2. Dimensionen sozialer Ungleichheit Die Untersuchung der Wahrnehmung und Beurteilung von Einkommensungleichheit berührt zentrale Fragen der sozialen Ungleichheitsforschung und der Sozialstrukturanalyse,43 da es zum einen um eine Form von sozialer Ungleichheit und zum anderen um die Beurteilung von Sozialstruktur geht. Einkommen führen zu sozialen Positionen und können damit ungleiche Bedingungen für Mitglieder einer Gesellschaft schaffen. Zwar ist der Begriff der sozialen Ungleichheit nicht eindeutig definiert; in der Soziologie findet man jedoch etliche kritische Diskurse darüber, welche Dimensionen hierzu zählen.44 Daher wird im Folgen der Versuch unternommen, diesen Diskurs zu sozialer Ungleichheit zu umreißen und den Aspekt der Einkommensungleichheit theoretisch einzubetten. 2.1 Der Begriff der sozialen Ungleichheit Die Diskussion um soziale Ungleichheit befindet sich im steten Wandel. Epochen, Kulturen und globale Zusammenhänge prägen laufend die Diskussion neu. Auch die Sollgeltung von verschiedenen Dimensionen verändert sich im zeitlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext regelmäßig. Im Laufe der Geschichte und im Ländervergleich findet man unterschiedliche Ausprägungen von sozialer Ungleichheit, was daran liegt, dass nicht generell zu jeder Zeit an jedem Ort und in jeder Gesellschaft die gleichen Dinge als Indikatoren von Ungleichheit gelten. Ein Beispiel hierfür ist die heutige Gleichheit vor dem Gesetz. In Deutschland und den USA wurde die Gleichheit vor dem Gesetz in den jeweiligen Verfassungen verankert und damit manifestiert. Das deutsche Grundgesetz sichert seither allen Menschen rechtliche Gleichheit vor dem Gesetz zu.45 Dies ist in einem Rechtsstaat ein sehr wichtiger Faktor, denn damit wird anerkannt, dass diese Gleichheit nicht selbstverständlich ist, sie jedoch 43 Biester (2005): Determinanten der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit. S. 31. 44 Sachweh (2010): Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. S. 21. 45 Deutsches Grundgesetz, Artikel 3 Absatz 1. © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 R. Hasberg, Die Wahrnehmung von Einkommensungleichheit, DOI 10.1007/978-3-658-14198-1_2 33 rechtlich zugesichert wird, auch wenn dem in der Umsetzung nicht immer entsprochen wird. Auch in den USA gilt dieses Grundrecht als eines der wichtigsten Rechte in der Declaration of Independence. Diese Gleichheit ist nicht selbstverständlich: Noch vor einigen Jahrzehnten war die Gleichheit, beispielsweise von Frau und Mann nicht rechtlich gesichert, noch etwas früher war diese gar nicht gegeben. Je nach Geschlecht genoss man andere Rechte und Pflichten, durfte wählen, arbeiten und zur Universität gehen, oder eben nicht. Die Forderungen der Frauen aus der emanzipatorischen Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verzeichneten zwar beachtliche Erfolge, führten aber bis zum heutigen Tage nicht zur vollständigen Überwindung der Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern. So zeigt die regelmäßig durchgeführte und publizierte Sozialberichterstattung von Bund und Ländern nach wie vor durchschnittlich geringere Einkommen und damit einhergehend ein größeres Armutsrisiko bei Frauen. Erwerbsbiographien von Frauen sind in der Regel nicht mit denen von Männern zu vergleichen, da Familienpolitik auch heute meist keine lückenlosen Lebensläufe von Frauen ermöglicht. So sind Frauen nach wie vor in Führungspositionen und Unternehmensvorständen unterrepräsentiert. 46 Auch heute herrscht noch in den Köpfen einiger Menschen der Gedanke von „natürlichen“ Unterschieden zwischen Frauen und Männern als Rechtfertigung zur Diskriminierung des weiblichen Geschlechts vor.47 Dies gilt auch für etliche weitere Beispiele, Religion, soziale und nationale Herkunft, Ethnie und vieles mehr. Daher ist zwar Gleichheit rechtlich zugesichert, jedoch bislang nicht gänzlich umgesetzt innerhalb der Gesellschaft. Trotzdem ist durch die verfassungsrechtliche Gleichstellung aller Menschen ein wesentlicher Schritt getan, um die bereits von Rousseau als natürlich bezeichneten Unterschiede von den sozialen zu trennen. Beide Verfassungen der hier zu vergleichenden Länder enthalten heute jedoch den grundsätzlichen Anspruch, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Dieses Grundrecht verspricht Schutz gegenüber Diskriminierung, wie wir sie in 46 Vgl. hierzu u.a.: Bundesregierung (2008): Lebenslagen in Deutschland. 47 Vgl. Kreckel (2004): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. 34 unserer, aber auch zahllosen anderen Landesgeschichten schon erlebt haben. Privilegierungen oder Benachteiligungen, die aufgrund des Geschlechts, der Ethnie und/oder Religion (u.v.m.) bestehen, werden durch die Verfassungen beider Länder als nicht rechtens deklariert. Soziale Differenzierung, also die reine Unterscheidung zwischen (heute) nebeneinanderstehenden Positionen, Gruppen, Ethnien, etc. sind demnach keine Erscheinungsform von sozialer Ungleichheit.48 Somit sind nicht alle menschlichen und zwischenmenschlichen Unterschiede automatisch Ausprägungen sozialer Ungleichheit. Jean-Jacques Rousseau unterscheidet in seiner Schrift „Diskurs über die Ungleichheit“ zwischen zweierlei Arten von Ungleichheiten zwischen den Menschen. Er nennt zum einen natürliche Unterschiede, also solche, die uns von der Natur vorgegeben wurden, wie „Lebensalter, […] Gesundheit, […] Kräfte des Körpers und […] Eigenschaften des Geistes oder der Seele.“ 49 „Die natürliche Ungleichheit ist für Rousseau ein Faktum, das hingenommen werden muss und an dem sich nichts ändern lässt. […] Über den Ursprung der Ungleichheit muß man, so Rousseau nicht viele Worte verlieren. Der Begriff gibt bereits die Antwort vor.“50 Rousseau geht in seinem Werk „Diskurs über die Ungleichheit“ auf den von ihm angenommenen Naturzustand der Menschen zurück. Er beschreibt den „Wilden“, der ohne gesellschaftliche Zusammenhänge und Zwänge sein Leben lebt und von Natur aus gänzlich friedfertig und gut ist. „Indessen ist nichts so sanft wie der Mensch in seinem anfänglichen Zustand, […]“. 51 So wird hier schon deutlich, dass es Ausprägungen von Ungleichheit gibt und gab, die nicht als Ausprägung von sozialer Ungleichheit zu sehen sind. Die andere Art der Ungleichheit ist die „moralische oder politische Ungleichheit“, „weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert wird. Diese zweite von Rousseau benannte Form der Ungleichheit ist mit der heute diskutierten sozialen 48 Sachweh (2010): Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. S. 22. 49 Rousseau (2008): Diskurs über die Ungleichheit. S. 67. 50 Berger (2004): Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 355. 51 Rousseau (2008): Diskurs über die Ungleichheit. S. 191. 35 Ungleichheit gleichzusetzen. Sie besteht in den unterschiedlichen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen – wie „reicher, geehrter, mächtiger als sie zu sein oder sich sogar Gehorsam bei ihnen zu verschaffen.“ 52 So erkennt Rousseau mit der folgenden Aussage bereits an, dass es nicht reicht, lediglich Eigentum zu besitzen, sondern vor allem die Legitimation durch die Gesellschaft benötigt wird: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‘ “53 Nach Rousseau liegt der Ursprung der sozialen Ungleichheit unter anderem im Eigentum und er bezieht sich hierbei vor allem auf John Locke. „Denn nach dem Axiom des weisen Locke kann es kein Unrecht geben, wo es kein Eigentum gibt.“54 Rousseau beschreibt die Entwicklung des Menschen vom Wilden hin zu jenem Menschen der zivilen Gesellschaft. Er ist demnach der Meinung, dass erst gesellschaftliche Bedingungen zur sozialen Ungleichheit führten.55 Auch für die hier vorliegende Arbeit steht besonders die moralische oder politische – bzw. im heutigen Terminus formulierte soziale Ungleichheit – im Vordergrund. Denn bereits aus der Begrifflichkeit heraus wird deutlich, dass die natürliche Ungleichheit zwischen den Menschen nicht veränderbar ist. Dem 52 Ebd. S. 31. 53 Ebd. S. 67. 54 Ebd. S. 191. 55 „Derjenige, der am besten sang oder tanzte, der Schönste, der Stärkste, der Gewandteste oder der Eloquenteste wurde zum Geachtetsten; und das war der erste Schritt hin zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster: Aus diesen ersten Bevorzugungen wurden einerseits die Eitelkeit und die Geringschätzung, andererseits die Scham und der Neid geboren; und die Gärung, die durch diese neuen Gärstoffe verursacht wurde, brachte schließlich Zusammensetzungen hervor, die für das Glück und die Unschuld unheilvoll waren.“ Rousseau (2008): Diskurs über die Ungleichheit. S. 189. 