1. Im Anfang war das Wort ... Archäolinguistische Erkundungen der demokratischen Institutionen im antiken Griechenland Zur gleichen Zeit, als sich die griechische Gesellschaft auf das Experiment mit der Demokratie einliess, wirkte in China Konfuzius (Kong Fu Zi; 551-479 v. Chr.), dessen philosophisches Ideengut später auch bis nach Europa gelangte. Konfuzius lebte zwar in der gleichen Ära wie Kleisthenes, er war aber kein Zeitzeuge der Verfassungsreform in Griechenland, obwohl einige seiner Lehren von Vorteil und Nutzen für die Schaffung einer demokratischen Ordnung gewesen wären, hätten die Griechen davon gewusst. Eine der Weisheiten, die wir Konfuzius verdanken, ist seine Aufforderung, zu Beginn einer jeden Diskussion die Begriffe zu klären, mit denen man umgeht. Im Kontext von Reflexionen über Demokratie ist es nicht nur wichtig, sondern unerlässlich, das begriffliche Umfeld abzuklären. Denn bereits eine nähere Betrachtung des sprachlichen Hauptbegriffs selbst, Demokratie, ist geeignet, mit Pauschalitäten aufzuräumen, derer wir uns kaum bewusst sind. Einem spontanen Impuls folgend könnte man sich daran machen, die Texte antiker Autoren als Quellen heranzuziehen, um das Wesen der antiken Demokratie begrifflich zu fixieren. Das hat man seit dem 19. Jahrhundert intensiv betrieben. Allerdings läuft man mit diesem Ansinnen Gefahr, sich in Fallstricken zu verheddern, denn die unbefangene Hinwendung zu Originaltexten kann vielerlei Verwirrung schaffen. Als sich die Romantiker Anfang des 19. Jahrhunderts der Lektüre antiker Schriftsteller hingaben, taten sie das mit der Naivität von Idealisten, die dem geschriebenen Wort uneingeschränkte Autorität und den Texten absoluten Wahrheitsgehalt beimaßen. Das Bild über griechische Demokratie, das sich bei der Lektüre formte, war eher ein Fantasiekonstrukt als eine faktenorientierte Beschreibung antiker Realitäten. Ein Mangel an Textkritik und vor allem eine fehlende Koordination von Inhalten antiker Texte und kulturhistorischen Fakten sind bis heute zu beklagen. Es ist daher angebracht, eine Warnung an den Anfang der archäolinguistischen Betrachtungen zu stellen: 33 „Es sind keine echten Aufzeichnungen von Regierungstätigkeiten erhalten, außer den in Stein gemeißelten Gesetzen und Inschriften. Selbst Worte können natürlich auch kryptisch sein. ... Menschen lügen sowohl was ihre Absichten als auch ihre Motive betrifft, und der Umstand, dass Worte erhalten geblieben sind, ist keine Garantie dafür, dass es möglich wäre, erlebte Realität getreu wiedererstehen zu lassen. Aber Worte sind immerhin ein Anfang, und der höchst impressionistische Charakter der Darstellungen der Athener Demokratie, die auf uns überkommen sind, hat das Tor zu einem breiten Spektrum von Interpretationen über die Regierung und die Geschichte von Athen geöffnet“ (Roberts 1994: 4). Wenn hier vom „Land“ der Griechen (Hellas) die Rede ist, gilt es zu beachten, dass sich dieser Begriff im Laufe der Zeit wandelte, so wie sich die Benennung der Bevölkerung wandelte. „Ursprünglich bezeichnete ‚Hellas‘ ein kleines Gebiet südlich von Thessalien, und später allgemeiner das zentrale Griechenland. Gegen Ende des 7. Jahrhunderts [v. Chr.] wurde der Name verwendet, um das gesamte griechische Festland zu beschreiben, während damit um die Mitte des 6. Jahrhunderts die gesamte griechische Welt benannt wurde. ‚Hellenes‘ wurde zunächst ebenfalls auf die Bevölkerung von ‚Hellas‘ in seinem äußerst begrenzten Sinn bezogen, aber die Benennung verschwindet dann bis zum frühen 6. Jahrhundert und wurde in der Zwischenzeit durch ‚Panhellenes‘ ersetzt“ (Hall 2002: 7). Es gibt sprachliche Anzeichen dafür, dass der Name Hellas ursprünglich auf das Siedlungsgebiet einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in der Region von Dodona (Epirus) bezogen wurde (s. Kap. 4). In einem fragmentarischem Text von Hesiod wird das Gebiet um Dodona Hellopia genannt. In der epischen Literatur und in den Texten von Aristoteles ist von den Selloi