1 Grundlagen In diesem ersten Kapitel geht es darum, die für die Analysis, ja für die gesamte Mathematik, grundlegenden Begriffsbildungen und ihre elementaren Eigenschaften kennenzulernen. Der streng axiomatische Aufbau dieses Buches geht dabei von den beiden naiv zu verstehenden Grundbegriffen Aussage und Menge aus; alles weitere wird hiervon abgeleitet. Benutzt werden lediglich die aus der Schule bekannten natürlichen Zahlen N = {1, 2, 3, . . .} bzw. N0 = {0, 1, 2, . . .}, die ganzen Zahlen Z = {. . . , −2, −1, 0, 1, 2, . . .} und die rationalen Zahlen Q = {m n : m ∈ Z , n ∈ N} . 1.1 Logik Wir erklären zunächst einige Tatsachen aus der Mathematischen Logik, die zum Verständnis des axiomatischen Aufbaus der Mathematik und für das Erlernen präziser Schlussweisen vonnöten sind. Dabei unterteilen wir diesen Abschnitt in vier Teile. Nach der Klärung des zentralen Begriffs Aussage betrachten wir Verknüpfungen von Aussagen auf einem zunächst abstrakten Niveau (Aussagenlogik) und wenden uns dann der speziellen Struktur mathematischer Aussagen zu (Prädikatenlogik). Schließlich erläutern wir die drei fundamentalen Beweisprinzipien der Mathematik. 1.1.1 Aussagen Unter einer Aussage versteht man ein sprachliches Gebilde, das seiner inhaltlichen Bedeutung nach entweder wahr oder falsch ist. Die Betonung liegt hier auf dem sich gegenseitig ausschließenden entweder–oder. Es kommt dabei nicht darauf an, dass man in der Lage ist zu entscheiden, ob die Aussage wahr oder falsch ist, sondern vielmehr darauf, dass eine Entscheidung prinzipiell möglich ist. Für den Moment, d.h. zum Erlernen des Umgangs mit Aussagen, schließen wir die sprachlichen Gebilde in Klammern der Form h bzw. i ein. In Kürze werden wir auf diesen Formalismus wieder verzichten, denn der Leser wird bald gelernt haben, ohne großes Nachdenken und mehr oder weniger unbewusst mit Aussagen umzugehen. Dennoch sollte er, wie jeder, der Mathematik betreibt, zu 2 1 Grundlagen jedem Zeitpunkt in der Lage sein zu präzisieren, was er aus Sicht der mathematischen Logik eigentlich tut. In komplizierten Fällen, speziell bei Verneinungen von Aussagen, wird es sich als hilfreich, mehr noch, als notwendig erweisen, den formalen Umgang mit Aussagen gelernt zu haben. Lassen Sie uns nun einige Beispiele betrachten. 1.1.1 Beispiel: Das sprachliche Gebilde h Für jede natürliche Zahl n ist die n Zahl 2(2 ) + 1 eine Primzahl.1 i ist eine Aussage, denn entweder sind all die betrachteten Zahlen Primzahlen oder nicht. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Ist diese Aussage nun wahr oder falsch? Die ersten vier der betrachteten Zahlen, also 5, 17, 257 und 65 537, lassen sich (noch vergleichsweise leicht) als Primzahlen nachweisen. Für die fünfte dagegen bestätigt man (mit etwas Stehvermögen oder einem Computer) die Produktdarstellung 4 294 967 297 = 641 · 6 700 417. 5 Also ist die Zahl 2(2 ) + 1 keine Primzahl, und somit ist die obige Aussage als falsch nachgewiesen. ♦ 1.1.2 Beispiel: h Es gibt unendlich viele Primzahlzwillinge.2 i Ob dieser Satz inhaltlich wahr oder falsch ist, ist bis zum heutigen Tage trotz vieler Bemühungen noch nicht geklärt. Dennoch handelt es sich um eine Aussage, denn der beschriebene Sachverhalt ist entweder wahr oder falsch. Wir wissen nur (noch) nicht, welcher der beiden Fälle tatsächlich vorliegt. ♦ Als nächstes betrachten wir ein umgangssprachliches, ganz und gar unmathematisches Beispiel eines sprachlichen Gebildes. 1.1.3 Beispiel: Ein Politiker sagt: h Bei der heutigen Wahl erhielt meine Partei mehr Stimmen als bei der letzten.i Das klingt präzise, für einen Politiker sogar überaus präzise und scheinbar zweifelsfrei, denn schließlich handelt es sich um eine quantifizierte, also zahlenmäßige Feststellung. Dennoch liegt hier keine (logisch präzise) Aussage vor, wenigstens solange nicht, wie die auftretenden Begriffe nicht einwandfrei geklärt sind. Ist hier von Erst- oder Zweitstimmen die Rede? Ist die Stimmenzahl absolut oder relativ gemeint? ♦ Dieses „aus dem Leben“ gegriffene Beispiel macht die Problematik der umgangssprachlichen, logisch nicht einwandfreien „Aussagen“ deutlich. Häufig sind die gemachten „Aussagen“ bei näherem Hinsehen nämlich sowohl wahr als auch falsch, oder, was das gleiche ist, weder wahr noch falsch. Das hängt von der jeweiligen Interpretation der auftretenden Begriffe ab. So etwas gibt es in der Mathematik glücklicherweise nicht, und das ist das Schöne an ihr. 1 Eine Primzahl ist eine natürliche Zahl, die größer als 1 ist, und die nur durch 1 und sich selbst teilbar ist. 2 Ein Primzahlzwilling ist ein Paar bestehend aus zwei „benachbarten“ Primzahlen (d.h. ihre Differenz ist gleich 2 oder −2), also z.B. das Paar 3, 5, oder das Paar 41, 43. 