36 folgt auch Kreckel, in dem er die Unterschiede zwischen natürlichen und sozialen Gesetzlichkeiten folgendermaßen beschreibt: „Der Unterschied zwischen Naturgesetzen und sozialen Gesetzlichkeiten ist freilich der, daß die ersteren von Menschen nie außer Kraft gesetzt, sondern von ihnen allenfalls mit Hilfe wissenschaftlicher und technischer Mittel in Dienst genommen werden können. Soziale Gesetzlichkeiten dagegen, gleichgültig ob sie nun intendiert oder nichtintendiert sind, sind in jedem Falle von Menschen hervorgebracht worden und werden durch bestimmte menschliche Verhaltensweisen am Leben gehalten.“56 Soziale Ungleichheit ist demnach von der physischen oder natürlichen Verschiedenartigkeit der Menschen zu unterscheiden. Auch wenn in einigen Fällen die größere Leistungsfähigkeit eines Menschen zu vorteilhaften gesellschaftlichen Positionen führen kann, so schließt sich hier die Frage an, warum die gesellschaftlichen Verhältnisse diesen besonderen Leistungsmerkmalen derjenigen Person eine solche Geltung erlangt haben. Kurz gesagt sind sowohl nach Kreckel als auch nach Rousseau natürliche Unterschiede nicht beeinflussbar, soziale hingegen von der Gesellschaft konstruiert. Soziale Ungleichheit hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder anders dargestellt, unter anderem in Form von Gegensätzen wie Freiheit und Sklaverei, Adel und Bauern, Bettler und Zünfte, aber auch unterschiedliche Besitztümer waren regelmäßig Teil von sozialer Ungleichheit. Die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Arten sozialer Ungleichheit sind hierbei, dass diejenigen Güter oder auch gesellschaftliche Positionen, die ungleich verteilt sind, einen wichtigen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft haben. So können zum Beispiel nur als wichtig anerkannte Besitztümer als ungleich verteilt gelten – im positiven wie auch negativen Sinne, im Gegensatz zu Dingen, die von geringer Relevanz für eine Gesellschaft sind. Demnach sind die Voraussetzungen für diese Form der Ungleichheit zunächst die Erkennbarkeit des Unterschiedes, dann aber die gesellschaftliche Bewertung des Merkmals und die mit der Bewertung zusammen- 56 Kreckel (2004): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. S. 14. 37 hängende Benachteiligung oder Privilegierung. 57 Es geschieht jedoch auch heute noch teilweise, dass „natürliche Unterschiede“ im Sinne von sozialer Ungleichheit betrachtet werden.58 Darüber hinaus entstehen innerhalb von Gesellschaften soziale Positionen, die durch die verschiedenen Rollen der Menschen zueinander, durch Bekanntschaft und Freundschaft, Familienstatus, durch den Grad der Beschäftigung oder schlichtweg nur durch Geld bedingt werden. So erscheinen Menschen nicht immer gleich, sondern einmal besser oder schlechter gestellt, privilegiert oder benachteiligt. Ungleichheiten sozialer Art seien nach Hradil demnach Dinge, die auf regelmäßige Weise ungleich verteilt werden, seien es Geld, Macht oder Einfluss.59 Allerdings ist hierbei zu beachten, dass es viele Dinge innerhalb von Gesellschaftsstruktur gibt, die zwar ungleich verteilt sind, aber nicht unbedingt als solche benannt und/oder wahrgenommen werden. Dies wird deutlich, wenn man unterschiedliche Gesellschaften und deren Wertung von ungleich verteilten Gütern betrachtet. Demnach ist die Bewertung von Merkmalen, Gütern oder Positionen ein wesentlicher Aspekt in der Analyse von sozialer Ungleichheit. Dem folgt auch Kreckel mit seiner Definition von sozialer Ungleichheit. Soziale Ungleichheit sei dann gegeben, wenn dauerhafte Einschränkungen die Folge von ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten bei allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern seien. Diese führe zudem zu ungleichen Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften.60 In dieser Definition werden demnach nicht nur Güter und Positionen, sondern auch Chancen mit einbezogen, so dass diese Definition breit anwendbar ist.61 57 Vgl. Biester (2005): Determinanten der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit. 58 S.o. 59 Hradil (2001, Nachdruck 2005): Soziale Ungleichheit in Deutschland. S. 29. 60 Kreckel (2004): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. S. 17. 61 Sachweh (2010): Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. S 25. 38 Zwei Aspekte müssen allerdings auch hier differenziert werden, denn es kann unterschieden werden zwischen objektiven und subjektiven Dimensionen sozialer Ungleichheit. Objektive Dimensionen sozialer Ungleichheit bestehen auch dann, wenn die betroffene Person dies nicht wahrnimmt (zum Beispiel die Ungleichheit von Bildungsabschlüssen). Die subjektiven Dimensionen von sozialer Ungleichheit bestehen hingegen nur in dem Moment, wenn die Beteiligten dementsprechend auch handeln und denken.62 Demnach stellt sich die Wahrnehmung als ein wichtiges Indiz von sozialer Ungleichheit dar. Um nun Dimensionen sozialer Ungleichheit zu erkennen, muss nach der Wahrnehmung dieser gefragt werden. Hierbei ist wichtig, dass auch der kulturelle, geographische und zeitliche Kontext Beachtung findet. Gerade bei Ländervergleichen darf man dies nicht vernachlässigen, da diese Faktoren die Wahrnehmung relevant beeinflussen. Es ist davon auszugehen, dass bei abweichenden Beobachtungsepochen, in unterschiedlichen Kulturen und in verschiedenen Teilen der Welt die Wahrnehmung von bestimmten Merkmalen variiert. Greift man kulturtheoretische Ansätze63 auf, dienen Wertorientierungen als Erklärungsansatz für Wahrnehmung von Ungleichheit. Besonders im Fokus stehen hierbei Vorstellungen über Verteilungsgerechtigkeit. Werte wie Gleichheit, Sicherheit und Freiheit werden in besonderem Maße betont. Auf einer Makroebene dominieren Einflüsse der institutionellen Struktur des Sozialstaats. Davon ausgehend bedingt die nationale Zugehörigkeit die Einstellungen der Menschen in Bezug auf Legitimationsmuster und Verteilungsgerechtigkeit.64 Es steht zu vermuten, dass die unterschiedliche nationale Zugehörigkeit der BürgerInnen in der hier vorliegenden Studie zu deutlichen Unterschieden in der Wahrnehmung von Einkommensungleichheit in beiden Ländern führt. Innerhalb der Gesellschaft, auf Mikroebene, lassen sich ebenfalls Unterschiede vermuten. Diverse soziodemographische Merkmale, aber auch Unterschiede aufgrund wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verhältnisse können Einfluss auf die 62 Biester (2005): Determinanten der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit. S. 21. 63 Vgl. u.a. Liebig, Wegener (1995): Primäre und sekundäre Ideologien. 64 Krömmelbein et al. (2007): Einstellungen zum Sozialstaat. 34 f. 39 Wahrnehmung haben, da sie den Lebenslauf eines jeden Individuums maßgeblich prägen. Aber auch (Lebens-)Stile, Kommunikationsbeziehungen und andere Einflüsse können eine Rolle hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewertung von Ungleichheit spielen.65 Die Dimensionen sozialer Ungleichheit sind heutzutage unzählbar und sie betreffen alle Menschen innerhalb der Gesellschaft. Es wird zwischen relativer und absoluter Ungleichheit unterschieden. Absolute Ungleichheit sei nach Hradil dann gegeben, wenn ein Gesellschaftsmitglied von wertvollen Gütern mehr besitzt als andere. Relative Ungleichheit bezeichnet hingegen bestimmte Verteilungskriterien, beispielsweise Leistungen, Bedürfnisse, Alter, etc. Dies ist mitunter auch gegeben, wenn man weniger Geld verdient, als einem im Sinne des Wortes „verdienen“ zustünde. Anzumerken ist hierbei allerdings, dass der Begriff der sozialen Ungleichheit zunächst keineswegs eine Wertung mitliefert, ob diese oder jene Ungleichheit nun auch sozial gerecht oder ungerecht ist. Der Begriff bezeichnet die regelmäßige oder ungleichmäßige Verteilung von Gütern; Güter die relativ fest an soziale Bindungen (Macht, Einfluss, soziale Position, etc.) geknüpft sind. Es geht hierbei im Wesentlichen um die Verteilung von Gütern, die innerhalb einer Gesellschaft als relevant für soziale Ungleichheit anerkannt werden. Auch dies kann je nach Gesellschaft, Epoche und kulturellem Rahmen variieren. Hradil nennt folgende zusammenfassende Definition: „Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von [den „wertvollen] Gütern“ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.“66 Wertvoll sind Güter deshalb, weil in jeder Gesellschaft Werte bestehen. Es geht hierbei demnach um „Zielvorstellungen eines guten Lebens“. „Insofern bestimmte „Güter“ also (wie z.B. Geld oder eine unkündbare Berufsstellung, etc.) Lebens- und Handlungsbedingungen darstellen, die zur Erlangung von allgemein verbreiteten Zielvorstellungen einer Gesellschaft die- 65 Ebd. 66 Hradil (2001, Nachdruck 2005): Soziale Ungleichheit in Deutschland. S. 30. 