Redundanz wurden nur Dezimalbrüche mit dem Zähler 1 verwendet.
Die Komposition ist beendet, wenn die Periode eines Dezimalbrüche wenigstens einmal
gleichzeitig mit allen Perioden der anderen periodischen Dezimalbrüche erklungen ist (das
Problem ist nicht trivial, da systematische Auslöschungen existieren). Dies limitiert zwar die
Anzahl der vertonten Dezimalbrüche, schafft aber zum einen ein eindeutiges Abbruchkriterium und zum anderen musikalische Strukturen, da nach einer „Expositionsphase“, in der die
einzelnen Dezimalbrüche das erste Mal erklingen, quasi eine Verarbeitungsphase einsetzt die
so lange durchspielt wird, bis die Abbruchbedingung eintritt (vgl. Abschnitt C6).
Der Zeitrahmen der musikalischen Motive für den kleinsten Idiotypen sollten sich am Nenner
(n) orientieren: je größer der Nenner, desto größer der zur Verfügung stehende Zeitrahmen
mit annähernd linearem Bezug (bei gleichbleibendem Zeitrahmen ergäben sich für lange Perioden sehr kleine, nicht mehr spielbare Notenwerte oder ein sehr langsames Tempo für das
ganze Stück).
5. Besetzung
Ziel der Besetzung war es, Periodencharakter und instrumentale Möglichkeiten zu verbinden.
D. h. bewegliche Instrumente (z. B. Klarinette, Trompete) spielen vorwiegend melodiehafte
Motive mit großen Periodenlängen und kleinen Notenwerte, unbewegliche Instrumente (z. B.
Tuba, Posaune) Motive aperiodischer Dezimalbrüche oder repetierende Motive mit großen
Notenwerten.
Bei näherer Betrachtung von Abbildung 3 fällt auf, dass die Periodenlängen von Dezimalbrüchen mit dem Nenner n und dem Nenner 2kn (k = 1, 2, 3, …) identisch sind (Die Periodenlänge l der Dezimalbrüche 1/n mit n = 3, n = 6, n = 12, n = 24, n = 48 ist jeweils 1).
Alle Dezimalbrüche mit dem Nenner 2kn (k = 1, 2, 3, …) wurden als Gruppe aufgefasst und
sollten von ein- und demselben Instrument ausgeführt werden.
Die Ergebnisse der vorangegangenen Überlegungen sind in folgender „Besetzungsspirale“ für
FRACTIONS I zusammengefasst:
Abb. 13: Besetzung für FRACTIONS I.
Die auf den Schnittpunkten von Spirale und eingezeichneten Strecken (Strahlen) liegenden
Zahlen, stehen für die Nenner n der Dezimalbrüche 1/n, n = (1, 2, 3, …, 50). Die eingekreisten Zahlen am Ende der Strecken geben die Periodenlängen der Dezimalbrüche der auf der
jeweiligen Strecke liegenden Zahlen an (z, B. Periodenlänge 2 für 1/11, 1/22, 1/44). Die aus
diesen Dezimalbrüchen samt ihren Perioden abgeleiteten musikalischen Motive (s. o.) werden vom jeweils nebenstehenden Instrument übernommen (z. B. Motive von 1/11, 1/22, 144
von der Trompete II). Die Spirale ist bis n = 160 ausgeführt (Tuba, keine Markierung). Das
Motiv für die 1 wird von der Tuba übernommen. Einige Instrumente übernehmen auch 2
Strecken (bspw. Klarinette II, 13, 26 und 33).
6. Ausarbeitung im Detail
a) Überlagerungen
Wie bereits in Kapitel C4 erwähnt werden die Dezimalbrüche parallel vertont was zu Überlagerungen führt: Trotz systematischer Auslöschungen ergeben sich oftmals simultan vorliegende Periodeninformationen verschiedener Dezimalbrüche, die jedoch von ein und demselben (einstimmigen!) Instrument gespielt werden (vgl. Abb 13, z. B. Horn: 1/3, 1/6, 1/12, 1/24,
1/48, jeweils Periode 3). Um eine eindeutige Situation zu schaffen wurden zwei Auswahlregeln aufgestellt:
1. Motive von Perioden der Dezimalbrüchen größerer Zahlen überlagern Motive von Perioden
der Dezimalbrüche kleinerer Zahlen (R1). Zusätzlich kann eine freie Artikulationsveränderung angebracht werden.
2. Kleinere Notenwerte überlagern größere Notenwerte (R2). In geeigneten Fällen kann eine
Motivverschachtelung eingeführt werden.