1.1 3 Logik 1.1.2 Verknüpfungen von Aussagen Das Zusammensetzen von einzelnen Bausteinen zu neuen Objekten bildet das Grundprinzip einer axiomatischen Vorgehensweise. Da die Bausteine des gegenwärtigen Abschnitts die Aussagen sind, wollen wir uns nun mit Verknüpfungen von Aussagen beschäftigen, mit deren Hilfe wir dann neue Aussagen gewinnen können. Wir werden dabei fünf verschiedene Arten von Verknüpfungen einführen, was im übrigen bereits zum Aufbau der gesamten Mathematik genügt.3 Ausgehend von zwei Aussagen A und B bilden wir zunächst vier neue Aussagen, die, mit dem jeweiligen Namen und dem zugehörigen Symbol versehen, wie folgt lauten: Konjunktion Disjunktion Implikation Bijunktion A∧B A∨B A⇒B A⇔B , , , , in in in in Worten: Worten: Worten: Worten: „A und B“ „A oder B“ „aus A folgt B“ 4 „A gleichwertig mit B“ 5 Darüber hinaus benötigen wir eine fünfte Verknüpfung, die nur von einer einzigen Aussage A abhängt, nämlich die Negation ¬A , in Worten: „nicht A“ Das einzige, was uns auf dem momentanen Niveau von diesen neuen Aussagen interessiert, ist, wie sich ihre jeweiligen Wahrheitswerte wahr oder falsch (abgekürzt w oder f ) aus denen der vorliegenden Aussagen A und B ergeben. Diese Festlegungen geschehen mit Hilfe der folgenden Wahrheitswertetabelle. A w w f f B w f w f A∧B w f f f A∨B w w w f A⇒B w f w w A⇔B w f f w ¬A f f w w Tab. 1.1 Zur Definition der Verknüpfungen A ∧ B, A ∨ B, A ⇒ B, A ⇔ B und ¬ A 3 Dass man in der Tat schon mit einer einzigen Verknüpfung auskommt, und wie man diese zu wählen hat, lässt sich im Rahmen der Mathematischen Logik zeigen. 4 Stattdessen sagt man auch „A impliziert B“, „wenn A, dann B“, „A ist hinreichend für B“, oder „B ist notwendig für A“. 5 Andere Verbalisierungen sind „A äquivalent zu B“, „A genau dann, wenn B“ oder „A ist notwendig und hinreichend für B “. 4 1 Grundlagen Diese Tabelle ist folgendermaßen zu verstehen. Wir betrachten unter der Kopfzeile zunächst die erste Zeile, in der sowohl A als auch B den Wahrheitswert w besitzt. Man ordnet nun gemäß der Tabelle den fünf Aussageverknüpfungen die jeweils unter ihnen stehenden Werte zu, im vorliegenden Falle also den ersten vieren den Wert w, und der fünften den Wert f . Die zweite Zeile der Tabelle beschreibt den Fall, bei dem A wahr und B falsch ist. Da es offensichtlich nur vier verschiedene Möglichkeiten gibt, das Aussagenpaar A, B mit den zwei Werten w, f zu belegen, beschreiben die vier Zeilen der Tabelle den vollständigen Zusammenhang zwischen den beiden Ausgangsgrößen A, B und den fünf neu erklärten Aussagen. Wenden wir uns nun den Spalten dieser Tabelle zu. Der dritten Spalte entnimmt man die Erkenntnis, dass die mit und gebildete Verknüpfung A ∧ B genau dann wahr ist, wenn beide Ausgangsaussagen A und B wahr sind, während die in der vierten Spalte beschriebene oder -Aussage A ∨ B schon wahr ist, wenn wenigstens eine der beiden gegebenen Aussagen wahr ist. Entsprechend werden die weiteren Spalten interpretiert. Etwas Mühe hat der „gesunde Menschenverstand“ mit der Tatsache, dass man die Aussage hA ⇒ Bi („aus A folgt B“) auch dann als wahr definiert, wenn A falsch und B wahr ist. Dass diese Festlegung aber so unvernünftig nicht ist, zeigt das folgende Beispiel. 1.1.4 Beispiel: Als A wählen wir die offensichtlich falsche Aussage h−1 = 1i und als B die wahre Aussage h1 = 1i. Es ist dann sicher vernünftig, die Gesamtaussage hA ⇒ Bi, also D E h−1 = 1i =⇒ h1 = 1i , als wahr zu erklären, denn ihr liegt die gültige Rechenregel zu Grunde, wonach man eine Gleichung quadrieren darf, ohne dabei das Gleichheitszeichen zu zerstören. ♦ Wie auch immer, bei der Tabelle 1.1 handelt es sich um eine Definition, und bei einer Definition hat derjenige, der sie festlegt, alle Freiheiten. Ein „richtig“ oder „falsch“ gibt es bei Definitionen nicht, höchstens ein „vernünftig“ oder „unvernünftig“.6 Der Leser möge darauf vertrauen, dass sich mit der Tabelle 1.1, so wie sie ist, etwas Vernünftiges anfangen lässt. Um unsere weitere Vorgehensweise zu beschreiben, wählen wir den Vergleich mit einem Spiel. Man denke dabei etwa an das Schachspiel, bei dem sich bekanntlich aus wenigen Spielfiguren und einigen leicht zu erlernenden Spielregeln 6 Eine Definition wäre sicher dann unvernünftig, wenn sie zu bereits vorhandenen Ergebnissen im Widerspruch stünde. Damit erhielte man nämlich eine „Aussage“, die sowohl wahr als auch falsch wäre, und damit würde man zwangsläufig den Bereich der mathematischen Logik verlassen. 