Es ist gut, wenn man sich langsam bewußt wird, daß man gar nichts versteht. Maurice Maeterlinck Einführung Die Mechanik ist der Teil der Physik, der sich mit den Bewegungsgesetzen materieller Körper befaßt. Sie ist die physikalische Disziplin, in der es zuerst und in relativ großem Maße gelang, die Zielstellung der theoretischen Physik zu verwirklichen, nämlich durch Verallgemeinerung von Erfahrungen einige allgemeine Grundsätze (Axiome) aufzustellen, aus denen die speziellen Gesetze der vielfältigen Einzelerscheinungen auf mathematischem Wege ableitbar und erklärbar sind. Die in der Mechanik eingeführten Grundbegriffe (wie Masse, Kraft, Impuls, Arbeit, Energie usw.) sowie die entwickelten Prinzipien und Methoden sind auch in anderen Teilgebieten der Physik so bedeutsam geworden, daß außer historischen Gesichtspunkten viele Gründe dafür sprechen, das Studium der theoretischen Physik mit der Mechanik zu beginnen. Wir werden uns im folgenden mit der klassischen Mechanik beschäftigen. Ihre eigentliche Grundlegung ist Newton zu verdanken, der die großen Leistungen von Galilei, Kepler, Descartes, Huygens und anderen zusammen mit seinen eigenen Erkenntnissen gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu einem einheitlichen System zusammenfaßte. Die klassische Mechanik wird deshalb auch häufig als Newtonsche Mechanik bezeichnet. In der Folgezeit wurde sie in vielfältiger Weise weiterentwickelt und auf einen recht hohen Stand gebracht, so daß man zeitweise glaubte, das gesamte Naturgeschehen auf die Newtonsche Mechanik zurückführen zu können und in ihrem Rahmen (zumindest prinzipiell) erklären zu können. Im Zuge der sich entwickelnden experimentellen Techniken wurden durch verfeinerte und neue Beobachtungsme5 6 EINFÜHRUNG thoden etwa mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Grenzen der klassischen Mechanik sichtbar, und zwar einmal für hinreichend große Geschwindigkeiten und zum anderen für hinreichend kleine Wirkungen. Es entstanden die relativistische Mechanik und die Quantenmechnik, die in ihrer Vereinigung zur relativistischen Quantenmechanik führten. Klassische Mechanik Relativistische Mechanik Quantenmechanik Relativistische Quantenmechanik Die Einteilung der Mechanik ist von mehreren Gesichtspunkten aus möglich. Die Bewegung eines Körpers ist dann vollständig beschrieben, wenn die Bewegung aller seiner Teile angegeben werden kann, was i. allg. eine recht verwickelte Aufgabe ist. Der einfachste Fall liegt vor, wenn die Abmessungen des Körpers (auf einer makroskopischen Skala) hinreichend klein sind, so daß man sich bei der Beschreibung der Bewegung des Körpers auf die Bewegung eines einzigen Punktes des Körpers beschränken kann. In diesem Fall wird der Körper durch einen sogenannten Massenpunkt ohne räumliche Ausdehnung idealisiert, den man sich mit der gesamten Masse des Körpers behaftet denkt. Ob ein Körper als Massenpunkt angesehen werden kann, hängt natürlich vom konkreten Fall ab. Der Massenpunkt idealisiert den Körper, er ist ein Modell, durch das wirkliche Körper in vielen praktischen Fällen ersetzt werden können. Da ein Massenpunkt definitionsgemäß strukturlos und ohne Ausdehnung ist, kann er nur eine Translationsbewegung ausführen (innere Bewegungen und Rotationsbewegungen gibt es nicht). Ausgehend vom einzelnen Massenpunkt kann man sich dann jeden materiellen Körper bzw. Systeme von solchen Körpern durch viele Massenpunkte zusammengesetzt denken und gelangt zu Massenpunktsystemen, EINFÜHRUNG 7 deren Mechanik auch als Punktmechanik bezeichnet wird. So kann insbesondere ein starrer Körper, der in allen seinen Teilen von absolut unveränderlicher Gestalt ist, als ein System von Massenpunkten angesehen werden, deren gegenseitige Abstände sich nicht ändern. Gegenstand dieser Vorlesung ist die Punktmechanik. Mechanik Punktmechanik Kontinuumsmechanik Die elastischen Eigenschaften und Formänderungen fester Körper sowie die Bewegungen von Flüssigkeiten und Gasen gehören zu dem umfangreichen Gebiet der Mechanik deformierbarer Körper, kurz Kontinuumsmechanik genannt. Es ist klar, daß bei der ungeheuren Anzahl von zu berücksichtigenden (diskreten) Massenpunkten die Punktmechanik praktisch nicht durchführbar ist und feldtheoretischen (Kontinuums-)Zugängen der Vorrang zu geben ist. Die Mechanik kann natürlich auch von anderen Gesichtspunkten aus eingeteilt werden. Der Zweig der Mechanik, der Bewegungsabläufe an sich untersucht, d.h. ohne Rücksicht auf ihre Entstehung, ist die Kinematik. Im Gegensatz dazu zieht die Dynamik auch die Ursachen Mechanik Kinematik Dynamik der Bewegung in Betracht. Ein Sonderfall der Dynamik ist die Statik, die die Bedingungen des Ruhezustands (Gleichgewichts) untersucht. So kann auf Grund der gegebenen Einteilungen von der Kinematik, Statik, 8 EINFÜHRUNG Dynamik beispielsweise des Massenpunktes, des starren Körpers oder deformierbarer Medien gesprochen werden. Schließlich kann die Mechanik nach den ihr zugrunde liegenden Prinzipien eingeteilt werden: wobei hier der Begriff Newtonsche MeMechanik Lagrangesche Mechanik Newtonsche Mechanik Hamiltonsche Mechanik chanik im engeren Sinne der Newtonschen Prinzipien zu verstehen ist. Vorlesungsschwerpunkte • Punktmechanik • Grundbegriffe der Kinematik • Dynamik • Newtonsche Mechanik • Lagrangesche Mechanik • Hamiltonsche Mechanik Mechanik Dirk–Gunnar Welsch 2 Inhaltsverzeichnis Einführung 5 1 Kinematik eines Massenpunktes 1.1 Bahnkurve, Geschwindigkeit und Beschleunigung 1.2 Krummlinige Koordinatensysteme . . . . . . . . . 1.3 Grundtypen von Bewegungen . . . . . . . . . . . 1.3.1 Gleichförmig beschleunigte Bewegung . . . 1.3.2 Gleichförmige Kreisbewegung . . . . . . . 1.3.3 Periodische Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Newtonsche Mechanik 2.1 Die Newtonschen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Trägheitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Das Grundgesetz der Dynamik . . . . . . . . . . 2.1.3 Das Wechselwirkungsgesetz . . . . . . . . . . . 2.1.4 Superposition von Kräften . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Bewegte Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . 2.2 Dynamik eines Massenpunkts . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Impulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Drehimpulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Spezielle Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Dynamik eines Massenpunktsystems . . . . . . . . . . 2.3.1 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . 3 9 9 15 26 27 30 32 47 47 47 49 54 55 56 67 68 70 70 83 88 97 134 134 4 INHALTSVERZEICHNIS 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 Impulsbilanz (Massenmittelpunktsatz) . . . . . Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drehimpulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Lagrangesche Mechanik 3.1 Das d’Alembertsche Prinzip . . . . . . . 3.1.1 Freie und gebundene Systeme . . 3.1.2 Bedingungsgleichungen . . . . . . 3.1.3 Das d’Alembertsche Prinzip . . . 3.1.4 Bilanzgleichungen . . . . . . . . . 3.1.5 Spezielle Probleme . . . . . . . . 3.2 Lagrangesche Gleichungen . . . . . . . . 3.2.1 Lagrangesche Gleichungen 1. Art 3.2.2 Energiebilanz . . . . . . . . . . . 3.2.3 Generalisierte Koordinaten . . . . 3.2.4 Lagrangesche Gleichungen 2. Art 3.2.5 Erhaltungssätze und Symmetrien 3.2.6 Spezielle Probleme . . . . . . . . 4 Hamiltonsche Mechanik 4.1 Das Hamiltonsche Prinzip . . . . . 4.2 Hamiltonsche Gleichungen . . . . . 4.3 Poisson-Klammern . . . . . . . . . 4.4 Kanonische Transformationen . . . 4.5 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung . . 4.6 Verallgemeinerte Integralprinzipien 4.7 Teilchen- und Wellenausbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 143 149 151 159 163 . . . . . . . . . . . . . 181 181 181 183 188 192 194 217 218 222 224 226 232 241 . . . . . . . 287 287 292 298 301 314 321 327 Kapitel 1 Kinematik eines Massenpunktes 1.1 Bahnkurve, Geschwindigkeit und Beschleunigung Im Rahmen der Kinematik als der geometrischen oder reinen Bewegungslehre werden Bewegungen an sich untersucht, d.h. ohne Rücksicht auf ihre Entstehung. Vom Standpunkt der Kinematik aus ist die Bewegung eines Massenpunktes (eines Körpers) bestimmt, wenn die Lage des Punktes relativ zu einem anderen Körper zu jedem Zeitpunkt angebbar ist. Dieser andere Körper ist als Bezugskörper oder Bezugssystem unerläßlich, da im leeren Raum die Lage des Punktes nicht definierbar und damit nicht feststellbar wäre. Um die Lage eines Punktes P zu bestimmen, wählen wir in dem Bezugskörper (z.B. der Erde, einem Labor, oder einem beliebigen, als starr angenommenen Körper) einen Ausgangspunkt O, durch den wir drei aufeinander senkrecht stehende Geraden legen, die wir als Achsen eines rechtwinkligen (kartesischen) Koordinatensystems ansehen. Die Lage des Punktes P , die durch Angabe der drei Koordinaten x, y, z vollst−→ ändig bestimmt ist, kann durch den Ortsvektor oder Radiusvektor OP = r charakterisiert werden, dessen rechtwinklige Komponenten gerade die drei Koordinaten x, y, z sind. Oft wird es zweckmäßiger sein, anstelle kartesischer Koordinaten andere, systemangepaßte Koordinaten zu verwenden (Abschnitt 1.2). 9 10 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES z P r z ez ey O y ex x x y Die Bewegung des Massenpunktes ist bekannt, wenn der Ortsvektor r als Funktion der Zeit t bekannt ist, r = r(t), (1.1) speziell in kartesischen Koordinaten, r(t) = x(t) ex + y(t) ey + z(t) ez , (1.2) d.h., wenn die Funktionen x = x(t), y = y(t), z = z(t) (1.3) bekannt sind. Wir wollen annehmen, daß diese Funktionen eindeutig z r(t) z(t) y x(t) x y(t) 1.1. BAHNKURVE, GESCHWINDIGKEIT UND BESCHLEUNIGUNG11 und mindestens zweimal differenzierbar sind. Die Raumkurve, die durch r(t) beschrieben wird, heißt auch Bahnkurve des Massenpunktes. Der Massenpunkt befinde sich zur Zeit t in dem durch den Ortsvektor r gekennzeichneten Punkt P und nach der Zeitspanne Δt P, t Δr P , t + Δt r r + Δr Bahnkurve O in dem durch den Ortsvektor r + Δr bestimmten Punkt P , d.h., die Verrückung des Massenpunktes während des Zeitintervalls Δt ist −→ P P = Δr. Die auf die Zeiteinheit bezogene (mittlere) Verrückung ist durch den Vektor Δr r(t + Δt) − r(t) = (1.4) Δt Δt gegeben, der nicht nur eine Funktion der Zeit t ist, sondern auch von der gewählten Zeitspanne Δt abhängt. Den von Δt unabhängigen Vektor der Geschwindigkeit v(t) findet man dann als Grenzwert von Δr/Δt für Δt → 0: v ≡ ṙ ≡ dr r(t + Δt) − r(t) = lim dt Δt→0 Δt (1.5) und speziell in kartesischen Koordinaten: ṙ = ẋ ex + ẏ ey + ż ez . (1.6) Geometrisch ergibt sich der Vektor der Geschwindigkeit als Grenzlage der Sekante durch die Vektoren r(t + Δt) und r(t) pro Zeitintervall 12 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Δt in der Grenze Δt → 0, d.h., die Richtung der Geschwindigkeit zur Zeit t ist durch die Richtung der Tangente im Punkt P der Bahnkurve r(t) zur Zeit t gegeben, v = vT (1.7) (T - Tangenteneinheitsvektor, v = |v|). Führen wir die Bogenlänge der Bahnkurve zwischen dem Punkt P (zum Zeitpunkt t) und einem (zu einem geeignet gewählten Anfangszeitpunkt t0 bestimmten) Punkt P0 ein, d.h. die zwischen t0 und t zurückgelegte Wegstrecke s, t t s = s(t) = ds = |dr| ; t = t(s), (1.8) t0 t0 so finden wir wegen r = r[s(t)] v= dr dr ds = , dt ds dt T v (1.9) d.h. Gleichung (1.7). So wie der Vektor der Geschwindigkeit als zeitliche Änderung des Ortsvektors definiert wird, kann der Vektor der Beschleunigung als zeitliche Änderung des Geschwindigkeitsvektors definiert werden: Δv v v + Δv Hodograph O v(t + Δt) − v(t) d2 r dv ≡ 2 = lim a ≡ v̇ ≡ r̈ ≡ Δt→0 dt dt Δt (1.10) 1.1. BAHNKURVE, GESCHWINDIGKEIT UND BESCHLEUNIGUNG13 und speziell in kartesischen Koordinaten: r̈ = ẍ ex + ÿ ey + z̈ ez . (1.11) Die Beschleunigung a(t) wird aus der Kurve v(t) (Hodograph) in der gleichen Weise gewonnen wie die Geschwindigkeit v(t) aus der Bahnkurve r(t). Aus (1.10) mit (1.7) erhalten wir a= dv d = (vT) = v̇ T + v Ṫ, dt dt (1.12) und es gilt Ṫ = dT dT ds dT = =v . dt ds dt ds v (1.13) Ferner folgt aus T · T = 1 d (T · T) = 0 ds ; T· dT =0 ds ; dT ⊥ T. ds Mit (1.13) und dem Hauptnormaleneinheitsvektor −1 dT dT 1 dT dT = =R N = ds ds κ ds ds (1.14) (1.15) (κ = |dT/ds| - Krümmung, R = 1/κ - Krümmungsradius) lautet die Beschleunigung (1.12) v2 dv = v̇ T + N. a= dt R (1.16) Der Beschleunigungsvektor ist hier zerlegt in einen Anteil, der von der Betragsänderung der Geschwindigkeit herrührt und einen Anteil, dessen Ursache die Richtungsänderung der Geschwindigkeit ist. Die durch T und N aufgespannte Ebene heißt auch Schmiegungsebene der Bahnkurve [am Punkt r(t)]. Aus (1.16) ist ersichtlich, daß der Beschleunigungsvektor immer in der Schmiegungsebene liegt und nach der konkaven Seite der Bahnkurve zeigt. Der dritte auf T und N senkrecht stehende Binormaleneinheitsvektor wird in der Mechanik 14 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES i. allg. nicht benötigt, da Beschleunigungen höherer Ordnung“ kaum ” eine Rolle spielen. Das aus den genannten Einheitsvektoren gebildete Dreibein, das auch begleitendes Dreibein genannt wird, definiert das sogenannte natürliche Koordinatensystem für Geschwindigkeit und Beschleunigung. Ergänzung zur Gleichung (1.15) Δφ T ΔT T + ΔT T . . T + ΔT Δs N R Δφ Aus der Abbildung liest man ab, daß (Δt → 0) dφ = gilt, d.h. ds = |dT| R dT = 1 . ds R (1.17) (1.18) Der Krümmungsradius R kann als Radius des Kreises angesehen werden, durch den die Bahnkurve im betrachteten Punkt am besten approximiert wird. 1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME 1.2 15 Krummlinige Koordinatensysteme In kartesischen Koordinaten sind die Koordinatenlinien Geraden. Bisweilen sind den Problemen krummlinige Koordinaten besser angepaßt. In diesem Fall ändern die Koordinatenlinien ihre Richtung, so daß die Einheitsvektoren ortsabhängig werden. Stehen die Koordinatenlinien senkrecht aufeinander (z.B. Zylinder- und Kugelkoordinaten), so spricht man von rechtwinkligen (krummlinigen) Koordinaten. Der allgemeinste Fall wären schiefwinklige (krummlinige) Koordinaten. In diesem Fall lassen sich zwei Arten von Koordinaten und Basisvektoren definieren. Koordinatenlinie xi gi gi Fläche xi = const. Betrachten wir ein Koordinatentripel xi = xi (x, y, z) (1.19) (i = 1, 2, 3) mit der Umkehrtransformation x = x(x1, x2, x3), y = y(x1, x2, x3), z = z(x1 , x2, x3). (1.20) Zum einen können kovariante Basisvektoren gi = ∂r ∂xi (1.21) definiert werden, die sich an die jeweilige Koordinatenlinie xi anschmiegen. Zum anderen können über Gradientenbildung kontravariante Basisvektoren (1.22) gi = ∇xi 16 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES definiert werden, die auf der jeweiligen Fläche xi = const. senkrecht stehen. Offensichtlich gilt für rechtwinklige Koordinaten gi gi . Die Skalarprodukte gik = gi · gk = gki , (1.23) g ik = gi · gk = g ki (1.24) hängen von den gewählten Koordinaten ab, da die Basisvektoren davon abhängen. Invariant sind demgegenüber die Skalarprodukte von kovarianten und kontravariaten Basisvektoren, gik ∂r ∂xk k = gi · g = i · ∇x = = δik i ∂x ∂x k (1.25) (δik - Kronecker-Symbol). Kovariante und kontravariante Basisvektoren bilden jeweils eine Entwicklungsbasis für einen beliebigen Vektor q, q = q k gk = qk gk (1.26) (q i - kontravariante Komponenten von q, qi - kovariante Komponenten von q; Summenkonvention: über zwei gleiche ko- und kontravariante Indizes ist zu summieren). Wir multiplizieren (1.26) skalar mit gi bzw. gi , verwenden (1.25) und finden q i = gi · q, (1.27) qi = gi · q. (1.28) Kovariante und kontravariante Komponenten lassen sich in einfacher Weise ineinander umrechnen. So erhalten wir aus (1.27), (1.26) und (1.24) q i = gi · q = gi · gk qk = g ik qk , (1.29) und analog qi = gik q k . (1.30) gki g il = (gk · gi )(gi · gl ) = gk · gl = δkl . gl (1.31) Insbesondere haben wir 1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME 17 Das Skalarprodukt zweier Vektoren q und p lautet bzw. q · p = qi pk gi · gk = qi pi = q i pi , δki (1.32) q · p = gik q i pk = g ik qipk . (1.33) Die Größe gik heißt metrischer Fundamentaltensor; er bestimmt die Länge des Bogenelements in den jeweils gewählten Koordinaten, dr = gi dxi = gi dxi , (1.34) ds2 = dr · dr = gik dxidxk = g ik dxidxk , (1.35) g ≡ det gik > 0. (1.36) und es gilt Als Volumenelement (im dreidimensionalen Raum) kann das von den Vektoren dr1 = g1 dx1, dr2 = g2 dx2 und dr3 = g3 dx3 aufgespannte Parallelepipedon angesehen werden, d.h. dV = |g1 · (g2 × g3 )| dx1dx2dx3 , (1.37) dV = |123|dx1dx2 dx3 (1.38) bzw. mit ∂(x, y, z) (1.39) ∂(xi, xk , xl ) als dem total antisymmetrischen (Levi-Civita-)Tensor dritter Stufe. Man kann (durch direktes Ausrechnen) zeigen, daß √ (1.40) 123 = ± det gik = ± g ikl = gi · (gk × gl ) = gilt, wobei in (1.40) das Pluszeichen (Minuszeichen) zu einem rechtshändigen (linkshändigen) Koordinatenssytem gehört.1 Folglich kann (1.38) in die Form √ (1.41) dV = g dx1dx2dx3 1 Mit ijk = g il g jm g kn lmn gilt ferner ijk imn = δjm δkn − δjn δkm , ijk ijn = 2δkn und speziell 123 123 = 1. 18 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES gebracht werden. Um das Volumenelement zu erhalten, muß das (positive) Produkt der Differentiale dx1dx2dx3 also noch mit der Wurzel der Determinante g das metrischen Fundamentaltensors (Betrag der Funktionaldeterminante) der zugehörigen Koordinaten multipliziert werden. Entsprechend können die Flächen des das Volumenelement dV bildenden Parallelepipedons als (vektorielle) Flächenelemente angesehen werden, beispielsweise dA1 = g2 × g3 dx2 dx3. (1.42) Aus (1.39) ist unschwer abzulesen, daß ikl die i-te kovariante Komponente des Vektors gk × gl ist, d.h. gk × gl = ikl gi (1.43) [vgl. (1.26) und (1.28)], so daß (1.42) als √ dA1 = g1123 dx2 dx3 = ±g1 g dx2dx3 (1.44) geschrieben werden kann. Um den Betrag des Flächenelements zu erhalten, |dA1| = gg 11 dx2 dx3, (1.45) muß also das (positive) Produkt der Differentiale dx2 dx3 noch mit der Wurzel des Produkts aus der Determinante g des metrischen Fundamentaltensors und des Elements g 11 = g1 ·g1 der zugehörigen Koordinaten multipliziert werden. Die Formeln für dA2 und dA3 sind völlig analog aufzuschreiben. Im folgenden werden wir ein rechtshändiges Koordinatensystem zugrundelegen, so daß in (1.44) das positive Vorzeichen zu nehmen ist. 1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME 19 Anmerkungen • Gradient in beliebigen Koordinaten Aus der Definition das Gradienten einer skalaren Funktion f = f (x1, x2, x3), ∂f df = dr · ∇f = i dxi, (1.46) ∂x lesen wir unter Berücksichtigung von dr = gi dxi die Beziehung gi · ∇f = ∂f ∂xi (1.47) ∇f = gi ∂f ∂xi (1.48) ab, d.h. [vgl. (1.26) und (1.28)] bzw. ∇f = gi g ik ∂f ∂xk (1.49) • Divergenz in beliebigen Koordinaten Die Divergenz einer vektoriellen Funktion f = f(x1 , x2, x3) kann bekanntlich (über den Gaußschen Satz) als der Grenzwert 1 ∇ · f = lim dA · f (1.50) ΔV →0 ΔV (ΔV ) definiert werden. Wir führen die Integration über ein kleines, in x2 x1 |ΔA1| x3 g1 Δx1 g2 Δx2 g3 Δx3 20 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES der Abbildung skizziertes Volumenelement aus, und zwar jeweils über die zwei gegenüberliegenden Flächenelemente, IΔA1 IΔA2 IΔA3 + + ∇ · f = lim . (1.51) ΔV →0 ΔV ΔV ΔV Mit ΔA1 · f = √ 1 g f Δx2Δx3 (1.52) [siehe (1.44)] erhalten wir für das Integral IΔA1 IΔA1 ≈ − g(x1, x2, x3) f 1(x1, x2, x3) 1 1 1 2 3 1 1 2 3 + g(x +Δx , x , x ) f (x +Δx , x , x ) Δx2Δx3 ≈ ∂ √ 1 ( g f )Δx1Δx2Δx3, 1 ∂x (1.53) woraus unter Berücksichtigung von (1.41) IΔA1 1 ∂ √ 1 =√ ( gf ) ΔV →0 ΔV g ∂x1 lim (1.54) folgt. Mit den analogen Ergebnissen für die übrigen Flächen erhalten wir also 1 ∂ √ i ∇·f = √ ( g f ). (1.55) g ∂xi • Laplace-Operator in beliebigen Koordinaten Aus (1.49) und (1.55) folgt (für eine skalare Funktion f ) sofort, daß 1 ∂ √ ik ∂f Δf = ∇ · (∇f ) = √ (1.56) gg g ∂xi ∂xk gilt. • Rotation in beliebigen Koordinaten Wir wenden den Stokesschen Satz dA · (∇ × f) = A dr · f (A) (1.57) 1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME 21 auf das (kleine) Flächenelement ΔA1 in der vorigen Abbildung an. Mit (1.44) finden wir √ gΔx2Δx3 g1 · (∇ × f) ≈ Δx2 f2(x1, x2, x3) − f2(x1, x2, x3 +Δx3) + Δx3 −f3(x1, x2, x3) + f3(x1, x2 +Δx2, x3) ∂f ∂f 3 2 ≈ Δx2Δx3 , (1.58) − ∂x2 ∂x3 d.h. √ g g1 · (∇ × f) = ∂f3 ∂f2 − . ∂x2 ∂x3 (1.59) Multiplikation mit 123 liefert unter Berücksichtigung von (1.40) und 123123 = 1 g1 · (∇ × f) = 123 ∂f3 ∂f2 ∂fl + 132 3 = 1kl k . 