40 nen, kommen sie als Erscheinungsform sozialer Ungleichheit in Frage.“67 Allerdings sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass auch negative Güter zu Ausprägungen sozialer Ungleichheit führen können. Soziale Exklusion, Umweltkatastrophen, soziale Unsicherheit, etc. sind hier als Beispiele zu nennen und führen ebenso zu sozialer Ungleichheit wie die ungleiche Verteilung von Macht, Bildung, Einkommen, etc.68 Auch Kreckel verwendet den Begriff Dimensionen und unterscheidet hierbei vier wesentliche Ressourcen: materieller Reichtum, symbolisches Wissen, hierarchische Ordnung und selektive Assoziation. In der ersten Dimension nach Kreckel, der Dimension des materiellen Reichtums sind neben materiellen Gütern auch Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch Zugangsbeschränkungen enthalten. Zugangsbeschränkungen sind beispielsweise für Kinder aus bestimmten Schichten hinsichtlich des Bildungssystems gegeben. Sind in Amerika die Zugangsbeschränkungen deutlicher, dadurch dass weit größere Kosten für Bildung entstehen, gibt es sie dennoch auch in Deutschland. Zahlen belegen weit weniger gymnasiale Abschlüsse in den niedrigen Einkommensschichten. Diese Zugangsbeschränkungen spielen auch für Amartya Sen eine wesentliche Rolle in der Ungleichheitsforschung.69 Sen legt den wesentlichen Schwerpunkt auf die Rolle von Zugangschancen in der Analyse sozialer Ungleichheit. Die Wissensdimension bezieht sich vor allem auf Fertigkeiten, erlangtes Wissen und damit einhergehende Zeugnisse/Abschlüsse, aber auch den Zugang zu bestimmten kulturellen Kreisen. Es werden auch Sprache, Religion und spezifisches Fachwissen mit eingefasst in diesem Begriff. Mit der hierarchischen Dimension bezeichnet Kreckel die Position eines Individuums innerhalb einer Organisation, sei es Gewerkschaft, Partei oder Verein, oder auch Schule und Betrieb. Die Idee hierbei ist, dass eine höhere Position mehr Handlungsspielraum bietet und mit mehr Autonomie auch die Lebens67 Ebd. S. 28. 68 Vgl. Glatzer (1992): Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden. 69 Vgl. Sen (2003): Inequality Reexemined. 41 chancen beeinflusst. Die letztgenannte Dimension, selektive Assoziation, bezeichnet nach Kreckel exklusiv gestaltete Beziehungen, die durch Ausschluss oder Ungleichbehandlung Außenstehender zu einem Mehr an sozialer Ungleichheit führe. Diese Dimension werde teilweise noch ergänzt durch beispielsweise gesellschaftliches Ansehen oder Prestige, aber auch durch staatsbürgerliche Rechte,70 soziale Sicherheit und gesundheitliche Aspekte.71 Es sei jedoch an dieser Stelle anzumerken, dass es bislang keine allgemeingültige Liste an sogenannten „Gütern“ gibt, die zur Entstehung und Beeinflussung von sozialer Ungleichheit herangezogen werden kann. Diese variiert bspw. im Kontext von Zeit und Kultur. Den Dimensionen sozialer Ungleichheit stehen die Determinanten72 nach Hradil bzw. Strukturkategorien73 nach Sachweh gegenüber. Mit diesen beiden Begriffen wird zwischen den ungleich verteilten Gütern, bzw. Positionen und den (sozialen) Gruppen, die hierdurch ungleich werden, unterschieden. Sachweh kritisiert Hradils Begriffswahl, da es sich bei „individuell zurechenbaren sozialstrukturellen Merkmalen“ nicht um „deterministische Zwangläufigkeiten, sondern immer um (probabilistische) Chancen der Besser- oder Schlechterstellung“74 handele. Sachweh bezeichnet hingegen mit dem Begriff Strukturkategorien sozialer Ungleichheit sozial konstituierte Ungleichheitslagen, mit denen bestimmte Benachteiligungen oder Privilegien einhergehen können. Hier geht es demnach um die Frage, nach welchen Kriterien Dimensionen sozialer Ungleichheit verteilt werden. Nicht nur vertikale, sondern auch die sogenannten horizontalen Ungleichheitskategorien75 (Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Haushaltsstruktur, Alter, Region, Lebensstile, etc.) spielen hierbei eine Rolle. 70 Sachweh (2010): Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. S. 26.; Grusky; Szeleny (2006): Inequality Classic Readings in Race. S. 7. 71 Vgl. Sen (2010): The Idea of Justice. 72 Hradil (2001, Nachdruck 2005): Soziale Ungleichheit in Deutschland. S. 34. 73 Sachweh (2010): Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. S. 27f. 74 Sachweh (2010): Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. S. 28. 75 Hradil (1987): Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. S. 29. 42 Aber auch hier ist anzugeben, dass diese Merkmale ebenfalls wie die Dimensionen variieren, je nachdem in welchem Land bzw. Zeitalter man sich befindet. Auch Pierre Bourdieu nahm eine Einteilung von Ressourcen vor: das soziale, ökonomische und kulturelle Kapital.76 Das soziale Kapital nach Bourdieu bezeichnet soziale Kontakte, das Netzwerk, das sich ein Individuum zu Nutze machen kann und dieses einbettet – gemeint sind soziale Teilhabe, als auch gesellschaftliche Anerkennung. Mit dem ökonomischen Kapital werden vor allem monetäre Aspekte bezeichnet, es geht aber auch um Besitz und Produktionsmittel, sowie anderes Eigentum. Diese beiden Kapitale werden ergänzt durch das kulturelle Kapital, welches sich besonders auf Bildung bezieht, welche in Form von Abschlüssen nachgewiesen – aber auch durch Kunst und Familie vermittelt werden kann. Es gibt verschiedene Herangehensweisen soziale Ungleichheit zu differenzieren und Ressourcen sowie Ausprägungen derselben zu benennen. Einige Wege wurden hier gerade im Wesentlichen zusammengefasst. Um diesen Überblick zur Eingrenzung des Begriffs sozialer Ungleichheit abzuschließen, wird folgende Definition für das Verständnis der vorliegenden Arbeit formuliert: Soziale Ungleichheit bezeichne die regelmäßige Besser- oder Schlechterstellung bestimmter Individuen und/oder Gruppen durch ungleiche Verteilung von wertvollen oder negativen Gütern, Positionen und/oder Chancen. Da diese Definition auch auf Einkommen zutrifft, kann Einkommen als eine Dimension sozialer Ungleichheit bezeichnet werden. Einkommen ist als ein wertvolles Gut innerhalb der deutschen und US-amerikanischen Gesellschaft regelmäßig ungleich verteilt und führt zu einer Besser- bzw. Schlechterstellung bestimmter Individuen und Gruppen. Es ist deutlich geworden, dass nicht jeder zwischenmenschliche Unterschied eine Form von sozialer Ungleichheit ist. Es gibt solche, die „von Natur aus ge76 Siehe hierzu auch Abschnitt 4.1 in dieser Arbeit. 43 geben“ sind, Unterschiede, die unveränderlich sind, aber vor dem Gesetz nicht zu sozialen Ungleichheiten führen (dürfen/sollen). Ferner gibt es solche, die von der Gesellschaft konstruiert wurden und in Form von Gütern, Positionen und Chancen zu unterschiedlichen sozialen Stellungen innerhalb der Gesellschaft führen. Es sei die Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit an dieser Stelle noch als Indiz für ebendiese genannt, ebenso wie die gesellschaftliche Bewertung. Demnach muss soziale Ungleichheit zunächst erkennbar sein, um bewertet zu werden und um daran wiederum Bewertungen im Sinne von Benachteiligung oder Privilegierung zu knüpfen. Hierbei wird deutlich, dass eine gewisse Vorstellung von Gerechtigkeit vorhanden ist, wenn auch Gerechtigkeit respektive Ungerechtigkeit nicht unbedingt an Verteilung geknüpft ist. Wichtig bei der Betrachtung und Analyse von sozialen Ungleichheiten ist ferner der kulturelle, geographische, zeitliche und wirtschaftliche Kontext. Man kann die Wahrnehmung von Ungleichheiten nicht analysieren, ohne diese Aspekte zu berücksichtigen, da diese die Wahrnehmung und Bewertung enorm beeinflussen. Darüber hinaus spielt auch die subjektive Wahrnehmung eine wichtige Rolle, denn auch wenn von der Gesamtheit der Bevölkerung bestimmte Ungleichheiten wahrgenommen werden, müssen diese nicht unbedingt auch aus subjektiver Sicht heraus als Ungleichheit betrachtet werden. So kann sich also die Einzelwahrnehmung von der gesamtgesellschaftlichen unterscheiden. Dennoch geht die Definition von sozialer Ungleichheit über die tatsächliche Ungleichverteilung wertvoller Güter hinaus, da die Wahrnehmung und anschließend die Bewertung dieser sie erst zu Ungleichheiten machten. Wären alle Menschen mit bestimmten Ungleichheiten einverstanden, würden diese möglicherweise nicht zu gesellschaftlichen Konsequenzen führen. Erst die Wahrnehmung und schließlich die Bewertung von Ungleichheiten führen zu faktischen Konsequenzen. Diese Wahrnehmung wird sicherlich reziprok von sozialer Ungleichheit geprägt, zum Beispiel hat die soziale Stellung einer Person Einfluss auf deren Einstellungen. So ist dies ein wechselseitiger Prozess, auf den einige Faktoren Einfluss haben. Einkommen ist offensichtlich einer dieser Faktoren, denn zum einen beeinflusst Einkommen die soziale Position, aber auch 44 die individuellen Möglichkeiten, Chancen und Optionen, die einem Menschen zur Verfügung stehen. 