die Rede, und Strabo (7.7.10) vermutet, dass die Selloi mit den Helloi identisch seien, die bei Pindar erwähnt werden. Die vielfältigen Hinweise scheinen dafür zu sprechen, dass sich der Name Hellas von einem Wortstamm Hell- herleitet, der ursprünglich zum Namen einer Volksgruppe im Gebiet von Dodona gehört (Hall 2002: 152). In der mythischen Verklärung der Anfänge des Griechentums wird Hellen als Stammvater der Hellenen gefeiert (Gantz 1993: 167). Hellen ist der Sohn von Deukalion, der einerseits mit Thessalien, andererseits mit Dodona assoziiert ist. Die Verwendung des Namens Hellas ist während der archaischen Periode begrenzt auf die Gebiete der Stämme, die mit der Verwaltung und der Aufrechterhaltung des Ritualwesens im Heiligtum von Delphi betraut waren (s. Kap. 4 zur Delphischen Amphiktionie). Eine der alten Einrichtungen des Heiligtums, der ‚Nabel‘ (omphalos), war anfangs der symbolische Mittelpunkt einer relativ kleinen Welt im Süden des griechischen Festlandes (Abb. 1). 34 Abbildung 1: Siedlungsplätze der mykenischen und klassisch-griechischen Ära auf dem griechischen Festland (nach Boardman et al. 1986: 10) 35 Demos und Demen-Ordnung: Ein Modell für kommunale Selbstverwaltung Demokratie setzt sich aus den beiden Elementen demos und kratos/kratia (zu kratein ‚herrschen‘) zusammen. Demos ist die attische Variante des Stammworts, dessen Form im dorischen Griechisch damos ist. Demos/damos ist ein indoeuropäisches Erbwort, das auf den Stamm *dehamos zurückgeht, mit Äquivalenten im Keltischen und Altindischen (Mallory/Adams 1997: 416). In der modernen Literatur über die griechische Antike findet man Bedeutungsangaben von demokratia, die Bezug nehmen auf die ‚Fähigkeit des Volkes bzw. der Leute zu handeln, um Veränderungen zu bewirken‘ (so bei Ober 2008: 12). Manche Interpretationen, wie die Betonung des hier hervorgehobenen Strebens nach Veränderung als wesentlichen Aspekt für die Idee demokratischer Herrschaft in der Antike, wirken eher wie Projektionen moderner Denkweisen – einschließlich von Formen eines an Idealvorstellungen orientierten Wunschdenkens – in eine Zeit mit einem andersartig gelagerten Wertsystem. Aber um das begreiflich zu machen, müssen wir uns näher mit der Begriffswelt vertraut machen, mit und in der die Griechen lebten und die sie in die Worte ihrer Sprache fassten. Die ursprüngliche Bedeutung von demokratia hatte sehr viel mit Verhaftetsein in Traditionen zu tun und gar nicht so viel mit einem Streben nach Veränderungen. Die Bewahrung überkommener Traditionen und Werte besaß ein nicht zu unterschätzendes Gewicht im Verständnis des Teils der griechischen Bevölkerung, dem das Recht zugesprochen war, sich am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen (s. Kap. 4). Dies geht aus den Konventionen der Sozialkontakte, der Organisation kommunaler Festlichkeiten und des Kulturlebens ebenso wie aus den Inhalten der Erziehung (paideia) hervor (Robb 1994: 183 ff., Stafford 1997). Und diese Erziehungsideale wurden auch von denen geteilt, die kein Stimmrecht hatten, d.h. von den Frauen, die wohl mehr für die Erziehung der Kinder leisteten als ihre Männer. Es ist nicht genau bekannt, ab wann der Ausdruck demokratia verwendet wurde. Manche sagen, dieser zentrale Begriff des Demokratiewesens der klassischen Ära hätte sich mit den Reformen demokratischer Institutionen im Athener Staat durch Kleisthenes (508-07 v. Chr.) verbreitet (s. Kap. 6). Andere meinen, der Ausdruck demokratia hätte sich erst nach den Perserkriegen eingebürgert. Jedenfalls taucht der Begriff in den Quellen erst nach 480 v. Chr. auf. „Wie früh die Athener begannen, ihre konstitutionelle Ordnung als ‚demokratia‘ zu beschreiben – die Macht dem Volk – ist umstritten: obwohl der erste Gebrauch des Wortes erst nach den Perserkriegen bezeugt ist, kann es sein, dass es bereits früher verwendet wurde“ (Osborne 1996: 304). 