3. Regel 2 ist stärker als Regel 1 (R3).
Die Anwendung der beiden Auswahlregeln soll anhand der beiden Klarinettenstimmen der
Takte 27 – 30 aus Fractions I verdeutlicht werden (Abb. 14, rechte Seite). Neben den beiden
klingenden Klarinettenstimmen (große Notation) sind in kleiner Notation die Stimmen für die
Dezimalbrüche 1/7, 1/14, 1/27, 1/28, 1/47 (Klarinette I) sowie die Stimmen für die Dezimalbrüche 1/13, 1/26 und 1/33 (Klarinette 2) angegeben.
1. Stimmübernahme von „28“ bei gleichzeitger Stimme „27“ wegen 28 > 27 (R1) und
wegen Nw*(28) < Nw(27) (R2), jedoch Artikulationsveränderung (Phrasierungsbögen!). R1 gilt weiterhin auch bei Einsetzen von „14“ (Takt 27, 3. und 4. Schlag)
2. Stimmfortführung von „14“ da die restlichen Stimmen pausieren.
3. Stimmübernahme von „7“ wegen Nw(7) < Nw(14) (R2, wg. 14 >7 auch R3) mit Motivverschachtelung im 4. Schlag (Durchschlagen von Stimme „14“ in Spielpause von
„7“).
4. Stimmfortführung von „7“ da die restlichen Stimmen pausieren.
5. Einsetzen mit „33“ und Fortführung mit „26“ wegen Nw(26) < Nw(33) (R2)
6. Beibehalten von „26“ wegen 26>13 bei gleichen Notenwerten (R1), jedoch Artikulationsveränderung (Takt 30, 1. Schlag)
7. Fortführung von „13“, da die anderen Stimmen pausieren.
(Nw: Abkürzung für Notenwert; Nw(x): Notenwerte in Stimme x)
b) Abbruch
Die Abbruchbedingung für das Stück ist bereits in Kapitel C4 formuliert:
Die Komposition ist beendet, wenn die Motive der Periode eines periodischen (!) Dezimalbrüche 1/n, n = (1, 2, 3, …) wenigstens einmal gleichzeitig mit den Motiven der Perioden
aller anderen periodischen Dezimalbrüche 1/m, m = (1, 2, 3, …) mit n m, m < n und m, n
mit wenigstens einem, zu 2 und 5 teilerfremden Faktor, erklungen sind.
Ab diesem Moment ergeben sich keine wirklich neuen Motivkombinationen mehr. Aus diesem Grunde wurden alle „ersten Motivüberlagerungen“ kartiert, d. h. derjenige Takt festgestellt in dem sich die Motive der Periode der Dezimalbrüche 1/n und 1/m das erste Mal überlagern. Das Ergebnis ist in Abbildung 15 zusammengestellt. Diese Abbruchbedingung legt
auch fest, bis zu welchem n bei gegebener Spieldauer die Vertonung erfolgen kann: mit jedem
neuen
gen
n
wächst
die
Zahl
der
erforderlichen
„ersten
Periodenüberlage
rungen“.
Ab einem bestimmten Wert für n werden zu viele Takte benötigt, um mit allen anderen Motiven der Dezimalbrüche 1/m (s. o.) wenigstens eine Motivüberlagerung zu erreichen. Beispielsweise werden für n = 17 nur 8 Takte benötigt (Zeile 17 in Abb. 15), ab n = 18 jedoch
bereits 23 Takte:
Motiv „18“ überlagert sich zwar mit den meisten vorangegangenen Motiven zwar bereits im
Takt 8 bzw. in Takt 10, jedoch mit Motiv „11“ erst in Takt 23 (Zeile 18 in Abb 15). Normalerweise hätte die Vertonung bei n = 31 bzw. n = 32 (nichtperiodisch) abgebrochen werden
müssen, da die erste Motivüberlagerung erst etwa in Takt 900 (ca. 2 h Spieldauer) erfolgt
(Zeile 33, Spalte 18 in Abb. 15). Hier wurde jedoch eine Ausnahme gemacht und erst bei n =
46 abgebrochen. Kritischer Parameter war hier „44“ deren Motiv erst im Takt 156 mit dem
Motiv von „15“ überlagert. Gerade die 46 überlagert mit sehr vielen anderen Motiven relativ
niedrigtaktig.
Die 47 hat eine extrem lange Periode (46). Diese lange Periode hätte relativ kleine Notenwerte erfordert, was wegen der Spielbarkeit zu einer Temporeduzierung des gesamten Stücks
geführt hätte. Daher wurde die Vertonung bis n = 46 geführt.