2 ∂x ∂x ∂x (1.60) Mit den analogen Resultaten für die beiden anderen Komponenten erhalten wir also ∇ × f = gi ikl ∂fl . ∂xk (1.61) Wenden wir uns nun der Darstellung von Geschwindigkeit und Beschleunigung eines Massenpunktes in beliebigen Koordinaten zu, wobei wir von der metrischen Fundamentalgleichung (1.34) ausgehen wollen. Geschwindigkeit: ṙ = ẋi gi (1.62) r̈ = ẍi gi + ẋi ġi (1.63) Beschleunigung: 22 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Wir wollen die Ergebnisse auf rechtwinklige Koordinaten spezialisieren, für die der metrische Fundamentaltensor diagonal ist, gik = λ2i δik . (1.64) In diesem Fall sind die Basisvektoren gi und gi zueinander parallel,2 gi = λ2i gi gi , (1.65) und die Vektoren gi = λi gi (1.66) λi stellen orthogonale Einheitsvektoren dar. Mit (1.66) lassen sich dann die Gleichungen (1.62) und (1.63) wie folgt schreiben: ei = ṙ = 3 ẋi λi ei (1.67) i=1 3 d i r̈ = ẋ λi ei + ẋiλi ėi dt i=1 (1.68) Die (i. allg. etwas umständliche) Berechnung von ėi kann auf der Basis der Definitionsgleichung ei = gi 1 ∂r = λi λi ∂xi (1.69) erfolgen. Beispiel: Zylinderkoordinaten (x1 = , x2 = ϕ, x3 = z) In Zylinderkoordinaten gilt x = cos ϕ, y = sin ϕ, z = z, 2 (1.70) Beachte, daß in den Gleichungen (1.64), 1.65), (1.66) und (1.69) nicht über i summiert wird. 1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME 23 woraus ds2 = dx2 + dy 2 + dz 2 = d2 + 2 dϕ2 + dz 2 (1.71) ableitbar ist, d.h. λ = 1, λϕ = , λz = 1. (1.72) Wir berechnen die Einheitsvektoren und ihre zeitlichen Ableitungen: z r ϕ y x r = cos ϕ ex + sin ϕ ey + z ez , (1.73) ∂r = e = cos ϕ ex + sin ϕ ey , ∂ (1.74) 1 ∂r = eϕ = − sin ϕ ex + cos ϕ ey , ∂ϕ (1.75) ∂r = ez , ∂z (1.76) ė = −ϕ̇ sin ϕ ex + ϕ̇ cos ϕ ey = ϕ̇ eϕ , (1.77) ėϕ = −ϕ̇ cos ϕ ex − ϕ̇ sin ϕ ey = −ϕ̇ e , (1.78) ėz = 0 . (1.79) Gemäß (1.67) finden wir dann für die Geschwindigkeit ṙ = ˙ e + ϕ̇ eϕ + ż ez (1.80) 24 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES und daraus gemäß (1.68) für die Beschleunigung r̈ = ¨ e + (ϕ̈ + ϕ̇) ˙ eϕ + z̈ ez + ˙ ė + ϕ̇ ėϕ + ż ėz = ¨ e + (ϕ̈ + ϕ̇) ˙ eϕ + z̈ ez + ˙ϕ̇ eϕ − ϕ̇ϕ̇ e , d.h. (1.81) r̈ = ¨ − ϕ̇2 e + (ϕ̈ + 2˙ ϕ̇) eϕ + z̈ ez . (1.82) Beispiel: Kugelkoordinaten (x1 = r, x2 = ϑ, x3 = ϕ) x = r sin ϑ cos ϕ, y = r sin ϑ sin ϕ, z = r cos ϑ, (1.83) ds2 = dr2 + r2dϑ2 + r2 sin2 ϑ dϕ2, (1.84) λr = 1, λϑ = r, λϕ = r sin ϑ. (1.85) Einheitsvektoren: z r r ϑ ϕ y x r = r sin ϑ cos ϕ ex + r sin ϑ sin ϕ ey + r cos ϑ ez , ∂r = er = sin ϑ cos ϕ ex + sin ϑ sin ϕ ey + cos ϑ ez , ∂r 1 ∂r = eϑ = cos ϑ cos ϕ ex + cos ϑ sin ϕ ey − sin ϑ ez , r ∂ϑ (1.86) (1.87) (1.88) 1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME 1 ∂r = eϕ = − sin ϕ ex + cos ϕ ey , r sin ϑ ∂ϕ 25 (1.89) Zeitliche Änderung der Einheitsvektoren: ėr = ϑ̇ cos ϑ cos ϕ ex − ϕ̇ sin ϑ sin ϕ ex + ϑ̇ cos ϑ sin ϕ ey + ϕ̇ sin ϑ cos ϕ ey − ϑ̇ sin ϑ ez = ϑ̇ eϑ + ϕ̇ sin ϑ eϕ , (1.90) ėϑ = − ϑ̇ sin ϑ cos ϕ ex − ϕ̇ cos ϑ sin ϕ ex − ϑ̇ sin ϑ sin ϕ ey + ϕ̇ cos ϑ cos ϕ ey − ϑ̇ cos ϑ ez = − ϑ̇ er + ϕ̇ cos ϑ eϕ , (1.91) ėϕ = − ϕ̇ cos ϕ ex − ϕ̇ sin ϕ ey (1.92) Gemäß (1.87) und (1.88) gilt woraus 1 cos ϑ er − ez = cos ϕ ex + sin ϕ ey , sin ϑ sin ϑ (1.93) 1 sin ϑ eϑ + ez = cos ϕ ex + sin ϕ ey , cos ϑ cos ϑ (1.94) ez = cos ϑ er − sin ϑ eϑ (1.95) folgt. Kombination von (1.93) und (1.95) liefert cos ϕ ex + sin ϕ ey = sin ϑ er + cos ϑ eϑ , (1.96) und damit wird ėϕ = −ϕ̇ sin ϑ er − ϕ̇ cos ϑ eϑ . (1.97) Gemäß (1.67) und (1.68) [zusammen mit (1.90), (1.91) und (1.97)] finden wir dann für die Geschwindigkeit ṙ = ṙ er + ϑ̇r eϑ + ϕ̇r sin ϑ eϕ (1.98) 26 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES und die Beschleunigung d d r̈ = r̈ er + ϑ̇r eϑ + (ϕ̇r sin ϑ) eϕ dt dt + ṙ ėr + ϑ̇r ėϑ + ϕ̇r sin ϑ ėϕ d d = r̈ er + ϑ̇r eϑ + (ϕ̇r sin ϑ) eϕ dt dt + ṙ ϑ̇ eϑ + ϕ̇ sin ϑ eϕ + ϑ̇r −ϑ̇ er + ϕ̇ cos ϑ eϕ + ϕ̇r sin ϑ (−ϕ̇ sin ϑ er − ϕ̇ cos ϑ eϑ ) d.h. r̈ = r̈ − ϑ̇ r − ϕ̇ r sin ϑ er d ϑ̇r + ṙϑ̇ − ϕ̇2r sin ϑ cos ϑ eϑ + dt d (ϕ̇r sin ϑ) + ṙϕ̇ sin ϑ + ϑ̇ϕ̇r cos ϑ eϕ , + dt bzw. 2 2 2 (1.99) (1.100) r̈ = r̈ − ϑ̇ r − ϕ̇ r sin ϑ er 1 d 2 2 ϑ̇r − ϕ̇ r sin ϑ cos ϑ eϑ + r dt + 1.3 2 2 2 d 2 2 1 ϕ̇r sin ϑ eϕ . r sin ϑ dt (1.101) Grundtypen von Bewegungen Typische Fragestellungen der Kinematik sind beispielsweise die folgenden: – Die Bewegung (d.h. die Bahnkurve) eines Massenpunktes ist bekannt, und es wird seine Geschwindigkeit und seine Beschleunigung gesucht. 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 27 – Die Geschwindigkeit eines Massenpunktes als Funktion von Ort und Zeit sind bekannt, und es wird die Bahnkurve gesucht. – Die Beschleunigung eines Massenpunktes ist als Funktion des Ortes, der Geschwindigkeit und der Zeit bekannt, und es wird die Bahnkurve gesucht. Die letzte Aufgabe, die man aus später ersichtlich werdenden Gründen auch als eine Aufgabe der Dynamik ansehen kann, ist die häufigste und wichtigste. Die einfachste Bewegung eines Massenpunktes (eines Körpers) ist die gleichförmig geradlinige Bewegung, für die ṙ = v = const. (1.102) gilt und somit die Beschleunigung verschwindet, r̈ = 0. (1.103) Aus (1.102) folgt dann sofort als Bahnkurve eine Gerade entlang der durch v festgelegten Richtung: r(t) = v(t − t0 ) + r0 . 1.3.1 (1.104) Gleichförmig beschleunigte Bewegung Die gleichförmig beschleunigte Bewegung ist durch r̈ = a = const. (1.105) definiert, woraus für die Geschwindigkeit ṙ = at + b (1.106) 28 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES r − r0 v0 a und damit für die Bahnkurve r(t) = 12 at2 + bt + c (1.107) folgt (b, c - beliebige konstante Vektoren). Speziell für die Anfangsbedingungen (1.108) t = t0 , r = r0 , ṙ = v0 folgt b = v0 − at0 , (1.109) c = r0 − 12 at20 − bt0 , (1.110) und somit lautet r(t) r(t) = 1 2 2 t − t0 a + v0 t − t0 + r0 . (1.111) Die Bahnkurve liegt also in einer durch a und v0 aufgespannten Ebene – die gleichförmig beschleunigte Bewegung ist also eine ebene Bewegung. Die Bewegung setzt sich zusammen aus einer gleichförmig geradlinigen Bewegung und einer gleichförmig beschleunigten, geradlinigen Bewegung. Wir können ohne Beschränkung der Allgemeinheit die xy-Ebene als diese Ebene wählen und die y-Achse parallel zur Beschleunigung legen, a = aey , (1.112) v0 = v0xex + v0y ey , (1.113) x − x0 = v0x(t − t0 ), (1.114) y − y0 = 12 a(t − t0 )2 + v0y (t − t0 ). (1.115) 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 29 Elimination der Zeit liefert die Bahngleichung y − y0 = a v0y 2 (x − x ) + (x − x0). 0 2 2v0x v0x (1.116) Die Bahn ist also eine Parabel, deren Achse zur y-Achse (Beschleunigungsrichtung) parallel ist. In dem speziellen Fall, wenn die Anfangsgeschwindigkeit verschwindet oder in die Richtung der Beschleunigung fällt, entartet die Bewegung in eine geradlinige Bewegung. Die bekanntesten Beispiele einer gleichförmig beschleunigten Bewegung sind der Wurf und der freie Fall (im luftleeren Raum). Seit Galilei ist bekannt, daß Körper im erdnahen Schwerefeld mit konstanter Beschleunigung g =9.81 ms−2 fallen. Wir legen das Koordinatensystem so, daß die y-Achse vertikal nach oben gerichtet ist, d.h. a → −g. Mit y v0 α x v0x = v0 cos α, (1.117) v0y = v0 sin α (1.118) und t − t0 → t, x − x0 → x, y − y0 → y (siehe Abbildung) lauten die Gleichungen (1.114) und (1.115) x = v0t cos α, (1.119) y = v0t sin α − 12 gt2 , (1.120) und die Wurfparabel ist y = x tan α − g x2 . 2 2 2v0 cos α (1.121) 30 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Der horizontale Wurf ergibt sich für α = 0 und der vertikale Wurf für α = ±π/2. Speziell für den freien Fall haben wir α = −π/2 und v0 = 0 zu setzen. Mit den Gleichungen (1.119) – (1.121) können dann alle relevanten Fragen beantwortet werden. Steigzeit ẏ = 0 ; v0 sin α − gts = 0, (1.122) ts = v0 sin α . g (1.123) Wurfdauer3 y=0 ; td = Wurfhöhe v0td sin α − 12 gt2d = 0, 2v0 sin α = 2ts . g v02 sin2 α y(ts ) = . 2g Wurfweite x(td) = v02 sin(2α) . g (1.124) (1.125) (1.126) (1.127) Aus (1.127) ist beispielsweise ersichtlich, daß bei gegebenem v0 die Wurfweite für α = 45o den größten Wert annimmt, nämlich v02 /g. Jede kleinere Wurfweite kann immer unter zwei Winkeln (α und π/2 − α) erzielt werden (Steilwurf und Flachwurf). 1.3.2 Gleichförmige Kreisbewegung Ein Massenpunkt führt eine gleichförmige Kreisbewegung aus, wenn er sich mit konstanter Bahngeschwindigkeit v = |v| = const. auf einem Kreis mit festem Radius R = const. bewegt. Wir verwenden ebene Polarkoordinaten (z = 0) und finden gemäß (1.80) 3 v = ˙ = 0, (1.128) vϕ = ϕ̇ = Rω = v = const. (1.129) Erfolgt der Wurf aus einer Höhe h, dann ist offensichtlich y = −h zu setzen. 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 31 y ϕ = ω(t − t0 ) + ϕ0 r ϕ x mit ω = ϕ̇ als der Winkelgeschwindigkeit um die z-Achse. Wegen v = const. und R =const. ist also auch die Winkelgeschwindigkeit konstant, ϕ̇ = ω = v = const. R ; ϕ = ω(t − t0 ) + ϕ0. (1.130) Die Gleichung (1.80) liefert für die Komponenten der Beschleunigung a = ¨ − ϕ̇2 = −ω 2 R = − v2 , R aϕ = ϕ̈ + 2ϕ̇˙ = 0, (1.131) (1.132) d.h., die Beschleunigung zeigt zum Mittelpunkt des Kreises (Radialbeschleunigung) und hat den Betrag ω 2 R, a = −ω 2 R e = − v2 e . R (1.133) Bei einer gleichförmigen Kreisbewegung besteht offenbar zwischen der Winkelgeschwindigkeit ω und der Umlaufzeit T , d.h. der Zeit Δt einer Winkelverschiebung um Δϕ = 2π, sowie der Drehzahl oder Frequenz ν = 1/T der Zusammenhang 2π = Δϕ = ωΔt = ωT, ; ω= 2π = 2πν. T (1.134) Die Winkelgeschwindigkeit als das 2π-fache der Frequenz wird auch Kreisfrequenz genannt. 32 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES In kartesischen Koordinaten haben wir x = cos ϕ y = sin ϕ ; ; x(t) = R cos(ωt + α), (1.135) y(t) = R sin(ωt + α) = R cos(ωt + α − π/2) (1.136) (α = ϕ0 − ωt0 ). Die Projektionen der Kreisbewegung auf die x- und yAchse sind harmonische Schwingungen. Genauer ausgedrückt, die gleichförmige Kreisbewegung kann als Überlagerung zweier zueinander senkrecht stehender harmonischer Schwingungen angesehen werden, deren Phasendifferenz π/2 ist. 1.3.3 Periodische Bewegungen 1.3.3.1 Harmonischer Oszillator Wir betrachten die periodische, lineare Bewegung eines Massenpunktes längs der x-Achse um den Koordinatenursprung, x(t + T ) = x(t) (1.137) mit T als der Perioden- oder Schwingungsdauer. Die periodische Bewegung ist eine harmonische Schwingung, wenn die von der Ruhelage (Koordinatenursprung) gerechnete Auslenkung oder Elongation x eine Kosinus- oder Sinusfunktion der Zeit ist, x(t) = A cos(ωt + α) (1.138) (A > 0, ω = 2π/T = 2πν). A und α heißen Amplitude und Phase der Schwingung. Häufig wird der Begriff der Phase auch in bezug auf das komplette Argument φ = ωt + α verwendet, und man spricht dann von α als der Phasenkonstanten (die durch die Anfangsphase bestimmt wird). Die Frequenz ν gibt die Anzahl der Schwingungen (Perioden) pro Zeiteinheit an und die Kreisfrequenz ω die Anzahl der Schwingungen pro (2π)-ten Teil der Zeiteinheit. Aus (1.138) ergibt sich als Geschwindigkeit ẋ(t) = −ωA sin(ωt + α). (1.139) 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 33 x A t T Die Geschwindigkeit nimmt also den betragsmäßig größten Wert ωA in den Zeitpunkten ωt + α = (2n + 1)π/2 (1.140) der Durchgänge durch die Ruhelage an (n - ganz). Sie ist Null in den Zeitpunkten ωt + α = nπ (1.141) maximaler Auslenkung (Umkehrpunkte). Wir differenzieren (1.139) und erhalten mit (1.138) für die Beschleunigung (1.142) ẍ(t) = −ω 2 A cos(ωt + α) = −ω 2 x(t), Die Beschleunigung ist also proportional zur Auslenkung und dieser entgegengesetzt gerichtet. Demzufolge verschwindet sie in den Zeitpunkten der Durchgänge durch die Ruhelage, und sie wird maximal in den Zeitpunkten maximaler Auslenkung. Aus (1.142) sehen wir, daß die Auslenkung einer harmonischen Schwingung der Differentialgleichung ẍ + ω 2 x = 0 (1.143) genügt. Die Umkehrung ist ebenfalls richtig: Gilt für eine (eindimensionale) Bewegung eines Massenpunktes die Differentialgleichung (1.143), dann führt der Massenpunkt eine harmonische Schwingung aus, da x(t) = A cos(ωt + α) = A1 sin(ωt) + A2 cos(ωt) (1.144) die allgemeine Lösung dieser Differentialgleichung ist. Physikalische Objekte, die harmonische Schwingungen ausführen, werden auch als harmonische Oszillatoren bezeichnet. 34 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Anstelle mit rellen Größen zu rechnen, ist es oft zweckmäßig, die komplexe Schreibweise zu bevorzugen, x(t) = Aeiωt , A = |A|eiα , (1.145) wobei der Realteil (bzw. der Imaginarteil) von x(t) oder auch x(t) + x∗(t) die physikalische (reelle) Schwingung repräsentiert. Der Vorteil der komplexen Schreibweise wird insbesondere bei der Behandlung linearer Überlagerungen von harmonischen Schwingungen deutlich. Schwingungen unterschiedlichster Art spielen auf vielen Gebieten der Physik eine herausragende Rolle, wobei x nicht immer eine mechanische Auslenkung eines Körpers bedeuten muß. 1.3.3.2 Überlagerung harmonischer Schwingungen Überlagerung harmonischer Schwingungen gleicher Richtung und gleicher Frequenz Addieren wir die beiden Schwingungen x1(t) = A1eiωt , A1 = |A1|eiα1 (1.146) x2(t) = A2eiωt , A2 = |A2|eiα2 , (1.147) so erhalten wir als Resultante bzw. x(t) = x1 (t) + x2(t) = A1 + A2 eiωt (1.148) x(t) = Aeiωt (1.149) A = A1 + A2 . (1.150) mit Die Resultante ist also wieder eine harmonische Schwingung der Kreisfrequenz ω. Ihre Amplitude und Phasenkonstante können nach den üblichen Regeln der Addition komplexer Zahlen berechnet werden: A = |A|eiα , |A| = |A1 |2 + |A2|2 + 2|A1||A2 | cos(α1 − α2 ) , (1.151) (1.152) 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 35 Im z A A1 α1 − α2 α1 α A2 α2 Re z tan α = |A1| sin α1 + |A2 | sin α2 |A1| cos α1 + |A2 | cos α2 (1.153) Die Amplitude |A| der resultierenden Schwingung hängt bei gegebenen |A1 | und |A2 | von der Phasendifferenz (Phasenverschiebung) δ = α1 − α2 ab. Speziell für δ = 2nπ (1.154) (n ganz) nimmt |A| den größten Wert |A| = |A1 | + |A2 | (1.155) δ = (2n + 1)π (1.156) |A| = |A1 | − |A2 | (1.157) und für den kleinsten Wert an. Der Effekt der Phasenabhängigkeit der Amplitude der Überlagerungsschwingung wird auch als Interferenz bezeichnet. Im Falle (1.155) spricht man auch von konstruktiver Interferenz im Gegensatz zu destruktiver Interferenz im Falle von (1.157). Insbesondere wenn |A1 | = |A2 | gilt, löschen sich die beiden Schwingungen gegenseitig völlig aus. 36 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Überlagerung harmonischer Schwingungen gleicher Richtung und verschiedener Frequenz In diesem Fall kann die Resultante x(t) = A1 eiω1 t + A2eiω2 t (1.158) offensichtlich nicht in die Form (1.149) gebracht werden. Das Ergebnis der Überlagerung ist also keine harmonische Schwingung, sondern ein komplizierterer Vorgang, so daß i. allg. keine näheren Aussagen möglich sind. Ist ω1 /ω2 eine rationale Zahl, ω1 m (1.159) = ω2 n [m, n - teilerfremde ganze (positive) Zahlen], so ist die Resultante ein periodischer Vorgang, d.h. eine Schwingung, deren Kreisfrequenz ω durch ω1 = mω, ω2 = nω (1.160) definiert ist, x(t) = A1eimωt + A2 einωt, (1.161) 2π . (1.162) x(t + T ) = x(t), T = ω Ein wichtiger Spezialfall von (1.158) liegt vor, wenn sich die Frequenzen ω1 und ω2 nur wenig voneinander unterscheiden und die Amplituden übereinstimmen. Mit A1 = |A1 |eiα1 , A2 = |A1|eiα2 (1.163) folgt aus (1.158) i(ω1 t+α1 ) i(ω2 t+α2 ) x(t) = |A1 | e +e = |A1 | ei[(ω1 −ω2 )t+α1 −α2 ]/2ei[(ω1 +ω2 )t+α1 +α2 ]/2 −i[(ω1 −ω2 )t+α1 −α2 ]/2 i[(ω1 +ω2 )t+α1 +α2 ]/2 +e e = 2|A1| cos[(ω1 −ω2 )t/2 + (α1 −α2 )/2] × ei[(ω1 +ω2 )t+α1 +α2 ]/2, (1.164) 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN d.h. 37 x(t) = 2|A1| cos(Δω t + Δα)ei(ωt+α) (1.165) ω = 12 (ω1 + ω2), α = 12 (α1 + α2 ), (1.166) Δα = 12 (α1 − α2 ). (1.167) mit und Δω = 12 (ω1 − ω2), Sind ω1 = ω + Δω und ω2 = ω − Δω annähernd gleich, |ω1 − ω2| ω1 + ω2 bzw. Δω ω, (1.168) dann ändert sich der Kosinus der Differenzfrequenz relativ zu dem der Summenfrequenz nur sehr langsam. Der Kosinus der Differenzfrequenz kann gewissermaßen der Amplitude zugeordnet werden, und der Vorgang – auch (reine) Schwebung genannt – kann als Schwingung der Kreisfrequenz ω angesehen werden, deren Amplitude mit der Kreisfrequenz 2Δω periodisch zwischen den Werten 0 und 2|A1 | schwankt. Die x/(2|A1|) 1 Δω/ω = 0.1 α = 1, Δα/α = 0.5 0.5 −40 −20 20 40 60 ωt −0.5 −1 ωTs Frequenz ωs = 2Δω = |ω1 − ω2 | (1.169) heißt auch Schwebungsfrequenz und die Zeit Ts = 2π π = ωs Δω (1.170) 38 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Schwebungsdauer. Sind die Amplituden der zwei Einzelschwingungen nicht gleich, dann ist die Schwebung weniger ausgeprägt in dem Sinn, daß ihre Amplitude nicht auf Null absinken kann (unreine Schwebung). x/(2|A1|) 3 Δω/ω = 0.1 α = 1, Δα/α = 0.5 2 |A3|/(2|A1|) = 2 1 −40 −20 −1 20 40 60 80 100 ωt −2 −3 Wird die (reine) Schwebung (1.165) mit einer weiteren harmonischen Schwingung (1.171) x3(t) = |A3|ei(ωt+α) überlagert, entsteht als Resultante eine harmonisch amplitudenmodulierte Schwingung, x(t) = [|A3| + 2|A1| cos(Δω t + Δα)] ei(ωt+α) . (1.172) Harmonische Schwingungsanalyse Jede (auf den ersten Blick noch so kompliziert aussehende) periodische Bewegung läßt sich als Überlagerung von harmonischen Schwingungen darstellen. Die Zerlegung einer periodischen Bewegung in eine Summe von harmonischen Schwingungen wird mathematisch durch das Fouriersche Theorem ermöglicht. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Fourier- bzw. Spektralzerlegung. Es sei x(t) eine periodische Funktion mit der Periodendauer T x(t+T ) = x(t), T = 2π . ω (1.173) 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 39 x t0 t T Wenn x(t) die Dirichletschen Bedingungen erfüllt (was für reale physikalische Systeme immer der Fall ist), dann kann x(t) eineindeutig durch eine Summe von Sinus- und Kosinusfunktionen dargestellt werden. Die Dirichletschen Bedingungen besagen, daß sich das Definitionsgebiet von x(t) in endlich viele Intervalle zerlegen läßt, in denen x(t) stetig und monoton ist, und an jeder Unstetigkeitsstelle müssen die Werte x(t+0) und x(t−0) definiert sein. Die Fourier-Reihe von x(t) wird üblicherweise in komplexer Schreibweise angegeben, ∞ x(t) = An einωt (1.174) n=−∞ x(t) = x∗ (t) ; A−n = A∗n . (1.175) Die Fourier-Koeffizienten lassen sich aus der Funktion x(t) in einem (beliebigen) Intervall (t0, t0 + T ) wie folgt bestimmen: t0 +T ∞ 1 1 t0 +T dt x(t)e−imωt = An dt ei(n−m)ωt , (1.176) T t0 T t n=−∞ 0 δnm d.h. 1 An = T T dt x(t)e−inωt (1.177) 40 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Von (1.174) kann leicht zur reellen Schreibweise übergegangen werden: ⎛ ⎞ ∞ ⎜ ⎟ inωt x(t) = A0 + (1.178) + A−n e−inωt⎠ , ⎝An e n=1 A∗n An einωt + A∗n e−inωt = 2Re An einωt = 2Re(An) cos(nωt) − 2Im(An ) sin(nωt). (1.179) Mit 2 an = 2Re(An) = T und 2 bn = −2Im(An) = T dt x(t) cos(nωt) (1.180) dt x(t) sin(nωt) (1.181) T T geht (1.178) in x(t) = 1 2 a0 + ∞ [an cos(nωt) + bn sin(nωt)] (1.182) n=1 über. Die Gleichungen (1.174) und (1.182) zeigen, daß eine beliebige periodische Bewegung als Überlagerung von unendlich vielen harmonischen Schwingungen aufgefaßt werden kann, wobei in der Praxis häufig eine Beschränkung auf endlich viele vorgenommen werden kann. Die Schwingung ∼ eiωt ist die Grundschwingung, die Schwingungen ∼ einωt , n > 1, sind die (zur Grundschwingung harmonischen) Oberschwingungen. In vielen praktischen Fällen nähern die Grundschwingung und wenige Oberschwingungen die Funktion x(t) bereits gut an. Für T → ∞, d.h. ω → 0, geht (für quadratisch integrierbare Funktionen) die Fourier-Reihe (1.174) in das Fourier-Integral über: iΩn t ΔΩ qne = dΩ q(Ω)eiΩt (1.183) x(t) = lim ΔΩ→0 Ωn 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 41 x t (Ωn = nΔΩ, qn = An /ΔΩ, ΔΩ ≡ ω), wobei gemäß (1.177) An q(Ω) = lim ΔΩ→0 ΔΩ Ω =Ω n π ΔΩ 1 1 dt x(t)e−iΩt = lim dt x(t)e−iΩt = π ΔΩ→0 2π − 2π ΔΩ (1.184) gilt (t0 = −T /2). Zwei senkrecht zueinander stehende harmonische Schwingungen gleicher Frequenz Wir wollen annehmen, daß die x- und y-Komponente (eines Vektors in der Ebene) harmonische Schwingungen der gleichen Kreisfrequnz ω ausführen, x(t) = A cos(ωt+α), (1.185) y(t) = B cos(ωt+β) = B cos(ωt+α +δ) (1.186) (δ = β − α). Wir kombinieren (1.186) mit (1.185) und schreiben y = cos(ωt+α) cos δ − sin(ωt+α) sin δ B x x2 = cos δ − 1 − 2 sin δ, A A woraus y 2 x − cos δ = B A x2 1− 2 A (1.187) sin2 δ (1.188) 42 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES bzw. x2 y2 2xy cos δ = sin2 δ + − (1.189) 2 2 A B AB folgt. Die Gleichung (1.189) stellt eine Kurve zweiter Ordnung, nämlich eine Ellipse dar. Der resultierende Vektor r(t) = x(t)ex + y(t)ey beschreibt also eine elliptische Schwingung. Die Ellipse liegt in dem Rechteck mit den Seitenlängen 2A und 2B, und ihr Zentrum liegt im Koordinatenursprung. y A B x Spezialfall: δ = 0 oder δ = π In diesem Fall lautet die Gleichung (1.189) y 2 ∓ = 0. A B x (1.190) Für δ = 0 geht die Ellipse in die Gerade y = (B/A)x und für δ = π in die Gerade y =−(B/A)x über, d.h., eine lineare Schwingung der Amplitude √ 2 A +B 2 liegt vor. Spezialfall: δ = π/2 oder δ = 3π/2 Die Gleichung (1.189) lautet y2 x2 + = 1, A2 B 2 (1.191) d.h., die Hauptachsen der Ellipse sind parallel zu den Koordinatenachsen, und die halben Hauptachsenlängen sind die Amplituden A und B der beiden Einzelschwingungen. 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 43 Spezialfall: δ = π/2 oder δ = 3π/2 und A = B In diesem Fall wird aus der Ellipsengleichung (1.191) die Kreisgleichung x 2 + y 2 = A2 , (1.192) d.h., die elliptische Schwingung geht in eine zirkulare Schwingung über, x(t) = A cos(ωt+α), (1.193) y(t) = ∓A sin(ωt+α). (1.194) Die den beiden Vorzeichen ∓ entsprechenden Schwingungen unterscheiden sich in der Umlaufrichtung. A y A x 0 5 4 π 1 4 3 2 π π 1 2 3 4 π 7 4 π π π 2π Schwingung für A = B in Abhängigkeit von δ. Zwei senkrecht zueinander stehende harmonische Schwingungen verschiedener Frequenz Wir wollen wieder annehmen, daß sich die Frequenzen der beiden Schwingungen x(t) = A cos(ω1t+α) (1.195) und y(t) = B cos(ω2t+β) (1.196) 44 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES nur wenig voneinander unterscheiden, |ω1 − ω2 | ω1 + ω2 . (1.197) Schreiben wir y(t) in der Form y(t) = B cos ω1t+ α+δ(t) , (1.198) δ(t) = (ω2 −ω1)t+β −α (1.199) wobei ist, so können wir unter der Voraussetzung (1.197) die Bewegung in der xy-Ebene als Schwingung mit der Kreisfrequenz ω1 ≈ ω2 und (im Vergleich dazu) zeitlich langsam veränderlicher Phasendifferenz δ auffassen. Im Ergebnis erhalten wir nunmehr Ellipsen von zeitlich veränderlicher Lage. Die Bewegung ist natürlich nur dann streng periodisch und die Bahnkurve nur dann geschlossen, wenn das Frequenzverhältnis ω1/ω2 eine rationale Zahl ist. Sind ω1 und ω2 inkommensurabel, dann wird die Ausgangslage strenggenommen nie wieder erreicht. Die im Ergebnis der Überlagerung zweier senkrecht aufeinander stehender harmonischer Schwingungen verschiedener Frequenzen resultierenden Bahnkurven heißen auch Lissajous-Figuren.4 Die folgende Abbildung zeigt einige Beispiele. 4 In manchen Lehrbüchern findet man den Begriff Lissajous-Figuren nur auf streng periodische Bewegungen angewandt. 1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN 45 y/A 0.4 0.4 0.2 (a) –1 –0.5 0 0.5 –0.2 (c) (e) (g) (i) –1 –1 –1 –1 –0.5 –0.5 0.2 –0.5 –0.4 0.4 0.4 0.2 0.2 0 0.5 1 –1 –0.5 0 –0.2 –0.2 –0.4 –0.4 0.4 0.4 0.2 0.2 0.5 1 –1 –0.5 –0.2 –0.2 –0.4 –0.4 0.4 0.4 0.2 0.2 0 0.5 1 –1 –0.5 0 –0.2 –0.2 –0.4 –0.4 0.4 0.4 0.2 0.2 0 0.5 1 –1 0.5 1 (b) 0.5 1 (d) 0.5 1 (f) 0.5 1 (h) 0.5 1 (j) –0.2 –0.4 –0.5 –0.5 x 1 A–1 –0.5 –0.2 –0.2 –0.4 –0.4 α = 1, β − α = 0.5, B/A = 0.5; ω2/ω1 = 1.1 (a), ω2/ω1 = 1.2 (b), ω2 /ω1 = 1.3 (c), ω2 /ω1 = 1.4 (d), ω2 /ω1 = 1.5 (e), ω2 /ω1 = 1.6 (f), ω2 /ω1 = 1.7 (g), ω2/ω1 = 1.8 (h), ω2/ω1 = 1.9 (i), ω2/ω1 = 2 (j). 