1.1 5 Logik ein ungeheuer komplexes Gebäude von Spielsituationen ergibt, und das nie endenwollende Beschäftigung mit diesem Spiel ermöglicht. Nicht anders ist es mit dem „Spiel“ namens Mathematik. Mit den Aussagen als „Spielfiguren“ und den Verknüpfungen als „Spielregeln“ lassen sich neue Aussagen und immer weitere Aussagen bilden. In diesem Sinne kann man die Mathematik als ein riesiges, nie zur Fertigstellung gelangendes Gebäude von Aussagen ansehen, dessen Fundamente wir nun zu ergründen suchen, mit dem Ziel, im Verlaufe unseres Exkurses wenigstens einige Stockwerke zu erklimmen. Von besonderem Interesse in diesem Aussagengebäude sind die sogenannten Tautologien, das sind zusammengesetzte Aussagen, die stets wahr sind, unabhängig von den Wahrheitswerten der einzelnen Teilaussagen, aus denen sie aufgebaut sind. Drei besonders einfache Tautologien mit nur einer Ausgangsaussage sind die folgenden:7 hA ∧ Ai ⇐⇒ A (1.1) h¬ h¬ Aii ⇐⇒ A (1.3) hA ∨ Ai ⇐⇒ A (1.2) Liegt, wie in diesen drei Fällen, eine Tautologie in der Form einer Bijunktion B ⇔ C vor, so bedeutet dies, dass die beiden Aussagen B und C gleichwertig sind in dem Sinne, dass sie stets beide wahr oder beide falsch sind, unabhängig von den Wahrheitswerten möglicher Teilaussagen von B oder C. Dass dies tatsächlich so ist, zeigt ein Blick auf die Tabelle 1.1, vorletzte Spalte, erste und letzte Zeile. Einfache Tautologien, die von zwei Aussagen abhängen, sind hA ∧ Bi ⇐⇒ hB ∧ Ai hA ∨ Bi ⇐⇒ hB ∨ Ai (1.4) (1.5) Wegen der Allgemeingültigkeit dieser beiden Aussagen nennt man die beiden Verknüpfungen ∧ und ∨ kommutativ. Einfache Tautologien, die sich aus drei Aussagen zusammensetzen, sind hhA ∧ Bi ∧ Ci ⇐⇒ hA ∧ hB ∧ Cii hhA ∨ Bi ∨ Ci ⇐⇒ hA ∨ hB ∨ Cii (1.6) (1.7) Ihretwegen heißen ∧ und ∨ assoziativ. Weitere Tautologien, die den Namen distributiv für das Verknüpfungspaar ∧, ∨ mit sich bringen, sind hA ∨ hB ∧ Cii ⇐⇒ hhA ∨ Bi ∧ hA ∨ Cii hA ∧ hB ∨ Cii ⇐⇒ hhA ∧ Bi ∨ hA ∧ Cii 7 (1.8) (1.9) Ab jetzt verzichten wir der Übersichtlichkeit halber bei zusammengesetzten Aussagen auf die äußere Beklammerung, wie sie im Beispiel 1.1.4 noch angegeben ist. 6 1 Grundlagen An Tautologien, die die Negation mit den Verknüpfungen ∧ und ∨ in Verbindung bringen, seien die folgenden genannt: h¬ hA ∧ Bii ⇐⇒ hh¬ Ai ∨ h¬ Bii (1.10) h¬ hA ∨ Bii ⇐⇒ hh¬ Ai ∧ h¬ Bii (1.11) Weitere, für die Beweistechnik bedeutungsvolle Tautologien sind hA ⇔ Bi ⇐⇒ hhA ⇒ Bi ∧ hB ⇒ Aii hA ⇒ Bi ⇐⇒ hh¬Bi ⇒ h¬Aii hhA ⇒ Bi ∧ hB ⇒ Cii =⇒ hA ⇒ Ci (1.12) (1.13) (1.14) Als letzte Tautologie geben wir eine besonders wichtige an, die insgesamt vier der bekannten fünf Verknüpfungen miteinander in Verbindung bringt, nämlich h¬ hA ⇒ Bii ⇐⇒ hA ∧ h¬ Bii (1.15) Dass es sich bei den Aussagen (1.1) bis (1.15) tatsächlich um Aussageverbindungen handelt, die unabhängig von den Wahrheitswerten der Teilaussagen A, B, C stets wahr sind, wollen wir exemplarisch8 an Hand von (1.14) zeigen. Wir verwenden dazu wieder eine Wahrheitswertetabelle. Im Gegensatz zu der „definierenden“ Tabelle 1.1 haben wir es jetzt mit einer „beweisenden“ Tabelle zu tun, d.h. wir müssen, ausgehend von den linken Spalten der vorgegebenen Wahrheitswerte für die Ausgangsaussagen unter Verwendung der gegebenen Regeln nach rechts hin Schlussfolgerungen ziehen. Da die zu untersuchende Aussage (1.14) von drei Aussagen abhängt, haben wir jetzt acht Fälle für die verschiedenen Wertebelegungen der drei Aussagen A, B, C mit den zwei Werten w, f zu unterscheiden. A B C A⇒B B⇒C w w w w f f f f w w f f w w f f w f w f w f w f w w f f w w w w w f w w w f w w hA ⇒ Bi ∧hB ⇒ Ci w f f f w f w w A⇒C w f w f w w w w hhA ⇒ Bi∧hB ⇒ Cii =⇒ hA ⇒ Ci w w w w w w w w D E D E Tab. 1.2 Zum Nachweis der Aussage hA ⇒ Bi∧hB ⇒ Ci =⇒ A ⇒ C als Tautologie 8 Für jede dieser Aussagen verläuft der Nachweis, dass es sich um eine Tautologie handelt, nach dem gleichen Schema. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde daher auf eine Darstellung der Wahrheitswertetabellen für die übrigen Tautologien verzichtet. 1.1 7 Logik 1.1.3 Quantisierte Aussagen Bislang haben wir Aussagen auf dem sehr abstrakten Niveau der sogenannten Aussagenlogik betrachtet. Eine Aussage ist dabei nichts anderes als eine „black box“. Wir haben gelernt mit diesen „Schachteln“ umzugehen, ohne zu wissen, wie es in ihrem Inneren aussieht. Im folgenden wollen wir auf einem kurzen Ausflug in die sogenannte Prädikatenlogik einen Blick in die innere Struktur mathematischer Aussagen werfen. Dazu benötigen wir als Hilfsmittel den Begriff der Aussageform. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um eine Vorstufe zur Aussage, nämlich um ein sprachliches Gebilde, in dem variable Größen auftreten. Diese Variablen sind einerseits festgelegt, indem sie aus einem wohlbestimmten Geltungsbereich entnommen sind, andererseits sind sie unbestimmt, denn sie können sich in ihrem jeweiligen Geltungsbereich frei bewegen. Diese Form von Unbestimmtheit hat zur Folge, dass man einer Aussageform keinen der beiden Wahrheitswerte wahr oder falsch zuordnen kann. Erst wenn man die Variablen festlegt, hat das sprachliche Gebilde die für Aussagen charakteristische Eigenschaft, entweder wahr oder falsch zu sein. Lassen Sie uns hierzu ein Beispiel betrachten. 1.1.5 Beispiel: Das Sprachgebilde h Das Quadrat der natürlichen Zahl x ist gleich dem Quadrat der ganzen Zahl y . i (1.16) ist, solange die beiden Zahlen x und y in ihrem jeweiligen Geltungsbereich N bzw. Z variabel sind, inhaltlich weder wahr noch falsch. Dieser Satz ist also keine Aussage, obwohl es sich zweifellos um ein (grammatikalisch einwandfreies) Satzgebilde handelt. Erst wenn man die Variablen x und y festlegt, wird diese Aussageform zu einer Aussage. Setzt man etwa x = 2 und y = −2, so ergibt sich eine wahre Aussage, im Fall x = 2 , y = 3 dagegen wird sie falsch. ♦ Das an diesem Beispiel gezeigte Phänomen, dass eine Aussageform für gewisse Werte der Variablen eine wahre Aussage wird, für andere Werte dagegen eine falsche, ist typisch für Aussageformen. In diesem Zusammenhang spricht man auch vom Erfüllungsbereich als demjenigen Teil des Geltungsbereichs, in dem die Werte liegen, die die Aussageform „erfüllen“, d.h. zu einer wahren Aussage machen. Die enge Beziehung zwischen Aussageformen und Aussagen hat zur Folge, dass man wie Aussagen auch Aussageformen miteinander verknüpfen kann. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass die Aussageformen, die man miteinander verknüpfen will, den gleichen Geltungsbereich besitzen. Als Verknüpfungsregeln verwendet man natürlich die gleichen wie die für Aussagen, also die in der Tabelle 1.1 beschriebenen. Der Unterschied besteht nun lediglich darin, dass man 8 1 Grundlagen bei A und B jeweils in Klammern die Variablen der Aussageform mit angibt, also etwa A(x, y, . . .) , B(x, y, . . .). Durch Fixieren der Variablen x, y, . . . aus dem gemeinsamen Geltungsbereich reduziert sich also das Verknüpfungsproblem für Aussageformen auf das für Aussagen. Neben dem einfachen Fixieren der variablen Größen einer Aussageform gibt es eine zweite, bedeutend weit reichendere Möglichkeit, aus einer Aussageform eine Aussage zu machen. Betrachten wir dazu die folgenden beiden Modifikationen der Aussageform (1.16): h Für jede natürliche Zahl x gibt es eine ganze Zahl y mit x2 = y 2 . i (1.17) h Es gibt eine natürliche Zahl x, so dass x2 = y 2 für alle ganzen Zahlen y gilt. i (1.18) Jetzt handelt es sich um Aussagen. Dass die Aussage (1.17) wahr, (1.18) dagegen falsch ist, sei hier nur am Rande erwähnt, denn darauf kommt es im Moment nicht an. Wir wollen diese Beispiele vielmehr als Demonstrationsobjekte für die Einführung der sogenannten Quantoren benutzen. Bei Quantoren handelt es sich um graphische Symbole, die die Mathematiker erfunden haben, um mathematische Sachverhalte präzise beschreiben zu können. Wir werden in diesem Buch auf die (recht unnahbar und leblos wirkende) Quantorenschreibweise weitgehend verzichten. Unter Umständen ist aber die Verwendung dieses Formalismus empfehlenswert, zuweilen sogar unverzichtbar, und so werden wir davon so viel (oder besser, so wenig) wie nötig einführen. Die beiden wichtigsten Quantoren mit ihrer jeweiligen traditionellen Verbalisierung sind der und der Allquantor ∀ , in Worten: „für alle“,9 Existenzquantor ∃ , in Worten: „es existiert“.10 Bezeichnet etwa A(α) eine von einer Variablen α aus einem Geltungsbereich G abhängige Aussage, so schreiben wir die Aussage h Für alle α aus G gilt A(α). i jetzt in der Kurzform h ∀ α ∈ G : A(α) i. Die Beispielaussagen (1.17) und (1.18) lassen sich dann als quantisierte Aussagen in folgender Form schreiben: h ∀ x ∈ N : ∃ y ∈ Z : x2 = y 2 i 2 2 h∃x∈N:∀y∈Z:x =y i (1.19) (1.20) Treten wie in diesen beiden Aussagen zwei (oder auch mehr) Quantoren nebeneinander auf, so stellt sich die Frage nach der gegenseitigen Abhängigkeit 9 Dem üblichen „für alle“ ist die Sprechweise „für jede(s)“ vorzuziehen. Man wird gleich sehen weshalb. 10 Zu verstehen im Sinne von „es existiert mindestens ein(e)“. 