2.2 Einkommen als Dimension sozialer Ungleichheit Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass soziale Ungleichheit dann gegeben ist, wenn bestimmte Güter, Positionen und/oder Chancen regelmäßig ungleich verteilt werden. Als relevant werden Güter dann angesehen, wenn sie zu gewissen sozialen Positionen führen und von anderen Mitmenschen wahrgenommen werden. Sie können also positiver oder negativer Natur sein. Als eine der wichtigsten Determinanten von sozialer Ungleichheit ist das Einkommen zu nennen, welches es im Folgenden näher zu erläutern gilt. Hierbei geht es meistens um Einkommen aus selbstständiger und nichtselbstständiger Arbeit. Ferner sind noch Einkommen aus Besitz, wie Miete und Verpachtung, Zinsen, aber auch aus sozialstaatlichen Transfers wie Sozialversicherungen, Rente etc., zu nennen, welche ebenfalls Geldquellen zur Lebensfinanzierung darstellen können. Dieses Einkommen ist ein wichtiger Faktor für soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft. Denn aus Erwerbstätigkeit resultiert Geld, welches das universelle Tauschmittel für jegliche (Konsum)-Güter darstellt, die man zum Leben braucht. Geld ist dasjenige Gut, welches stark zu Wohlstand, Bildung, Ansehen, Macht und Lebensqualität beiträgt.77 Selbstverständlich ist es nicht die einzige Determinante, die hier eine wichtige Rolle spielt. An dieser Stelle sei auf Pierre Bourdieu78 verwiesen, welcher die Reziprozität der drei von ihm definierten Kapitale herausgearbeitet hat. Das ökonomische Kapital79 bedingt das kulturelle und soziale Kapital und letztlich bedingen diese beiden auch das ökonomische Kapital. Geld ist allerdings seit Beginn seiner Existenz ein Gut gewesen, welches in unserer Gesellschaft als wertvoll 77 Vgl. hierzu: Glatzer (1983): Einkommensverteilung und Einkommenszufriedenheit. 78 Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt 4.1 in dieser Arbeit; 79 Bourdieu definiert das ökonomische Kapital nicht nur über Geld, sondern auch Immobilienbesitz oder Vermögenstitel. Bourdieu (1987): Die feinen Unterschiede. 45 angesehen wurde, da man damit die Dinge erhalten/erwerben konnte, die jeweils als wünschenswert galten. Spricht man nun genauer über Einkommensungleichheit, so muss geklärt werden, welche Formen von Einkommen hierbei betrachtet werden sollen. Schließlich gibt es eine Reihe verschiedener Einkommensarten. Zum einen kann zwischen Einkommen aus nichtselbstständiger und selbstständiger Erwerbsarbeit unterschieden werden, aber auch Zinsen, Dividenden, Einkommen aus Vermietung und Verpachtung und Land- und Forstwirtschaftlichen Betrieben sind Formen von Einkommen. Neben diesen Einkommensarten gibt es Einkommen durch staatliche Umverteilung, wie zum Beispiel Sozialversicherungen, Sozialhilfe, Kindergeld und Rente. Das deutsche Steuerrecht schlägt sieben Einkommensarten vor.80 Im Rahmen der Umfrage des International Social Survey Programms wird jedoch immer nur allgemein von Einkommen gesprochen, das heißt, es wird nicht klargestellt, welche Art von Einkommen gemeint ist, auch nicht, ob das gesamte Haushaltseinkommen oder das Einkommen der befragten Person relevant ist. Auch wird nicht gefragt, wie die einzelnen TeilnehmerInnen unter dem Begriff „Einkommen“ verstehen. Vermutet wird, dass hauptsächlich Einkommen aus Erwerbstätigkeit wahrgenommen werden.81 Die frühen Analysen von sozialer Ungleichheit hatten ihren Fokus im Wesentlichen auf monetäre Aspekte gerichtet und auch die heutigen Theorien zu sozialer Ungleichheit sind ohne den ökonomischen Aspekt nicht denkbar. Nimmt man 80 Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Einkünfte aus Gewerbebetrieb, Einkünfte aus selbständiger Arbeit, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, Einkünfte aus Kapitalvermögen, Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, und sonstige Einkünfte im Sinne des § 22. http://www.finanztip.de/einkunftsarten-einkommensteuer/#ixzz3jvJr4UmR, zuletzt geprüft am 26.08.2015. 81 In der zuvor verfassten Magisterarbeit Hasberg, Ruth (2007): Die Wahrnehmung von Einkommen und ihrer Ungleichheit. wurde die Frage nach den jeweils bekannten Einkommensarten gestellt. Hierbei wurden immer zuerst die Einkommen aus abhängiger Erwerbstätigkeit genannt, 8 von 10 Personen nannten ebenfalls Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit sowie Einkommen aus Kapitalerträgen, 6 von 10 Personen nannten außerdem Einkommen aus Vermietung und Verpachtung, gewerbliche Einkünfte und Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft wurden von weniger als 4 Personen genannt. Demnach kann angenommen werden, dass Einkommen aus Erwerbstätigkeit die vorwiegend wahrgenommene Einkommensart ist. 46 folgende Definition von Gütern, die als Form von sozialer Ungleichheit in Frage kommen können, so muss Einkommen in jedem Falle darunter fallen: „Insofern bestimmte „Güter“ also […] Lebens- und Handlungsbedingungen darstellen, die zur Erlangung von allgemein verbreiteten Zielvorstellungen einer Gesellschaft dienen, kommen sie als Erscheinungsform sozialer Ungleichheit in Frage.“82 Auch im vorangegangenen Kapitel ist deutlich geworden, dass Einkommen als wesentliche Dimension von sozialer Ungleichheit in Frage kommt. Da Einkommen sowohl in Deutschland als auch in den USA nicht gleich verteilt sind, ist hier eine Ausprägung von sozialer Ungleichheit nachgewiesen. Darüber hinaus ist das Einkommen einer der wesentlichsten Faktoren, um den individuellen Lebensunterhalt zu finanzieren und demnach für die Gesellschaft von großem Interesse. Es ist unverkennbar, dass die ökonomische Komponente in unserem Leben eine maßgebende Rolle spielt. Einkommensungleichheit beeinflusst die soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft maßgeblich. Darüber hinaus ist Einkommen eine messbare Größe, außerdem auch eine, die jeden betrifft. Man muss sich somit fragen, wie es verteilt ist und wie dessen Verteilung wahrgenommen wird. Bislang ist die Entstehung, Berechtigung und Fortführung von Einkommensungleichheit nicht sehr detailliert analysiert worden und die Ursachen für diese Ungleichheit werden zwar diskutiert, konnten bislang aber nicht abschließend geklärt werden. Diese Unklarheit versucht Berger in einem Aufsatz zu beheben und analysiert die Schwächen der meisten bisher publizierten Schriften zu sozialer Ungleichheit. Berger kommt zu dem Schluss, dass die „Ursachen der Ungleichheit nicht in der vollständigen Konkurrenz, sondern entweder außerhalb des Marktes in den ungleichen Anfangsausstattungen der Marktteilnehmer oder in Marktunvollkommenheiten zu suchen“83 sind. In einer vollständigen Konkurrenz gäbe es laut Berger keine Ungleichheit, wenn man Gleichheit als Gleichheit von Ertragsraten definiert. Demnach seien nicht die freien Märkte Ursache für Einkommensungleichheit, sondern die „Be- 82 Hradil (2001, Nachdruck 2005): Soziale Ungleichheit in Deutschland. S. 28. 83 Berger (2003): Sind Märkte gerecht. S. 462. 47 schränkungen des freien Flusses von Produktionsfaktoren“84. An dieser Stelle sei allerdings noch darauf hingewiesen, dass es durch einen freien Markt und freie Marktwirtschaft lediglich zu Einkommensgerechtigkeit im Sinne von proportionaler, nicht aber ausgleichender Gerechtigkeit käme.85 Berger nennt hierzu allerdings auch, dass die in der öffentlichen Debatte dominierende Meinung sei, dass die Marktergebnisse „schlicht und einfach […] ungerecht“ 86 seien.87 Einkommen bzw. Geld ist zumindest teilweise die Bewertung unseres Handelns88 und führt zu verschiedensten Konsequenzen, Positionen, Macht und Einfluss in der Gesellschaft. „Zugleich dient das Erwerbseinkommen aber auch als Mittel, um soziale Wertschätzung zu erhalten. So eröffnet ein hohes Einkommen die Möglichkeit, sich mit materiellen Dingen zu umgeben, die andere hochschätzen und durch die man sich nicht nur von anderen im Sinne der sozialen Distinktion absetzen, sondern die eigene Stellung in der Statusordnung auch deutlich machen kann.