46 KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES Kapitel 2 Newtonsche Mechanik 2.1 Die Newtonschen Prinzipien Die Grundgesetze bzw. Grundvoraussetzungen, auf denen alle weiteren Sätze über die Lehre der Bewegung materieller Körper unter der Einwirkung von Kräften (Dynamik) aufbauen, sind im wesentlichen in den Newtonschen Prinzipien oder Axiomen enthalten. Diese sind – dem Wortsinn entsprechend – keine mathematisch beweisbaren Sätze, sondern resultieren aus der Erfahrung. Sie sind demzufolge als richtig anzusehen, wenn alle ihre Folgerungen durch die Erfahrung bestätigt werden. 2.1.1 Das Trägheitsgesetz Die einfachste Bewegung eines Massenpunkts (eines Körpers) ist die gleichförmig geradlinige Bewegung, bei der ṙ konstant ist, und die Frage ist, unter welchen Umständen eine solche Bewegung existiert. Eine mit einer gewissen Geschwindigkeit auf einer horizontalen Unterlage abgestoßene Kugel führt näherungsweise eine geradlinige Bewegung aus. Die Kugel rollt um so weiter, je glatter die Unterlage ist, d.h., je glatter die Unterlage, desto mehr ähnelt die Bewegung einer gleichförmig geradlinigen Bewegung. Die Geschwindigkeitsabnahme ist offensichtlich eine Folge von äußeren Einflüssen (Wechselwirkung der Kugel mit der Unterlage). Könnten diese beseitigt werden (so wie etwa die horizonale Unterlage den Einfluß der Erde kompensiert), dann würde die Kugel 47 48 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK ihre Geschwindigkeit unverändert beibehalten. Diese (auch schon vor Newton gewonnene) Erkenntnis wurde von Newton in einer recht allgemeinen Formulierung an die Spitze seines mechanischen Systems1 gestellt und bildet den Inhalt des ersten Axioms. Jeder Körper beharrt im Zustand der Ruhe oder gleichförmig geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird diesen Zustand zu ändern. Der Begriff Kraft steht hier zunächst für äußeren Einfluß“, d.h. die ” Wirkung anderer Körper auf den betrachteten Körper. Die Eigenschaft der Körper, ihre Geschwindigkeit bzw. ihren Ruhezustand unverändert beizubehalten, sofern sie nicht unter dem Einfluß anderer Körper stehen, wird Beharrungsvermögen oder Trägheit genannt und das Axiom Trägheitsgesetz. Die gleichförmig geradlinige Bewegung ist also auch vom dynamischen Standpunkt aus die einfachste, nämlich der natürliche Bewegungszustand eines Körpers, zu dessen Aufrechterhaltung keine äußere Einwirkung nötig ist. Das Trägheitsgesetz ist keine Selbstverständlichkeit, sondern stellt eine Extraktion vieler Erfahrungen für einen idealen Grenzfall dar. Es kann insbesondere nicht Gegenstand einer unmittelbaren experimentellen Überprüfung sein, da ein Körper nicht vollständig jeder Einwirkung anderer Körper entzogen werden kann. Das Trägheitsgesetz hat nur dann einen Sinn, wenn das Bezugssystem, in dem die Bewegung beschrieben wird, angegeben ist. Newton sprach das Axiom bezüglich des im absoluten Raum“ ruhenden Sy” stems aus. Ein solches System kann jedoch nicht durch Experimente festgelegt werden. Der positive Inhalt des Axioms ist also das Postulat, daß überhaupt ein Bezugssystem existiert, in dem das Trägheitsgesetz gültig ist. Ein solches Bezugssystem heißt Inertialsystem. So kann beispielsweise das im Fixsternhimmel befestigte System als ein solches angesehen werden, d.h. ein Koordinatensystem, dessen Ursprung im Massenmittelpunkt (Abschnitt 2.3.2) des Sonnensystems liegt (also näherungsweise im Mittelpunkt der Sonne) und dessen Achsen nach bestimmten Fixsternen weisen. Wir werden später sehen, daß jedes System, das sich relativ zu einem Inertialsystem gleichförmig geradlinig 1 Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, London, 1687 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 49 bewegt, ebenfalls ein Inertialsystem ist. In vielen praktischen Fällen ist es ausreichend, ein in der Erde verankertes Bezugssystem zu verwenden. Der Inhalt des Trägheitsgesetzes kann also wie folgt zusammengefaßt werden: • Es existiert ein solches Bezugssystem, in dem sich ein sich völlig selbst überlassener ( kräftefreier“) Körper im Zustand der Ruhe ” oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung befindet. • Ein solches Bezugssystem wird Inertialsystem genannt, und alle weiteren Gesetze der Mechanik werden auf dieses System bezogen. • Erfahrungsgemäß kann ein im Fixsternhimmel befestigtes Bezugssystem als Inertialsystem angesehen werden. 2.1.2 Das Grundgesetz der Dynamik Nach dem ersten Newtonschen Axiom muß eine in einem Inertialsystem auftretende Beschleunigung eines Körpers der Einwirkung anderer Körper zugeschrieben werden. Diese üben eine Kraft auf den Körper aus, oder – wie man auch sagt – am Körper greift eine Kraft an. Als Veranschaulichung kann die Beschleunigung eines Körpers vermittels unserer Muskelkraft dienen. Es sollte jedoch hervorgehoben werden, daß Aussagen wie die Kraft ist Ursache der Beschleunigung“ nur for” maler Natur sind. Die eigentlichen Ursachen der Beschleunigung eines Körpers sind in den geometrischen und physikalischen Eigenschaften des Körpers und seiner Umgebung einschließlich ihrer Wechselwirkung zu sehen. Diese zu untersuchen ist Gegenstand anderer Teilgebiete der Physik (z.B. Elektrodynamik, Gravitationsphysik, Atom- und Elementarteilchenphysik). In der Mechanik werden die Kräfte i. allg. als gegeben betrachtet, und es wird nicht ihr Ursprung, sondern ihre (mechanische) Wirkung untersucht. Die Einführung des Begriffs Kraft gestattet es, die vielfältigen wahren Ursachen von Beschleunigungen unter einem einheitlichen Begriff zusammenzufassen, der es gestattet, die Bewegungsvorgänge von eigentlich sehr verschiedener Herkunft einheitlich zu behandeln, d.h. ei- 50 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK ne einheitliche Dynamik aufzubauen, die in allen Gebieten der Physik anwendbar ist. Die Erfahrung besagt, daß eine größere Beschleunigung einer größeren Kraft bedarf. Die einfachste Variante ist, die Kraft proportional zur Beschleunigung zu setzen, wobei der Proportionalitätsfaktor offensichtlich keine universelle Konstante ist. Dies würde – bereits entgegen unserer Muskelempfindung – bedeuten, daß dieselbe Kraft jedem Körper die gleiche Beschleunigung erteilt. So bedarf es einer größeren Kraft, einer Eisenkugel die gleiche Beschleunigung zu erteilen wie einer Holzkugel vom gleichen Radius. Die Eisenkugel ist (im Sinne des ersten Axioms) träger als die Holzkugel. Demzufolge muß als Proportionalitätsfaktor in die Beziehung zwischen Kraft und Beschleunigung eine für den Körper charakteristische Größe eingehen, nämlich die (träge) Masse. Es sei m die träge Masse und F die Kraft. Das zweite Axiom als das Grundgesetz der Dynamik kann dann wie folgt formuliert werden: Die auf einen Massenpunkt (eines Körpers) wirkende Kraft ist gleich dem Produkt aus Masse und Beschleunigung des Massenpunkts. mr̈ = F (2.1) Newton selbst formulierte das Axiom in einer etwas anderen Form: Die Änderung der Bewegung ist der einwirkenden bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen Linie, in der die Kraft wirkt. Dabei ist unter Bewegung die Bewegungsgröße, d.h. der Impuls p = mṙ (2.2) zu verstehen, so daß das Grundgesetz die Form der Impulsbilanz ṗ = F (2.3) 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 51 annimmt. Die Formulierungen (2.1) und (2.3) sind identisch, wenn die Masse m während der Bewegung als konstant angesehen werden kann, ṗ = d (mṙ) = mr̈ = F. dt (2.4) Bei sehr großen, mit der Lichtgeschwindigkeit c vergleichbaren Geschwindigkeiten v zeigt sich (relativistische Mechanik), daß die Masse nicht mehr als konstant angesehen werden kann: m0 m= 1 − v 2/c2 (2.5) (m0 - Ruhemasse, d.h. Masse für v = 0). In diesem Fall wird (2.1) falsch, während (2.3) [zusammen mit (2.2) und (2.5)] weiterhin gültig ist. Auch in der nichtrelativistischen Mechanik gibt es bereits Probleme, bei denen m eine veränderliche Größe ist und (2.3) zur Anwendung kommt. Ein typisches Beispiel ist die Bewegung einer Rakete, deren Masse mit anhaltender Verbrennung des Treibstoffs abnimmt. Dynamische Kraft- und Massenmessung Das Grundgsetz erlaubt über Beschleunigungsmessung die dynamische Kraft- und -Massenmessung. Wir wollen annehmen, daß zwei verschiedenen Körpern (Massenpunkten) mit der gleichen Kraft meßbare Beschleunigungen erteilt werden, m1 r̈1 = m2 r̈2 , d.h. (2.6) m2 |r̈1 | . (2.7) = m1 |r̈2 | Das Massenverhältnis der zwei Körper läßt sich also aus dem Verhältnis der gemessenen (Beträge der) Beschleunigungen bestimmen. Das Massenverhältnis ist unabhängig von der Kraft und nur für die zwei Körper charakteristisch. Wählt man die Masse eines beliebigen Körpers als Vergleichsmasse (der Masseneinheit), so kann jede Masse eindeutig bestimmt werden. Üblich ist das Kilogramm (kg) als Masse des sogenannten Pariser Ur- oder Normalkilogramms. Mit der Masseneinheit 52 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK wird dann über das Grundgesetz die Krafteinheit festgelegt, 1 N (Newton) = 1 kg m s−2. (2.8) 1 Newton ist also die Kraft, die einem Körper der Masse 1 kg die Beschleunigung 1 ms−2 erteilt. Wenn einer bekannten Masse beispielsweise mit einer in verschiedenem Grade zusammengedrückten Feder meßbare Beschleunigungen erteilt werden, dann können auf Grund des Grundgesetzes die entsprechenden Kräfte bestimmt und auf diese Weise ein in der Krafteinheit Newton geeichter Kraftmesser (Federwaage) konstruiert werden. F m 0 x Statische Kraft- und Massenmessung Bekanntlich zieht die Erde jeden materiellen Körper mit einer gewissen Kraft an, Schwerkraft bzw. Gewicht genannt. Erfahrungsgemäß ist an einem festen Ort der Erde die Fallbeschleunigung r̈ = g für jeden Körper die gleiche. Nach dem Grundgesetz der Dynamik ist somit F = mg (2.9) das Gewicht eines Körpers der Masse m.2 Das Gewicht des Normalkilogramms an dem Ort, an dem g = 9.81 ms−2 ist, wird üblicherweise als praktische Krafteinheit Kilopond (kp) gewählt, 1 kp = 9.81 N. (2.10) Die praktische Kraftmessung beruht auf dem Gewicht. Die unbekannte Kraft wird mit einem bekannten Gewicht in wohlbekannter Weise kompensiert, z.B. mit Hilfe eines über eine feste Rolle geführten Fadens. Die 2 An verschiedenen Orten ist g etwas verschieden. Am Äquator ist g = 9.78 ms−2 , während am Nordpol g = 9.832 ms−2 gemessen wird (siehe dazu auch Abschnitt 2.2.6.3). 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 53 Kraft kann natürlich auch durch Dehnung einer Feder (Federwaage) gemessen werden, wenn ihre Skala mit bekannten Gewichten geeicht wurde. F mg m mg = F mg Diese Art der Kraftmessung wird durch die Erfahrung ermöglicht, daß ein Körper (Massenpunkt) unter der Wirkung zweier gleichgroßer, aber in entgegengesetzte Richtungen wirkenden Kräfte immer in den (Gleichgewichts-)Zustand der Ruhe gebracht werden kann (siehe auch Abschnitt 2.1.4). Die Methode wird deshalb auch statische Kraftmessung genannt. Sie ist für praktische Zwecke wesentlich bequemer als die dynamische Kraftmessung. Wenn man (mit Hilfe einer beliebigen Waage) bei einer statischen Kraftmessung feststellt, daß die Gewichte zweier Körper an einem bestimmten Ort gleich groß sind, dann sind ihre Massen ebenfalls gleich groß, m1 g = m2 g ; m1 = m2 . (2.11) Dies ermöglicht die statische Massenmessung. Bei dieser Art von Massenmessung spielt die Trägheit des Körpers offensichtlich keine Rolle (da er sich ja in Ruhe befindet), sondern die Schwere ist entscheidend. Demzufolge kann man zunächst einmal zwischen der durch die dynamische Messung definierten trägen Masse mt und der durch die Gewichtsmessung mittels Waage definierten schweren Masse ms unterscheiden. Die Tatsache, daß die beiden verschiedenen Arten der Massenbestimmung dasselbe Resultat ergeben (d.h. im gewählten Maßsystem mt = ms gilt) ist nicht trivial, sondern beruht auf der Erfahrungstatsache, daß die Fallbeschleunigung für jeden Körper die gleiche ist [die genausten Messungen gehen auf Eötvös (1894) zurück]. 54 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Zusammenfassende Wertung • Das Grundgesetz der Dynamik führt den Kraft- und Massebegriff ein, verbunden mit entsprechenden Meßverfahren. So können mit Hilfe der geschilderten dynamischen Methoden Kraft- und Massenmessung auf Beschleunigungsmessungen, d.h. Längen- und Zeitmessungen, zurückgeführt werden. • Das Grundgesetz der Dynamik erlaubt die Lösung von zwei Arten von Aufgaben. Einerseits kann von der beobachteten Bewegung eines Massenpunkts (gegebener Masse) auf die am Massenpunkt angreifende Kraft geschlossen werden. So liefert zweimalige Differentiation der Bahnkurve r(t) nach der Zeit die Beschleunigung r̈, die multipliziert mit der Masse m die wirkende Kraft F = mr̈ ergibt. Auf diese Weise kann (gegebenenfalls unter Zuhilfenahme zusätzlicher Kraft- und Massemessungen) der mathematische Ausdruck für die Kraft F, das sogenannte Kraftgesetz, für die unterschiedlichsten Arten von Bewegungen gefunden werden. • Umgekehrt kann bei gegebenem Kraftgesetz der Bewegungsablauf bestimmt werden, d.h., es kann die Bahnkurve r(t) bestimmt werden. Dies ist i. allg. die Aufgabe, mit der sich die theoretische (und auch die technische) Mechanik befaßt. Wenn die auf einen Massenpunkt (gegebener Masse) wirkende Kraft F bekannt ist, so bestimmt die Gleichung mr̈ = F die Beschleunigung r̈ des Massenpunkts, womit die Bestimmung der Bahnkurve auf das mathematische Problem der Lösung von Differentialgleichungen zurückgeführt ist. 2.1.3 Das Wechselwirkungsgesetz (actio = reactio) Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die auf einen Massenpunkt wirkende Kraft nicht aus dem Massenpunkt selbst stammt, sondern es muß mindestens noch ein zweites Objekt vorhanden sein, mit dem der Massenpunkt wechselwirkt. Erfahrungsgemäß erfährt ein Massenpunkt bei der Wechselwirkung mit einem zweiten Massenpunkt nicht nur eine 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 55 Kraft, sondern er selbst übt auf den zweiten Massenpunkt ebenfalls eine Kraft aus. Kraftwirkungen sind immer gegenseitig. Dieser Sachverhalt ist Gegenstand des dritten Axioms: Die von einem Massenpunkt (eines Körpers) auf einen zweiten Massenpunkt (des gleichen oder eines anderen Körpers) ausgeübte Kraft F21 ist gleich groß und entgegengesetzt der Kraft F12, die der zweite Massenpunkt auf den ersten Massenpunkt ausübt. Formelmäßig ausgedrückt, lautet es F12 = −F21 (2.12) und in Newtonscher Fassung: Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung. Das Axiom wird auch das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung oder kurz Wechselwirkungsgesetz, auch Gegenwirkungs- oder Reaktionsprinzip genannt. Seine fundamentale Bedeutung wird nicht so sehr in der Mechanik eines einzelnen Massenpunkts deutlich, als vielmehr bei der Mechanik von Massenpunktsystemen. 2.1.4 Superposition von Kräften Als weiteres Axiom wird öfters der Sachverhalt genannt, daß sich die auf einen Massenpunkt wirkenden Kräfte vektoriell addieren. Unterliegt ein Massenpunkt gleichzeitig der Wirkung mehrerer Kräfte F1, F2, . . ., so ist ihre Gesamtwirkung völlig gleichwertig der Wirkung ihrer vektoriellen Resultante, d.h., die Kräfte können durch die Einzelkraft F = F1 + F2 + · · · (2.13) 56 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK ersetzt werden. Aus diesem Grund wird das Axiom auch das Unabhängigkeitsprinzip oder Superpositionsprinzip genannt. Für das Grundgesetz der Dynamik heißt dies mr̈ = F1 + F2 + · · · . (2.14) Der Sachverhalt ist eine Erfahrungstatsache und folgt nicht aus dem Grundgesetz, wie man auf Grund der Addition der Gleichungen mr̈1 = F1 , mr̈2 = F2 , . . . (2.15) denken könnte. Addition mit r̈ = r̈1 + r̈2 + · · · enthält nämlich die Annahme, daß jede Kraft ihre eigene Wirkung auch in Gegenwart anderer Kräfte ausübt, die Kräfte also unabhängig voneinander sind und sich gegenseitig nicht beeinflussen. Wenn z.B. eine ursprünglich vorhandene Kraft F1 durch die Gegenwart einer zweiten Kraft F2 zu F1 verändert würde, so wäre die Beschleunigung des Massenpunkts nicht (F1 + F2)/m, sondern (F1 + F2)/m. 2.1.5 Bewegte Bezugssysteme Die Grundgleichung der Dynamik mr̈ = F (2.16) ist zunächst als in einem Inertialsystem gültig eingeführt worden. Wir wollen nun untersuchen, welche Form die Grundgleichung in einem Bezugssystem Σ annimmt, das sich relativ zu einem Inertialsystem Σ auf eine bestimmte Weise bewegt. Das Problem ist unter zwei Gesichtspunkten von Interesse: (1) Es wird die Rolle des Inertialsystems verdeutlicht. (2) Oft ist es wünschenswert, die Erscheinungen nicht in einem Inertialsystem, sondern z.B. in einem an die Erde oder an ein bewegtes Fahrzeug auf der Erde angehefteten Koordinatensystem zu beschreiben. 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN r r Σ 57 ez ez r0 O ey ex Σ ey O ex Bewegt sich relativ zu einem Inertialsystem Σ ein anderes System Σ , so wird die Bewegung eines Massenpunkts von den in Σ und Σ befindlichen Beobachtern verschieden beschrieben. Wir wollen zwei kartesische Koordinatensysteme betrachten. In Σ: Ort des bewegten Massenpunkts wird durch den Ortsvektor r = r(t) festgelegt. In Σ : Ort des bewegten Massenpunkts wird durch den Ortsvektor r = r (t) festgelegt. Es gilt r = r0 + r . (2.17) Durch zeitliche Differentiation finden wir daraus den Zusammenhang zwischen den Geschwindigkeiten und Beschleunigungen in den beiden Systemen. Dabei ist zu beachten, daß r auf das Koordinatensystem Σ zu beziehen ist, r = x ex + y ey + z ez , (2.18) dessen Basisvektoren ex , ey , ez i. allg. zeitlich nicht konstant sind. Wir finden zunächst dey dr dr0 dex dez ṙ = = +x +y +z dt dt dt dt dt dy dz dx e + e + e . + dt x dt y dt z (2.19) Ein Beobachter in Σ , für den sich die Achsenrichtungen seines Koordinatensystems nicht ändern, schreibt dem Massenpunkt offensichtlich 58 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK die Geschwindigkeit d r dy dz dx ṙ ≡ ≡ e + e + e dt dt x dt y dt z = ẋex + ẏ ey + ż ez (2.20) zu. Die Schreibweise d r /dt bringt zum Ausdruck, daß die zeitliche Differentiation in Σ bei fester Lage der Koordinatenachsen durchzuführen ist. Man spricht von v≡ dr dt (2.21) auch als von der Absolutgeschwindigkeit und nennt v ≡ d r dt (2.22) Relativgeschwindigkeit. Die Größe vtr ≡ dr0 dt (2.23) ist die Geschwindigkeit des Koordinatenursprungs O von Σ; sie heißt auch Translationsgeschwindigkeit. Die zeitliche Änderung der Basisvektoren ex , ey , ez in (2.19) resultiert aus einer möglichen Drehung des Systems Σ um eine Achse durch seinen Ursprung. Ganz allgemein kann eine Drehung um eine Achse folgendermaßen beschrieben werden. Aus der folgenden Abbildung lesen wir ab: −→ −→ d|AB| = CB dϕ = |AB| sin ϑ dϕ, (2.24) −→ −→ −→ d|AB| dϕ = |AB| sin ϑ = |AB| sin ϑ ω. dt dt (2.25) Wir definieren den Vektor der (momentanen) Winkelgeschwindigkeit ω als den Vektor, dessen Richtung durch die (momentane) Drehachse 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 59 ω dϕ C −→ B dAB −→ ϑ AB A im Sinne einer Rechtsschraube gegeben ist und dessen Betrag durch |ω | = |ϕ̇| bestimmt ist. Mit (2.25) folgt dann: −→ −→ dAB = ω × AB dt (2.26) −→ Identifizieren wir nunmehr AB der Reihe nach mit ex , ey und ez , so erhalten wir für die gesuchten zeitlichen Ableitungen der Basisvektoren in Σ dey dex dez = ω × ex , = ω × ey , = ω × ez (2.27) dt dt dt und folglich gilt dey dex dez x +y +z = ω × r , dt dt dt Mit (2.20) und (2.28) lautet die Gleichung (2.19): dr d r dr0 = + + ω × r dt dt dt (2.28) (2.29) 60 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Die für verschwindende Relativgeschwindigkeit v = 0 resultierende Geschwindigkeit dr0 +ω × r dt (2.30) wird auch Führungsgeschwindigkeit genannt. Wegen r−r0 =r folgt aus (2.29) dr d r = +ω × r . dt dt (2.31) Aus der Art der Herleitung ist sofort ersichtlich, daß die Gleichung (2.31) nicht nur für den Vektor r , sondern für jeden Vektor b = bx ex + by ey + bz ez (2.32) db d b = + ω × b. dt dt (2.33) gilt: Ist speziell b = ω , so haben wir dω d ω = , dt dt (2.34) d.h., der Vektor der Winkelgeschwindigkeit spielt eine besondere Rolle; seine zeitliche Änderung ist in beiden Bezugssystemen die gleiche. Wir wollen die Beschleunigung berechnen. Aus (2.29) [mit den Bezeichnungsweisen (2.21) – (2.23)] erhalten wir durch zeitliche Differentiation dv dv dvtr dr dω = + + ω × + × r . dt dt dt dt dt (2.35) Zur Berechnung von dv /dt können wir wieder die Gleichung (2.33) anwenden: dv d v = + ω × v. dt dt (2.36) 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 61 Ferner liefert die Gleichung (2.31) dr ω × = ω × v + ω × (ω × r ). dt (2.37) Wir setzen (2.36) und (2.37) in (2.35) ein und erhalten: dv d v dvtr dω = + + × r dt dt dt dt + ω × (ω × r ) + 2ω × v (2.38) Die Größe dvtr /dt heißt auch Translationsbeschleunigung. Ferner wird die für verschwindende Relativgeschwindigkeit v = 0 (und damit auch verschwindende Relativbeschleunigung dv /dt = 0) resultierende Beschleunigung dvtr dω + × r + ω × (ω × r ) dt dt (2.39) auch Führungsbeschleunigung genannt, da sie (für v = 0) gerade die zeitliche Ableitung der Führungsgeschwindigkeit (2.30) ist. Als Coriolisbeschleunigung wird in der Regel die Größe −2ω × v (2.40) und als Zentrifugalbeschleunigung die Größe −ω × (ω × r ) bezeichnet. (2.41) 62 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Grundgleichung der Dynamik Setzen wir in der in Σ geltenden Grundgleichung mr̈ = F (2.42) für r̈ = dv/dt die Gleichung (2.38) ein, so erhalten wir als Grundgleichung in Σ (r̈ = d v /dt): mr̈ = F − mr̈0 − mω˙ × r − mω ×(ω ×r )−2mω×ṙ (2.43) Im System Σ ist offensichtlich das Grundgesetz der Mechanik in der Form mr̈ =F nicht gültig, da auf der rechten Seite der Gleichung (2.43) außer der (im Inertialsystem Σ auftretenden) Kraft F vier weitere Glieder – die Trägheitskräfte – auftreten. Ein Beobachter im System Σ , der die Bewegung eines Massenpunkts (in Σ ) deuten will, muß also zu der am Massenpunkt angreifenden Kraft noch die vier Trägheitskräfte hinzunehmen. Ist speziell F = 0, so wird mittels der Trägheitskräfte gerade der Effekt der Trägheit eines Massenpunkts beschrieben, wonach sich ein sich selbst überlassener Massenpunkt (im Inertialsystem Σ) beschleunigungsfrei bewegt. Die Gleichung (2.43) kann als Formulierung des Grundgesetzes der Mechanik in einem beliebigen Bezugssystem angesehen werden: Die Grundgleichung der Mechanik kann in jedem Bezugssystem angewendet werden, wenn zu der Kraft, die am Massenpunkt im Inertialsystem angreift, die Trägheitskräfte addiert werden. Zwei der Trägheitskräfte haben besondere Namen erhalten, nämlich die Zentrifugalkraft Fcen = −mω × (ω × r ) und die Corioliskraft Fcor = −2mω × v . Wenn man die an einem Massenpunkt angreifende Kraft als eine durch die Wechselwirkung mit anderen physikalischen Objekten bestimmte objektive Realität ansieht, so kann diese von solchen mathematischen Hilfsmitteln wie der Wahl des Bezugssystems nicht abhängig 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 63 ω ω × r Fcen = −mω × (ω × r ) r ω Fcor = −2mω × v v sein. In diesem Sinne kann Kraft nur die oben mit F bezeichnete Größe F genannt werden, die den Newtonschen Axiomen entsprechend die Beschleunigung des Massenpunkts im Inertialsystem bewirkt. Demgegenüber sind die Trägheitskräfte nicht wirkliche Kräfte, sondern eher fiktive Kräfte. Man nennt sie deshalb auch Scheinkräfte im Gegensatz zu den als eingeprägte Kräfte bezeichneten wirklichen Kräften. Die Einführung der Scheinkräfte ist sehr zweckmäßig, da sich damit die mechanischen Erscheinungen in jedem Bezugssystem in bekannter Weise beschreiben lassen. Die Scheinkräfte äußern sich für einen in Σ befindlichen Beobachter mit der gleichen Wirkung wie die eingeprägten Kräfte in Σ und sind ebenso wie die eingeprägten Kräfte meßbare Kräfte. 