36 Seit Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurde die demokratia auch in einem eigenen Fest gefeiert, das im August oder September stattfand. Dieses Fest war unter dem Namen „Rückkehr von Phyle“ bekannt und bezog sich auf Ereignisse nach dem für Athen verlorenen Peloponnesischen Krieg (431-404 v. Chr.). Sparta hatte nach seinem Sieg über Athen ein oligarchisches Regime unter Führung von Lysander in Athen etabliert. Diese tyrannische Regierung ist unter dem Namen „dreißig Tyrannen“ in die Geschichte eingegangen. Die Oligarchen vertrieben zahlreiche Familien aus der Stadt. Diese sammelten sich in Theben und wurden dort vom anti-Spartanischen Regenten Ismenias unterstützt. Etwa 70 Exil-Athener zogen unter Führung von Thrasybulos nach Attika und verschanzten sich in Phyle am Parnass. Nachdem die Rebellen immer mehr Zulauf bekommen hatten, stellten sie sich der spartanischen Garnison von Athen und der Athener Kavallerie im Dienst der Oligarchen. Es kam zu verschiedenen Kämpfen, die sich ausweiteten und eine Strafexpedition des spartanischen Heeres auslösten. Die Männer von Phyle waren aber zahlenmäßig so stark, dass die Spartaner diese nicht besiegen konnten und sich auf Verhandlungen einließen. Die Spartaner entzogen den Oligarchen in Athen ihre weitere Unterstützung, und die Exilanten von Phyle kehrten siegreich in ihre Vaterstadt zurück. Die Demokratie wurde wieder hergestellt, und dieses Ereignis wurde in den Folgezeit alljährlich gefeiert (Buck 1998). Die Siedlungen im ganzen Land waren aufgeteilt in Demen (demoi), und diese verteilten sich auf die von den einzelnen Stämmen bewohnten Ländereien. Der demos war die kleinste und gleichzeitig einzige Verwaltungseinheit vor der Enstehung staatlicher Ordnung. Der Ausdruck demos ist das begriffliche Kernelement von demokratia. Die Bedeutung von demos mit ‚Volk‘ zu umschreiben, ist denkbar pauschal, geradezu verwirrend, denn die längste Zeit hatte der Ausdruck viel speziellere Konnotationen im Sprachgebrauch der Griechen. Demos, dessen Bedeutung sich in klassischer Zeit zu ‚Gemeinschaft der mündigen Bürger‘, der politischen Vertreter ihres heimatlichen demos/Wohnbezirks‚ wandelte, bezog sich ursprünglich nicht auf die Bevölkerung selbst, sondern auf ein bestimmtes, von Menschen besiedeltes Gebiet. Der territoriale Aspekt von demos tritt deutlich in den in Linear B geschriebenen mykenisch-griechischen Texten des 2. Jahrtausends v. Chr. in Erscheinung. In der damaligen Ordnung der mykenischen Stadtstaaten bezeichnete da-mos eine territorial-administrative Einheit, etwa in der Bedeutung ‚Gau, Bezirk, Landgemeinde‘. Hier stellen sich bereits die Weichen für eine wichtige begriffliche Präzisierung. Am Anfang der Begriffsgeschichte von Demokratie steht die Idee einer geographisch-territorialen Einheit. Aus dieser Sicht gehörten die Menschen zum Land und nicht das Land den Menschen. Entsprechend war das Land ursprünglich kein Privatbesitz, sondern wurde kommunal verwaltet. Über Nutzungsverträge (in 37 Form von Verpachtung) konnten Parzellen des Gemeindelandes Individuen übertragen werden. Die Abtrennung individuellen Landbesitzes vom Landbesitz unter kommunaler Kontrolle war eine sekundäre Entwicklung, mit den bekannten sozioökonomischen Konsequenzen einer Monopolisierung von Grundbesitz (s. Kap. 2). Die Bedeutung des Begriffs demos mit seiner zunächst kommunalverwaltungstechnischen Orientierung entwickelte sich weiter und dehnte sich auf die Gemeinschaft derer aus, die im Gau siedelten. Diese Begriffserweiterung mutet zwingend an, denn der Gau hatte ja nur Bedeutung durch die in ihm siedelnden Menschen. In der erweiterten Bedeutung bezeichnete demos die ‚Siedlungsgemeinschaft eines Gebiets‘. Sowohl der Begriff ‚Gau, Bezirk‘ als auch der der dazu gehörenden lokalen Bevölkerung implizieren die Idee, dass sowohl der Landesbezirk in seiner flächenmäßigen Ausdehnung als auch die dort siedelnde Bevölkerung Teil eines größeren Ganzen sind. Darauf weist auch die lexikalische Wurzel im proto-indoeuropäischen Wortschatz, von der sich demos ableitet: *deh- ‚trennen, abteilen‘ (Mallory/Adams 