Einen Überblick über die gesamte Partitur mit den Einsätzen für die Motive aller Dezimalbrüche 1/n, n = (1, 2, 3, …, 46) sowie für höchsttaktigen Werte der „ersten Periodenüberlagerungen“ ausgewählter (n,m)-Kombinationen (Hervorhebung in Abb. 15) bietet Abb. 16.
c) Schlusssequenz
Um der Komposition eine klare Form zu geben, sollte, eingeleitet durch tonleiterartige Sequenzen (Ausgangsüberlegungen!), mit einigen Tutti-Akkorden abgeschlossen werden (einige
Takte nach Takt 156). Die Tonleitern wurden jedoch nicht unmittelbar eingesetzt, sondern
mittels „Melodic morphing“ (s. Anhang, E3) für die einzelnen Instrumente aus den jeweils
zuletzt gespielten Phrasen heraus entwickelt. Je größer der Abstand zwischen letztem Einsatz
und Schlusssequenz für das jeweilige Instrument war, desto mehr morphing-Schritte wurden
etabliert, d. h. desto „weicher“ bzw. „flacher“ wurde das Morphing ausgeführt.
7. Erste Partiturseite
Abb. 17 zeigt die erste Partiturseite in der C-Dur-Version von FRACTIONS I mit untransponierten Bläserstimmen. Dieser Abbildung lässt sich auch die vollständige Besetzung entnehmen:
3 Klarinetten, 1 Saxophon, 3 Hörner, 2 Posaunen, 1 Tuba.
Die Aufführungsversion ist nach B-Dur transponiert. Die Einsätze der Motive der Dezimalbrüche 1/n (n = 1, 2, 3, …, 10) sind mit arabischen Ziffern (fett) angegeben.
8. Diskussion und Ausblick
Das vorliegende Werk FRACTIONS I erhebt keinesfalls den Anspruch auf Allgemeingültigkeit,
sondern ist zunächst eine kompositorische Annäherung bei der erste Erfahrungen gesammelt
werden konnten. Die „0“ als Pause zu verstehen führt zu rhythmisch interessanten Strukturen.
Unbefriedigend bleibt jedoch, das keine Abgrenzung zu Pausen existiert, die durch systematische Auslöschung erzeugt werden. Diese beiden „Pause-Qualitäten“ sollten sich unterscheiden.
(Bspw. ist der Beginn des rhythmischen Musters von 1/3 nach systematischer Auslöschung
nicht vom Beginn des rhythmischen Musters des Bruchs 1/3003 unterscheidbar.)
Ebenso unbefriedigend bleibt die „Phasenverletzung“ (vgl. Abb. 10a), bedingt durch den unterschiedlichen Zeichenvorrat der verwendeten Tonleiter- und Zahlsysteme. Abhelfen könnte
hier – bei Verwendung siebentöniger Leitern – die Darstellung der Bruchzahlen im Oktalsystem (Ziffern 1 bis 7 und 0) oder bei Verwendung chromatischer (11-töniger Leitern) im
Duodezimalsystem (Ziffern 1 bis 11 und 0).
Fractions I ist für eine Bläserbesetzung ausnotiert. Natürlich sind auch andere Besetzungen
denkbar. Insbesondere bei den Überlagerungen würden sich dann sicherlich andere Melodielinien ergeben. Bei Streicher- und/oder Klavierbesetzungen kann der Tonumfang des Stücks
sicherlich erweitert werden.
Die Komposition ist von der Anlage her harmonisch statisch. Modulationen oder kadenzartige
Strukturen erscheinen nur floskelhaft am Schluss. Dieser „stehende“ und nur allmählich immer komplexer werdende Eindruck wurde jedoch als Sinnbild für „Unendlichkeit“ verstanden, als eine Art „unendlicher Melodie“. Dieser Eindruck könnte natürlich mit verschiedenen
künstlerischen Verfahren weiter forciert werden, jedoch sollte im vorliegenden Werk eine
gewisse Transparenz und Nachvollziehbarkeit erhalten bleiben.
Sicherlich lohnenswert wäre es, die periodische Qualität einzelner (Dezimal-)brüche genauer
hinsichtlich den Kriterien akustischer Kommunikation (bspw. Rauhigkeit, Kontinuität, Volumen, Klarheit etc.) zu untersuchen und musikalisch umzusetzen.
D) Literatur
Berendt, Joachim-Ernst. Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt. 1. Aufl . Hamburg: Rowohlt,
1985.