“89 Einkommen ist somit für mehrere Aspekte relevant, als „lediglich“ zur Sicherung von Grundbedürfnissen. Dies zeigt sich durch stärker werdende soziale Exklusion, wachsende Obdachlosenzahlen, durch teilweise so geringe Löhne und Gehälter, dass die Gruppe der sogenannten Working Poor nicht nur in Deutschland, sondern auch oder besonders in den USA entstand. Dem entgegenzusetzen bleibt nur die soziale Mindestsicherung in Form des sogenannten Hartz IV90 in Deutschland und der Sozialhilfe in den USA. Die (neo-)klassische Arbeitsmarkttheorie besagt, dass 84 Hanf (2008): Ökonomische Quellen sozialer Ungleichheit. 85 Vgl. Münch (2003): Markt und Gerechtigkeit. 86 Berger (2003): Fördert oder behindert der Wettbewerb die Ungleichheit. S. 484. 87 Zur ausführlichen Gerechtigkeitsdiskussion siehe auch Abschnitt 2.3 in dieser Arbeit. 88 Vgl. Sopp (2005): Abspaltung oder Polarisierung. 89 Liebig et al. (2010): Die wahrgenommene Gerechtigkeit des eigenen Erwerbseinkommens. S. 4. 90 Unter dem Begriff „Hartz IV“ wird umgangssprachig die soziale Sicherung nach SGB II gemeint. Hierin sind Mindestsicherungen zum Lebensunterhalt geregelt, die Menschen zustehen, die erwerbsfähig jedoch arbeitssuchend sind. Darüber hinaus gibt es für erwerbsunfähige Menschen die soziale Absicherung der als Sozialhilfe bekannten Leistungen des SGB XII. 48 das jeweilige Einkommen der individuellen Arbeitsleistung, bzw. der Produktivität von ArbeiterInnen entspricht. Allerdings ist die Äquivalenz zwischen Produktivität und Erwerbseinkommen nur in einem absolut „freien Markt“ zu gewährleisten. Nur die Verfügbarkeit von Geld setzt die Möglichkeit der Teilhabe an unseren Gesellschaftsgefügen voraus. Damit ist Geld eine Ressource innerhalb des Gefüges sozialer Ungleichheit. Geld ermöglicht Macht und Einfluss, kann aber auch zu sozialer Ausgrenzung, beziehungsweise Nichtteilhabe führen, wenn man es nicht besitzt.91 Bei Geld bzw. Einkommen „[…] geht es um die Beschreibung und Erklärung der Mittelverteilungen und unterschiedlichen Chancen der Zielverwirklichung von Personen und Haushalten.“92 Demgemäß schafft ein gesichertes, regelmäßiges Einkommen einerseits Verwirklichungschancen, andererseits auch ein subjektives Gefühl der Sicherheit. Das liegt mitunter in der Abstraktheit des Geldes. Mit dem Gegenstand „Geld“ an sich kann man kaum Bedürfnisse befriedigen, aber es lässt sich in nahezu alles Erstrebenswerte93 umwandeln. Im Gegensatz zur sozialen Ungleichheit im Allgemeinen ist die Einkommensungleichheit eine relativ einfach zu messende Größe. So weiß man auch, dass eben diese in den vergangenen Jahren größer geworden ist.94 Die Einkommensungleichheit ist nicht nur im nationalen Kontext größer geworden, sondern auch im internationalen Vergleich, wie die OECD seit längerem warnt. Menschen vergleichen sich mit ihren Mitmenschen und dies besonders in ökonomischer Weise. Wettbewerbe zwischen den Nachbarn, wer das bessere Auto hat, sind keine Seltenheit und die Neider zwischen den Menschen sind altbekannt. Hier scheint jedoch das nächste Umfeld die Relevanzgröße sein. Menschen vergleichen sich gerne mit ihren direkten Nachbarn, weniger mit Personen außerhalb ihres sozialen Radius. So scheint auch klar, dass Menschen sich eher 91 Heinemann (1987): Soziologie des Geldes. 92 Sopp (2005): Abspaltung oder Polarisierung. S. 21. 93 Gemeint ist, für die heutige Gesellschaft Erstrebenswertes, wozu vor allem auch die Abdeckung der Grundbedürfnisse zählt. 94 Vgl. OECD (2007): Beschäftigungsausblick 2007. 49 innerhalb des nationalen Kontextes miteinander vergleichen, denn in globaler Perspektive. Hierzu schreibt Hradil: „Üblicherweise steht die Ungleichheit der jeweiligen nationalen Einkommensverteilung im Vordergrund des Interesses. Dennoch werden die Blickwinkel immer häufiger über das eigene Land hinaus ausgeweitet und Vergleiche zwischen den einzelnen nationalen Einkommensverteilungen angestellt.“95 So ist es daher sinnvoll, nach der Wahrnehmung innerhalb eines Nationalstaates zu fragen, diese Wahrnehmung jedoch mit einer anderen nationalstaatlichen Bevölkerung zu vergleichen. Zudem ist interessant – nimmt man bereits ein Ergebnis aus dem Kapitel 6 vorweg – dass die subjektive Wahrnehmung der Steigerung von Einkommensungleichheit aber radikaler zu sein scheint, als die „Realität“, bzw. objektiv gemessene Veränderungen in der Einkommensungleichheit.96 Was aber sind die Konsequenzen aus dieser Wahrnehmung? Wie werden diese Ungleichheiten kritisiert? In Deutschland, einem wohlfahrtsstaatlichen System, ist zu vermuten, dass die Mehrheit der Bevölkerung Einkommensungleichheit eher und vor allem stärker kritisiert, als die Bevölkerung in einem Land wie den USA, das eine freie marktwirtschaftliche Ordnung vorweist. 2.3 Gerechtigkeit und Ungleichheit In der Diskussion um soziale und Einkommensungleichheit schwingt oft auch der Gedanke an soziale Gerechtigkeit97 mit. Bereits seit der Antike beeinflussen die Theorien von Platon und Aristoteles Diskurse und Meinungen. Jedoch sei hier bereits erwähnt, dass der Begriff der sozialen Gerechtigkeit noch recht jung ist. Theoretiker wie Hobbes, Locke und Kant schenkten sozialen und ökonomischen Fragen der Gerechtigkeit eher wenig Beachtung.98 Erst Rousseau griff die 95 Hradil (2008): Wachsende Einkommensungleichheiten. S. 136. 96 Ebd. S. 143. Siehe auch Forschungsergebnisse dieser Arbeit in Kapitel 6. 97 Im Folgenden wird der Begriff der Gerechtigkeit mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit gleichgesetzt. Dies erfolgt hier lediglich aus Gründen der Lesbarkeit und Übersichtlichkeit. Eine separate Diskussion über Gerechtigkeit im Allgemeinen ist in Bezug auf die Fragestellung und das Thema nicht zielführend und wird somit nicht umgesetzt. 98 Ebert (2010): Soziale Gerechtigkeit. S. 73. 50 Frage nach der sozialen Ungleichheit auf, die zuvor lediglich von Thomas Morus diskutiert wurde. Beide beschäftigten sich stark mit dem Besitz von Eigentum und der Arbeit die notwendig ist, um entsprechende Güter zum Lebensunterhalt zu erwerben bzw. zu produzieren. Nach Rousseau liegt der Ursprung der Ursprung der Ungleichheit im Eigentum und der Gesellschaftsvertrag ist die Geißel, die die Reichen und Mächtigen als Legitimierung ihrer Position eingesetzt haben. Egalitarismus ist die vorherrschende Idee der idealen Gesellschaft und jegliche Form von ökonomischer Ungleichheit würde zu großer Ungerechtigkeit führen. Dieser Grundgedanke wird später von Karl Marx 99 aufgegriffen und weiter geführt. Rawls hat den liberalen Egalitarismus entwickelt, welcher in seinem Sinne für faire Kooperation zwischen freien und gleichen Individuen angesehen werden muss. Im Wesentlichen sind zwei Gerechtigkeitsgrundsätze zu nennen: Zum einen das Freiheitsprinzip, welches er als Freiheit im Sinne der meisten demokratischen Verfassungen versteht. Nach Ebert beinhaltet dieses Freiheitsprinzip folgende Aspekte: Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, Eigentum, Freizügigkeit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, Berufs- und Koalitionsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, sowie politische Teilhaberechte wie das Wahlrecht und die Grundsätze der konstitutionellen Demokratie.100 Zum anderen ist die gleiche Verteilung von Grundgütern zu nennen. Grundgüter sind nach Rawls „Dinge, von denen man annimmt, daß sie ein vernünftiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst haben möchte“101. Außerdem prägte Rawls den Begriff der Chancengleichheit. Er verlangt nicht so sehr die ökomische Gleichheit, sondern eine Gleichheit an Chancen für alle. Jeder Mensch muss die gleichen Möglichkeiten zugestanden bekommen. Hiermit wird der Fokus zum ersten Mal weg vom Ergebnis gerichtet, mehr die Startpositionen und Möglichkeiten für die 99 Vgl. u.a. Marx; Engels (1966): Lohnarbeit und Kapital. 100 Ebd. S. 225. 101 Rawls (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. S. 112. 51 Verbesserung der eigenen Position innerhalb der Gesellschaft rücken in das Zentrum der Debatte. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist auch die Zulässigkeit von Ungleichheit in seiner Theorie der Gerechtigkeit: Wenn Ungleichheit dazu führt, dass der relativ am schlechtesten Gestellte dadurch Vorteile im Vergleich zur Gleichverteilung hat, ist Ungleichheit zulässig.102 Auch ist zu nennen, dass Rawls die Freiheit immer der Gleichheit vorziehen würde. Gleichheitsforderungen sind seiner Meinung nach niemals zulässig, wenn sie Freiheitsrechte beschneiden. Freiheit war ebenfalls für Dahrendorf ein wesentlicher Aspekt in seinen Ausführungen in „Reflexionen über Freiheit und Gleichheit“. Für ihn bedeutet Freiheit vor allem auch, dass jedes Individuum die reale Chance besitzt, sich selbst zu verwirklichen. Besonders das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gleichheit ist für Dahrendorf von großer Bedeutung, wenn es um das Thema Gerechtigkeit geht. 103 Deutlich erkennt man eine Verschiebung des Fokus in der Gerechtigkeitsdiskussion, Ergebnisse sind nicht mehr so wichtig wie die Prozesse. Soziale Gerechtigkeit wird nunmehr eher als die Verbesserung von Chancenstrukturen verstanden. Dies wird besonders aufgegriffen von Amartya Sen, der einen Vorschlag entwickelt hat, in dem es besonders um die Befähigung des Einzelnen geht, seine individuellen Lebensziele zu verwirklichen (Capability Aproach).104 Gerechtigkeit ist offensichtlich ein Wort, welches viele unterschiedliche Wertvorstellungen und Definitionen umfassen kann. Gerade in der Diskussion um soziale Ungleichheiten wird immer wieder die Frage aufgeworfen, wie viel Ungleichheit gerecht bzw. ungerecht ist und im nächsten Schritt in wie weit Ungleichheiten bekämpft werden sollen oder nicht, aber auch ob diese in gewisser Hinsicht nötig seien. Es gibt die unterschiedlichsten Ansätze Gerechtigkeit und besonders die hier relevante soziale Gerechtigkeit zu definieren. Die politische Philosophie und auch andere Disziplinen haben sich oft mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt und es wurde versucht, normative Werte sozialer 102 Ebd. 103 Vgl. u.a.: Dahrendorf (1966): Über den Ursprung der Ungleichheit. 104 Vgl. Sen (2003): Inequality Reexemined. 52 Gerechtigkeit zu definieren. Insgesamt bezieht sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit auf die Frage nach der Verteilung von Rechten, Pflichten, Positionen, Güter und Lasten jeglicher Art. Nach Liebig und May zielt die „formale Forderung der Gerechtigkeit […] darauf ab, diese Konflikte durch eine unparteiische Anwendung allgemeiner Regeln zu lösen, so dass niemand benachteiligt wird.“105 In Einklang mit Freiheitsrechten trifft der Staat durch die Gesetzgebung und die Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen Verteilungsentscheidungen. Ferner wird solches Eingreifen und die damit zusammenhängende Umverteilung erst als ungerecht angesehen, wenn die Handlung einer ausreichenden Rechtfertigung für die Verletzung legitim angesehener Anrechte entbehrt.106 Standen in den 1960er und 70er Jahren eher ökonomische Faktoren im Vordergrund des Verteilungsinteresses, werden heute auch andere Aspekte wie Zugangschancen in Gerechtigkeitsdiskussion diskutiert. Darüber hinaus ist immer zu berücksichtigen, in welcher Epoche und Kultur man sich befindet. Denn auch die Gerechtigkeitsvorstellungen einer Bevölkerung verändern sich vor diesem Kontext. Ebenso werden diese durch die Sozialstruktur und das politische System eines Landes geprägt. Dieses wird in einer vergleichenden Studie empirisch belegt. Haller stellt hierzu fest, dass in Wohlfahrtsstaaten die Bevölkerung Umverteilung seitens des Staates erwartet, wohingegen die Bevölkerungen in Ländern mit geringen Mobilitätsbarrieren und nur wenig vorhandenen Umverteilungsmechanismen diese Einmischung seitens des Staates ablehnt.107 Hier stehen sich demnach die Prinzipien der Verteilungsgleichheit und des Verteilungsindividualismus gegenüber. Bezieht man dies auf die hier zu vergleichenden Länder Deutschland und die USA, so muss angenommen werden, dass in einem Land wie in Deutschland eher staatliche Umverteilungsmechanismen gewünscht werden, als in den USA, wo kaum Mobilitätsbarrieren zu vermuten sind und ein wohlfahrtsstaatliches Versorgungssystem nur in geringem Maße vorhanden ist. 105 Liebig; May (2009): Dimensionen sozialer Gerechtigkeit. S. 4. 106 Ebd. 107 Vgl. Haller (1989): Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein. 53 Der Gerechtigkeitsbegriff umreißt einen Idealzustand, der nach Liebig drei Dimensionen umfasst: Gleichbehandlung, Unparteilichkeit (Güter und Lasten werden so verteilt, wie es von einem unparteiischen Standpunkt aus akzeptabel ist) und die Berücksichtigung individueller Anrechte. 108 Hierbei geht es in der Regel um das Auflösen von Interessenskonflikten, unter zu Hilfenahme des Werkzeugs Gerechtigkeit. Diese drei Dimensionen zielen sowohl auf die Verteilung an sich, als auch auf Entscheidungsverfahren hinsichtlich Verteilung ab. In der empirischen Gerechtigkeitsforschung wird im Wesentlichen auf vier Aspekte rezipiert: Gleichheit, Leistung, Bedarf und Anrecht. Diese werden im Folgenden separat genauer definiert. 2.3.1 Gleichheitsprinzip Gleichheit kann viele verschiedene Ausprägungen zeigen. Diese variieren besonders, je nachdem worauf der Fokus gerichtet ist: auf die Ausgangssituation oder das Ergebnis. Im Falle von ergebnisorientierter Gleichheit fällt häufig der Begriff des Egalitarismus. Es wird die gleiche Zuweisung von Gütern, Lasten, Rechten und Pflichten gefordert, wobei jedoch auch hier Variationen möglich sind. So kann dieses Prinzip in Form von Lohngleichheit aber auch als Grund zur völligen Abschaffung von Privateigentum Anwendung finden. Insgesamt sollen Leistungen, Fähigkeiten oder Anstrengungen, aber auch Bedürfnisse und Bedarfe keine Rolle spielen. Im Laufe der Geschichte der politischen Philosophie wurde zwar immer wieder von Egalisierung gesprochen, doch eine absolute Gleichmachung sei laut Ebert kaum vorstellbar bzw. realitätsnah. 109 Zwar ist auch hier wieder diskussionswürdig, was eine „absolute Gleichmachung“ genau bedeuten würde, als dass einige Ungleichheiten (siehe oben) nicht zu überwinden sind und es ferner nicht unstrittig ist, welche überwindbaren Ungleichheiten einer Angleichung bedürfen. 108 Liebig (2010): Warum ist Gerechtigkeit wichtig. S. 11. 109 Ebert (2010): Soziale Gerechtigkeit. S. 54. 54 Darüber hinaus kann aber auch die Schaffung von gleichen Chancen gemeint sein, also eine Gleichheit der Ausgangssituation. Im Konzept der (Start-)Chancengerechtigkeit geht es nicht um die Schaffung gleicher Ergebnisse, sondern um die Ausgestaltung des Leistungswettbewerbs bzw. von gesellschaftlicher Teilhabe. Somit steht nicht die Verteilung von Gütern und Lasten sondern die Verteilung von Möglichkeiten im Fokus. Es wird vorwiegend von dem Prinzip der Chancengerechtigkeit und seltener von Chancengleichheit gesprochen, wohl vor dem Hintergrund, dass es auch hier eher unrealistisch erscheint, jedem Menschen in einer Gesellschaft exakt die gleichen Chancen zu ermöglichen. Deutlich wird jedoch, dass jeder die Chance bekommen soll, nach seinen Fähigkeiten, Willen und Bereitschaft, die angebotenen Chancen und Möglichkeiten für sich zu nutzen. Dies bezieht sich häufig auf die (Aus-)Bildungsjahre der Menschen, daher wird häufig von Startchancen gesprochen. Aber auch darüber hinaus soll nach diesem Konzept ermöglicht werden, die individuellen Fähigkeiten so einsetzen zu können, dass man unabhängig von (sozialer) Herkunft die gleichen Chancen hat. Hierbei werden durchaus unterschiedliche Verteilungsergebnisse in Kauf genommen. Dies findet unter anderem auch bei Verfechtern des Leistungsprinzips einigen Zuspruch. 110 Denn Chancengerechtigkeit bietet zwar jedem die Möglichkeit, zumindest im Optimalfall, die gleichen Chancen zu nutzen, doch nicht jeder wird dieses aus den unterschiedlichsten Gründen umsetzen können oder wollen. Dies ist mitunter ein Grund, warum Chancengerechtigkeit nicht zu Ergebnisgleichheit führen kann. Denn zu Chancengleichheit gehören unter anderem auch Anreize zur Begabtenförderung, welche Ungleichheiten eher vergrößern, als verringern. 111 In der jüngeren Vergangenheit kam hier noch der Begriff der Teilhabegerechtigkeit hinzu. Diese gilt als erreicht, wenn Menschen jeder gesellschaftlichen Gruppierung die Chance haben, in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen aktiv teilzuhaben. Hierzu gehört neben Arbeit auch die politische und gesellschaftliche Willensbildung. Diese Form der Inklusion von beispielsweise Be110 Giddens (2001): Die Frage der sozialen Ungleichheit. S. 97. 111 Ebd. 55 hinderten und anderen Minderheiten ist auf die Entstehungsprozesse ausgerichtet und eine abgewandelte Form von Chancengerechtigkeit.112 2.3.2 Leistungsprinzip Der Leistungsgedanke spiegelt die Idee wider, dass ein jedes Mitglied der Gesellschaft die Möglichkeit hat, durch eigene Leistung die gesellschaftliche Position zu verbessern oder im Gegenteil Arbeitsscheu durch gesellschaftlichen Abstieg bestraft wird. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit baut auf dem Suum-cuique-Prinzip („Jedem das Seine“) auf, welches schon von Platon postuliert wurde.113 Heute wird das Leistungsprinzip dahingehend interpretiert, dass Verteilung im Verhältnis zu Leistung steht. Es geht also darum, dass Menschen so viel erhalten sollen, seien es Geld, Schulnoten, Anerkennung, etc. wie es ihrer persönlichen Leistung entspricht. Dies fördert demnach Ungleichheit in vielerlei Hinsicht, die jedoch wiederum als motivationsfördernd angesehen wird. „Einkommensungleichheiten können […] sozial gerecht sein, wenn man der Ansicht ist, dass die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft die individuelle Leistungsfähigkeit widerspiegeln sollte.