1997: 416). Die Begriffsbildung von demos bezieht sich insofern auf einen Teil eines größeren Ganzen, und dies sowohl in geographischer wie demographischer Hinsicht. In der epischen Literatur des 8. Jahrhunderts v. Chr., so in Homers „Ilias“, wird der Terminus demos – in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext – in beiden Bedeutungen verwendet. Der Aspekt der engen Zusammengehörigkeit der lokalen Bevölkerung im demos, bei der es sich wohl überwiegend um Angehörige derselben Sippe handelte, scheint auch in Ableitungen vom Grundwort *deh- in anderen indoeuropäischen Sprachen auf; z.B. altir. dám ‚Anhänger, Mitglieder einer Sippe‘, altind. dam ‚Sippe‘. In den mykenisch-griechischen Texten werden die Bewohner eines demos auch neutral als ki-ti-ta (ktitai) ‚Anwohner, Siedler‘ bezeichnet (z.B. PY An 724). Es gab auch verschiedene Personennamen mit dem Element demos: Archi-demos, Dem-archos (Ilievski 2000: 300). Die Existenz von Dorfgemeinschaften und sicher auch ihre sozial- administrative Organisation hatten eine lange, traditionsgebundene Geschichte hinter sich, bevor über die Demen in den mykenischen Texten berichtet wurde. Die Rolle der Demen als sozioökonomische Basiseinheit dürfte sich seit der vorgriechischen Zeit kaum verändert haben. Und auch die Wirtschaftsformen haben sich seit dem Neolithikum erhalten, was zu der Annahme berechtigt, „... dass sich die Siedlungen von durchschnittlicher Größe – wie in neolithischer Zeit – konzentriert hätten auf den Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten (die arbeitsintensiv sind, egal in welchem Umfang angebaut wird), außerdem von einigen Gemüsesorten, und auf die Viehhaltung in begrenzter Anzahl, wohingegen Hortikultur, die intensive Nutzung von Vieh für sekundäre Produkte [Milchprodukte] und der Anbau von seltenen Arten von Nutzpflanzen überwiegend in großen Siedlungen praktiziert worden wäre, ...“ (Dickinson 1994: 51). Vom Standpunkt der Verwaltung auf kommunaler Ebene (d.h. im Rahmen der Verwaltung eines demos) bezeichnete der Begriff demokratia ursprünglich die 38 ‚Vergabe von kommunalem Landbesitz an die Siedler im Gau‘. Das was später pauschal als ‚Herrschaft‘ (kratos bzw. kratia) definiert wird, war anfänglich mit eben dieser Autorität assoziiert, Land zu vergeben. Die Siedler waren vertreten im Gemeinderat, dessen gewählte Mitglieder für die Selbstverwaltung des demos Sorge trugen, und dieses Gremium verwaltete das Land, das als gemeinschaftlicher Besitz betrachtet wurde. Entsprechend standen kommunale Interessen bei der Nutzung dieser Ländereien im Vordergrund. Der demos bewahrte seine autonome Selbstverwaltung über die Ära der klassischen Antike hinaus. „Demen ähnelten der Stadt in Miniaturform. Jeder [demos] war bis zu einem gewissen Grad autark, denn Reste von Kaufläden und Werkstätten sind in Demen gefunden worden. Es gab Versammlungen in jedem demos, die einen „Bürgermeister“ (demarchos) und alle anderen notwendigen Beamten beriefen, Dekrete und Gesetze erließen, von denen einige in Stein [gemeißelt] erhalten sind. Steuern wurden erhoben, um die Rücklagen eines demos zu sichern, und jeder demos hatte seine eigenen lokalen Kulte und Feste“ (Bolmarcich 2010: 390). Die Demen standen nicht isoliert als kleinräumige Wirtschaftsräume mit ihrer funktionstüchtigen Selbstverwaltung. Diese ökonomisch-administrativen Einheiten waren eingebettet – wie alles, was die griechische Gesellschaft betraf – in ein religiös geprägtes Weltbild. Wichtig für die Griechen der Antike war die Zuordnung der Ländereien zu bestimmten Gottheiten, denen in der mythischen Überlieferung das Patronat zukam. Athene war die Schutzpatronin der Stadt Athen und der historischen Landschaft Attika. Die ländlichen Gebiete, die sich in Demen ausgliederten, standen unter dem Schutz der Göttin Artemis, die also nicht nur die Göttin der unberührten Natur war, sondern auch die der von Menschen besiedelten und gestalteten Kulturlandschaft. Diese Assoziation kommt in einem