64 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Galileisches Relativitätsprinzip Wir betrachten zwei relativ zueinander bewegte Bezugssysteme Σ und Σ, wobei das System Σ nicht notwendigerweise ein Inertialsysteme sein muß, und bezeichnen mit F̃ die Resultante aus eingeprägten Kräften und den in Σ wirkenden Trägheitskräften. Von der Herleitung der Gleichung (2.43) ist klar, daß auch im vorliegenden Fall die Grundgleichung in Σ sinngemäß auf (2.43) führt, wenn dort unter F nunmehr die genannte Kraftresultante F̃ verstanden wird. Führt das System Σ relativ zum System Σ nur eine gleichförmig geradlinige Bewegung aus, d.h. r = r̃0 + r , r̃˙ 0 = const., ω̃ = 0, (2.44) dann treten in der in Σ geltenden Grundgleichung (2.43) keine aus der Bewegung von Σ relativ zu Σ resultierenden (zusätzlichen) Trägheitskräfte auf, und die Grundgleichungen in Σ und Σ lauten in Σ : in Σ : mr̈ = F̃, mr̈ = F̃, (2.45) (2.46) wobei die in den beiden Gleichungen auftretende Kraft F̃ als Funktion der Koordinaten und Geschwindigkeiten in den beiden Systeme i. allg. nicht die gleiche Form besitzt, F̃ = F − mr̈0 − mω˙ × r − mω × (ω × r) − 2mω × ṙ (in Σ) = F − mr̈0 − mω˙ × r − mω × (ω × r ) − 2mω × ṙ − mω˙ × r̃0 − mω × (ω × r̃0) − 2mω × r̃˙ 0 (in Σ) . (2.47) Wenn speziell das System Σ ein Inertialsystem ist, dann ist die Kraft in der Grundgleichung (2.45) als eine eingeprägte Kraft, F̃ = F, i. allg. eine Funktion des Orts, der Geschwindigkeit und der Zeit. Wenn wir ferner davon ausgehen, daß eingeprägte Kräfte ihre Ursache in der Wechselwirkung eines Körpers mit anderen Körpern haben, dann können eingeprägte Kräfte nur von auf diese Körper bezogenen Lagen und Geschwindigkeiten abhängen. Anders ausgedrückt, sie können nur von irgendwelchen Koordinaten- und Geschwindigkeitsdifferenzen abhängen, F = F(r−rref , ṙ− ṙref , t), (2.48) 2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN 65 so daß die Grundgleichung (2.45) im Inertialsystem Σ die Form mr̈ = F(r−rref , ṙ− ṙref , t) (2.49) annimmt. Die den Übergang zwischen zwei Bezugssystemen Σ und Σ vermittelnde Transformation (2.44) heißt auch GalileiTransformation. Ist Σ ein Inertialsystem, dann nimmt die Grundgleichung (2.46) im relativ dazu unbeschleunigt bewegten Bezugssystem Σ offensichtlich die gleiche Form wie im Inertialsystem Σ an, mr̈ = F(r −rref , ṙ − ṙref , t). (2.50) Wenn also das System Σ ein Inertialsystem ist, dann ist auch jedes System Σ, das relativ zu Σ eine unbeschleunigte Translationsbewegung ausführt, ein Inertialsystem. Das heißt, wenn es ein Inertialsystem gibt, dann gibt es unendlich viele Inertialsysteme. Untersucht ein im Inertialsystem Σ befindlicher Beobachter in seinem System irgendeinen mechanischen Vorgang, so findet er Bewegungsgleichungen, die gleich denjenigen sind, die ein im Inertialsystem Σ befindlicher Beobachter bei der Untersuchung des Vorgangs findet. Mit keinem mechanischem Experiment kann zwischen Σ und Σ unterschieden werden. In diesem Sinne können also keine absolute Ruhe und keine absolute Geschwindigkeit festgestellt werden. Obiger Sachverhalt wird auch als das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik bzw. Galileisches Relativitätsprinzip bezeichnet: Bezugssysteme, die relativ zu einem Inertialsystem eine unbeschleunigte Translationsbewegung ausführen, sind ebenfalls Inertialsysteme und für die Beschreibung mechanischer Vorgänge vollkommen gleichwertig. Im Hinblick auf die gleiche Form der Grundgleichungen (2.49) und (2.50) wird das Galileische Relativitätsprinzip also auch wie folgt formuliert: Die Grundgleichung der Mechanik ist gegenüber GalileiTransformationen beim Übergang von einem Inertialsystem zu einem anderen forminvariant. 66 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Umgekehrt kann man sagen, daß die durch die Erfahrung bestätigte Forminvarianz des Grundgesetzes der Mechanik beim Übergang von einem Inertialsystem zu einem anderen Inertialsystem bezüglich der analytischen Form der an einem Massenpunkt angreifenden (eingeprägten) Kräfte bedeutet, daß diese nur von relativen Lagen und relativen Geschwindigkeiten abhängen können. Wir wollen annehmen, daß sich Σ relativ zu Σ gleichförmig geradlinig längs der x-Achse bewegt, die mit der x-Achse zusammenfallen soll. Nehmen wir ferner an, daß zum (gewählten) Zeitnullpunkt die beiden Systeme zusammenfallen, dann lautet die Galilei-Transformation x = x − vtrt, y = y, z = z, (2.51) wobei der Vollständigkeit halber anzumerken ist, daß t = t (2.52) gilt, die Zeit also beim Übergang zwischen den beiden Inertialsystemen nicht transformiert wird. Die Forderung (2.52) ist nicht triviz z Σ y vtrt Σ y x x al und auch nicht universell gültig. Sie ist gültig, solange die betrachteten Geschwindigkeiten klein im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit c = 3 · 108 ms−1 sind. Die Verallgemeinerung des Galileischen Relativitätsprinzips der Mechanik ist das Einsteinsche spezielle Relativitätsprinzip, nach welchem Bezugssysteme, die relativ zueinander eine unbeschleunigte Translationsbewegung ausführen, für die Beschreibung aller physikalischen Erscheinungen äquivalent sind, und die Forminvarianz der entsprechenden Gleichungen LorentzTransformationen anstelle von Galilei-Transformationen erfordert. 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 67 So ist die spezielle Galilei-Transformation (2.51) und (2.52) durch die spezielle Lorentz-Transformation x − vtr t x = , 2 /c2 1 − vtr y = y, z = z, (2.53) t − (vtr/c2 )x t = 2 /c2 1 − vtr (2.54) 2 vtr 1 c2 (2.55) zu ersetzen. Für (nichtrelativistischer Grenzfall) gehen die Gleichungen (2.53) und (2.54) in die Gleichungen (2.51) und (2.52) über. 2.2 Dynamik eines Massenpunkts Wie bereits erwähnt, ermöglicht das 2. Newtonsche Axiom die Lösung von im wesentlichen drei Arten von Problemen. (1) Berechnung der Kraft F, die auf einen Massenpunkt wirkt, wenn seine Bahnkurve r(t) bekannt ist. (2) Berechnung der Bahnkurve r(t) bei bekannter Kraft F. (3) Kraft und Bahnkurve sind teilweise bekannt. Die vollständige Bahnkurve und die entsprechende Gesamtkraft sind zu berechnen. Obwohl durchaus von praktischer Bedeutung, sind Aufgaben der ersten Art von geringerem theoretischen Interesse, da sie auf reine Differentiationsaufgaben hinauslaufen. Die eigentlichen Aufgaben der theoretischen Mechanik, denen wir uns im folgenden widmen wollen, sind solche der zweiten und dritten Art. 68 2.2.1 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Bewegungsgleichungen Das Problem der Bestimmung des Bewegungsablaufs eines im Raum (frei) beweglichen Massenpunkts stellt sich wie folgt dar. Die Masse m des Punkts und die auf ihn wirkende resultierende (Gesamt-)Kraft F, die i. allg. eine Funktion des Orts, der Geschwindigkeit und der Zeit ist, sind bekannt. Das heißt, das Kraftgesetz F = F(r, ṙ, t) (2.56) ist gegeben. Die gesuchte Bahnkurve r(t) des Massenpunkts genügt der Grundgleichung der Dynamik mr̈ = F(r, ṙ, t). (2.57) Ihre Bestimmung erfordert die Integration dieser vektoriellen, gewöhnlichen Differentialgleichung 2. Ordnung. In Komponenten zerlegt, beinhaltet die Gleichung (2.57) drei gekoppelte Differentialgleichungen, auch Bewegungsgleichungen des Massenpunkts genannt. Speziell in kartesischen Koordinaten lauten sie mẍ = Fx(x, y, z, ẋ, ẏ, ż, t), mÿ = Fy (x, y, z, ẋ, ẏ, ż, t), mz̈ = Fz (x, y, z, ẋ, ẏ, ż, t). (2.58) Die allgemeine, sechs willkürliche Integrationskonstanten enthaltende Lösung der Bewegungsgleichungen umfaßt die Gesamtheit der Bewegungen, die das gegebene Kraftgesetz zuläßt. Eine bestimmte Bewegung wird dann eindeutig dadurch bestimmt, daß die Integrationskonstanten durch gewisse Bedingungen festgelegt werden. Am häufigsten werden Anfangsbedingungen gestellt, d.h., es werden Ort (r0 ) und Geschwindigkeit (v0) des Massenpunkts zu einer gewissen Anfangszeit (t0 ) vorgegeben, (2.59) r0 = r(t0 ), v0 = ṙ(t0). Die Tatsache, daß bei bekanntem Kraftgesetz und bekanntem Anfangszustand der Ablauf der Bewegung eines Massenpunkts (in der Regel) eindeutig bestimmt ist, liefert ein charakteristisches Beispiel für die 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 69 Determiniertheit des Künftigen durch das Gegenwärtige. Diese Determiniertheit ist als gleichbedeutend mit der Kausalität im mechanischen Geschehen anzusehen. Die Bewegungsgleichungen stellen Beziehungen zwischen zeitlich und räumlich unmittelbar benachbarten Bewegungszuständen dar und beschreiben den Bewegungsablauf im Kleinen. Dieser ist in der Regel einfacher und kompakter zu formulieren als der Bewegungsablauf im Großen, der die explizite Angabe aller möglichen Bahnkurven erfordert. Dies ist nicht nur in der Mechanik der Fall und erklärt, warum viele fundamentale Naturgesetze in Form von Differentialgleichungen vorliegen. Die Bestimmung der Bahnkurve eines Massenpunkts erfordert folgende Schritte: (1) Auffinden bzw. Aufstellen des entsprechenden Kraftgesetzes und damit der Bewegungsgleichungen. (2) Integration der Bewegungsgleichungen. (3) Deutung und Fixierung der auftretenden Integrationskonstanten sowie physikalische Interpretation der Lösung. Die (zumindest teilweise) Integration der Bewegungsgleichungen kann oft mit Hilfe von geeignet einzuführenden Größen (wie Impuls, Drehimpuls, Energie) und den für diese Größen unter bestimmten Bedingungen geltenden Erhaltungssätzen erheblich erleichtert werden. So können bei bestimmten Klassen von Kräften auf Grund von Bilanzgleichungen und Erhaltungssätzen ein oder mehrere erste Integrale der Bewegungsgleichungen unmittelbar angegeben werden. Dabei wollen wir unter einem ersten Integral der Bewegungsgleichungen (d.h. der Differentialgleichungen 2. Ordnung) eine Differentialgleichung 1. Ordnung der Form f (r, ṙ, t) = 0 (2.60) verstehen. In vielen Fällen kann man aus solchen Bewegungsintegralen bereits wichtige Schlüsse über den Bewegungsablauf ziehen, ohne die Bewegungsgleichungen vollständig integrieren zu müssen. 70 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK 2.2.2 Impulsbilanz Beginnen wir mit der Impulsbilanz. Für einen Massenpunkt ist sie trivial, da sie nichts anderes darstellt als die bereits erwähnte Form dp =F dt (2.61) des Grundgesetzes der Mechanik mit p = mṙ (2.62) als Impuls des Massenpunkts [siehe (2.2) und (2.3)]. Als Bilanzgleichung aufgefaßt, besagt die Gleichung (2.61): Die zeitliche Änderung des Impulses ist gleich der einwirkenden (Gesamt-)Kraft. Wenn keine Kraft wirkt, d.h. F = 0, gilt der Impulserhaltungssatz, dp =0 dt ; p = const. (2.63) Das triviale Bewegungsintegral beinhaltet das bekannte Ergebnis, daß sich ein kräftefreier Massenpunkt mit konstanter Geschwindigkeit entlang einer Geraden bewegt oder ruht. Wir werden später sehen, daß im Falle eines aus mehreren Massenpunkten bestehenden Systems Impulsbilanz und Impulserhaltung nicht derart trivial sind. 2.2.3 Energiebilanz Eine an einem Massenpunkt m angreifende Kraft F leistet bei der Verschiebung des Massenpunkts längs einer Raumkurve C i. allg. eine Arbeit W . Für eine hinreichend kleine Verschiebung dr ist die geleistete (infinitesimale oder elementare) Arbeit dW wie folgt definiert: dW = F·dr = |F||dr| cos ϕ = Fsds (2.64) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 71 F C P2 ϕ dr P1 (Fs = |F| cos ϕ - Kraftkomponente in Richtung des Weges, ds = |dr|). dW ist positiv, negativ oder Null, je nachdem ob die Kraft F mit der Verschiebung dr einen spitzen, stumpfen oder rechten Winkel bildet. Negatives dW bedeutet offensichtlich, daß gegen die betrachtete Kraft Arbeit zu leisten ist, um die Verschiebung zu realisieren. Die gesamte Arbeit, die von der Kraft F bei der Verschiebung des Massenpunkts längs der Kurve C vom Punkt P1 bis zum Punkt P2 geleistet wird, ist dann das Linienintegral der Kraft längs C, (2.65) W = F·dr. C Die Arbeit hängt i. allg. von der Kraft, vom Anfangs- und Endpunkt des durchlaufenen Weges und von der Art des Weges zwischen diesen beiden Punkten ab. Als Leistung P wird die pro Zeiteinheit verrichtete Arbeit definiert, d.h. dW P = = F· ṙ. (2.66) dt Wir multiplizieren die vektorielle Bewegungsgleichung (2.57) skalar mit ṙ, mr̈ = F | · ṙ, (2.67) und finden mr̈· ṙ = d 1 mṙ· ṙ = F· ṙ. dt 2 (2.68) Die Größe T = 12 mṙ· ṙ = 12 m|ṙ|2 (2.69) heißt Bewegungsenergie oder kinetische Energie des Massenpunkts, und die Gleichung (2.68) stellt eine Bilanzgleichung für die 72 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK kinetische Energie dar: dT =P dt (2.70) In Worten: Die zeitliche Änderung der kinetischen Energie ist gleich der Leistung der einwirkenden (Gesamt-)Kraft. Die differentielle Formulierung (2.70) entspricht der integralen Formulierung 2 2 2 dT = P dt = F·dr, (2.71) 1 1 1 d.h. T2 − T1 = W. (2.72) Anmerkung Bei der Bilanz müssen alle Kräfte berücksichtigt werden, da in der Grundgleichung F die Gesamtkraft bedeutet. Ziehen wir beispielsweise einen auf einer Unterlage reibenden Körper mit konstanter Geschwindigkeit, so leistet unsere Muskelkraft Arbeit, obwohl sich die kinetische Energie des Körpers nicht ändert. Letzteres bedeutet, daß die Gesamtkraft verschwinden muß. Diese setzt sich offensichtlich aus der Reibungskraft und der dem Betrag nach gleichen aber entgegengesetzt gerichteten Muskelkraft zusammen. Konservative Kraftfelder Ene Kraft heißt konservativ, wenn F = F(r) (2.73) ist und es eine skalare Funktion U (r) gibt, so daß F = −∇U (r) (2.74) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 73 gilt. Mit anderen Worten, das nicht explizit zeitabhängige Vektorfeld F(r) läßt sich aus einem skalaren Feld U (r) durch Gradientenbildung herleiten. In Komponentenschreibweise: dU = ∇U · dr = ∂U i dx , ∂xi ∂U i g, ∂xi F = Fi g i , ∂U Fi = − i . ∂x ∇U (r) = (2.75) (2.76) (2.77) (2.78) Speziell in kartesischen Koordinaten: Fx = − ∂U ∂U ∂U , Fy = − , Fz = − . ∂x ∂y ∂z (2.79) Im Falle eines konservativen Kraftfelds läßt sich also die Gleichung (2.66) in die Form ∂U dxi dU P = F· ṙ = −∇U · ṙ = − i =− ∂x dt dt (2.80) bringen. Das heißt, die Leistung ist die negative totale zeitliche Ableitung der skalaren Funktion U . Damit wird aus (2.70) dT dU =P =− dt dt (2.81) d (T + U ) = 0 dt (2.82) bzw.: Aus der Bilanzgleichung für die kinetische Energie wird der (mechanische) Energieerhaltungssatz T + U = 12 m|ṙ|2 + U (r) = E = const. (2.83) 74 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Die Größe U heißt potentielle Energie oder auch einfach Potential, und E ist als Summe aus kinetischer und potentieller Energie die (mechanische) Gesamtenergie des Massenpunkts. Der Energieerhaltungssatz (2.83) für konservative Systeme stellt offensichtlich ein (nicht triviales) Bewegungsintegral dar. Wir wollen die Frage beantworten, wann eine Kraft F(r) ein Potential besitzt. Aus F = −∇U (r) (2.84) folgt wegen ∇ × ∇U = 0, (2.85) daß die Rotation der Kraft verschwinden muß oder, wie man auch sagt, das Kraftfeld wirbelfrei sein muß, ∇×F=0 (2.86) bzw. in Komponentenschreibweise: ikl ∂Fl = 0. ∂xk (2.87) Man beachte, daß ∂Fl (2.88) ∂xk gilt. Die Wirbelfreiheit des Kraftfeldes kann also als notwendige Bedingung dafür angesehen werden, daß das Kraftfeld ein Potential besitzt. Aus (2.84) folgt ferner, daß das Wegintegral der Kraft, d.h. die geleistete Arbeit der Kraft längs der Kurve C zwischen den Punkten P1 und P2 , unabhängig von der Art der durchlaufenen Kurve ist und nur vom Anfangs- und Endpunkt abhängt: P2 P2 P2 F·dr = − ∇U ·dr = − dU = U1 − U2 (2.89) ∇ × F = gi ikl P1 P1 P1 [Ui = U (Pi)]. Wird eine geschlossene Kurve (C) durchlaufen, so daß Anfangs- und Endpunkt zusammenfallen, dann gilt offensichtlich F·dr = F·dr = 0. (2.90) C 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 75 F ϕ dr C P1 = P2 Das Wegintegral der Kraft längs einer beliebigen, geschlossenen Kurve verschwindet also. Nun gilt (für einfach zusammenhängende Gebiete) der Stokessche Satz, F·dr = dA·(∇ × F), (2.91) C A wobei A eine beliebige, von C berandete Fläche bedeutet. Der StokesdA A C sche Satz impliziert, daß Unabhängigkeit des Wegintegrals der Kraft von der Art der durchlaufenen Kurve äquivalent zur Wirbelfreiheit der Kraft ist. Damit kann die Wirbelfreiheit der Kraft als notwendige und hinreichende Bedingung für die Existenz eines Potentials angesehen werden. Ist (2.86) erfüllt, so folgt aus dem Stokesschen Satz (2.91), daß (2.90) gilt. Damit kann aber eine (bis auf eine unwesentliche Konstante) eindeutige Funktion U (r) definiert werden, P U (r) = U (r0) − F(r)·dr, (2.92) P0 76 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK z C P= (x, y, z) C P0 = (x0, y0, z0) y x so daß ∇U (r) = −F(r) (2.93) gilt [P0 = r0 , P = r]. Wegen der Wegunabhängigkeit des Integrals in (2.92) kann die Integration beispielsweise längs C in der Abbildung ausgeführt werden. x U (x, y, z) = U (x0, y0, z0 ) − dx Fx(x, y0, z0 ) − x0 y y0 dy Fy (x, y , z0) − z z0 dz Fz (x, y, z ) (2.94) Differentiation nach x ergibt ∂U = −Fx(x, y0, z0) ∂x y z ∂Fy (x,y ,z0 ) ∂Fz (x,y,z ) − dy − dz ∂x ∂x y0 z0 ∂Fx (x,y ,z0 ) ∂y ∂Fx (x,y,z ) ∂z = −Fx(x, y0, z0) − [Fx (x, y, z0) − Fx(x, y0, z0 ) + Fx(x, y, z) − Fx(x, y, z0)] = − Fx(x, y, z), (2.95) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 77 und analog findet man für die beiden übrigen Ableitungen ∂U = −Fy (x, y, z), ∂y ∂U = −Fz (x, y, z), ∂z (2.96) womit (2.93) bewiesen ist. Die Antwort auf die Frage, ob ∇ × F = 0 gilt, beantwortet also die Frage, ob ein Potential existiert. Ist ∇ × F = 0, dann existiert ein Potential und kann gemäß (2.92) berechnet werden. Das Potential ist nur bis auf eine additive Konstante bestimmt. Deswegen kann das Potential in einem willkürlich gewählten Bezugspunkt P0 Null gesetzt werden, (2.97) U (r0) = 0 und folglich U (r) = − P P0 F(r )·dr = F(r)·dr. (2.98) P P0 Häufig wird P0 mit dem unendlich fernen Punkt identifiziert. Aus (2.98) erschließt sich folgende physikalische Bedeutung des Potentials U (r) eines Massenpunkts im Kraftfeld F(r). Der Wert des Potentials in einem Punkt P = r ist gleich der Arbeit, die gegen die Kraft F geleistet werden muß, wenn der Massenpunkt vom Bezugspunkt P0 in den Punkt P verschoben wird. Alternativ ist es die Arbeit, die die Kraft F bei einer Verschiebung des Massenpunkts vom Punkt P in den Bezugspunkt P0 leistet. Man spricht im Zusammenhang mit U (r) auch anschaulich von einem Potentialgebirge“. Für Flächen gleichen Potentials, die ” Äquipotentialflächen, U = const. ; dU = 0, (2.99) ∇U ·dr = 0 ; dr ⊥ ∇U. (2.100) gilt Da dr in einer Äquipotentialfläche liegt, steht der Gradient ∇U senkrecht auf der Äquipotentialfläche, so daß es keine Kraftkomponente in 78 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK dieser Fläche gibt. Auf Äquipotentialflächen bewegt sich der Massenpunkt also kräftefrei. Der stärkste Anstieg des Potentials ist offensichtlich in Richtung des Gradienten zu verzeichnen, dr ∇U ; dU = |∇U ||dr|, (2.101) d.h., die Kraft F steht senkrecht auf der jeweiligen Äquipotentialfläche und zeigt in Richtung des stärksten Potentialgefälles. Falls die Kraft F immer senkrecht auf der Geschwindigkeit ṙ steht, verschwindet die Leistung, F ⊥ ṙ ; P = F· ṙ = 0, (2.102) und aus der Bilanzgleichung (2.70) für die kinetische Energie wird ein Erhaltungssatz für die kinetische Energie, dT = 0, dt (2.103) T = const. (2.104) bzw. In diesem Fall ist also die potentielle Energie identisch gleich Null, und das Kraftfeld kann nicht als Gradient eines skalaren (Potential-)Feldes dargestellt werden. Ein typisches Beispiel ist die Lorentzkraft auf eine elektrische Ladung q im Magnetfeld B, F = q ṙ × B ; F· ṙ = 0. (2.105) Nichtkonservative Kräfte Betrachten wir ein explizit zeitabhängiges Kraftfeld F = F(r, t). (2.106) Ist das Kraftfeld zu jedem Zeitpunkt wirbelfrei, ∇ × F(r, t) = 0. (2.107) dann kann ein solches Kraftfeld natürlich auch als Gradient einer skalaren Funktion dargestellt werden, d.h., es kann ein explizit zeitabhängiges Potential U (r, t) eingeführt werden, F(r, t) = −∇U (r, t). (2.108) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 79 Ein solches Kraftfeld ist nicht konservativ, und es gilt kein (mechanischer) Energieerhaltungssatz, wie die folgende Rechnung zeigt: dT = F· ṙ = −∇U · ṙ dt ∂U dxi ∂U ∂U + − , =− i ∂t ∂t ∂x dt − dU dt d ∂U (T + U ) = dt ∂t (2.109) (2.110) Die zeitliche Änderung der (mechanischen) Energie als Summe aus kinetischer Energie und explizit zeitabhängigem Potential ist bestimmt durch die partielle Zeitableitung dieses Potentials. Dieser Sachverhalt bringt zum Ausdruck, daß dem Massenpunkt durch eine zeitlich kontrollierte (äußere) Krafteinwirkung in definierter Weise Energie zugeführt bzw. entzogen werden kann. Je nachdem ob das Potential zeitunabhängig oder zeitabhängig ist, spricht man auch von einem stationären bzw. nichtstationären Potentialfeld. Kräfte, die aus einem Potential ableitbar sind, werden auch Potentialkräfte genannt. Kräfte, die die Energie eines Massenpunkts nicht erhalten, werden auch als nichtkonservative Kräfte bezeichnet. Dazu gehören i. allg. Kräfte, die explizit von der Zeit und/oder der Geschwindigkeit abhängen (also auch zeitabhängige