“114 Ist aber etwas, das als gerecht empfunden wird, auch legitim? Was die Legitimität betrifft, so nennen Berger/Konietzka jene Ungleichheiten legitim, die aus den „individuellen Bildungsinvestitionen“ bzw. „beruflichen Anstrengungen“ resultieren. Als illegitim nennen sie Ungleichheiten, die sich eben nicht auf die individuellen Leistungsunterschiede beziehen lassen. Darüber hinaus bemerken Berger und Konietzka, dass „im Unterschied zu den häufig „individualistisch“ argumentierenden, ökonomischen Theorieansätzen (wie zum Beispiel der Humankapitaltheorie)“, die Soziologie, aber auch institutionalistische Arbeitsmarkttheorien (beispielsweise Segmentationstheorien) immer wieder auf Ursachen von Chancenungleichheiten hingewiesen haben, die nicht auf die individu112 Vgl. Liebig; May (2009): Dimensionen sozialer Gerechtigkeit. 113 Ebert (2010): Soziale Gerechtigkeit. S. 48 114 Liebig; May (2009): Dimensionen sozialer Gerechtigkeit. S. 3. 56 elle Leistungsfähigkeit/-bereitschaft zurückgeführt werden können.115 Auch Kreckel beschäftigt sich in seiner „meritokratischen Triade“ mit der Legitimität und deren Gegenteil bei der Beeinflussung der drei Determinanten „Bildung“, „Beruf“ und „Einkommen“. Denn er fügt als illegitimen Einfluss in dieser Erklärung von Ungleichheit noch die „Zugehörigkeit“ (zum Beispiel Ungleichheit der Geschlechter) ein. Die Dimension des Individualismus bezieht sich dabei auf eine Weltanschauung, in der Ungleichheit als legitim gilt, wenn die Güterverteilung durch den Markt, der sich an den meritokratischen Prinzipien orientiert, koordiniert wird.116 Im Konzept des Individualismus wird davon ausgegangen, dass der Markt als gerechte Verteilungsinstanz fungiert. So kann erstens der größtmögliche Nutzen für alle erreicht werden und zweitens richtet sich die Verteilung nach der jeweiligen individuellen Leistung. Hierbei werden staatliche Eingriffe eher abgelehnt, jedoch wird häufig Chancengleichheit vorausgesetzt bzw. erwartet.117 Rund siebzig Prozent der Bevölkerung stimmten bei einer Sonderumfrage im SOEP118 der Aussage zu, es bestehe nur dann ein Anreiz für Leistung, wenn die Unterschiede im Einkommen groß genug seien.119 So scheint in der deutschen Bevölkerung eine gewisse Zustimmung zum Leistungsprinzip zu existieren. Dennoch schließt eine solche Einstellung das Solidarprinzip nicht aus. Häufig wird – zumindest in Deutschland – über den Anreiz durch Ungleichheit hinaus doch noch die Grundsicherung in Form von Solidarleistungen gewünscht, 120 auch wenn dies in mancher Hinsicht wiederum teilweise relativiert wird. Denn man spricht manchen Personen, die auf soziale Leistungen angewiesen sind, eine gewisse Mitschuld zu, was bei empirischen Befunden ebenfalls auf eine gewisse Leistungsforderung schließen lässt. Auch Hradil erklärt, nicht alle Ungleichheiten seien generell unerwünscht, sondern manche seien tolerierbar und 115 Berger; Konietzka (2001): Alte Ungleichheiten und neue Unsicherheiten. S. 9–25. 116 Vgl. hierzu auch Liebig; Wegener (1995): Primäre und sekundäre Ideologien. 117 Burzan (2007): Soziale Ungleichheit. S. 33ff. 118 Sozio-ökonomisches-Panel. http://www.diw.de/de/soep. 119 Berger (2005): Deutsche Ungleichheiten. S. 7. 120 Ullrich (2005): Solidarität und Solidaritätsbereitschaft im Wohlfahrtsstaat. S. 273ff. 57 andere sogar erwünscht.121 Hier können zum Beispiel Einkommensunterschiede angeführt werden, wenn diese im Sinne eines Leistungsanreizes als positiv erachtet werden. „Konzepte der Leistungsgerechtigkeit sehen also ungleiche Belohnungen vor, um die Menschen für ungleiche Bemühungen und ungleiche Effektivität zu belohnen, sie zur weiteren Anstrengung zu motivieren und so für alle Menschen bessere Lebensbedingungen zu erreichen.“122 In der jüngeren Vergangenheit wurde das Konzept der Leistungsgerechtigkeit in Form der „produktivistischen Gerechtigkeit" weiterentwickelt. Bei diesem Konzept steht insbesondere das allgemeine Gemeinwohl im Vordergrund. So soll hierbei der „Beitrag zur Erhaltung des Gemeinschaftslebens insgesamt (zum Beispiel durch die Erziehung von Kindern) entsprechend belohnt werden.“123 Mit dem Konzept der produktivistischen Gerechtigkeit werden somit zusätzlich zu den im Leistungsprinzip bereits berücksichtigten Leistungen auch solche in Ehrenämtern, Nachbarschaft und Familie berücksichtigt.124 2.3.3 Bedarfsprinzip Eine Verteilung, die im Ergebnis die objektive Deckung des Bedarfes von Menschen vorsieht, insbesondere aber ihren Mindestbedarf berücksichtigt, fällt unter den Begriff der Bedarfsgerechtigkeit. Hieraus resultieren die Gleichbehandlung aller Individuen hinsichtlich dieses Bedarfes und die Nichtabhängigkeit dieser Bedarfsdeckung von Bedingungen. 125 So steht erneut das Ergebnis der Verteilung im Vordergrund, ist jedoch an individuelle Bedarfe geknüpft. Dieses Konzept verlangt Umverteilungsmechanismen, also ein deutliches Eingreifen von Seiten des Staates. So findet man dieses Prinzip beispielsweise in den unter121 Hradil (2001, Nachdruck 2005): Soziale Ungleichheit in Deutschland. S. 416. 122 Hradil (2012): Deutsche Verhältnisse. Zitat online verfügbar: http://www.bpb.de/poli tik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138445/ soziale-gerechtigkeit, zuletzt geprüft am 25.08.2015 123 Ebd. 124 Leisering (2004): Paradigmen sozialer Gerechtigkeit. 125 Ebert (2010): Soziale Gerechtigkeit. S. 51 58 schiedlichen Steuerklassen in Deutschland. Hier findet sich die Einsicht, dass zum Beispiel weder das Chancen- noch das Leistungsprinzip in der Lage sind, den Bedarf einiger Menschen, wie zum Beispiel Kranken, Alten, Kindern, etc. gerecht zu werden.126 Ferner geht es hier auch um die Gestaltung von (Mindest-)Löhnen, die sich ebenfalls daran orientieren, wie viel Geld ein Mensch zur Deckung des Lebensunterhaltes benötigt. Die Diskussionen um sogenanntes Lohndumping mit der Kritik, dass es heute teilweise nicht mehr möglich sei, mit einer Vollzeitstelle eine Familie zu ernähren, zeigen eine gewisse Befürwortung von Bedarfsgerechtigkeit. Schwierig ist es jedoch, zum Beispiel den Mindestbedarf zu definieren und damit der in Deutschland zu einem gewissen Maße gesetzlich verankerten Bedarfsgerechtigkeit Folge zu tragen. Man könnte auch in gewisser Hinsicht von „Verteilungsgerechtigkeit“ sprechen. In der Regel wird darunter die gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen gemeint, jedoch ist das Ergebnis hierbei sehr unklar. Es wird nicht deutlich, welches Maß zur Begründung der Verteilung herangezogen werden soll. Nach Ebert drückt dieser Begriff jedoch zumindest einen Minimalkonsens aus, dass die Verteilung von Einkommen und Vermögen, aber auch Status und Position in einer Gesellschaft nicht gleich sei, aber nur geringe Unterschiede aufweisen soll. 2.3.4 Anrechtsprinzip Neben den zuvor dargestellten Gerechtigkeitsprinzipien kann man ferner das Anrechtsprinzip (Askriptivismus) nennen, welches nicht die aktuell erbrachte Leistung, sondern den Status- und das Positionsmerkmal und damit verbundene Anrechte, die in der Vergangenheit erworben wurden oder aufgrund von Traditionen weiterhin ihre Gültigkeit behalten. 127 „Bestehende Verteilungsergebnisse sollen fortgeschrieben werden, weil die soziale Schichtung der Gesellschaft 126 Vgl. Hradil (2012): Deutsche Verhältnisse. 127 Ebd. 59 selbst als Ordnungsfaktor fungiert und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder Schicht als Legitimation für die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum angesehen wird.“128 Die soziale Zugehörigkeit (sozial vererbt durch soziale Herkunft, Geschlecht, Migrationsstatus, etc.) ist hierbei die Rechtfertigung für die ungleiche Verteilung eines knappen Gutes. Es wird demnach in hierarchischen Gefügen, einem Über- und einem Untergeordnetsein argumentiert. In diesem Prinzip erhält jeder das, was ihm aufgrund seiner Position im Hierarchiegefüge zusteht. Hier kann es beispielsweise gerecht sein, wenn Männer mehr verdienen als Frauen, wenn ihnen laut Gesellschaftsgefüge die Aufgabe zukommt, die Familie zu ernähren.129 2.3.5 Ausblick Alle Prinzipien haben gemein, dass es um die Verteilung von Gütern wie zum Beispiel Macht, Einfluss, Ressourcen, Einkommen, Rechte, Pflichten etc. geht. Was dabei jedoch gerecht oder ungerecht, oder zumindest legitim ist, scheint nicht allgemein definierbar zu sein. Außerdem werden nicht immer alle mit Zustimmung versehenen Gleichheiten durchgesetzt. 