der vielen Attribute der Göttin zum Ausdruck: Artemis demosunos ‚Artemis, Schutzpatronin der Ländereien der Demen‘ (Beekes 2010: 325). Die Besitzverhältnisse in den von Griechen besiedelten und von den Gemeinderäten der Demen verwalteten Ländereien standen in Abhängigkeit zu bestimmten Statuskategorien (Isager/Skydsgaard 1992: 121 f.). Nach der chronologischen Abfolge ihrer Entstehung wurden folgende Kategorien von Landbesitz unterschieden: (i) (ii) (iii) (iv) kommunaler Landbesitz (koine), sakraler Landbesitz (hiera), öffentlicher (staatlicher) Landbesitz (demosia), privater Landbesitz (idia) Kommunaler Landbesitz und der Sonderstatus von Heiligtümern als sakraler Landbesitz sind die ältesten Formen von Besitzverhältnissen, während öffentlicher und privater Landbesitz spätere Erscheinungsformen von Landbesitz sind. Öffentlicher Landbesitz ist ein Phänomen staatlicher Organisation, und die mykenischen 39 Stadtstaaten sind die erste Staatsform in der Geschichte Europas. Die Versammlungsplätze und Theater in den poleis waren Teil des Staatsbesitzes. Privater Landbesitz lässt sich auch erst für die mykenische Periode nachweisen. Dies bedeutet, dass die Formen des kommunalen und sakralen Landbesitzes bereits vor dem Aufschwung der mykenischen Herrschaft existierten, öffentlicher und privater Landbesitz jedoch erst seit etwa der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Kommunale Landparzellen konnten an die Bewohner des demos auf deren Antrag hin vergeben werden, wobei mehrere Kategorien von Nutzungsverhältnissen unterschieden wurden. Bereits aus mykenischer Zeit, d.h. zwischen dem 17. und 12. Jahrhundert v. Chr., stammen Hinweise auf verschiedenartige Bedingungen der Landvergabe. Offenbar gab es schon damals Formen von Leasing, d.h. von kurz- oder langfristiger Verleihung (bzw. Vermietung) von Nutzflächen, die für den Pflanzenanbau oder für die Viehhaltung genutzt werden konnten. Solche Ländereien waren und blieben in kommunalem Besitz, wurden aber an Interessenten auf Leasing-Basis vergeben. Das Leasing-System wurde tradiert und war in verschiedenen Stadtstaaten der klassischen Antike gültig: „Innerhalb der Grenzen des Gesetzes gab es in verschiedenen Stadtstaaten Raum für Leasing. Dies gilt beispielsweise für Athen ...“ (Isager/Skydsgaard 1992: 154). Erst seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. wird der Ausdruck eisphora als Bezeichnung für Grundbesitzabgabe verwendet (Isager/Skydsgaard 1992: 136). Das Verb eispherein in den Bedeutungen ‚hineintragen; herbringen; beitragen‘ hatte nur im Athener Staat die spezielle Bedeutung ‚Eigentumssteuer‘. Der Historiograph Xenophon (vor 426 – nach 355 v. Chr.) äußerte sich recht abschätzig über die Athener Grundbesitzabgabe und bezeichnete sie als Instrument der Tyrannei. Vermutlich wurde der Wert einer im Leasing vergebenen Landparzelle in der vormykenischen Ära nach deren geschätztem landwirtschaftlichem Ertrag bemessen, und der Mietpreis entsprach einer Abgabe in Naturalien an den Gemeinderat. Der produktive Schätzwert einer Landparzelle war noch in archaischer Zeit das Kriterium, wonach Besitzabgaben bemessen wurden. Darauf beruht auch Solons Kategorisierung der Athener Bürger nach ihrer Steuerkraft (s. Kap. 5). Dass die Demen-Verwaltungen auf die sorgfältige Einhaltung von Vergabebedingungen bedacht waren, geht aus Dokumenten der mykenischen Periode hervor. Einem mykenisch-griechischen Rechtsdokument (eine in Linear B redigierte Tontafel; PY Eb 297) ist zu entnehmen, dass der demos von Pakijane im Stadtstaat von Pylos, dessen Territorium sich im Südwesten der Peloponnes erstreckte, mit der Zuweisung einer Parzelle für eine Priesterin mit Namen Eritha befasst war. Die Priesterin erwartete die Zuweisung einer Art Amtsgut, bewilligt wurde ihr aber lediglich ein Stück Land zur Pacht (Schmitt 2010: 18 f.). Mit zunehmender Spezialisierung des Leasing-Systems und angesichts eines stetigen Bevölkerungszuwachses differenzierte sich das Kategoriensystem für 40