Potentialkräfte) oder rein ortsabhängige Kräfte, die nicht wirbelfrei sind. Ein Beispiel für ein nicht wirbelfreies Kraftfeld wäre ein Kraftfeld, dessen Feldlinien konzentrische Kreise sind. Es ist klar, daß die längs eines solchen Kreises geleistete Arbeit nicht verschwinden kann, da F · dr längs des Kreises überall dasselbe Vorzeichen hat. Für nichtkonservative Kräfte gilt keine Erhaltung der mechanischen Energie E = T + U . Bei Bewegungen, die mit solchen Kräften zusammenhängen, spielen nicht nur rein mechanische Energieformen des betrachteten Systems eine Rolle, sondern auch andere Energieformen (z.B. Wärme) sowie Wechselwirkungen des betrachteten Systems mit seiner Umgebung. Nichtkonservative Kräfte, 80 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK die generell zu einem Energieverlust führen, heißen auch dissipative Kräfte. Im allgemeinen unterliegt ein Massenpunkt sowohl konservativen als auch nichtkonservativen Kräften, F = F(cons) (r) + F(ncons) (r, ṙ, t), (2.111) F(cons) (r) = −∇U (r), (2.112) und die mechanische Energiebilanz kann in der allgemeinen Form d (T + U ) = P (ncons) = F(ncons) · ṙ dt (2.113) geschrieben werden. In Worten ausgedrückt, die zeitliche Änderung der mechanischen Energie als Summe aus kinetischer Energie und Potential der konservativen Kräfte ist gleich der Leistung der nichtkonservativen Kräfte. Sind alle Kräfte konservativ, bleibt die mechanische Energie erhalten. Insgesamt geht natürlich auch bei Anwesenheit nichtkonservativer Kräfte keine Energie verloren oder wird aus dem Nichts erzeugt. Die Erfahrung besagt, daß stets ein allgemeiner Energieerhaltungssatz existiert, der viel umfassender als der mechanische ist, und die Erhaltung der Summe aller Energieformen in einem abgeschlossenen System ausdrückt. Einfache Beispiele Schwerkraft Die Kraft im oberflächennahen, homogenen Gravitationsfeld der Erde F = −mg ez (2.114) (kartesisches Koordinatensystem mit vertikal nach oben gerichteter zAchse) ist konservativ. Sie kann aus dem Potential z U (x, y, z) = dz mg = mgz (2.115) 0 hergeleitet werden, und folglich gilt für einen Massenpunkt unter dem Einfluß der Schwerkraft der Energieerhaltungssatz 2 1 2 mv + mgz = E = const. (2.116) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 81 mit v 2 = ẋ2 + ẏ 2 + ż 2 . (2.117) Bewegt sich der Massenpunkt in der Luft oder in einem anderen Medium, so wirkt auf ihn außer der Schwerkraft noch eine durch das Medium bedingte Reibungskraft F(diss) , die zum Ausdruck bringt, daß das Medium der Bewegung des Massenpunkts Widerstand leistet und versucht die Bewegung abzubremsen – die Bewegung also gedämpft ist. In vielen Fällen kann diese dissipative Kraft proportional zur Geschwindigkeit und entgegengesetzt zu ihr gerichtet angenommen werden, F(diss) = −α ṙ (α > 0) (2.118) (α - Reibungs- oder Dämpfungskoeffizient). In diesem Fall gilt für die mechanische Energie (2.119) E = 12 mv 2 + mgz des Massenpunkts die Bilanzgleichung dE = −αv 2 dt (2.120) wie man sich mit Hilfe der allgemeinen Bilanzgleichung (2.113) leicht überzeugen kann. Die mechanische Energie des Massenpunkts nimmt also wegen der Reibung ständig ab. Diese Energie wird von den Teilchen des umgebenden Mediums aufgenommen, so daß insgesamt keine Energie verlorengeht. Linearer (harmonischer) Oszillator Für kleine Auslenkungen hat eine Feder die Eigenschaft, daß die rücktreibende Kraft proportional zur Auslenkung ist. Im Falle einer eindimensionalen Bewegung längs der x-Achse (mit der Gleichgewichtslage bei x = 0) haben wir also F = −kx ex , (2.121) (k - Federkonstante, k > 0) und folglich lautet die Bewegungsgleichung (in x-Richtung) eines mit der Feder verbundenen Massenpunkts mẍ = −kx (2.122) 82 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK bzw. ẍ + ω 2 x = 0 (2.123) (ω 2 = k/m), d.h. die Differentialgleichung einer harmonischen Schwingung (Abschnitt 1.3.3.1). Die Kraft (2.121) ist natürlich konservativ, m F x 0 x dx kx = 12 kx2, (2.124) + 12 kx2 = E = const. (2.125) U (x) = 0 so daß Energieerhaltung gilt, 2 1 2 mẋ In der Praxis wird die Bewegung des Massenpunkts (auf Grund von innerer Reibung der Feder) nach einer gewissen Zeit zur Ruhe kommen. Die Feder nimmt Energie auf und erwärmt sich dabei. Der Effekt der Dämpfung kann in vielen Fällen auch hier wieder durch eine dissipative Kraft bechrieben werden, die proportional zur Geschwindigkeit des Massenpunkts und entgegengesetzt zu ihr gerichtet ist, F(diss) = −αẋ ex (α > 0) , (2.126) so daß die Bewegungsgleichung eines gedämpften linearen Oszillators mẍ = −kx − αẋ (2.127) lautet. Entsprechend (2.113) gilt dann für die mechanische Energie des Massenpunkts, E = 12 mẋ2 + 12 kx2, (2.128) die Bilanzgleichung dE = −αẋ2. dt (2.129) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 83 Die Ergebnisse können leicht auf einen dreidimensionalen, isotropen Oszillator ausgedehnt werden. Von einem solchen (im Sinne eines ungedämpften Oszillators) spricht man, wenn ein Massenpunkt (z.B. ein Atom in einem Kristallgitter) bei einer Auslenkung aus der Ruhelage (bei r = 0) mit einer richtungsunabhängigen (d.h. isotropen), dem Betrag der Auslenkung proportionalen Kraft zurückgezogen wird, F = −kr ; mr̈ = −kr. (2.130) Man überzeugt sich leicht, daß die Kraft (2.130) ebenfalls konservativ ist, (2.131) U (r) = 12 k|r|2 = 12 kr2 (r - Kugelkoordinatenradius). 2.2.4 Drehimpulsbilanz Wir multiplizieren die vektorielle Bewegungsgleichung (2.57) von links vektoriell mit r, r × | mr̈ = F , (2.132) und erhalten mr × r̈ = r × F. (2.133) Wegen d (r × ṙ) = ṙ × ṙ +r × r̈ dt 0 folgt also die Bilanzgleichung (2.134) dL =M dt (2.135) L = mr × ṙ = r × p, (2.136) M=r×F (2.137) für den Drehimpuls wobei die Größe 84 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK auf der rechten Seite der Gleichung (2.135) als Drehmonent bezeichnet wird. In Worten: Die zeitliche Änderung des Drehimpulses ist gleich dem einwirkenden (Gesamt-)Drehmonent. Ist speziell M = 0, dann gilt Drehimpulserhaltung, dL =0 dt ; L = const., (2.138) und somit stellt mr × ṙ = const. (2.139) ein (vektorielles) Bewegungsintegral dar. M = 0 gilt natürlich immer für den trivialen Fall F = 0. Dann liefert der Drehimpulserhaltungssatz offensichtlich keine neuen Erkenntnisse, die über den Impulserhaltungssatz hinausgehen. Für F = 0 ist M = 0 erfüllt, falls F und r parallel bzw. antiparallel gerichtet sind, M=0 = F ↑↑ bzw. ↑↓ r. (2.140) Derartige Kräfte heißen Zentralkräfte. Ihre allgemeinste Form ist F = f (r, ṙ, t) r . |r| (2.141) Drehimpulserhaltung gilt also genau dann, wenn sich der Massenpunkt unter dem Einfluß einer Zentralkraft bewegt. Eine Konsequenz des Drehimpulserhaltungssatzes ist der Flächensatz. Das (vektorielle) Flächenelement dA, das von r und dr aufgespannt wird, ist bekanntlich dA = 12 r × dr (2.142) (man beachte die geometrische Bedeutung des Vektorprodukts), und folglich gilt für die Flächengeschwindigkeit 1 dA 1 = 2 r × ṙ = L. dt 2m (2.143) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 85 dr dA r In Worten ausgedrückt, die zeitliche Änderung der Flächengeschwindigkeit eines Massenpunkts ist proportional zu seinem Drehimpuls. Konstanter Drehimpuls bedeutet also eine konstante Flächengeschwindigkeit, dA L = const. ; = const. (2.144) dt Dieser Sachverhalt – auch als Flächensatz bezeichnet – kann auch wie folgt formuliert werden. Unter der Wirkung einer Zentralkraft ist die Flächengeschwindigkeit eines Massenpunkts konstant, d.h., (a) die Bewegung erfolgt in einer Ebene senkrecht zum Drehimpuls, und (b) der Radiusvektor (auch Fahrstrahl genannt) überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Der Drehimpulserhaltungssatz (Flächensatz) ist eine Vektorgleichung und enthält demzufolge drei Integrationskonstanten. Zwei von diesen bestimmen die Bahnebene, d.h. die Richtung der Normalen, die dritte legt den Betrag der Flächengeschwindigkeit in der Bahnebene fest. Wählen wir die xy-Ebene eines kartesischen Koordinatensystems als die Bahnebene, so lautet wegen L = m(xẏ − y ẋ)ez (2.145) die Gleichung, die den Betrag der Flächengeschwindigkeit festlegt, xẏ − y ẋ = const. Verwenden wir in der xy-Ebene Polarkoordinaten, (2.146) 86 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK L ϕ r y x r = e , ṙ = ˙ e + ϕ̇ eϕ , (2.147) so gilt L = m2 ϕ̇ ez , (2.148) und der Betrag der Flächengeschwindigkeit wird über die Gleichung 2 ϕ̇ = const. (2.149) festgelegt. Anmerkungen – Unter Zentralkräften im engeren Sinne versteht man häufig solche Zentralkräfte, deren Betrag nur vom Abstand r = |r| vom Zentrum abhängt, r F = f (r) . (2.150) r Ein solches Zentralkraftfeld ist konservativ und besitzt das Potential r U (r) = − dr f (r). (2.151) r0 Speziell für α (2.152) r2 (wie Gravitationskraft und Coulomb-Kraft) lautet das Potential [U (∞) = 0] α (2.153) U (r) = − . r Für die Bewegung eines Massenpunkts unter dem Einfluß einer Zentralkraft im engeren Sinne gilt also neben dem Drehimpulserhaltungssatz auch der Energieerhaltungssatz. f (r) = − 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 87 – Wenn die auf einen Massenpunkt wirkende Kraft immer parallel oder antiparallel zu einer Geraden ist, die durch eine feste Achse geht, spricht man von einer Axialkraft. In diesem Fall gilt speziell Drehimpulserhaltung bezüglich der Projektion der Bahn auf eine zu der Achse senkrechten Ebene. 01 1010 10 1010 1010 F 1010 r 1010 y 0 1 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 11111111111111111111 00000000000000000000 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 000000000 111111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 000000000 111111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 000000000 111111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 x11111111 00000000 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 000000000 111111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 000000000 111111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 00000000 11111111 000000000 111111111 00000000 11111111 00000000 11111111 z Die Achse sei die z-Achse eines kartesischen Koordinatensystems, und die Gerade liege immer in der z-Ebene (ebene Polarkoordinaten in der xy-Ebene). Mit (2.154) r = e + z ez und F = F e + Fz ez (2.155) M = (zF − Fz ) eϕ . (2.156) folgt Das heißt, das Drehmonent besitzt keine z-Komponente, Mz = 0, (2.157) so daß die z-Komponente des Drehimpulses erhalten bleibt, dLz =0 dt ; Lz = const. (2.158) Die Gleichung xẏ − y ẋ = const. (2.159) 88 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK bzw. 2 ϕ̇ = const. (2.160) stellt also im Falle von Axialkräften ein erstes Integral der Bewegungsgleichungen dar. 2.2.5 Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen Wie bereits bemerkt, können Erhaltungssätze vorteilhaft bei der Integration der Bewegungsgleichungen eingesetzt werden. Für den Fall eines (einzigen) Massenpunkts ist Impulserhaltung von geringem Interesse, da dies bekanntlich bedeutet, daß der Massenpunkt eine geradlinig gleichförmige Bewegung ausführt (oder ruht). Die interessanten Fälle sind naturgemäß diejenigen, bei denen sich der Massenpunkt unter dem Einfluß von Kräften bewegt, mr̈ = F ≡ 0. (2.161) Energieerhaltung und Drehimpulserhaltung ermöglichen dann ein allgemeines Integrationsverfahren zur vollständigen Lösung der Bewegungsgleichungen. Wir wollen zunächst eine eindimensionale Bewegung längs einer definierten Achse, der x-Achse, betrachten. Da Ortsvektor, Geschwindigkeitsvektor und Kraftvektor nur x-Komponenten besitzen sollen, gilt offensichtlich L = 0, was gerade Ausdruck der Tatsache ist, daß es sich um eine geradlinige Bewegung handelt. Ist die Kraft konservativ, F = F (x) ex , (2.162) dann gilt Energieerhaltung 2 1 2 mẋ + U (x) = E = const. mit U (x) = − x dx F (x). (2.163) (2.164) x0 Aus (2.163) folgt zunächst ẋ2 = 2 [E − U (x)] m (2.165) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS dx 2 ẋ = = [E − U (x)] . dt m Separation der Variablen liefert dann 89 bzw. dt = dx 2 [E − U (x)] /m (2.166) (2.167) und nach Integration: t= dx + const. 2 [E − U (x)] /m (2.168) Die Energie und die Integrationskonstante in (2.168) spielen die Rolle der beiden freien Konstanten in der Lösung der Bewegungsgleichung mẍ = F (x). Die Gleichung (2.168) bestimmt t(x), deren Umkehrung liefert x(t). Die Bestimmung der Umkehrfunktion kann in der Praxis manchmal etwas kompliziert sein, so daß man unter Umständen durch direkte Integration der Bewegungsgleichung schneller zum Ziel kommt. Wegen ẋ2 ≥ 0 muß gemäß (2.165) E − U (x) ≥ 0 gelten, d.h., die Bewegung kann nur in solchen Gebieten verlaufen, wo U (x) ≤ E (2.169) gilt. So sind die erlaubten Bereiche in der Abbildung x1 ≤ x ≤ x2 , x3 ≤ x. (2.170) Die Punkte, in denen die potentielle Energie gleich der Gesamtenergie ist, U (x) = E, (2.171) bestimmen die Grenzen der Bewegung. In diesen Umkehrpunkten kehrt die Geschwindigkeit gerade ihr Vorzeichen um. Wenn das für die Bewegung zulässige Gebiet auf beiden Seiten durch Umkehrpunkte begrenzt ist, verläuft die Bewegung in einem endlichen Gebiet – die Bewegung ist finit. Wenn das Gebiet nicht oder nur auf einer Seite 90 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK begrenzt ist, wird die Bewegung infinit und der Massenpunkt läuft ins Unendliche. In unserem Beispiel (Abbildung) kann der Massenpunkt für das gegebene (feste) E zwischen x1 und x2 eine periodische Bewegung (i. allg. natürlich keine harmonische Schwingung) ausführen und für x ≥ x3 [falls dort immer U (x) < E ist] eine Bewegung, bei der der Massenpunkt aus dem Unendlichen kommt, bei x = x3 reflektiert wird (der Potentialwall zwischen x3 und x2 hindert ihn daran, das innere Gebiet zu erreichen) und ins Unendliche zurückläuft. Mögliche Ruhelagen des Massenpunkts sind die Stellen, wo keine Kraft auf ihn wirkt (sofern sie energetisch erreichbar sind). Dies sind offensichtlich die Punkte mit dU = 0, dx (2.172) also die Extrema des Potentials. In einem Maximum liegt der Massenpunkt labil. Bei einer kleinen Abweichung unterliegt er einer Kraft in Richtung des Potentialabfalls und gleitet den Potentialberg hinab“. ” Demgegenüber liegt der Massenpunkt in einem Minimum des Potentials stabil. Bei einer Abweichung wird er durch die wirkende Kraft immer wieder in die Ausgangslage zurückgezogen. Wenden wir uns nun der dreidimensionalen Bewegung zu. Gelten in diesem Fall sowohl Drehimpulserhaltung als auch Energieerhaltung, U E x1 x2 x3 x 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 91 so ist die Kraft eine konservative Zentralkraft, r F = f (r) , r (2.173) und die (vektorielle) Bewegungsgleichung lautet r mr̈ = f (r) . r (2.174) Das Potential kann gemäß U (r) = − r dr f (r) (2.175) r0 berechnet werden [siehe (2.150) und (2.151)]. Wie wir wissen, erfolgt im Falle L=const. die Bewegung in einer Ebene senkrecht zu L, die wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit als xy-Ebene eines kartesischen z L ϕ y r x Koordinatensystems wählen können (L parallel bzw. antiparallel zur z-Achse). In dieser xy-Ebene wählen wir zweckmäßigerweise Polarkoordinaten, r = e , ṙ = ˙ e + ϕ̇ eϕ , (2.176) und die Erhaltungssätze liefern m2 ϕ̇ = L, 2 2 2 1 m ˙ + ϕ̇ + U () = E 2 (2.177) (2.178) 92 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK (Lz ≡ L). Aus (2.177) folgt ϕ̇ = L , m2 (2.179) so daß ϕ̇ in (2.178) eliminiert werden kann, 2 1 2 m˙ + Ueff () = E, (2.180) und das effektive Potential L2 Ueff () = U () + 2m2 (2.181) lautet. Die Gleichung (2.180) hat die gleiche Form wie die Gleichung (2.163) für die eindimensionale Bewegung, so daß völlig analog zu (2.165) – (2.168) vorgegangen werden kann: 2 [E − Ueff ()] , m 2 d = [E − Ueff ()] , ˙ = dt m d , dt = 2 [E − Ueff ()] /m ˙2 = t= d + const. 2 [E − Ueff ()] /m (2.182) (2.183) (2.184) (2.185) Damit ist t() bestimmt. Bildung der Umkehrfunktion liefert dann (t). Aus (t) kann dann auch ϕ(t) bestimmt werden. Dazu fassen wir als Funktion [ϕ(t)] auf und bemerken, daß wegen (2.179) d d dϕ d L = = dt dϕ dt dϕ m2 (2.186) gilt, woraus mit (2.183) d m2 d m2 = = dϕ L dt L 2 [E − Ueff ()] m (2.187) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 93 folgt. Separation der Variablen liefert dϕ = L d , m 2 2 [E − Ueff ()] /m (2.188) woraus sich nach Integration L ϕ= m 2 d 2 [E − Ueff ()] /m + const. (2.189) ergibt. Damit ist ϕ() bestimmt und mit (t) auch ϕ(t). Die Gleichungen (2.185) und (2.189) lösen die gestellte Aufgabe – Integration der Bewegungsgleichungen – in allgemeiner Form. Die Bahngleichung (2.189) bestimmt als Beziehung zwischen und ϕ die geometrische Form der Bahn. Die Gleichung (2.185) bestimmt in impliziter Form die Zeitabhängigkeit des Abstands des Massenpunkts vom Zentrum. Aus (2.179) ist ersichtlich, daß sich der Winkel ϕ stets monoton mit der Zeit ändert, da ϕ̇ niemals das Vorzeichen wechselt. Falls L = 0 ist, d.h. ϕ̇ = 0 und somit ϕ = const., liegt der Spezialfall einer eindimensionalen Bewegung vor. Die obige Rechnung zeigte, daß der Radialteil der Bewegung immer als eindimensionale Bewegung in einem Feld mit dem effektiven Potential (2.181) aufgefaßt werden kann. Die zum Potential U () hinzutretende Größe L2/(2m2) wird manchmal auch Zentrifugalenergie genannt. Die -Werte, bei denen ˙ = 0 ; Ueff () = U () + L2 =E 2m2 (2.190) ist, bestimmen die Grenzen des Bewegungsbereichs. Obwohl an den durch (2.190) definierten Punkten die radiale Geschwindigkeit ˙ gleich Null wird, bedeutet dies im Gegensatz zu einer echten eindimensionalen Bewegung aber nicht, daß der Massenpunkt anhält, da die Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ an diesen Punkten i. allg. nicht verschwindet. Die Gleichung ˙ = 0 bestimmt die Umkehrpunkte der Bahn; in ihnen hat die Funktion (t) ein Minimum min oder Maximum max . 94 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Wenn der zulässige -Bereich, Ueff () ≤ E (2.191) nur durch die eine Bedingung ≥ min (2.192) eingeschränkt wird, ist die Bewegung des Massenpunkts infinit. Der Massenpunkt kommt beispielsweise aus dem Unendlichen und verschwindet wieder im Unendlichen. Liegen dagegen die zulässigen Werte zwischen zwei endlichen Grenzen min und max , so ist die Bewegung finit, und die Bahn verläuft vollständig in dem ringförmigen Gebiet, das durch die Kreise = min und = max begrenzt wird. Die Bahn muß dabei keineswegs periodisch und somit geschlossen sein. max min Δϕ Während sich von max bis min und wieder bis max ändert, dreht sich der Radiusvektor um den Winkel Δϕ., für den gemäß (2.189) d L max (2.193) Δϕ = 2 m min 2 2 [E − Ueff ()] /m folgt. Die Bahn bildet nur dann eine geschlossene Kurve, wenn dieser Winkel ein rationaler Teil von 2π ist, d.h. Δϕ = 2π m n (2.194) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 95 (m, n ganz, teilerfremd). Nach n-maliger Wiederholung der zugehörigen Zeitperiode fällt der Radiusvektor des Massenpunkts mit seinem Ausgangswert wieder zusammen, und die Bahnkurve schließt sich. Solche Fälle sind jedoch Ausnahmen, und bei beliebigem Potential U () wird der Winkel Δϕ kein rationaler Teil von 2π sein. Darum ist die Bahn bei finiter Bewegung i. allg. nicht geschlossen. Sie läuft unendlich oft durch die beiden Umkehrpunkte und überstreicht in unendlich langer Zeit die gesamte Ringfläche zwischen den beiden begrenzenden Kreisen. Es existieren nur zwei Typen von Zentralfeldern, in denen alle Bahnen finiter Bewegung geschlossen sind, nämlich U () ∼ 1 und U () ∼ 2 . (2.195) In den Umkehrpunkten min und max wechselt die Quadratwurzel 2[E −Ueff ()]/m in (2.183) für ˙ das Vorzeichen, 2 [E − Ueff ()] . (2.196) ˙ = ± m Positives Vorzeichen: nimmt mit wachsender Zeit zu; der Massenpunkt bewegt sich in Richtung maximaler Entfernung vom Zentrum. Negatives Vorzeichen: nimmt mit wachsender Zeit ab; der Massenpunkt bewegt sich in Richtung minimaler Entfernung vom Zentrum. Wenn man der Richtung des Radiusvektors eines Umkehrpunkts mit beispielsweise maximaler Entfernung vom Ursprung den Winkel ϕ(max) zuordnet, so gilt gemäß (2.189) d L ϕ − ϕ(max) = ∓ . (2.197) m max 2 2 [E − Ueff ( )] /m Die Punkte mit gleichen -Werten auf den in diesem Umkehrpunkt aneinander grenzenden Bahnabschnitten unterscheiden sich nur durch das Vorzeichen von ϕ − ϕ(max). Die Bahn ist also symmetrisch bezüglich der erwähnten Richtung. Verfolgen wir die Bahn ausgehend von dem gewählten Punkt maximaler Entfernung vom Zentrum, so gelangen wir zum nächsten Umkehrpunkt minimaler Entfernung vom Zentrum und durchlaufen dann einen symmetrisch zum ersten liegenden Bahnabschnitt bis zum nächsten Umkehrpunkt maximaler Entfernung vom 96 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK y |r> | = |r< | rmax r> δϕ δϕ r< x Zentrum. Das läßt sich in beiden Richtungen beliebig oft wiederholen, und man sieht, daß die Kenntnis einer Halbschleife (von min bis zum nächsten max ) genügt, um die ganze Bahn zu konstruieren. Ähnliches gilt auch für infinite Bahnen, die aus zwei symmetrischen Ästen bestehen, die vom Umkehrpunkt (minimaler Entfernung vom Zentrum) ins Unendliche laufen. Die Zentrifugalenergie L2/(2m2) (L= 0), die zur potentiellen Energie U () hinzutritt und für → 0 wie −2 gegen ∞ geht, führt gewöhnlich dazu, daß ein bewegter Massenpunkt niemals zum Zentrum eines anziehenden Kraftfelds gelangen kann. Der Massenpunkt kann nur dann in das Zentrum fallen“, wenn die potentielle Energie für → 0 ” genügend schnell gegen −∞ geht. Aus der Ungleichung L2 E − U () − ≥0 2m2 (2.198) L2 U () + ≤ E2 2m (2.199) bzw. 2 folgt, daß nur dann Null werden kann, wenn die Bedingung L2 2 U ()→0 ≤ − 2m (2.200) erfüllt ist. Mit anderen Worten, U () muß entweder wie −α/2 mit α ≥ L2 /(2m) oder wie −1/n mit n > 2 gegen −∞ streben. 