1.1 9 Logik der zugehörigen Variablen. In diesem Zusammenhang stellen wir fest, dass der Ausdruck ∀ x ∈ N : ∃ y ∈ Z, in Worten „Für alle x ∈ N existiert ein y ∈ Z“ nicht bedeuten soll, dass es für alle x ∈ N ein einziges, universelles y ∈ Z gibt mit der gewünschten Eigenschaft (dann wäre die Aussage (1.19) ja falsch), sondern dass es zu jedem x ∈ N ein individuelles, im allgemeinen von x abhängiges y ∈ Z gibt mit der genannten Eigenschaft. Der Allquantor ∀ wird also sinnvollerweise mit „für jede(s)“ beschrieben, und nicht mit „für alle“. Die zulässige Abhängigkeit des y vom x wird zuweilen durch die Schreibweise y = y(x) zum Ausdruck gebracht.11 Speziell bei komplizierteren Aussagen ist die gegenseitige Abhängigkeit der auftretenden Variablen von größter Bedeutung. So besteht zum Beispiel zwischen den beiden Aussagen ∀ε > 0 : ∀a ∈ D : ∃ δ > 0 : ∀x ∈ D: hh|x − a| < δi ⇒ h|f (x) − f (a)| < εii (1.21) ∀ε > 0 : ∃ δ > 0 : ∀a ∈ D: ∀x ∈ D: hh|x − a| < δi ⇒ h|f (x) − f (a)| < εii (1.22) ein formal nur winziger, inhaltlich jedoch fundamentaler Unterschied.12 Im Fall der Aussage (1.21) darf δ von ε und a abhängen, d.h. δ = δ(ε, a), im Fall (1.22) dagegen hängt δ = δ() nur von ε ab, von a muss es unabhängig sein. Da es sich bei dem hier angesprochenen Sachverhalt um ein subtiles, aber die gesamte Mathematik beherrschendes Detail handelt, wollen wir ein für allemal die folgende Vereinbarung treffen: 1.1.6 Vereinbarung: Treten in einer Aussage der Reihe nach (wie üblich von links nach rechts gelesen) mehrere Variable auf, so hängt jede zu einem Existenzquantor gehörige Variable von all denjenigen anderen Variablen ab, die vor ihr aufgeführt sind, die also links von ihr stehen. Bei der Entwicklung der erforderlichen Logik-Grundlagen ist noch ein letzter Schritt zu tun. Es geht jetzt darum, quantisierte Aussagen miteinander zu verknüpfen. Dies wirft sofort die Frage auf, wie sich die Aussageverknüpfungen auf die innere Struktur von quantisierten Aussagen auswirken. Eine systematische Behandlung von Fragen dieser Art ist der sogenannten Prädikatenlogik vorbehalten. Für unsere Zwecke ist ausreichend, aber auch unverzichtbar, zu wissen, wie man quantisierte Aussagen verneint. Als Minimalanforderung in 11 12 Nicht zu verwechseln mit den später einzuführenden Funktionen. Es handelt sich um die im Kapitel 3 zu behandelnden Begriffe der Stetigkeit bzw. gleichmäßigen Stetigkeit. 10 1 Grundlagen dieser Hinsicht gilt es zu klären, wie sich die Negation ¬ mit jedem der beiden Quantoren ∀, ∃ verträgt. Ist A(x) eine beliebige Aussageform mit der Variablen x aus einem Geltungsbereich G, so definieren wir ¬ h ∀ x ∈ G : A(x) i :⇐⇒13 h ∃ x ∈ G : ¬ A(x) i ¬ h ∃ x ∈ G : A(x) i :⇐⇒ h ∀ x ∈ G : ¬ A(x) i (1.23) (1.24) Bei der Verneinung geht also der Allquantor in den Existenzquantor über und umgekehrt, der Geltungsbereich der Aussageform bleibt unverändert, und die Aussageform wird verneint. Beim Auftreten mehrerer Quantoren wird dieses „Verfahren“ mehrmals nacheinander ausgeführt. Die Verneinungen der beiden quantisierten Aussagen (1.19) und (1.20) z.B. sind dann h ∃ x ∈ N : ∀ y ∈ Z : x2 6= y 2 i h ∀ x ∈ N : ∃ y ∈ Z : x2 6= y 2 i Leicht kann man an diesen konkreten Beispielen nachprüfen, dass sich die Wahrheitswerte im Vergleich zu (1.19) bzw. (1.20) gerade umkehren. Eine etwas anspruchsvollere Anwendung der Verneinungsregeln liefern für die beiden Aussagen (1.21) und (1.22) die jeweiligen Verneinungen (man beachte hierbei die Verwendung der Tautologie (1.15)) ∃ ε > 0 : ∃ a ∈ D : ∀ δ > 0 : ∃ x ∈ D : hh|x − a| < δi ∧ h|f (x) − f (a)| ≥ εii ∃ ε > 0 : ∀ δ > 0 : ∃ a ∈ D : ∃ x ∈ D : hh|x − a| < δi ∧ h|f (x) − f (a)| ≥ εii 1.1.4 Beweistechnik Wie schon erwähnt ist die Mathematik — etwas respektlos formuliert — nichts anderes als eine Ansammlung von Aussagen. Den Anstrengungen zahlloser Mathematiker ist es zu verdanken, dass diese Aussagensammlung mittlerweile riesige Ausmaße angenommen hat; und die Tendenz ist weiter steigend. Die Aufgabe der forschenden Mathematiker bestand früher, besteht heute und wird auch zukünftig darin bestehen, neue Aussagen zu formulieren und diese, wenn möglich, als wahr oder falsch nachzuweisen.14 Dass dies neben soliden Fachkenntnissen vor allem Phantasie erfordert, sei hier nur am Rande erwähnt. Die Aufgabe der Lernenden, auf der anderen Seite, ist es, vorgelegte Aussagen als 13 Ein Doppelpunkt links von einem Doppelpfeil bedeutet, dass die links stehende, neu zu erklärende Aussage durch die bereits bekannte, rechts stehende Aussage definiert wird. 14 Kurioserweise werden gerade solche Aussagen besonders berühmt, von denen man noch nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind. Ein Beispiel einer solchen Aussage kennen Sie schon, nämlich das im Beispiel 1.1.2 beschriebene Problem der Primzahlzwillinge. 