Bibby, Neil. „Tuning and temperament: closing the spiral“. Music and Mathematics. From
Pythagoras to Fractals. Hrsg. John Fauvel, Raymond Flood, Robin Wilson. Oxford [u. a.]:
Oxford Univ. Press, 2003. 13 – 27.
Cramer, Gregory. „An Introduction to Auditory Display”. Auditory Display. Sonification,
Audification and Auditory Interfaces. Hrsg. Gregory Cramer. A Proceedings Volume in the
Santa Fe Institute Studies in the Sciences of Complexity. Vol. XVIII. Reading (USA, Mass.):
Addison-Wesley Publishing Company, 1994. 1 – 78.
de la Motte, Dieter. Harmonielehre. 9. Aufl . München: Deutscher Taschenbuch Verlag
GmbH & Co. KG; Kassel [u. a.]: Bärenreiter, 1995.
Ferreira, Manuel Pedro. „Proportions in Ancient and Medieval Music”. Mathematics and
Music. A Diderot Mathematical Forum. Hrsg. Gerard Assayag, Hans Georg Feichtinger, José
Francisco Rodrigues. Berlin [u. a.]: Springer, 2002. 1 – 25.
Finale: Version 2002. „The Art of Music Notation. User Manual for Macintosh”. Melodic
Morphing. Prod. Manager Mark Maronde. Eden Prairie (MN, USA): Coda Music Technology, 2002.
Jenkins, Adrian. The Number File. 1. Aufl. Stradbroke: Tarquin Publications, 1985.
Michels, Ulrich. dtv-Atlas zur Musik. 2. Aufl . 2 Bände. München: Deutscher Taschenbuch
Verlag GmbH & Co KG, 1985
Reinhardt, Fritz, und Soeder, Heinrich. dtv-Atlas Mathematik. 12. Aufl . 2 Bände. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co KG, 2001
Terhard, Ernst. Akustische Kommunikation. Grundlagen mit Hörbeispielen. 1. Aufl . Berlin
[u. a.]: Springer, 1998.
E) Anhang
1. Berechnung höherer Nachkommastellen bei periodischen Brüchen in
nichtdezimalen Zahlensystemen
Die Berechnung höherer Nachkommastellen bei periodischen Brüchen in nichtdezimalen Zahlensystemen erfolgte mit dem Programm Googolator von Andrew Trevorrow
(trevorrow.com/googolator/)
2. Berechnung der Periodenlänge einer Bruchzahl
Die Periodenlänge einer Bruchzahl hängt vom Zahlensystem ab. Sei g die Basis des Zahlensystem und m/n ein gekürzter Bruch (m und n teilerfremd) in diesem Zahlensystem. Ist weiter
n' ist der zu g teilerfremde Teil in der Primfaktorzerlegung von n, so gilt:
Die Periodenlänge l ist die kleinste Zahl y  \ {0} für die n' Teiler von gy – 1 ist.
Beispiele:
B1: g = 10, m/n = 1/198
Primzahlzerlegung von n = 198 = 23211
Der zu g teilerfremder Teil der Primzahlzerlegung von n ist n' = 32 11 = 99
für y = 1 wird gy – 1 = 9: 99 ist nicht Teiler von 9
für y = 2 wird gy – 1 = 99: 99 ist Teiler von 99, daher ist l = 2 die Periodenlänge von 1/99.
Probe: 1/198 = 0,0050505050…
(Beachte: 1/99 = 3/297, für n’ = 297 würde sich l = 6 ergeben, es ist also wichtig, dass Zähler
und Nenner teilerfremd sind.)
B2: g = 10, 1/n = 1/10k.
In diesem Fall ist n’ = 1, daher (0 teilt 1 !!) die Periodenlänge Null.
B3: g = 10, n = 3.
Es teilt 3 die 9, nicht dagegen die 1, somit ist 1 die Periodenlänge.
3. Melodic Morphing (Finale 2002, 9-41)
„Melodic Morphing“ ist eine Programm-Routine im Notationsprogramm „Finale“ . Ausgangs- und Zielmelodie werden in einen 2D-Raum übertragen, wobei auf der y-Achse die
Tonhöhe, auf der x-Achse die mit den Tonhöhen korrelierten Zeitpunkte abgetragen werden.
Für Ausgangs- und Zielmelodie entstehen so Kurvenzüge, deren Längen erforderlichenfalls
angeglichen werden.
Die Ausgangskurve wird dann in einer frei wählbaren Anzahl von Schritten zur Zielkurve
verzerrt. Jedem Zwischenschritt entspricht ein Kurvenzug, der nach geeigneter Rundung aus
dem 2D-Raum wieder in konventionelle musikalische Notation übertragen wird.
Herunterladen