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 97 2.2.6 Spezielle Probleme 2.2.6.1 Freier Fall im inhomogenen Schwerefeld der Erde Wir betrachten zwei Körper (Massenpunkte) der Massen m1 und m2 an den Orten r1 und r2, die gravitativ miteinander wechselwirken. Die Kraft auf den Körper der Masse m1 lautet F12 = − γm1m2 r1 −r2 |r1 −r2 |2 |r1 −r2| (2.201) und analog ist F12 = −F21 . (2.202) Die Gravitationskonstante γ in (2.201) beträgt γ = 6.67 · 10−11 kg−1m3 s−2. (2.203) Wir wollen annehmen, daß m2 hinreichend groß ist, m2 m1 , so daß von der Bewegung des Körpers mit der großen Masse abgesehen werden kann. Ein solcher Fall liegt offensichtlich für die Bewegung eines irdischen Körpers der Masse m1 =m im Schwerefeld der Erde, m2 =me , vor. Legen wir den Koordinatenursprung in den Mittelpunkt der (als Kugel angenommenen) Erde, r1 = r, r2 = 0, so lautet die Bewegungsgleichung für den kleinen Körper γmem r . (2.204) mr̈ = F = − 2 r r Für verschwindenden Drehimpuls liefert (2.204) bekanntlich eine geradlinige Bewegung, d.h. den senkrechten Fall bzw. senkrechten Wurf. Die Bewegung erfolge (gemäß Abbildung) längs der z-Achse, so daß die Bewegungsgleichung γme m (2.205) mz̈ = − 2 z verbleibt. Einsetzen von z=R ; z̈(R) = −g (2.206) in (2.205) liefert den Zusammenhang zwischen Fallbeschleunigung, Gravitationskonstante, Erdmasse und Erdradius, γme = gR2 , (2.207) 98 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK so daß die Bewegungsgleichung (2.205) auch in der Form gR2 mz̈ = −m 2 z (2.208) geschrieben werden kann. Gemäß (2.153) lautet das Potential gR2 U (z) = −m , z (2.209) und es gilt Energieerhaltung: 1 2 2 ż E gR2 = = const. − z m (2.210) Wir legen die Konstante über die Fallbedingung z = z0 , ż = 0 (2.211) fest, 1 2 ż 2 − gR2 gR2 =− z z0 (2.212) bzw. ż = − 2gR z −1 − z0−1 z z0 me R (2.213) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 99 (z ≤ z0 ), wobei wegen ż ≤ 0 (Fall) die Wurzel mit dem negativen Vorzeichen zu nehmen ist. Integration mittels Separation der Variablen liefert dann t als Funktion von z, d.h. für den senkrechten Fall 1 t = −√ 2gR z z0 dz z −1 − z0−1 (2.214) (t = 0, z = z0 ). Ohne das Integral in (2.214) explizit auszurechnen, können bereits eine Reihe von Aussagen auf der Basis von (2.213) getroffen werden. Geschwindigkeit, mit der ein aus dem Unendlichen kommenden Körper auf der Erde auftrifft. Wir setzen in (2.213) z0 = ∞ z = R, (2.215) und erhalten für die Geschwindigkeit vR an der Erdoberfläche vR = 2gR (= 11.2 km s−1) (2.216) (2. kosmische Geschwindigkeit, siehe auch Abschnitt 2.2.6.6). Einfluß der Abnahme der Erdbeschleunigung mit wachsender Höhe h auf die Geschwindigkeit, mit der ein aus h fallender Körper auf der Erde auftrifft. Wir setzen in (2.213) z = R, z0 = R + h (2.217) und erhalten für die Geschwindigkeit vR (h) an der Erdoberfläche in Abhängigkeit von h vR (h) = 2gR 1− 1 . 1 + h/R (2.218) 100 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Wir entwickeln für h/R 1, 1− 1 = 1 + h/R 1/2 2 h h 1− 1− + ∓ ··· R R 1/2 1/2 h h 1− ± ··· = R R 1/2 h h 1− ≈ R 2R und erhalten h vR (h) ≈ 2gh 1 − , 2R (2.219) (2.220) wobei der zweite Term in der runden Klammer die erste Korrektur des für das homogene Schwerefeld bekannten Resultats darstellt. Für h/R 1 geht (2.208) mit z = R + z in die Differentialgleichung gR2 g z (2.221) =− ≈ −g 1 − 2 z̈ = − (R + z )2 (1 + z /R)2 R bzw. g z = −g (2.222) R über, die sich in einfacher Weise direkt integrieren läßt. Mit dem Standardansatz z ∼ eλt für die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung und der Konstanten R/2 als spezieller Lösung der inhomogenen Gleichung erhalten wir (2.223) z = Aeλt + Be−λt + 12 R z̈ − 2 g λ= 2 , R mit (2.224) woraus mit der Anfangsbedingung t = 0, z = h, ż = 0 (2.225) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 101 für die Konstanten A und B folgt, d.h. h = A + B + 12 R 0 = λ(A − B) (2.226) (2.227) 1R h B=A=− 1−2 . 22 R (2.228) Wir setzen (2.228) in (2.223) ein und erhalten h R g 2 z =z−R =− 1−2 cosh 2 t −1 . 2 R R (2.229) Wir sehen, daß auf Grund der Inhomogenit ät des Schwerefelds die2 durchfallene Strecke als Funktion von cosh( 2gt2 /R) schneller als t anwächst. 2.2.6.2 Freier Fall mit Reibung im homogenen Schwerefeld der Erde Bekanntlich setzt Luft oder ein anderes Gas (bzw. Flüssigkeit) einem bewegten Körper einen gewissen Widerstand entgegen. Diese der Geschwindigkeit des Körpers entgegengesetzt gerichtete (dissipative) Kraft hängt erfahrungsgemäß von der Geschwindigkeit und der Form des Körpers sowie vom Medium ab, in dem die Bewegung erfolgt. Die (theoretische) Bestimmung der Widerstandskraft ist i. allg. ein recht kompliziertes Problem der Hydrodynamik (als Teil der Kontinuumsmechanik). Für hinreichend kleine Körper und hinreichend kleine Geschwindigkeiten (laminare Strömung) ist der Widerstand betragsmäßig proportional zur Geschwindigkeit. Bei der Bewegung gewöhnlicher Körper in der Luft (turbulente Strömung) kann in vielen Fällen eine Proportionalität zum Geschwindigkeitsquadrat angenommen werden. Wir wollen die dissipative Kraft zunächst nicht weiter spezifizieren und nur annehmen, daß F(diss) = f (ż) ez (2.230) 102 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK gilt; die Bewegung soll wieder senkrecht zur Erdoberfläche erfolgen (zAchse mit Nullpunkt auf der Erdoberfläche). Ferner wollen wir uns auf die Bewegung im homogenen Schwerefeld (h/R → 0, siehe Abschnitt 2.2.6.1) beschränken. Der Auftrieb in einem gasförmigen oder flüssigen Medium führt bekanntlich dazu, daß die an einem Körper angreifende Schwerkraft um das Gewicht des durch den Körper verdrängten Mediums reduziert wird. Bezeichnen wir mit mm die Masse des verdrängten Mediums, so lautet die Kraft F = −(m − mm )g ez = −mg̃ ez mit mm g= g̃ = 1 − m ρm 1− ρ (2.231) g (2.232) (ρ - Massendichte des Körpers, ρm - Massendichte des Mediums), d.h., der Effekt des Auftriebs kann einfach durch eine modifizierte Erdbeschleunigung g̃ erfaßt werden. Die Bewegungsgleichung lautet somit mz̈ = −mg̃ + f (ż), (2.233) dż = −g̃ + m−1f (ż). dt (2.234) d.h. Integration mittels Separation der Variablen liefert t als Funktion von ż. Speziell für den Fall erhalten wir ż dż (2.235) t= −1 f (ż ) −g̃ + m 0 (t = 0, ż = 0). Lineares Widerstandsgesetz f (ż) = −αż (2.236) (α>0). Man spricht in diesem Fall auch vom Stokesschen Widerstandsgesetz. Speziell für eine hinreichend kleine Kugel vom Radius r gilt 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 103 α = 6πηr (η - Zähigkeit des Mediums). Mit der Reibungskraft (2.236) lautet die Gleichung (2.235) ż dż t=− (2.237) g̃ + Γ ż 0 (Γ = α/m). Eine einfache Rechnung liefert ż 1 t = − ln(g̃ + Γż ) Γ 0 g̃ + Γż 1 , = − ln Γ g̃ (2.238) d.h. bzw. g̃ + Γż = g̃ e−Γt (2.239) g̃ g̃m −Γt −(α/m)t ż = − 1 − e 1−e . =− Γ α (2.240) Von t=0 an nimmt die Geschwindigkeit also betragsmäßig fortwährend zu (aber langsamer als ∼ t) und nähert sich für t → ∞ der konstanten Fallgeschwindigkeit v∞ = g̃m g̃ = . Γ α (2.241) Es ist klar, daß diese Geschwindigkeit praktisch schon für endliche Zeiten t Γ−1 angenommen wird und der Körper dann eine gleichförmig geradlinige Bewegung ausführt. Die Geschwindigkeit (2.241) resultiert offensichtlich aus der Bedingung, daß die Bewegung kräftefrei erfolgt, −mg̃ + f (ż) = 0. (2.242) Integration von (2.240) liefert schließlich z als Funktion von t, g̃ 1 −Γt g̃ z−h= 2 − t+ e Γ Γ Γ g̃m2 m −(α/m)t g̃m = 2 − t+ e (2.243) α α α 104 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK (t = 0, z = h). Quadratisches Widerstandsgesetz f (ż) = −β ż 2 ż |ż| (2.244) (β > 0). Mit der Reibungskraft (2.244) lautet die Gleichung (2.235) für ż ≤ 0 (Fall) 1 ż dż t=− (2.245) g̃ 0 1 − (κż )2 [κ2 = β/(mg̃)]. Wir führen die Integration aus, ż 1 1 1 t=− dż + 2g̃ 0 1 + κż 1 − κż ż 1 =− [ln(1 + κż ) − ln(1 − κż )] 0 2g̃κ 1 + κż 1 ln , =− 2g̃κ 1 − κż (2.246) d.h. 1 + κż = e−2g̃κt . 1 − κż Wir stellen nach ż um und erhalten ż = − 1 e2g̃κt − 1 κ e2g̃κt + 1 bzw. 1 ż = − tanh(g̃κt) = −g̃ κ m βg̃ tanh t . βg̃ m (2.247) (2.248) (2.249) Erwartungsgemäß nimmt auch in diesem Fall die Geschwindigkeit betragsmäßig mit wachsender Zeit zu (aber langsamer als ∼ t) und wird für hinreichend große Zeiten, d.h. t [m/(βg̃)]−1/2, konstant, nämlich m 1 . (2.250) v∞ = = g̃ κ βg̃ 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 105 Wir integrieren (2.249) und erhalten schließlich die Funktion z(t), m βg̃ z − h = − ln cosh t . (2.251) β m Im Falle kleiner Reibung ist es oftmals ausreichend, nur die Korrekturterme niedrigster Ordnung zu den üblichen Formeln des freien Falls zu betrachten. Berücksichtigen wir, daß für |x| 1 die TaylorEntwicklung von ln cosh x ln cosh x ≈ 12 x2 − 1 12 x4 (2.252) liefert, so folgt für βg̃ t1 m (2.253) aus (2.251) z−h≈ 2.2.6.3 − 12 g̃t2 βg̃ 2 1− t . 6m (2.254) Bewegung auf der rotierenden Erde Wenn die Bewegung eines Massenpunkts in einem irdischen Laborsystem, also in einem rotierenden Bezugssystem, genau beschrieben werden soll, so müssen zu den auf den Massenpunkt wirkenden eingeprägten Kräften noch die Zentrifugalkraft Fcen = −mω × (ω × r) (2.255) Fcor = −2mω × ṙ (2.256) und die Corioliskraft hinzugenommen werden (Abschnitt 2.1.5). Hierbei ist der Betrag der Winkelgeschwindigkeit der Erde gegenüber dem Fixsternhimmel ω = |ω | = 2π −1 s = 7.29·10−5 s−1. 86164 (2.257) 106 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Wenden wir uns speziell der Bewegung eines Körpers zu, auf dem im Inertialsystem nur die Gravitationskraft der Erde wirkt. Die Resultante der Gravitationskraft der Erde und der Zentrifugalkraft ist für einen irdischen Beobachter offenbar die Schwerkraft (Gewicht des Körpers). Demzufolge braucht in der Bewegungsgleichung effektiv nur die Corioliskraft berücksichtigt werden: mr̈ = mg + 2mṙ × ω (2.258) Wie aus der Abbildung zu ersehen ist, ändert sich g infolge der ZentriFcen ω ϑ Fgra mg fugalkraft mit der geographischen Breite ϑ. Äquator: |g| = 9.78 ms−2 Pol: |g| = 9.83 ms−2 Die Form der Erde, das Geoid, weicht von der Kugelform etwas ab, und g zeigt genaugenommen nicht exakt nach dem Erdzentrum, sondern steht senkrecht auf der Geoidfläche und hängt auch von der Höhe ab.3 Wenn sich die Bewegungen in Bereichen abspielen, deren Abmessungen hinreichend klein sind, kann g in diesen Bereichen mit genügender Genauigkeit als konstant angenommen werden. Wir wählen als Bezugssystem ein kartesisches Koordinatensystem am Beobachtungsort der geographischen Breite ϑ. Wie aus der nächsten 3 Berücksichtigte man die anderen Himmelskörper und deren relative Bewegung zur Erde, so müßte man auch noch eine Zeitabhängigkeit von g in Rechnung stellen. 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 107 Abbildung ersichtlich ist, gilt in diesem Koordinatensystem g = −g ez , (2.259) ṙ = ẋ ex + ẏ ey + ż ez , (2.260) ω = −ω cos ϑ ex + ω sin ϑ ez , (2.261) und die komponentenmäßige Darstellung der Bewegungsgleichung (2.258) lautet: ẍ = 2ω sin ϑ ẏ, (2.262) ÿ = −2ω sin ϑ ẋ − 2ω cos ϑ ż, (2.263) z̈ = −g + 2ω cos ϑ ẏ. (2.264) π/2 − ϑ senkrecht zum Geoid z ω ω West y West-Ost Ost ϑ x Nord-Süd Freier Fall Wir wollen die Gleichungen (2.262) – (2.264) unter den Anfangsbedingungen t = 0, x = y = 0, z = h, ẋ = ẏ = ż = 0 (2.265) lösen. Wegen der Kleinheit von ω genügt es in der Regel, dies näherungsweise zu tun. Da im Sinne einer Entwicklung ẋ und ẏ mit Gliedern 108 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK beginnen, die mindestens proportional zu ω sind, folgt, wenn Glieder ∼ ω 2 vernachlässigt werden, ẍ = 0, (2.266) ÿ = −2ω cos ϑ ż, (2.267) z̈ = −g. (2.268) Aus (2.266) und (2.268) zusammen mit den Anfangsbedingungen folgt dann x(t) = 0, (2.269) ż = −gt ; z(t) = h − 12 gt2 , (2.270) und somit geht (2.267) in ÿ = 2gtω cos ϑ (2.271) über, woraus (mit den Anfangsbedingungen) ẏ = gt2 ω cos ϑ (2.272) y(t) = 13 gt3 ω cos ϑ (2.273) und weiter folgt. Da die y-Achse im gewählten Koordinatensystem nach Osten zeigt und y(t) gemäß (2.273) für t > 0 nur positive (und mit der Zeit wachsende) Werte annimmt, erleidet der fallende Körper eine Ostabweichung. Zur Wirkung der Corioliskraft Die Wirkung der Corioliskraft überblickt man am einfachsten, wenn man den Vektor der Winkelgeschwindigkeit am Ort der geographischen Breite ϑ in die zwei Komponenten der Vertikal- und Horizontalrichtung zerlegt: ωv = ω sin ϑ, ωh = ω cos ϑ. (2.274) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 109 ω ωh ωv ϑ ω ωv ωh Bewegt sich sich beispielsweise ein Körper horizontal [Gleichungen (2.262) und (2.263) mit ż = 0], so gibt ωv Anlaß zu einer horizontalen, senkrecht zur Geschwindigkeit (nach rechts auf der Nordhalbkugel und nach links auf der Südhalbkugel) gerichteten Kraft. Ein horizontal bewegter Körper weicht infolge der Erdrotation von seiner Bahn (im Vergleich zum Inertialsystem) auf der nördlichen Halbkugel nach rechts, auf der südlichen Halbkugel nach links ab. Ferner gibt bei einer horizontalen Bewegung ωh Anlaß zu einer Kraft, die senkrecht nach oben oder unten zeigt und somit zu einer Gewichtsänderung des Körpers führt (Eötvös-Effekt). 2.2.6.4 Gedämpfte Schwingungen Wenn eine an einer Schraubenfeder oder an einem Gummifaden befestigte Masse aus der Ruhelage um eine kleine Strecke x (oder ein Fadenpendel um einen kleinen Winkel ϕ aus der Senkrechten) ausgelenkt wird, so wirkt auf die Masse eine der Auslenkung proportionale und in Richtung der Ruhelage zeigende Kraft F = −kx ex (2.275) (k - Federkonstante). Dieses Kraftgesetz entspricht dem aus der Elastizitätstheorie bekannten Hookesschen Gesetz und läßt sich in vielen 110 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Fällen anwenden. Das Potential lautet U = 12 kx2, (2.276) und die Bewegungsgleichung mẍ = −kx (2.277) ist die eines (ungedämpften) harmonischen Oszillators, ẍ + ω02x = 0, (2.278) wobei die Kreisfrequenz ω0 = k m (2.279) auch Eigenfrequenz des Oszillators genannt wird [siehe Gleichung (1.143) mit der Bezeichnung ω0 anstelle von ω]. Für größere Auslenkungen verliert in vielen Fällen das lineare Kraftgesetz (2.275) seine Gültigkeit und nichtlineare Terme müssen berücksichtigt werden, F = f (x) ex, f (x) = c1 x + c2 x2 + · · · . (2.280) Für x =0 verschwindet die Kraft; dieser Punkt stellt also eine Ruhelage dar. Sie ist offensichtlich stabil, wenn c1 < 0 gilt. Im Falle eines solchen nichtlinearen Kraftgesetzes (und finiter Bewegung) spricht man auch von einem anharmonischen Oszillator. Im Falle eines dreidimensionalen harmonischen Oszillators wird häufig zwischen isotropem und anisotropem Kraftgesetz unterschieden. Isotroper Fall: F = −k r. (2.281) Anisotroper Fall: Fi = −kixi (ki = kj f ür i = j). (2.282) Während für einen isotropen harmonischen Oszillator Drehimpulserhaltung gilt [die Kraft (2.281) ist eine Zentralkraft], ist dies für einen anisotropen harmonischen Oszillator nicht der Fall. 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 111 Kehren wir zum eindimensionalen Oszillator zurück. Zu der eine (harmonische) Schwingung verursachenden Kraft tritt auf Grund der in der Praxis immer auftretenden Verluste stets eine Reibungskraft hinzu, die dafür verantwortlich ist, daß jede angeregte und sich dann selbst überlassene Schwingung nach einer gewissen Zeit zur Ruhe kommt. In vielen Fällen kann die Reibungskraft proportional zur Geschwindigkeit und entgegengesetzt zur Geschwindigkeit gerichtet angenommen werden, F (diss) = −αẋ ex , (2.283) so daß an die Stelle der Bewegungsgleichung (2.277) die Gleichung mẍ = −kx − αẋ (2.284) ẍ + 2Γẋ + ω02 x = 0 (2.285) tritt, d.h.: (2Γ = α/m). Die Gleichung (2.285) wird üblicherweise als Differentialgleichung einer (eindimensionalen) freien, gedämpften Schwingung bezeichnet (gedämpfter harmonischer Oszillator). Ihre Lösung kann mittels Standardmethoden erfolgen. Der Ansatz x ∼ eλt (2.286) liefert die charakteristische Gleichung λ2 + 2Γλ + ω02 = 0 (2.287) zur Bestimmung der λ, λ1,2 = −Γ ± Γ2 − ω02 = −Γ ± i ω02 − Γ2 . (2.288) Damit lautet die allgemeine Lösung x = C1eλ1 t + C2 eλ2 t , (2.289) 112 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK falls λ1 = λ2 ist, und x = e−Γt (C1 + C2 t) (2.290) im entarteten Fall (λ1 = λ2 = −Γ). Entsprechend den Größenverhältnissen von ω0 und Γ werden üblicherweise drei Fälle unterschieden. Schwingfall ω02 > Γ2. (2.291) In diesem Fall haben wir λ1 = Γ + iω, λ2 = λ∗1 (2.292) mit reellem (positivem) ω = ω02 − Γ2 , und die Lösung (2.289) nimmt für reelles x die Gestalt x = e−Γt C1eiωt + C1∗e−iωt (2.293) (2.294) bzw. x = Ce−Γt cos(ωt + φ) (2.295) an (C1 = |C1 |eiφ , C = |C1 |). Speziell für Γ/ω ≈ Γ/ω0 1 kann x(t) als harmonische Schwingung mit der Kreisfrequenz ω aufgefaßt werden, deren Amplitude Ce−Γt mit wachsender Zeit exponentiell gedämpft ist. Die Größe Γ wird in diesem Zusammenhang auch Dämpfungskonstante genannt, ihr Inverses Abklingzeit. Es ist klar, daß eine gedämpfte harmonische Schwingung kein periodischer Vorgang ist. Ferner ist die in (2.293) definierte Kreisfrequenz ω immer (etwas) kleiner als die Kreisfrequenz ω0 (d.h. die Eigenfrequenz) des ungedämpften Oszillators. Dementsprechend ist T = 2π/ω immer (etwas) größer als T0 = 2π/ω0 . Das Verhältnis zweier aufeinander folgender maximaler Auslenkungen (Amplituden) auf 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS ω0 x/v0 113 1 Γ/ω0 = 0.1 0.5 ω0 T 0 10 20 30 ω0 t 40 −0.5 −1 der gleichen Seite ist immer gleich. Gemäß (2.295) sind die maximalen Auslenkungen durch xn = Ce−Γtn (−1)n, tn = n π φ − ω ω (2.296) gegeben, und folglich gilt xn = eΓT xn+2 (tn+2 − tn = 2π/ω = T ). Das Verhältnis xn p= = eΓT , xn+2 (2.297) (2.298) auch Dämpfungsverhältnis genannt, kann als ein Maß für die Dämpfung angesehen werden. Das Verhältnis zweier aufeinander folgender maximaler Auslenkungen auf verschiedenen Seiten ist xn √ = −eΓT /2 = − p . (2.299) xn+1 Oft wird die Dämpfung nicht durch p direkt, sondern durch das logarithmische Dekrement Λ = ln p = ΓT (2.300) 114 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK charakterisiert. Aus Messungen der Amplituden kann p und somit Λ in einfacher Weise bestimmt werden. Wird zusätzlich noch die Schwingungsdauer gemessen, kann die Dämpfungskonstante Γ (und bei bekannter Masse m auch die Reibungskonstante α) ermittelt werden. Die Konstanten C und φ in der allgemeinen Lösung (2.295) können durch die Anfangsbedingungen des speziellen Problems festgelegt werden. Man überzeugt sich leicht, daß beispielsweise für die Anfangsbedingungen t = 0, x = 0, ẋ = v (2.301) die Lösung (2.295) wie folgt lautet: v −Γt e sin(ωt) ω v −Γt = 2 e sin ω02 − Γ2 t 2 ω0 − Γ x= (2.302) (siehe Abbildung auf Seite 113). Kriechfall ω02 < Γ2. (2.303) Wie aus (2.288) ersichtlich, sind in diesem Fall λ1 und λ2 in der allgemeinen Lösung (2.289) reell und negativ, und C1 und C2 sind zwei beliebige reelle Konstanten. Da beide Glieder in (2.289) rein exponentiell abklingende Funktionen sind, hat der durch (2.289) beschriebene Bewegungsablauf nichts mehr mit einer Schwingung zu tun, sondern ist rein aperiodisch. Speziell für die Anfangsbedingungen (2.301) erhalten wir v −Γt x= e sinh Γ2 − ω02 t (2.304) 2 2 Γ − ω0 [vgl. mit (2.302)]. Im Gegensatz zu (2.302) kann x nicht mehr das Vorzeichen wechseln. Für v > 0 nimmt x von Null beginnend mit wachsendem t zunächst zu, erreicht einen Maximalwert und nimmt dann wieder ab und nähert sich asymptotisch Null. 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 115 ω0 x/v0 0.3 Γ/ω0 = 1.1 0.2 0.1 0 2 4 6 8 10 ω0 t Aperiodischer Grenzfall 0.5 ω0 x/v0 Γ/ω0 = 0.5 0.4 Γ/ω0 = 1 0.3 Γ/ω0 = 1.5 0.2 0.1 0 −0.1 2 4 6 8 10 ω0 t 116 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK ω02 = Γ2. (2.305) λ1 = λ2 = −Γ, (2.306) In diesem Fall gilt und die allgemeine Lösung ist durch (2.290) gegeben, wobei C1 und C2 wieder zwei beliebige reelle Konstanten sind, die durch die Anfangsbedingungen festlegbar sind. Im Falle der Anfangsbedingungen (2.301) lautet die Lösung x = vte−Γt (2.307) (die sich auch direkt als Grenzwert von (2.304) für ω02 → Γ2 ergibt). Die Bewegung ist ebenso wie die im Kriechfall aperiodisch. Verglichen mit dem Kriechfall, kommt sie jedoch im aperiodischen Grenzfall am schnellsten zur Ruhe (Meßgerätebau!). 2.2.6.5 Erzwungene Schwingungen Wir wollen annehmen, daß auf einen gedämpften harmonischen Oszillator noch eine äußere, anregende Kraft wirkt, Fext = F (t) ex . (2.308) Die Kraft möge periodisch und harmonisch sein, F (t) = f cos(Ωt + θ). (2.309) Eine mögliche Realisierung besteht darin, eine Masse an eine Spiralfeder zu hängen und das obere Ende der Feder mit der Kreisfrequanz Ω auf- und abzubewegen. Die unter dem Einfluß einer äußeren, periodischen Kraft erzwungene Schwingung genügt der Bewegungsgleichung mẍ = −kx − αẋ + f cos(Ωt + θ) (2.310) ẍ + 2Γẋ + ω02 x = (f /m) cos(Ωt + θ) (2.311) bzw.: 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 117 Die allgemeine Lösung x(t) der Differentialgleichung (2.311) setzt sich zusammen aus der allgemeinen Lösung xh (t) der homogenen Gleichung und einer partikulären Lösung xp (t) der inhomogenen Gleichung, x(t) = xh(t) + xp (t). (2.312) Die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung ist in (2.289) bzw. (2.290) gegeben, und eine partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung kann als harmonische Schwingung der Kreisfrequenz Ω angesetzt werden, xp = B cos(Ωt + β). (2.313) Um die Amplitude B und die Phase β zu bestimmen, benutzt man zweckmäßigerweise die komplexe Schreibweise (siehe Abschnitt 1.3.3), d.h. xp = B cos(Ωt+β) → xp = BeiΩt, (2.314) f cos(Ωt+θ) → f eiΩt , (2.315) wobei nunmehr B und f komplex sind, B = |B|eiβ , f = |f |eiθ . Mit (2.314) und (2.315) wird aus (2.311) 2 −Ω + 2iΓΩ + ω02 B = f /m bzw. (2.316) (2.317) 2ΓΩ (ω02 −Ω2)2 +(2ΓΩ)2 exp i arctan 2 ω0 −Ω2 × |B|eiβ = |f |eiθ /m. (2.318) Damit finden wir |B| = |f | m (ω02 −Ω2)2 +(2ΓΩ)2 (2.319) 118 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK und tan(θ−β) = 2ΓΩ . ω02 −Ω2 (2.320) Da wegen der Dämpfung lim xh (t) = 0 (2.321) t→∞ gilt (Abschnitt 2.2.6.4), folgt lim x(t) = xp (t). (2.322) t→∞ Nach Beendigung des durch xh (t) beschriebenen Einschwingvorgangs, d.h. unter stationären Bedingungen, stellt sich also der durch xp (t) gegebene Bewegungsablauf ein. Der Massenpunkt führt mit der 3 θ−β Γ/ω0 = 0.01 2.5 Γ/ω0 = 0.1 Γ/ω0 = 0.5 2 1.5 1 0.5 0 1 2 3 4 5 Ω/ω0 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 119 Kreisfrequenz Ω der treibenden Kraft eine (ungedämpfte) erzwungene, harmonische Schwingung aus. Die Amplitude |B| [Gleichung (2.319)] dieser Schwingung und ihre Phasendifferenz (θ − β) [Gleichung (2.320)] bzgl. der treibenden Kraft hängen empfindlich von Ω ab. Aus (2.320) ist ersichtlich, daß die Phase der erzwungenen Schwingung immer hinter der Phase der treibenden Kraft zurückbleibt (siehe Abbildung). Die Amplitude |B| nimmt gemäß (2.319) mit wachsender Frequenz Ω zunächst zu, erreicht für Γ/ω0 1 (kleine Dämpfung) an der Stelle Ω = Ωr ≈ ω0 ein (scharfes) Maximum und nimmt im weiteren Verlauf wieder ab. Demnach wird also die Amplitude des Oszillators am größten, wenn die Frequenz der treibenden Kraft mit der Eigenfrequenz des Oszillator (näherungsweise) übereinstimmt. Diesen Effekt nennt man auch Resonanz; die Kurve |B(Ω)| heißt Resonanzkurve. Die Resonanzkurve ist um so schmaler und höher, d.h., die Resonanz ist um so deutlicher ausgeprägt, je kleiner die Dämpfung Γ ist. Für hinreichend kleine Dämpfung kann die Amplitude beliebig groß werden (Resonanzkatastrophe). Bei ungedämpften Systemen wäre die Amplitude an der Resonanzstelle Ω = ω0 unendlich groß. Da dies unphysikalisch wäre, ist klar, daß Dämpfung immanenter Bestandteil jeglicher realen Bewegung ist. Die exakte Lage des Maximums der Amplitude ergibt sich aus der Lösung der Gleichung d|B(Ω)| = 0, dΩ d.h. d 2 2 2 2 2 0= ω0 − Ω + 4Γ Ω dΩ = −2 ω02 − Ω2 + 4Γ2 2Ω, woraus als Resonanzfrequenz 2 2 Ωr = ω0 − 2Γ = ω0 1 − 2Γ2 /ω02 (2.323) (2.324) (2.325) folgt. Damit ergibt sich als maximale Amplitude |Bmax | = |B(Ωr)| |Bmax | = |f | |f | = . 