1.1 Logik 11 wahr oder falsch zu erkennen und die entsprechenden Nachweise zu führen. Da es für den ernsthaften Umgang mit Mathematik unumgänglich ist, die zur Diskussion stehenden Aussagen zu beweisen, stellen die Beweise einen zentralen und unverzichtbaren Teil der Mathematik dar. Bevor wir auf die Technik der Beweisführung näher eingehen, wollen wir kurz die sogenannte Definition–Satz– Beweis–Struktur der modernen Mathematik ansprechen. Neben erklärendem Text und erläuternden Bemerkungen, Beispielen und Abbildungen besteht ein Mathematikkurs (Buch oder Vorlesung) im wesentlichen aus drei Grundelementen, nämlich den Definitionen, Sätzen und Beweisen.15 Bei den Definitionen handelt es sich um Festlegungen, mit denen man aus dem bereits vorhandenen Vorrat an Begriffen und Erkenntnissen neue Begriffe bildet. Zuweilen handelt es sich bei Definitionen auch nur um neue Schreibweisen oder abkürzende Bezeichnungen für bereits bekannte Dinge. Die Aussagen, aus denen jede mathematische Theorie und somit die gesamte Mathematik besteht, nennt man Lehrsätze, oder kurz Sätze.16 Als Korollar bezeichnet man einem Satz, der sich unmittelbar aus einem anderen Satz ergibt und somit kaum einer eigenen Herleitung bedarf, allenfalls einiger klärender Worte. Unter einem Hilfssatz versteht man einen Satz, der vorübergehend (für die Herleitung eines bestimmten Ergebnisses) eine gewisse Rolle spielt, darüberhinaus aber von untergeordneter Bedeutung ist.17 In diesem Buch verwenden wir ferner die Bezeichnung Folgerung für einen Satz, der sich unmittelbar und ohne große Überlegungen aus einer Definition ergibt. Den dritten Grundpfeiler solider Mathematik bilden die Beweise, mit deren Hilfe man die Gültigkeit der Sätze nachweist. Einen (nahezu überflüssigen, da offensichtlichen) Beweis für eine Folgerung nennen wir Begründung. Nach diesem kurzen Blick auf den strukturellen Aufbau eines Mathematikkurses wenden wir uns nun den Beweisen zu. Mit Hilfe eines Beweises zeigt man, wie gesagt, dass eine vorgelegte Aussage wahr oder falsch ist. Wie man einen Beweis im Detail zu führen hat, hängt natürlich von der inneren Struktur der zu beweisenden Aussage ab und lässt sich deshalb nicht generell beschreiben. Was jedoch den prinzipiellen Aufbau eines Beweises angeht, so gibt es einige allgemeingültige Vorgehensweisen, die wir nun erläutern wollen. 15 Für die sogenannte reine Mathematik trifft dies uneingeschränkt zu. Bei der angewandten Mathematik kommen noch Verfahren und Algorithmen dazu, mit deren Hilfe man die mathematisch-theoretischen Erkenntnisse auf Fragestellungen von außerhalb der Mathematik anwendet. 16 An Stelle von Satz findet man in der Literatur auch die Bezeichnungen Theorem oder Proposition. 17 Die in der Literatur anzutreffende Bezeichnung Lemma für einen Hilfssatz birgt häufig den Gedanken in sich, dass es sich zwar um eine Hilfsaussage handelt, diese aber an verschiedenen Stellen innerhalb der Mathematik von großem Nutzen ist. 12 1 Grundlagen Auf der höchsten Abstraktionsebene ist ein mathematischer Lehrsatz eine Aussage ohne innere Struktur, wie z.B. die Aussage √ h 2 ist nicht rational i . (1.25) In aller Regel besitzen die zu beweisenden Aussagen jedoch die Form einer Implikation A ⇒ B, oder lassen sich in eine solche umformen. A heißt dann Voraussetzung und B heißt Behauptung. Die Aussage (1.25) z.B. lässt sich in der Form h x rational i =⇒ h x2 6= 2 i als Implikation schreiben. Welche Form auch immer die zu beweisende Aussage besitzt, es gibt zwei prinzipiell unterschiedliche Arten, einen Beweis zu führen, nämlich den direkten Beweis und den indirekten Beweis. Den letzteren nennt man aus Gründen, die wir gleich kennenlernen werden, auch Widerspruchsbeweis. Sowohl für unstrukturierte Aussagen als auch für Implikationen wollen wir nun auf diese beiden Beweisprinzipien näher eingehen. (1) Der direkte Beweis (a) Direkter Beweis einer Aussage X: Um die Richtigkeit einer Aussage X zu beweisen, geht man von einer beliebigen wahren Aussage W aus und zeigt, dass die Implikation W =⇒ X wahr ist, d.h. man schließt (gegebenenfalls unter Zuhilfenahme bereits als wahr erkannter Aussagen) von W auf X. Nach der Tabelle 1.1 ist dann nämlich auch X wahr. Vorsicht! Wir wollen hier auf einen typischen Anfängerfehler aufmerksam machen. Zum Beweis, dass eine Aussage X wahr ist, genügt es nicht, von der Aussage X auf eine wahre Aussage W zu schließen. Die Implikation X ⇒ W kann nämlich durchaus wahr sein, obwohl X falsch ist. Dazu betrachte man die dritte Zeile