130 Dies kann unterschiedliche Gründe haben, zum einen, dass man keine Möglichkeit sieht, diese Gleichheiten „künstlich“ herzustellen, oder man sieht die Herstellung dieser Gleichheiten in der Verantwortlichkeit jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds selbst. In Deutschland stellte sich in den vergangenen Jahren im Zuge um die Einführung und teilweisen Erhöhungen der sogenannten Hartz IV Regelsätzen (ALG II) immer wieder die Frage, wie hoch die Sozialgelder mindestens sein müssen, um ein „respektables“ Leben führen zu können, und wie niedrig sie sein müssen, damit es noch gerecht den arbeitenden MitbürgerInnen gegenüber ist. Es ist also nicht einfach, die schon von Rawls benannten Grundgüter gerecht zu definieren. Hinzu kommen Vorurteile gegenüber den Nutznießern von Umvertei128 Nüchter et al. (2010): Der Sozialstaat im Urteil der Bevölkerung. S. 37. 129 Vgl. Liebig (2010): Warum ist Gerechtigkeit wichtig. 130 Schmidt (2004): Ungleichgewichtige Ungleichheiten. S. 76. 60 lung. Gemäß dem Leistungsprinzip wird immer wieder die Frage aufgeworfen, wie viel Unterstützung und ökonomische Hilfe jemandem zu Teil werden darf, denn bislang ist es nicht möglich geworden zu überprüfen, ob jemand nicht arbeiten will oder kann. Ähnliche Diskussionen gibt es auch in den USA, wo die Sozialhilfesätze niedriger sind als in Deutschland. Dennoch existiert auch dort die Furcht vor dem Ausnutzen der „sozialen Hängematte“. Schlagwörter wie „Welfare to Work“ oder auch „Workfare“ prägen diese Diskussion, die vor allem mit den Sozialreformen unter Bill Clinton aufflammte und heute besonders von Republikanern fortgesetzt wird. 131 So wird seit Beginn der Gerechtigkeitsdebatte (dieser wird gerne auf Rawls zurückgeführt) über die gerechte Verteilung von etwaigen Gütern und Lasten zur Herstellung einer anerkennungswürdigen Gesellschaft gestritten.132 Gerechtigkeitsvorstellungen variieren demnach ständig und befinden sich in stetem Prozess. Laut Liebig und May fand in den vergangenen Jahren ein Wechsel weg von ergebnisorientiertem hin zu teilhabeorientiertem Gerechtigkeitsbewusstsein statt. Die Bedeutung von sozialen Beziehungen scheint sich zu verändern, weshalb auch eine Veränderung in der Präferenz der Gerechtigkeitsprinzipien logisch zu sein scheint. Es scheint deutlich geworden zu sein, dass eine Ergebnisgleichheit im absoluten Sinne kaum möglich ist, da Wettbewerbsbedingungen im Wirtschaftssystem dies zu verhindern scheinen. Auch freiheitliche Ideale für die Individualität stehen hier im Gegensatz. Die Idee der Bedarfsgerechtigkeit ist laut Liebig und May in einem Solidaritätsgedanken verankert, den eine Gemeinschaft aufgrund von gemeinsamen Wurzeln und damit verbundenen Identitätsgedanken erschaffen hat. Diese Gemeinsamkeiten würden geringer und normative Forderungen würden ihrer Basis beraubt. Aber auch die Messbarkeit von Leistung sei immer schwieriger geworden, so dass auch hier die Orientierung am Ergebnis immer schwieriger würde. 131 Siehe hierzu u.a. ZEIT ONLINE GmbH; Hamburg; Germany (1899): USA: Stolz ohne Stütze | ZEIT ONLINE. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2006/33/Welfare-to-Work, zuletzt aktualisiert am 31.12.1899, zuletzt geprüft am 20.05.2014. 132 Liebig; Lengfeld (2002): Gerechtigkeitsforschung als interdisziplinäres Projekt. 61 So sei es nur folgerichtig, wenn das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit heute eher mit Fokus auf Chancen und Teilhabe, als auf Ergebnisse hin orientiert sei, auch wenn dies keine völlige Verabschiedung der anderen Prinzipien bedeuten muss. „Schutz vor Marktversagen, Absicherung vor nicht selbstverschuldeten Notlagen und Gewährung eines bestimmten Mindestlebensstandards sind Forderungen, die auch dann wichtig werden, wenn es gilt, den Einzelnen bei der Realisierung seiner individuellen Lebenspläne zu unterstützen.“133 Auch Glatzer folgt diesem Schluss: „Nicht soziale Gleichheit ist das gesellschaftliche Anliegen in der Moderne, sondern als sozial gerecht wird angesehen, wenn die Menschen gleiche Startchancen haben und ihr Potenzial ausschöpfen können.“134 Nun gibt es zwei Wege, um die Gerechtigkeitsvorstellungen zu analysieren. Der eine [normative] Weg führt über die Philosophie oder die politische Theorie und versucht Antworten darauf zu finden, was man von einem moralischen Standpunkt als gerecht oder ungerecht bewerten kann. „Die normative Gerechtigkeitstheorie sieht ihre vorrangige Aufgabe darin, diejenigen Regeln zu benennen und zu begründen, die die Verteilung unterschiedlicher sozialer Güter oder Lasten in einer Gesellschaft anleiten sollen.“135 Hier werden konkurrierende Argumente gegenübergestellt und versucht, durch logische Abwägung zu entscheiden, welche Regeln Gerechtigkeit in einer Gesellschaft befördern und welche nicht. Der zweite grundsätzlich mögliche Weg ist empirischer Natur. Hierbei wird versucht herauszufinden, was die Gesellschaft als gerecht oder ungerecht zu einem bestimmten Zeitpunkt empfindet und welche Gerechtigkeitsvorstellungen derzeit vorherrschen. „Sie [die empirische Gerechtigkeitsforschung] geht davon aus, dass sich unsere Gerechtigkeitsvorstellungen weniger durch die Auseinandersetzung mit rationalen Argumenten bilden. Vielmehr sind es unterschiedliche Einflüsse der Persönlichkeit, der sozialen Herkunft, der ökonomischen Interessen und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis, die für die Ein133 Liebig; May (2009): Dimensionen sozialer Gerechtigkeit. S. 4. 134 Glatzer (2009): Gefühlte (Un)Gerechtigkeit. S. 16. 135 Liebig; Lengfeld (2002): Gerechtigkeitsforschung als interdisziplinäres Projekt. S. 8. 62 nahme eines Gerechtigkeitsstandpunktes entscheidend sind.“136Auf diesem Wege wurde unter anderem herausgefunden, dass der Zuspruch zu einer Leistungsgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist. 1994 stimmten 57 Prozent der BürgerInnen in Westdeutschland und nur 35 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zu, dass Rangunterschiede zwischen den Menschen deswegen akzeptabel seien, da diese zum Ausdruck brächten, wie man seine Chancen genutzt habe. Außerdem waren 1991 mindestens 95 Prozent der Menschen in allen Bundesländern der Auffassung, Bildung und Ausbildung, Durchsetzungsvermögen, Initiative, Intelligenz, Begabung, Fleiß und Leistung führten im hierarchischen Gesellschaftsgefüge zu höheren Positionen.137 Weniger in Ostdeutschland (8 Prozent) als in Westdeutschland (29 Prozent) ist man der Auffassung, der Wohlstand in Deutschland sei gerecht verteilt. Allerdings gibt es auch einen großen Zuspruch dafür, dass ein gewisses Lebensstandardminimum jedem garantiert werden soll, was auch einen Zuspruch zur Umverteilung enthält. Die normative Herangehensweise an den Gerechtigkeitsbegriff bzw. den Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist eine umfassende Herausforderung, die zwar wissenschaftlich anerkannt, aber nicht gesellschaftlich abgesichert sein muss. Was die Gesellschaft als gerecht oder ungerecht erachtet, kann von der philosophischen Diskussion losgelöst sein. Häufig resultieren Gerechtigkeitsurteile von Gesellschaften eher aus einem Gefühl, als aus präzise durchdachten Gerechtigkeitskonzepten und prägen damit die Realität.138 So ist die gefühlte oder auch wahrgenommene Realität häufig Ursache für Konflikte und Proteste, wenn auch in unterschiedlicher Form. „Es gibt ein breites Potential von Reaktionen, die auf gefühlte Ungerechtigkeit erfolgen können. Sie reichen von Rückzug, Resignation und Verweigerung bis hin zu Empörung, Protest und Widerstand.“139 Die Bereitschaft hierzu variiert je nach wahrge136 Ebd. 137 Schmidt (2004): Ungleichgewichtige Ungleichheiten. S. 421. 138 Glatzer (2009): Gefühlte (Un)Gerechtigkeit. S. 16. 139 Ebd. S. 20. 63 nommener Intensität, Betroffenheit, Zeit und Ort. Die Geschichte hat gezeigt, dass unterschiedliche Gesellschaften Konflikte unterschiedlich lösen. Doch auch wenn Konflikte nicht in Form von Straßenkämpfen ausgefochten werden, sind sie möglicherweise spürbar und das Gerechtigkeitsempfinden einer Gesellschaft für das Zusammenleben enorm relevant. Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn festgelegte Sollgeltungen erfüllt werden. Demzufolge erscheint es sinnvoll, die Bevölkerung selbst zu fragen, wie Gerechtigkeit empfunden wird, welches Gerechtigkeitskonzept anzuwenden ist und welche Konflikte wahrgenommen werden. 64 http://www.springer.com/978-3-658-14197-4