2Γmω0 1 − (Γ/ω0)2 2Γm ω02 − Γ2 (2.326) 120 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK |B| mω0 |f | 50 40 Γ/ω0 = 0.01 30 20 Γ/ω0 = 0.1 10 Γ/ω0 = 0.5 0 0.2 0.6 1 1.4 1.8 Ω/ω0 Die Resonanzbreite ΔΩ ist üblicherweise als Halbwertsbreite ΔΩ = Ω2 − Ω1, |B(Ωi)| = 12 |Bmax |2 (2.327) definiert. Resonanzen spielen eine große Rolle in allen Gebieten der Physik und Technik. – Unter der Wirkung der bei laufenden Motoren und Maschinen auftretenden periodischen Erschütterungen können Gebäude schwer beschädigt werden. – Marschkolonnen dürfen auf Brücken nicht im Gleichschritt marschieren, da die periodische Bewegung in der Nähe einer Eigenfrequenz der Brücke liegen könnte. – Der Ton vieler Musikinstrumente wird durch Resonanz verstärkt. Bei Lautsprechern können Resonanzen zu unerwünschten Verzerrungen führen. 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 121 – Elektrische Frequenzmesser nutzen zum großen Teil Resonanzeffekte. Beim Rundfunk- und Fernsehempfang ermöglichen sie die Trennung der verschiedenen Sender. Neben dem Amplitudenmaxium (Amplitudenresonanz) kann man auch nach dem Maximum der Geschwindigkeitsamplitude Ω|B| (Geschwindigkeitsresonanz) fragen. Eine einfache Rechnung zeigt, daß die durch die Gleichung d[Ω|B(Ω)|] =0 dΩ (2.328) bestimmbare Lage der Geschwindigkeitsresonanz genau mit der Eigenfrequenz ω0 des Oszillators übereinstimmt. Ist die treibende Kraft eine beliebige periodische Funktion der Zeit, so läßt sich diese immer als Fourier-Reihe darstellen, ∞ fneinΩt F (t) = (2.329) n=−∞ (siehe Abschnitt 1.3.3.2). An die Stelle der Bewegungsgleichung (2.311) tritt dann die Gleichung ∞ ẍ + 2Γẋ + ω02 x = fn einΩt, (2.330) n=−∞ und die partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung kann ebenfalls in Form einer Fourier-Reihe ∞ xp = Bn einΩt (2.331) n=−∞ dargestellt werden, wobei der Zusammenhang der komplexen Amplituden Bn und fn offensichtlich in genau der gleichen Weise wie in (2.317) gegeben ist, wenn dort und in den folgenden Gleichungen Ω durch nΩ und B, f durch Bn , fn ersetzt werden, (2.332) −(nΩ)2 + 2iΓ(nΩ) + ω02 Bn = fn /m. 122 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Damit ist das Problem einer beliebigen periodischen Kraft auf das einer harmonischen Kraft zurückgeführt.4 Resonanz tritt auf, wenn die äußere Kraft Fourier-Komponenten enthält, deren Frequenzen nΩ in der Nähe von Ωr (≈ ω0 ) liegen. Das Konzept läßt sich unschwer auf den Fall einer nichtperiodischen treibenden Kraft F (t), die sich als FourierIntegral darstellen läßt, verallgemeinern. 2.2.6.6 Kepler-Problem Wir wollen die Bewegung einer (Punkt-)Masse m1 ≡ m im Gravitationsfeld einer als raumfest angenommenen (Punkt-)Masse m2 ≡ M bestimmen. Dieses Problem ist nicht nur in der Mechanik von Himmelskörpern von grundlegender Bedeutung, sondern wegen seiner Analogie zur Bewegung einer elektrischen Ladung im Coulomb-Feld einer zweiten Ladung auch in der Atomphysik. Es sei M die Sonnenmasse und m die Masse eines Planeten des Sonnensystems. Wegen ihrer im Vergleich zur Masse eines Planeten extrem großen Masse, M m, kann die Sonne näherungsweise zunächst als ruhend angesehen und als Ursprung des Bezugssystems gewählt werden (so beträgt beispielsweise die Sonnenmasse das 3.3 · 105-fache der Erdmasse). Ferner wollen wir annehmen, daß sich die Planeten nicht zu nahe kommen. Unter den gemachten Annahmen reduziert sich das Vielkörperproblem auf ein Einkörperproblem für m mit der Bewegungsgleichung mr̈ = F (2.333) und F gemäß (2.204), F=− γmM r r2 r (2.334) (r, Radiusvektor von M zu m). Da F konservativ und Zentralkraft ist, gelten Energie- und Drehimpulserhaltung. Letzteres bedeutet bekanntlich, daß die Bewegung in einer Ebene verläuft. Wir wollen als diese Ebene wieder die xyEbene wählen und dort ebene Polarkoordinaten verwenden. Das (aus 4 Übergang zum Fourier-Integral liefert die Lösung für eine beliebige quadratisch integrierbare Kraft. 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 123 der Drehimpulserhaltung resultierende) effektive Potential (2.181) lautet L2 Ueff () = U () + , (2.335) 2m2 wobei U () = − γmM (2.336) das Gravitationspotential ist [siehe (2.153)]. Der Energieerhaltungssatz (2.180) liefert dann die Gleichung 2 1 2 m˙ + Ueff () = 12 m˙2 − γmM L2 = E. + 2m2 (2.337) Wir bestimmen das Minimum von Ueff (). Seine Lage 0 folgt aus dUeff =0 d ; γmM L2 − = 0, 2 m3 (2.338) d.h. L2 0 ≡ k = , γm2M womit sich γ 2m3 M 2 γmM Ueff (k) = − = − 2L2 2k (2.339) (2.340) ergibt. Finite Bewegung (E1 in der Abbildung): Ueff (k) ≤ E < 0 ; − γmM ≤E<0 2k (2.341) bzw. −1 ≤ 2Ek < 0. γmM (2.342) Infinite Bewegung (E2 in der Abbildung): 0 ≤ E. (2.343) 124 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Ueff k γmM ∼ E2 0.1 4 12 8 16 20 /k −0.1 ∼ E1 −0.3 −0.5 Die Umkehrpunkte bestimmen sich aus der Gleichung Ueff () − E = 0. (2.344) Die Rechnung liefert L2 γmM − E = 0, − 2m2 1 γm2M 1 2mE − −2 = 0, 2 L2 L2 1 1 2Ek 21 − = 0, − 2 k k 2 γmM (2.345) 1 1 = ± k 1 1 2Ek + k 2 k 2 γmM (2.346) bzw. 1 1 = k 1± 1+ 2Ek γmM . (2.347) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS Wir setzen 125 ε= 1+ 2Ek . γmM (2.348) Die Bedingung für eine finite Bewegung lautet dann 0≤ε<1 (2.349) und die für eine infinite Bewegung 1 ≤ ε, (2.350) und für die Umkehrpunkte (2.347) (minimales und maximales ) gilt 1 min 1 max = = 1−ε k 1+ε , k (falls ε < 1). (2.351) (2.352) Für ε = 1 folgt max = ∞, d.h., eine finite Bewegung schlägt in eine infinite um. Die Bewegungsgleichungen können – wie im Abschnitt 2.2.5 beschrieben – mittels der Erhaltungssätze (oder natürlich auch direkt) gelöst werden. Wir wollen hier die Bahngleichung etwas genauer untersuchen. Gemäß Gleichung (2.189) gilt d L , (2.353) ϕ= m min 2 2 [E − Ueff ( )] /m wobei über die Konstante in (2.189) so verfügt wurde, daß ϕ = 0 für = min ist. Wir drücken zunächst in 2m 2mE 2γm2M 1 [E − U ( )] = + − eff L2 L2 L2 2 (2.354) die Parameter L und E durch k [Gleichung (2.339)] und ε [Gleichung (2.348)] wie folgt aus: ε2 − 1 2mE 2Ek 2E ε= 1+ ; = = , (2.355) γmM k2 γmMk L2 126 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK ε2 − 1 2 1 1 2m [E − U ( )] = + − eff L2 k2 k 2 2 ε2 1 1 = 2− − k k 2 2 k 1 ε 1 . = 2 1− − k ε k (2.356) Damit kann (2.353) in die Form k ϕ= ε min d 2 2 −1/2 1 k 1 − 1− ε k (2.357) gebracht werden. Wir führen zweckmäßigerweise eine Variablensubstitution durch, k 1 1 = z, (2.358) − ε k k 1 d ε dz dz, = − ; = − d ε 2 2 k = min k ; z= ε k = ε 1 min 1 − k (2.359) 1 ε 1 + − k k k = 1, (2.360) und erhalten ϕ=− k(1−1) ε k 1 dz k 1 1 √ − , = arccos ε k 1 − z2 woraus k ε 1 1 − k (2.361) = cos ϕ (2.362) 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 127 bzw. 1 1 = (1 + ε cos ϕ) k (2.363) folgt. Die Gleichung (2.363) ist die Gleichung für Kegelschnitte in ebenen Polarkoordinaten. Kreis γmM . 2k (2.364) γmM < E < 0. 2k (2.365) ε = 0 bzw. E = − Ellipsen 0 < ε < 1 bzw. − Parabel ε = 1 bzw. E = 0. (2.366) ε > 1 bzw. E > 0. (2.367) Hyperbeln Außer der Bahngleichung kann natürlich auch die Zeitabhängigkeit der Koordinaten und ϕ bestimmt werden. So kann man aus = (ϕ) mittels der Beziehung dϕ L = dt m2 (2.368) [siehe Gleichung (2.177)] zunächst t als Funktion von ϕ bestimmen, m ϕ 2 dϕ (ϕ ), (2.369) t − t0 = L ϕ0 woraus durch Bildung der Umkehrfunktion ϕ = ϕ(t) berechnet werden kann. Damit und mit der Bahngleichung kann dann auch als Funktion von t bestimmt werden, = [ϕ(t)]. (2.370) 128 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Damit ist das Problem im Prinzip gelöst. Keplersche Gesetze Im Hinblick auf die Planetenbewegung wollen wir die Ellipsen (einschließlich Kreis) etwas eingehender analysieren. Wir drücken ε (Exzentrizität) und k (Parameter) durch e und a aus (siehe Abbildung). ε= e , a e2 = a2 − b2, (2.371) b2 k = (1 − ε )a = , a 2 (2.372) Große Halbachse k 2 1 − ε a= =− γmM , 2E (2.373) −2Ek/(γmM) d.h. a= γmM . 2|E| (2.374) Bei gegebenen Massen wird also die große Halbachse nur durch die Energie festgelegt. y v = a + εu b ϕ a e a u x k = a − εu 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 129 Kleine Halbachse γmM L2 b = ak = , 2|E| γm2M (2.375) L b= . 2m|E| (2.376) 2 d.h. Umlaufzeit (Periodendauer) Aus dem Flächensatz (2.143) folgt d|A| |L| πab = = , dt 2m T (2.377) d.h. T = 2πmab . L (2.378) Wir ersetzen a und b gemäß (2.374) und (2.376) und erhalten T = 2πm γmM 1 2|E| 2m|E| und somit T = πγmM m 1 . 2 |E|3/2 (2.379) (2.380) Die Periodendauer wird also (bei gegebenen Massen) nur durch die Energie bestimmt. Da die große Halbachse ebenfalls nur durch die Energie festgelegt ist, kann die Periodendauer durch die große Halbachse ausgedrückt werden, a a T = 2πm = 2πm , (2.381) 2m|E| γm2 M/a d.h. T = 2π 1 3/2 a γM (2.382) 130 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK bzw. 4π 2 3 T = a. γM 2 (2.383) Für zwei Planeten der Massen m1 und m2 auf elliptischen Bahnen um die Sonne gilt demnach für die Umlaufzeiten T1 und T2 sowie die großen Halbachsen a1 und a2 2 3 T1 a1 = . (2.384) T2 a2 Die obigen Ergebnisse bilden den Inhalt der Keplerschen Gesetze. (1) Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. (2) Der Fahrstrahl von der Sonne zu einem Planeten überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. (3) Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die Kuben der großen Halbachsen. Anzumerken ist, daß die historische Reihenfolge die umgekehrte war. Die empirisch aus astronomischen Beobachtungen abgeleiteten Keplerschen Gesetze5, durch die u.a. das heliozentrische Weltsystem von Kopernikus genauer begründet wurde, führten Newton zur Aufstellung des Gravitationsgestzes. Dieses ist trotz seiner einfacheren Form natürlich viel allgemeiner als die Keplerschen Gesetze und bedeutet einen höheren Grad der Erkenntnis. Es faßt nicht nur die Keplerschen Gesetze und die Gravitationskraft zu einer einzigen Aussage zusammen, sondern ist die Grundlage zur Bestimmung der Bewegung aller Himmelskörper. So können beispielsweise die bei der Planetenbewegung beobachteten kleinen Abweichungen von den Keplerschen Gesetzen quantitativ durch die Gravitationswirkung der anderen Planeten gedeutet werden. Die Untersuchung dieser Störungen führte sogar zur Entdeckung neuer Planeten an vorausberechneten Stellen. 5 1609 und 1619 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS 131 Wir wollen den Weg skizzieren, wie aus den Keplerschen Gesetzen auf das Gravitationsgesetz geschlossen werden kann. Das erste und das zweite Gesetz bringt die Drehimpulserhaltung zum Ausdruck, woraus folgt, daß die Kraft eine Zentralkraft ist und nur eine radiale Komponente besitzt, d.h., in dem von uns gewählten Koordinatensystem gilt F = F e , F = m ¨ − ϕ̇2 (2.385) und m2 ϕ̇ = L. (2.386) [Gleichung (2.177)]. Wir differenzieren die Ellipsengleichung 1 1 = (1 + ε cos ϕ) k und finden d dt ˙ εL 1 ε = − 2 = − ϕ̇ sin ϕ = − sin ϕ, k km2 (2.387) (2.388) d.h. ˙ = εL sin ϕ, km (2.389) woraus εL2 εL ϕ̇ cos ϕ = cos ϕ ¨ = km km22 (2.390) folgt. Wir setzen (2.386) und (2.390) in (2.385) ein: L2 εL2 cos ϕ − 2 3 F = m km2 2 m L2 ε L2 1 1 = =− cos ϕ − . m2 k km 2 −1/k (2.391) 132 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Wegen (2.377) und (2.386) folgt L πab = 12 2 ϕ̇ = , 2m T (2.392) d.h. π 2 a2 b2 = L2 2 T 4m2 (2.393) bzw. 2 2 2 T2 2 m b 2 m k = 4π = 4π a3 L2 a L2 (2.394) [b2 = ak, siehe Gleichung(2.372)]. Da nach dem 3. Keplerschen Gesetz T 2/a3 für alle Planetenbahnen (und somit für alle Ellipsen) die gleiche Konstante liefert, muß also nach (2.394) auch σ= m2 k L2 −1 (2.395) eine für alle Bahnen Konstante sein, die nur noch von der Sonnenmasse abhängen kann, so daß für die Gravitationskraft F = − σm 2 (2.396) gelten muß. Gemäß dem dritten Newtonschen Axiom kann σ nur proportional zu M sein, σ = γM, (2.397) mit einer von M nunmehr unabhängigen Konstante γ, d.h. F = −γ mM . 2 (2.398) Kosmische Geschwindigkeiten Ein Satellit soll von einem Punkt P im Abstand R vom Mittelpunkt der (als kugelförmig angenommenen) Erde in eine Umlaufbahn gebracht 2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS vφ 133 v P v R R Satellit Erde werden, deren erdnächster Punkt außerhalb der Entfernung R liegt, und es ist die Frage zu beantworten, welche Ausgangsgeschwindigkeit v der Satellit besitzen muß. Unter Berücksichtigung von (2.351) und (2.339) ist die Bedingung R < min = L2 k = 1 + ε γm2M(1 + ε) (2.399) zu erfüllen, d.h. L2 > γm2MR(1 + ε), (2.400) L2 = m2 R4φ̇2 = m2 R2 vφ2 (2.401) und wegen erhalten wir vφ2 > (1 + ε) γM . R (2.402) Andererseits soll die Bewegung finit sein, E<0 ; 2 1 2 m|v| − γmM <0 R (2.403) γM . R (2.404) bzw. |v|2 = vφ2 + vR2 < 2 134 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK vR γM R γM 2 R 1/2 1/2 vφ erlaubte Bereiche Die Abbildung zeigt die mit den Bedingungen (2.402) und (2.404) erlaubten Geschwindigkeitsbereiche (beachte, daß für eine finite Bewegung 0 ≤ ε < 1 gilt). Insbesondere lesen wir die erste und zweite kosmische Geschwindigkeit ab (mit RE als Erdradius). 1. kosmische Geschwindigkeit (ε = 0) γM (= 7.9 km s−1). vI = RE 2. kosmische Geschwindigkeit (ε = 1) γM (= 11.2 km s−1). vII = 2 RE 2.3 2.3.1 (2.405) (2.406) Dynamik eines Massenpunktsystems Bewegungsgleichungen Die für einen Massenpunkt aufgestellte (vektorielle) Bewegungsgleichung kann natürlich auch auf Probleme angewendet werden, bei denen N diskrete Körper, die sich als frei bewegliche Massenpunkte auffassen lassen, Kräfte aufeinander ausüben. Ist rν der Ortsvektor des ν-ten 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 135 Massenpunkts (im Inertialsystem), mν seine Masse und Fν die Resultante aller an ihm angreifenden Kräfte, dann lauten die Bewegungsgleichungen des Massenpunktsystems: mν r̈ν = Fν (ν = 1, 2, . . . , N ) (2.407) Sind die Kräfte Fν (im allgemeinen Fall) als Funktionen der Orte und Geschwindigkeiten der Massenpunkte sowie der Zeit bekannt, so besteht die Bestimmung der Bewegung des Massenpunktsystems in der Integration des Gleichungssystems (2.407), das 3N (gekoppelte) gewöhnliche Differentialgleichungen zweiter Ordnung enthält. Man kann den Grundgleichungen (2.407) der Punktmechanik eine sehr allgemeine Bedeutung zuschreiben. Sie basiert auf der Auffassung, nach der jeder materielle Körper als aus einer endlichen (wenn auch großen) Anzahl von Massenpunkten bestehend angenommen werden kann (z.B. aus nahezu punktförmigen Atomen, Molekülen oder ähnlichen Aggregaten, die Kräfte aufeinander ausüben). Nach dieser (im 18. und 19. Jahrhundert verabsolutierten) Auffassung ist jedes materielle System schlechthin ein Punktsystem, die gesamte Mechanik Newtonsche Punktmechanik. Wir wissen heute, daß die Newtonsche Punktmechanik im atomaren Bereich versagt. Damit die Newtonsche Mechanik anwendbar ist, müssen die Massenpunkte vom makroskopischen Standpunkt aus hinreichend klein, mikroskopisch jedoch hinreichend groß sein, d.h., sie müssen beispielsweise noch eine genügend große Anzahl von atomaren Bausteinen enthalten. Die Auffassung, nach der die Mechanik ausgedehnter Körper auf Systeme von Massenpunkten zurückgeführt werden kann, setzt also voraus, daß ein solcher Körper in vom makroskopischen Standpunkt hinreichend kleine Massenelemente Δmν zerlegt werden kann, die nahezu als punktförmig angesehen werden können. Das Modell eines Massenpunktsystems bewährt sich beim starren Körper und anderen starren Systemen. In der Mechanik deformierbarer Körper (die Massenelemente Δmν ändern im Laufe der Zeit ihre Form) erwies sich die Kontinuitätshypothese als geeigneter, d.h. die Einführung einer Massendichte ρ = dm/dV als stetige (bzw. stückweise stetige) Funktion des Ortes und 136 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK mν = Δm rν der Zeit. Der Umstand, daß es nicht sinnvoll ist, die gesamte Mechanik auf diskrete Punktsysteme abzubilden, berührt den weiteren Inhalt der Vorlesung jedoch nicht, da der größte Teil der allgemeinen Prinzipien und Sätze über Punktsysteme durch entsprechenden Grenzübergang auch in einer für die Kontinuitätshypothese geeigneten mathematischen Form ausgedrückt werden können (Kontinuumsmechanik). Es ist zweckmäßig, die auf einen Massenpunkt eines Massenpunktsystems wirkenden Kräfte in zwei Klassen einzuteilen, 1. in die von Massenpunkten (Körpern) außerhalb des untersuchten Systems stammenden äußeren Kräfte und 2. die zwischen den zum System gehörenden Massenpunkten wirkenden inneren Kräfte. Wir wollen die Resultante der auf den ν-ten Massenpunkt des Systems (ext) wirkenden äußeren Kräfte mit Fν bezeichnen und die vom μ-ten auf den ν-ten Massenpunkt des Systems wirkende innere Kraft mit Fνμ :6 N Fν = F(ext) ν + Fνμ (2.408) μ=1 In der Summe über μ muß das Glied mit μ=ν weggelassen bzw. Fνν = 0 gesetzt werden, da ein Massenpunkt auf sich selbst keine Kraft ausüben soll, und es gilt Fνμ = −Fμν 6 Es wird angenommen, daß nur Zweierwechselwirkungen zu berücksichtigen sind. (2.409) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 137 mμ Fνμ (ext) Fν mν Umgebung System (3. Newtonsches Axiom). Damit lauten die Newtonschen Bewegungsgleichungen (2.407): N mν r̈ν = F(ext) ν + Fνμ (2.410) μ=1 Für Massenpunkte kann man annehmen, daß die inneren Kräfte Zentralkräfte sind, d.h., Fνμ fällt in die Richtung der den ν-ten und den μ-ten Punkt verbindenden Geraden, rν −rμ Fνμ =± . |Fνμ | |rν −rμ| (2.411) Dies ist natürlich eine neue Grundvoraussetzung, die jedoch aus Symmetriegründen naheliegend ist. Es wäre schwer vorstellbar, daß von zwei wirklich punktförmigen Körpern der eine auf den anderen eine Kraft ausübt, die nicht in die Richtung der einzig ausgezeichneten Geraden, nämlich der sie verbindenden Geraden fällt. 138 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK 2.3.2 Impulsbilanz (Massenmittelpunktsatz) Summation der N (vektoriellen) Bewegungsgleichungen (2.410) liefert N N mν r̈ν = ν=1 N F(ext) ν N + ν=1 Fνμ ν=1 μ=1 = 0 wegen (2.409) N F(ext) . ν = (2.412) ν=1 Mit dem Gesamtimpuls des Systems N N mν ṙν pν = p= ν=1 (2.413) ν=1 und der Resultante aller äußeren Kräfte N F (ext) F(ext) ν = (2.414) ν=1 stellt die Gleichung (2.412) die Impulsbilanz des Massenpunktsystems dar: dp = F(ext) dt (2.415) Die zeitliche Änderung des Gesamtimpulses eines Massenpunktsystems ist gleich der Resultante der auf das System einwirkenden äußeren Kräfte. (ext) Ein System heißt abgeschlossen wenn Fν = 0 und somit F(ext) = 0 gilt. Für ein abgeschlossenes System gilt also Erhaltung des Gesamtimpulses, F(ext) = 0 ; dp = 0 ; p = const., dt (2.416) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 139 was drei (im Gegensatz zum Fall eines einzigen Massenpunkts nichttriviale) erste Bewegungsintegrale bedeutet. Die Impulsbilanz kann in einer äquivalenten und physikalisch sehr anschaulichen Form mit Hilfe des Massenmittelpunkts 1 rc = m N mν rν , (2.417) mν , (2.418) ν=1 N m= ν=1 ausgedrückt werden. Offensichtlich gilt N mν ṙν = mṙc , p= (2.419) ν=1 und gemäß (2.415) genügt der Massenmittelpunkt der Bewegungsgleichung: mr̈c = F(ext) (2.420) Der Massenmittelpunkt eines Massenpunktsystems bewegt sich so, als ob in ihm die gesamte Masse des Systems vereinigt (konzentriert) wäre und an ihm die Resultante aller äußeren Kräfte wirkte. Die Feststellung, daß bei Fehlen äußerer Kräfte der Gesamtimpuls des Systems erhalten bleibt, ist also äquivalent der Feststellung, daß der Massenmittelpunkt des Systems eine gleichförmig geradlinige Bewegung ausführt (oder ruht), dp =0 = r̈c = 0 ; ṙc = const. dt Anmerkungen (2.421) 140 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK (1) Die Gleichung (2.420) stellt gewissermaßen die nachträgliche Rechtfertigung des Modells des Massenpunkts für ein ausgedehntes System (ausgedehnter Körper) dar. In dem Umfang, in dem ein kompliziertes System durch seinen Massenmittelpunkt ersetzt werden kann, kann es wie ein Massenpunkt behandelt werden. Insbesondere kann man die translatorische Bewegung eines ausgedehnten Körpers immer durch die Bewegung seines Massenmittelpunkts beschreiben. (2) Für die Bewegung des Massenmittelpunkts spielen die inneren Kräfte keine Rolle. Wenn beispielsweise ein abgefeuertes Geschoß in der Luft – unter der Wirkung innerer Kräfte – explodiert, dann setzt der Massenmittelpunkt der auseinanderfliegenden Splitter seine Parabelbahn auch weiterhin fort (wenn vom Luftwiderstand abgesehen wird). (3) Jedes System kann i. allg. durch geeignete Erweiterung zu einem abgeschlossenen System gemacht werden, in dem nur innere Kräfte wirken. Dabei werden die zunächst außerhalb des System befindlichen Körper, die auf die Systemteile Kräfte ausüben, zum System hinzugenommen. Bei der Behandlung physikalischer Probleme ist jedoch häufig gerade der umgekehrte Weg zweckmäßig, nämlich die Herausnahme einiger Teile eines Systems und Ersetzung ihrer Wirkung durch äußere Kräfte (mit näherungsweise bekanntem Kraftgesetz). In diesem Sinne kann die Mechanik des einzelnen Massenpunkts als Grenzfall angesehen werden, bei dem die Wirkung aller übrigen Massenpunkte in einer einzigen äußeren Kraft zusammengefaßt wird (und die Rückwirkung des betrachteten Massenpunkts auf die übrigen Massenpunkte vernachlässigt wird). (4) Der Massenmittelpunkt wird oft auch Schwerpunkt