in der Tabelle 1.1, oder auch das Beispiel 1.1.4 der wahren Aussage h −1 = 1 i ⇒ h 1 = 1 i. (b) Direkter Beweis einer Implikation V ⇒ B : Um die Richtigkeit einer Implikation V ⇒ B zu zeigen, beginnt man mit der Voraussetzung V (ganz gleich, ob V wahr ist oder falsch) und schließt unter Verwendung bereits bekannter Aussagen auf die Behauptung B. Dabei darf man auch eine oder mehrere Hilfsaussagen „dazwischenschieben“, denn sind mit einer beliebigen (wahren oder falschen) Aussage H die Implikationen V ⇒ H und H ⇒ B wahr, so ist unter Verwendung der Tautologie (1.14) und der Tabelle 1.1 auch die Implikation V ⇒ B wahr. 1.1 13 Logik Vorsicht! Auch beim Beweis einer Implikation besteht für den Anfänger die Gefahr eines Fehlschlusses. Eine Implikation V ⇒ B kann man nicht dadurch verifizieren (d.h. als wahr nachweisen), dass man die Implikation h ¬ V i ⇒ h ¬ B i als wahr nachweist. Um dies einzusehen wähle man V als wahre Aussage und B als falsche Aussage. Dann ist die Implikation h ¬ V i ⇒ h ¬ B i nach Tabelle 1.1 nämlich wahr, V ⇒ B dagegen falsch. (2) Der indirekte Beweis (a) Indirekter Beweis einer Aussage X: Man geht von der verneinten Aussage h ¬ X i, der sogenannten Widerspruchsannahme aus, und schließt auf eine falsche Aussage F , einen sogenannten Widerspruch. Man zeigt also, dass die Implikation h ¬ X i =⇒ F wahr ist. Nach der Tabelle 1.1 ist dann die verneinte Aussage h ¬ X i falsch, und damit X wahr. (b) Indirekter Beweis einer Implikation V ⇒ B : Hier stehen zwei Varianten zur Verfügung. 1. Variante: An Stelle der Implikation V ⇒ B kann man wegen der Tautologie (1.13) ebensogut die Implikation h¬B i ⇒ h¬V i als wahr nachweisen. Auch hier ist die, Widerspruchsannahme genannte Verneinung h ¬ B i der Ausgangspunkt des indirekten Beweises. 2. Variante: Zur Voraussetzung V nimmt man die Widerspruchsannahme h ¬ B i hinzu. Kann man dann hieraus auf eine falsche Aussage F schließen, d.h. ist die Implikation h V ∧ h ¬ B ii =⇒ F als wahr erkannt, so ist man fertig. Nach der Tabelle 1.1 ist dann nämlich die Aussage V ∧ h ¬ B i falsch, und wegen (1.15) ist damit V ⇒ B wahr. Als Beispiel für eine Aussage, die man am einfachsten indirekt beweist, präsentieren wir den ersten Satz dieses Buches. 1.1.7 Satz : Es gibt keine rationale Zahl q mit der Eigenschaft q 2 = 2. 14 1 Grundlagen Beweis: Wir nehmen an, es gäbe eine rationale Zahl q mit q 2 = 2. Dann gibt es zwei Zahlen m ∈ Z und n ∈ N mit q = m n , und wir können sogar davon ausgehen, dass m oder n ungerade (1.26) ist. Durch Kürzen des Bruches m n lässt sich dies nämlich stets erreichen. Aus m 2 2 2 ( n ) = 2 folgt dann m = 2n , also ist m2 gerade.18 Dann ist auch m gerade , (1.27) denn das Quadrat einer ungeraden Zahl wäre ja ungerade. Dies bedeutet, dass es ein k ∈ Z gibt mit m = 2k. Setzt man dies in die Beziehung m2 = 2n2 ein, so folgt 4k 2 = 2n2 und damit 2k 2 = n2 . Also ist n2 und folglich n gerade . (1.28) 19 Die drei Aussagen (1.26) bis (1.28) ergeben nun einen Widerspruch. Lassen Sie uns diesen einfachen und intuitiv geführten Beweis, der in ähnlicher Form auch in Schulbüchern zu finden ist, aus Sicht der zuvor beschriebenen Beweisprinzipien analysieren. In der Sprache der formalen Logik lautet die Aussage des Satzes 1.1.7 ¬ h ∃ q ∈ Q : q2 = 2 i . Da diese Aussage nicht in Form einer Implikation vorliegt, behandeln wir sie als unstrukturiert. Nach dem obigen Schema für den indirekten Beweis haben wir also von der Verneinung der zu beweisenden Aussage auszugehen, wegen der Tautologie (1.3) ist dies die Aussage h ∃ q ∈ Q : q 2 = 2 i. Genau das ist in dem Beweis des Satzes tatsächlich geschehen. Unter Verwendung elementarer Rechenregeln für ganze Zahlen sind wir dann zu einer Aussage gelangt, die, wenn wir mit M und N die Aussagen h m gerade i bzw. h n gerade i bezeichnen, die folgende Form besitzt: M ∧ N ∧ hh ¬ M i ∨ h ¬ N ii . (1.29) Dass diese Aussage in jedem Fall, also unabhängig von den Wahrheitswerten von M und N , eine falsche Aussage ist, ergibt sich leicht aus den mittlerweile bekannten Verknüpfungsregeln für Aussagen. (1.29) ist nämlich äquivalent zu h M ∧ N i ∧ h ¬ h M ∧ N ii , und dies ist sicher falsch, ganz gleich ob M ∧ N wahr oder falsch ist. 18 Eine ganze Zahl a ist genau dann gerade, wenn es eine ganze Zahl b gibt mit a = 2b. 19 Dieses Symbol kennzeichnet generell das Ende eines Beweises. 1.1 15 Logik Dass im Beweis des Satzes 1.1.7 auch die zweite Variante des indirekten Beweises realisiert ist, lässt sich daran erkennen, dass man die Aussage des Satzes auch als Implikation formulieren kann, nämlich h q ∈ Q i =⇒ h q 2 6= 2 i . Nach dem obigen Beweisschema hat man dann ausgehend von der Aussage h q ∈ Q i ∧ h q 2 = 2 i auf eine falsche Aussage zu schließen. Offensichtlich ist genau dies geschehen. 1.1.8 Bemerkung: Beim Beweis einer quantisierten Aussage besteht zwischen der Verifikation und der Falsifikation ein grundsätzlicher Unterschied. Möchte man nämlich eine Existenzaussage h ∃ x ∈ G : A(x) i verifizieren, so genügt schon die Angabe eines einzigen Beispiels x ∈ G mit der Eigenschaft A(x). Möchte man die Aussage dagegen falsifizieren, d.h. als falsch nachweisen, so benötigt man wegen (1.24) eine allgemeingültige Schlussweise, die von allen x ∈ G zeigt, dass A(x) nicht gilt. Bei Allaussagen ist die Situation gerade umgekehrt. Um eine Allaussage h ∀ x ∈ G : A(x) i zu verifizieren, benötigt man eine alle x ∈ G erfassende Argumentation, mit einzelnen Beispielen ist es im allgemeinen nicht getan. Kann man jedoch ein einziges Beispiel x ∈ G angeben, für das die Aussage A(x) falsch ist (so etwas nennt man dann ein Gegenbeispiel), so ist die Allaussage wegen (1.23) schon falsifiziert. Nach der Beschreibung der beiden Prinzipien des direkten und des indirekten Beweises kommen wir nun zu einem dritten Beweisprinzip, das sich im Gegensatz zu den ersten beiden allerdings nur auf einen bestimmten Typ von Aussagen anwenden lässt. (3) Der Induktionsbeweis Möchte man eine Aussage der Form h ∀ n ∈ N : A(n) i verifizieren, bei der A(n) eine Aussageform mit dem Geltungsbereich N ist, so besagt das sogenannte Prinzip der vollständigen Induktion, oder kurz, Induktionsprinzip, dass man das folgende dreistufige Verfahren durchzuführen hat: Induktionsanfang: Man zeigt, dass A(1) wahr ist. Induktionsannahme: Man nimmt an, d.h. man setzt voraus, dass A(n) für ein beliebiges (im weiteren Verlauf des Beweises festes) n ∈ N wahr ist. Induktionsschritt: Man zeigt, dass auch A(n + 1) wahr ist. Dass nach Durchführung dieses Verfahrens die Aussage A(n) für alle natürlichen Zahlen n verifiziert ist, sieht man leicht, wenn man sich die logische 16 1 Grundlagen Struktur dieses Beweistyps vor Augen führt. Die Induktionsannahme und den Induktionsschritt zusammenfassend besitzt der Induktionsbeweis nämlich die zweistufige Form (1) Die Aussage A(1) ist wahr. (2) Die Implikation A(n) =⇒ A(n + 1) ist wahr für jedes n ∈ N . Aus der Tatsache, dass sowohl A(1) als auch die Implikation A(1) ⇒ A(2) wahr ist, folgt dann nach der Tabelle 1.1, dass auch A(2) wahr ist. Zusammen mit der Implikation A(2) ⇒ A(3) folgt weiter, dass auch A(3) wahr ist, undsofort. Also ist A(n) für alle n ∈ N wahr. Die eben durchgeführten Überlegungen zum Induktionsprinzip zeigen im übrigen auch, dass man den vorgestellten Grundtyp eines Induktionsbeweises leicht dahingehend erweitern kann, dass man den Induktionsanfang 1 mit zugehörigem Geltungsbereich N durch eine beliebige ganze Zahl n0 mit zugehörigem Geltungsbereich {n ∈ Z : n ≥ n0 } ersetzen darf. In der geschilderten Weise kann man nämlich auch in diesem Fall, ausgehend vom Induktionsanfang n0 , induktiv, wie man sagt, auf die nachfolgenden ganzen Zahlen n0 + 1, n0 + 2, . . . schließen. Dass schon einfache Fragestellungen dieser Modifikation des Induktionsbeweises bedürfen, zeigt das folgende Beispiel. 1.1.9 Beispiel: Wir wollen für natürliche Zahlen n untersuchen, in welcher Größenbeziehung n2 und 2n zueinander stehen. Wir betrachten hierzu die in der folgenden Tabelle angegebenen Werte: n 1 2 3 4 5 6 7 8 2n n2 2 1 4 4 8 9 16 16 32 25 64 36 128 49 256 64 ··· ··· ··· Dieser Tabelle entnehmen wir die Vermutung, dass 2n > n2 für alle n ≥ 5 (1.30) gilt. Dass diese Aussage tatsächlich richtig ist, beweisen wir nun mittelsvollständiger Induktion, wobei wir mit A(n) die Aussageform 2n > n2 bezeichnen. Induktionsanfang: A(5) ist wahr. Es gilt nämlich 25 = 32 > 25 = 52 . Induktionsannahme: Wir setzen voraus, dass A(n) gilt, genauer: 2n > n 2 für ein beliebiges (ab hier festes) n ≥ 5 . 1.1 17 Logik Induktionsschritt: Für das in der Induktionsannahme festgelegte n ≥ 5 gilt die Aussage A(n + 1) , d.h. 2n+1 > (n + 1)2 . Dies zeigt die Rechnung20 2n+1 = 2 · 2n Ind. Ann. > 2 · n2 = n2 + (n − 1 + 1)2 = = n2 + (n − 1)2 +2(n − 1) + 1 > n2 + 2n + 1 = (n + 1)2 . | {z } >2 Damit ist der Induktionsbeweis für die Aussage (1.30) abgeschlossen. 20 ♦ Die Markierung Ind. Ann. in dieser Rechnung soll diejenige Stelle des Induktionsbeweises hervorheben, an der die Induktionsannahme zum Einsatz gelangt. Da diese Stelle von zentraler Bedeutung für jeden Induktionsbeweis ist, sollte sie in jedem Falle durch eine geeignete Markierung gekennzeichnet werden.