genannt. Befinden sich die Massenpunkte des Systems im homogenen Schwerefeld des Erde, so gilt N F (ext) = mν g = mg ν=1 (2.422) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 141 und aus (2.420) folgt r̈c = g, (2.423) d.h., der Massenmittelpunkt (oder Schwerpunkt) bewegt sich wie ein Massenpunkt der Masse m unter dem Einfluß der Erdbeschleunigung g. Konstruktion des Massenmittelpunkts Der Massenmittelpunkt zweier Punktmassen m1 und m2 teilt die Entfernung der Punkte im umgekehrten Verhältnis zu den Massen in zwei Teile (d.h., er liegt näher zur größeren Masse). rc − r1 m1 m2 r2 − rc rc r2 r1 (m1 + m2 ) rc = m1 r1 + m2 r2 , (2.424) m1 (rc − r1) = m2 (r2 − rc ) (2.425) |rc − r1 | m2 = . |r2 − rc | m1 (2.426) d.h. und somit Die Aufgabe der Bestimmung des Massenmittelpunkts von drei Punktmassen kann auf die für zwei Punktmassen zurückgeführt werden. Der Massenmittelpunkt kann ermittelt werden, indem zunächst der Massenmittelpunkt der Massen m1 und m2 und dann der Massenmittelpunkt der Masse m3 und der im Massenmittelpunkt der beiden ersten Massen gedachten Masse m1 + m2 bestimmt wird, m1 r1 + m2 r2 +m3 r3 , (m1 + m2 + m3 ) r(3) c = (2) (m1 + m2 ) rc (2.427) 142 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK d.h. (2) [(m1 + m2 ) + m3 ] r(3) c = (m1 + m2 )rc + m3 r3 . (2.428) Das Verfahren kann fortgesetzt werden, um den Massenmittelpunkt eines Systems aus beliebig vielen Punktmassen zu konstruieren. Dabei ist die Reihenfolge der Massenpunkte offensichtlich beliebig, da diese völlig symmetrisch in die Formel (2.417) [zusammen mit (2.418)] eingehen. Der Massenmittelpunkt wird allein durch die Anordnung der Massenpunkte relativ zueinander bestimmt. Damit ist insbesondere der Zusammenhang der Koordinaten des Massenmittelpunkts in zwei Bezugssystemen wie folgt gegeben: rc = r0 + rc . (2.429) rc rc O r0 O Bei einem Körper mit kontinuierlicher Massenverteilung denke man sich den Körper zunächst wieder in hinreichend kleine Massenelemente Δmν zerlegt und führt dann die Summationen als Integrationen aus, 1 1 r dm, (2.430) rν Δmν → rc = rc = m ν m m= Δmν → m= dm. (2.431) ν Ist ρ die Massendichte des Körpers, so gilt dm = ρ d3 r und die Integrale in (2.430) und (2.431) können als Volumenintegrale (mit i. allg. ortsabhängigem ρ) ausgeführt werden, 1 d3r ρ r, (2.432) rc = m 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 143 m= 2.3.3 d3 r ρ. (2.433) Energiebilanz Wir multiplizieren die Bewegungsgleichung (2.410) für den ν-ten Massenpunkt skalar mit ṙν und erhalten gemäß Abschnitt 2.2.3 die Bilanzgleichung für die kinetische Energie des ν-ten Massenpunkts als dTν = Pν dt (2.434) Tν = 12 mν |ṙν |2 (2.435) Pν = ṙν ·Fν . (2.436) mit und Summation über alle Massenpunkte liefert: dT =P dt (2.437) wobei N N 1 m |ṙ |2 2 ν ν Tν = T = ν=1 (2.438) ν=1 die kinetische Energie des Gesamtsystems und N P = N ṙν ·Fν Pν = ν=1 ν=1 die von den Kräften am Gesamtsystem erbrachte Leistung ist. (2.439) 144 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Die zeitliche Änderung der kinetischen Energie eines Massenpunktsystems ist gleich der Gesamtleistung, d.h. der Leistung aller am System angreifenden Kräfte. Sind die Kräfte Fν = Fν (r1, r2, . . . , rN ) ≡ Fν (rμ) (2.440) (ν = 1, 2, . . . , N ) konservativ, so daß ein Potential U = U (r1, r2, . . . , rN ) ≡ U (rμ ) (2.441) Fν = −∇ν U, (2.442) existiert,7 dann ergibt sich für die Gesamtleistung (2.439) N N Pν = − P = ν=1 ∇ν U · ṙν ν=1 N =− ν=1 ∂U dxiν dU = − , ∂xiν dt dt (2.443) und die Bilanzgleichung (2.437) geht in d (T + U ) = 0 dt (2.444) über. Für konservative Systeme gilt also Erhaltung der Gesamtenergie, T + U = E = const. (2.445) Wie im Abschnitt 2.2.3 ausgeführt, kann ein Massenpunkt sowohl konservativen als auch nichtkonservativen Kräften unterliegen, Fν = F(cons) (rμ) + F(ncons) (rμ, ṙμ , t), ν ν 7 (2.446) Die Integrabilitätsbedingungen lauten nunmehr ∂k Fl = ∂l Fk , wobei die lateinischen Indizes die insgesamt 3N kartesischen Koordinaten der N Teilchen durchnumerieren, k(l) = 1, 2, 3, . . . , 3N . 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS F(cons) = −∇ν U, ν 145 (2.447) so daß die mechanische Energiebilanz (2.437) die Form d (T + U ) = P (ncons) dt (2.448) annimmt, wobei N P (ncons) F(ncons) · ṙν ν = (2.449) ν=1 die Gesamtleistung der nichtkonservativen Kräfte ist.8 Die Anwesenheit nichtkonservativer Kräfte bedeutet immer, daß das System nicht abgeschlossen ist. Gemäß (2.408) denken wir uns die auf die einzelnen Massenpunkte wirkenden Kräfte in innere und äußere Kräfte zerlegt. Hinsichtlich der inneren Kräfte können wir annehmen, daß diese (nicht explizit zeitabhängige) Zentralkräfte sind (siehe die Bemerkungen vor Beginn des Abschnitts 2.3.2). Ferner wollen wir annehmen, daß sie nur vom gegenseitigen Abstand abhängen,9 Fνμ = fνμ (rνμ ) rνμ = rν − rμ , rνμ , rνμ rνμ = |rνμ |. Die inneren Kräfte sind offensichtlich konservativ, rνμ Uνμ = Uνμ(rνμ ) = − dr fνμ (r) = Uμν (rμν ) (2.450) (2.451) (2.452) ∞ 8 Es sei daran erinnert, daß nichtkonservative Kräfte Potentialkräfte sein können. Wenn es sich um identische Massenpunkte handelt (d.h. um Massenpunkte der gleichen Art), braucht fνμ nicht extra indiziert werden. Das gleiche gilt auch für Uνμ in (2.452). 9 146 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK mν rν rν − rμ mμ rμ [fνμ (r) = fμν (r)], Fνμ = −∇ν Uνμ (rνμ ) = ∇μ Uνμ (rνμ ) = ∇μ Uμν (rμν ) = −Fμν . (2.453) Das Gesamtpotential der inneren Kräfte lautet dann N U (int) = 1 2 Uνμ (rνμ ), (2.454) ν,μ=1 denn N −∇ν U (int) = N − 12 ∇ν Uνμ (rνμ ) − μ=1 N 1 2 ∇ν Uμν (rμν ) μ=1 Uνμ (rνμ) N ∇ν Uνμ (rνμ) = =− μ=1 Fνμ (2.455) μ=1 Sind die äußeren Kräfte konservativ, F(ext) = F(ext) (rν ), ν ν (2.456) F(ext) = −∇ν Uν (rν ), ν (2.457) so existiert ein Gesamtpotential der äußeren Kräfte, N U (ext) = Uν (rν ). ν=1 (2.458) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 147 Das Gesamtpotential U = U (int) + U (ext) des konservativen Systems lautet somit: N N U= 1 2 Uνμ (rνμ) + ν,μ=1 Uν (rν ) (2.459) ν=1 Anmerkungen (1) Wenn ein mechanisches System abgeschlossen ist, gibt es nur innere Kräfte, die als konservativ angesehen werden können und ein zeitunabhängiges Potential besitzen, so daß Energieerhaltung gilt. Generell gilt für abgeschlossene Systeme erfahrungsgemäß ein Energieerhaltungssatz. (2) Nichtkonservative Kräfte können demnach als äußere Kräfte angesehen werden. Äußere Kräfte F(ext) = F(ext) (rν , t), ν ν (2.460) die explizit zeitabhängig sind, können bekanntlich ein Potential besitzen, das dann natürlich auch explizit zeitabhängig ist, F(ext) = −∇ν Uν (rν , t). ν (2.461) In diesem Fall kann gemäß (2.458) ein explizit zeitabhängiges Potential U (ext) eingeführt werden. Damit wird das Gesamtpotential U in (2.459) ebenfalls explizit zeitabhängig, und E = T + U ist keine Erhaltungsgröße. Wie im Falle eines Massenpunkts [Gleichung (2.110)] gilt nunmehr für das Massenpunktsystem die Energiebilanz d ∂U (T + U ) = . dt ∂t (2.462) (3) Wir wechseln den Bezugspunkt und setzen rν = r0 + rν . (2.463) 148 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK mν rν rν O r0 O Die kinetische Energie läßt sich dann wie folgt aufschreiben. N 1 m |ṙ |2 2 ν ν T = ν=1 N 1 2 mν = (ṙ0 + ṙν )·(ṙ0 + ṙν ) ν=1 N = 2 1 2 m|ṙ0 | N mν ṙν + ṙ0 · 2 1 2 mν |ṙν | , (2.464) + mṙ0 · ṙc . (2.465) + ν=1 mṙc ν=1 d.h. N T = 2 1 2 m|ṙ0 | 2 1 2 mν |ṙν | + ν=1 Wählen wir speziell als Bezugspunkt den Massenmittelpunkt des Massenpunktsystems, r0 = rc , dann gilt rc = 0, und die Gleichung (2.465) geht in N T = 2 1 2 m|ṙc | 2 1 2 mν |ṙν | + (2.466) ν=1 über. Die kinetische Energie eines Massenpunktsystems setzt sich also zusammen aus der kinetischen Energie der Translationsbewegung des im Massenmittelpunkt vereinigt gedachten Systems 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 149 und der kinetischen Energie der Teile des Systems relativ zum Massenmittelpunkt. 2.3.4 Virialsatz Bei Bewegungsvorgängen von Massenpunkten und Systemen von Massenpunkten findet ständig eine Umwandlung von kinetischer Energie in potentielle Energie und umgekehrt statt. In diesem Zusammenhang macht der Virialsatz eine Aussage darüber, wie groß im zeitlichen Mittel die Beiträge von kinetischer und potentieller Energie zur Gesamtenergie des Systems sind. Zur Herleitung gehen wir von der Bewegungsgleichung für den ν-ten Massenpunkt aus, die wir mit rν skalar multiplizieren, mν rν ·r̈ν = rν ·Fν , (2.467) d (mν rν · ṙν ) − mν |ṙν |2 = rν ·Fν , dt und summieren über alle Massenpunkte, N ν=1 d (mν rν · ṙν ) − dt N (2.468) N mν |ṙν | = rν ·Fν . 2 ν=1 (2.469) ν=1 Wir wollen annehmen, daß die Kräfte ein Potential besitzen, rν ·Fν = −rν ·∇ν U, (2.470) so daß (2.469) in der Form N ν=1 d (mν rν · ṙν ) − dt N N mν |ṙν | = − rν ·∇ν U 2 ν=1 (2.471) ν=1 geschrieben werden kann. Im weiteren interessieren wir uns für den zeitlichen Mittelwert der Gleichung (2.471). Ist f (t) eine zeitabhängige Größe, so wollen wir unter dem zeitlichen Mittelwert dieser Größe 1 t+T /2 f (t) = lim dt f (t) (2.472) T →∞ T t−T /2 150 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK verstehen. Wir mitteln die Gleichung (2.471) und erhalten t+T /2 N N d 1 (mν rν · ṙν ) = lim mν rν · ṙν T →∞ T dt ν=1 ν=1 N t−T /2 N |2 mν |ṙν − = ν=1 rν ·∇ν U . (2.473) ν=1 Für finite Bewegungen, auf die wir uns beschränken wollen, sind die Größen mν rν · ṙν für jeden Zeitpunkt endlich. Folglich gilt t+T /2 N 1 lim mν rν · ṙν = 0, (2.474) T →∞ T ν=1 t−T /2 und wir erhalten N N mν |ṙν |2 = ν=1 2T rν ·∇ν U (2.475) ν=1 Virial bzw.: N T = rν ·∇ν U 1 2 (2.476) ν=1 Der zeitliche Mittelwert der kinetischen Energie ist gleich dem halben Virial des Massenpunktsystems. Das Virial läßt sich in bestimmten Fällen weiter vereinfachen. Ist beispielsweise die potentielle Energie eine homogene Funktion zweiten Grades in den Koordinaten, so gilt (nach dem Eulerschen Theorem über homogene Funktionen) N rν ·∇ν U = 2U, ν=1 (2.477) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 151 und aus (2.476) folgt T = U. (2.478) In diesem Fall stimmen die Zeitmittel von potentieller und kinetischer Energie überein. Ein solcher Fall liegt für ein System gekoppelter linearer Schwingungen vor (Abschnitt 2.3.7.2). 2.3.5 Drehimpulsbilanz Wir multiplizieren die Bewegungsgleichung (2.410) für den ν-ten Massenpunkt (von links) vektoriell mit rν und erhalten gemäß Abschnitt 2.2.4 die Drehimpulsbilanz des ν-ten Massenpunkts als dLν = Mν dt (2.479) L ν = rν × p ν (2.480) M ν = rν × F ν . (2.481) mit und Summation der N (vektoriellen) Bilanzgleichungen (2.479) liefert dL = M, dt (2.482) wobei N L= N rν × p ν Lν = ν=1 (2.483) ν=1 der Gesamtdrehimpuls und N N rν × F ν Mν = M= ν=1 ν=1 (2.484) 152 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK das Gesamtdrehmoment des Massenpunktsystems ist. Gemäß (2.408) zerlegen wir in (2.484) Fν in innere und äußere Kräfte, N N rν × M= F(ext) + ν ν=1 Fνμ μ=1 N N rν × = F(ext) ν ν=1 rν × Fνμ . + (2.485) ν,μ=1 Unter Berücksichtigung des dritten Newtonschen Axioms Fμν = −Fνμ läßt sich der Doppelsummenterm wie folgt umformen: N N rν × Fνμ = (rν × Fνμ + rμ × Fμν ) 1 2 ν,μ=1 ν,μ=1 N = (rν × Fνμ − rμ × Fνμ ) 1 2 ν,μ=1 N = (rν − rμ ) × Fνμ . 1 2 (2.486) ν,μ=1 Wenn wir nun wieder annehmen (siehe die Bemerkungen vor Beginn des Abschnitts 2.3.2), daß die inneren Kräfte zwischen punktförmigen Massen Zentralkräfte sind, Fμν rν − rμ ∼ , |Fμν | |rν − rμ | (2.487) dann gilt offensichtlich N rν × Fνμ = 0, (2.488) ν,μ=1 und das Gesamtdrehmoment ist die Resultante der Drehmomente der äußeren Kräfte, N rν × F(ext) = M(ext) . ν M= ν=1 (2.489) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 153 Die Drehimpulsbilanz lautet somit: dL = M(ext) dt (2.490) Die zeitliche Änderung des Gesamtdrehimpulses eines Massenpunktsystems ist gleich dem Gesamtdrehmoment der äußeren Kräfte, wenn die inneren Kräfte Zentralkräfte sind. Die Beschränkung auf Zentralkräfte ist praktisch unbedeutend, da erfahrungsgemäß die Drehimpulsbilanz in der Fassung (2.490) ohne Einschränkung gültig ist. Verschwindet das Gesamtdrehmoment (der äußeren Kräfte), gilt Drehimpulserhaltung. M(ext) = 0 ; dL = 0 ; L = const. dt (2.491) Drehimpulserhaltung gilt also insbesondere für abgeschlossene Systeme. Fazit: Wirken auf ein Massenpunktsystem keine äußeren Kräfte, oder verschwindet die Resultante ihrer Drehmomente, bleibt der Gesamtdrehimpuls des Systems erhalten. Drehimpulserhaltung bedeutet drei erste Integrale der Bewegungsgleichungen. In kartesischen Koordinaten lauten sie N mν (yν żν − zν ẏν ) = Lx = C1 , ν=1 N mν (zν ẋν − xν żν ) = Ly = C2 , ν=1 N mν (xν ẏν − yν ẋν ) = Lz = C2 , ν=1 (2.492) 154 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK wobei C1, C2, C3 drei beliebige Konstanten sind, die beispielsweise durch die Anfangsbedingungen spezifizierbar sind. Die zum konstanten Gesamtdrehimpuls senkrecht stehende Ebene wird auch invariable Ebene genannt. Drehung um eine feste Achse Wir betrachten die Drehung eines Systems um eine feste Achse, die wir als z-Achse eines kartesischen Koordinatensystems auffassen können. Die Komponente von L in Richtung der Drehachse lautet dann in kartesischen und Zylinderkoordinaten N N mν (xν ẏν − yν ẋν ) = Lz = ν=1 mν 2ν ϕ̇ν . (2.493) ν=1 Falls die Komponente des Gesamtdrehmoments in Richtung der Drehachse verschwindet, d.h. Mz = 0, ist Lz eine Erhaltungsgröße, N mν 2ν ϕ̇ν = const. Lz = (2.494) ν=1 Dies ist unter irdischen Bedingungen beispielsweise der Fall, wenn die Drehachse parallel zur Schwerkraft gerichtet ist. Können die Massenpunkte insbesondere als untereinander starr verbunden angesehen werden (Modell des starren Körpers), besitzen alle Massenpunkte offensichtlich die gleiche Winkelgeschwindigkeit, ϕ̇ν = ϕ̇μ = ϕ̇ ≡ ω, (2.495) und Lz nimmt die Form N mν 2ν Lz = ω (2.496) ν=1 an. Mit N mν 2ν Θ= ν=1 (2.497) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 155 als dem auf die (z-Achse als) Drehachse bezogenem Trägheitsmoment des Systems lautet die Gleichung (2.496) Lz = Θω. (2.498) Im Falle eines ausgedehnten Körpers mit kontinuierlicher Massenverteilung kann das Trägheitsmoment analog dem Vorgehen bei der Bestimmung des Massenmittelpunkts eines solchen Körpers berechnet werden (Ende von Abschnitt 2.3.2). Der Körper wird in hinreichend kleine Massen- bzw. Volumenelemente zerlegt, und es wird von der Summation in der Definitionsgleichung (2.497) zur Integration übergegangen. Mit ρ als der Massendichte des Körpers lautet das Trägheitsmoment Θ= dm 2 = d3r ρ2 . (2.499) Das Trägheitsmonent ist um so größer, je größer die Massen und je größer ihre Entfernungen von der Drehachse sind. Bei konstantem Lz kann also die Winkelgeschwindigkeit vergrößert bzw. verkleinert werden, wenn das Trägheitsmoment verkleinert bzw. vergrößert wird (Drehsesselexperimente, Eiskunstläufer). Während es nach dem Massenmittelpunktssatz unmöglich ist, sich auf völlig reibungsfreiem Boden allein mittels innerer Kräfte (translatorisch) fortzubewegen, können die inneren Kräfte eine beliebige Winkeländerung bewirken. Rolle des Bezugspunkts Der Drehimpuls hängt i. allg. von der Wahl des Bezugspunkts ab. Es seien O und O zwei Bezugspunkte, rν = r0 + rν (2.500) (siehe die Abbildung auf Seite 148). Für den Fall, daß ṙ0 = 0 (2.501) 156 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK ist, hängen L und L wie folgt zusammen: N mν rν × ṙν L = ν=1 N mν (rν − r0 ) × ṙν = ν=1 N N mν rν × ṙν − r0 × = ν=1 mν ṙν , (2.502) ν=1 mṙc = p d.h. L = L − r0 × p. (2.503) Der Drehimpuls ist also von der Wahl des ruhenden Bezugspunkts O dann unabhängig, wenn der Gesamtimpuls des Systems verschwindet (p = 0) und somit der Massenmittelpunkt ruht. Betrachten wir nunmehr den Fall, daß sich der Bezugspunkt O relativ zu O bewegt: r0 = r0 (t). Wir finden N mν (rν − r0) × (ṙν − ṙ0 ) L = ν=1 N N mν rν × ṙν − = ν=1 mν r0 × ṙν ν=1 N − N mν rν × ṙ0 + ν=1 mν r0 × ṙ0 , (2.504) ν=1 d.h. L = L − r0 × p − m (rc − r0 ) ×ṙ0 , rc (2.505) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 157 woraus dL dp dL = − ṙ0 × p − r0 × dt dt dt −m (ṙc − ṙ0 ) × ṙ0 −m (rc − r0 ) × r̈0 , −p × ṙ0 (2.506) d.h. dL dL dp = − r0 × − m (rc − r0 ) × r̈0 dt dt dt (2.507) folgt. Für den Zusammenhang der Gesamtdrehmomente gilt N M =M (ext) rν × F(ext) ν = ν=1 N (rν − r0 ) × F(ext) ν = ν=1 = M(ext) − r0 × F(ext) , (2.508) was wegen der Impulsbilanz (2.415) auch in der Form M (ext) = M(ext) − r0 × dp dt (2.509) geschrieben werden kann. Wir fassen die Gleichungen (2.507) und (2.509) zusammen, berücksichtigen die Drehimpulsbilanz (2.490) und erhalten dL (ext) = M − m (rc − r0 ) × r̈0 . dt (2.510) Wie erwartet, gilt die Drehimpulsbilanz in der Form dL (ext) = M dt (2.511) mit M(ext) als dem Drehmoment der eingeprägten äußeren Kräfte, wenn r0 eine gleichförmig geradlinige Bewegung ausführt (oder ruht), d.h. 158 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK r̈0 = 0. Die Gleichung (2.511) mit M(ext) als dem Drehmoment der eingeprägten äußeren Kräfte gilt aber auch dann, wenn als O der Massenmittelpunkt des Systems gewählt wird, d.h. r0(t) = rc (t). (2.512) Erfolgt speziell die Bewegung im homogenen Schwerefeld der Erde, F(ext) = −gmν ez ν (2.513) (z-Achse senkrecht zur Erdoberfläche nach oben gerichtet), so gilt für die Resultante des Drehmoments N M (ext) = g ez × mν rν = gm ez ×rc = rc ×F(ext) (2.514) ν=1 und wegen (2.508) M(ext) = (rc − r0 ) × F(ext) . (2.515) Aus (2.515) ist ersichtlich, daß das auf den Massenmittelpunkt (Schwerpunkt) bezogene Drehmoment eines Massenpunktsystems im homogenen Schwerefeld der Erde verschwindet, M(ext) = 0 f ür r0 = rc . (2.516) Identifizieren wir O als den Koordinatenursprung eines Bezugssystems Σ, das relativ zu einem Inertialsystems Σ (mit Ursprung O) (bei fester gegenseitiger Achsenlage) eine durch r0 (t) beschriebene Translationsbewegung ausführt, so stellt die Gleichung (2.510) offensichtlich die Drehimpulsbilanz dar, wie sie ein Beobachter in Σ feststellt. Gemäß Abschnitt 2.1.5 wird er bei der Berechnung des Drehmoments neben den eingeprägten (äußeren) Kräften noch die Trägheitskräfte hinzunehmen. Im vorliegenden Fall liefert dies [anstelle von (2.508)] N rν (ext) × Fν − mν r̈0 ν=1 N rν × F(ext) − mrc × r̈0 ν = ν=1 = M (ext) − m (rc − r0 ) × r̈0 (2.517) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 159 [mit M (ext) aus (2.508)], d.h. gerade die rechte Seite in (2.510). Mit den Ergebnissen des Abschnitts 2.1.5 ist die Verallgemeinerung auf beliebig bewegte Bezugssysteme Σ offensichtlich. Die Drehimpulsbilanz kann in jedem Bezugssystem in der Form (2.490) angegeben werden, wenn zu den eingeprägten äußeren Kräften die jeweiligen Trägheitskräfte (die ebenfalls als äußere Kräfte auffaßbar sind) hinzugenommen werden. 2.3.6 Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen Wie in Abschnitt 2.2.5 gezeigt wurde, können im Falle von Energieund Drehimpulserhaltung die Bewegungsgleichungen für einen Massenpunkt bis auf die Berechnung von Integralen vollständig gelöst werden. Für ein Massenpunktsystem ist dies i. allg. nicht so einfach möglich. Für ein abgeschlossenes System können wir davon ausgehen, daß Energieerhaltung, Impulserhaltung und Drehimpulserhaltung gelten. Ein System aus N Massenpunkten genügt bekanntlich 3N Bewegungsgleichungen, d.h. 3N gewöhnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung. Deren Lösung ist durch 6N Integrationskonstanten bestimmt. Die oben genannten allgemeinen Erhaltungssätze liefern nur 10 Konstanten: die Energie, die 6 Orts- und Geschwindigkeitskomponenten des Massenmittelpunkts sowie die 3 Komponenten des Drehimpulses. Während die für das Zweikörperproblem fehlenden 2 Konstanten noch relativ einfach bestimmbar sind, ist dies bereits für die fehlenden 8 Konstanten des allgemeinen Dreikörperproblems nicht mehr möglich. Wie wir später sehen werden, hängen die Erhaltungssätze für ein System eng mit den Symmetrien des Systems zusammen. So können natürlich spezielle Vielkörpersysteme spezielle Symmetrien aufweisen, so daß neben den allgemeinen Erhaltungssätzen noch spezielle Erhaltungssätze gelten, die zur Integration der Bewegungsgleichungen ausgenutzt werden können. Wir wollen unter Zuhilfenahme der allgemeinen Erhaltungssätze das Zweikörperproblem etwas genauer untersuchen. Eine wichtige Anwendung ist die Bewegung zweier Massenpunkte im gegenseitigen Gravitationsfeld (Zweikörperproblem im engeren Sinne als ein Modell beispielsweise für die Bewegung von Sonne und Erde). Mit dem Kraftansatz 160 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK m1 r21 = r2 − r1 r1 r2 m2 (2.450) für die inneren Kräfte lauten die (vektoriellen) Bewegungsgleichungen für die zwei Massenpunkte r21 m1 r̈1 = −f (r21) , (2.518) r21 r21 m2 r̈2 = f (r21) . (2.519) r21 Es ist zweckmäßig, anstelle von r1 und r2 den Massenmittelpunktsvektor rc und den Abstandsvektor r21 zu verwenden. Eine einfache Rechnung zeigt, daß die Gleichungen m1 r1 + m2 r2 = (m1 + m2 )rc = mrc (2.520) r2 − r1 = r21 (2.521) und auf m2 r21 , m1 + m2 m1 = r21 m1 + m2 r1 = r1 − rc = − (2.522) r2 = r2 − rc (2.523) führen. Die Impulserhaltung impliziert, daß für den Massenmittelpunkt rc = m1 r1 + m2 r2 m1 + m2 (2.524) die Bewegungsgleichung r̈c = 0 (2.525) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS r2 r1 m1 161 m2 m r2 rc r1 gilt, der Massenmittelpunkt sich also gleichförmig geradlinig bewegt oder in Ruhe bleibt, rc = c 1 t + c 2 . (2.526) In Übereinstimmung mit dem Galileischen Relativitätsprinzip kann also beispielsweise ein solches Inertialsystem gewählt werden, dessen Ursprung mit dem Massenmittelpunkt zusammenfällt, und somit r1 = r1 − rc und r2 = r2 − rc vom Massenmittelpunkt aus gemessen werden. Multiplizieren wir die Bewegungsgleichung (2.518) mit m2 und die Bewegungsgleichung (2.519) mit m1 , und subtrahieren wir die erste Gleichung von der zweiten, so erhalten wir die Bewegungsgleichung für r21, μ r̈21 = f (r21) r21 , r21 (2.527) wobei μ= m1 m2 m1 + m2 (2.528) die reduzierte Masse ist. Damit ist das Zweikörperproblem auf das Einkörperproblem zurückgeführt. Die Bewegung der beiden Massen relativ zueinander ist offensichtlich einem Einkörperproblem vom Typ (2.174) äquivalent, bei dem sich ein Massenpunkt mit der Masse μ in einem konservativen Zentralkraftfeld f (r)r/r bewegt. Ist r21(t) bekannt, sind gemäß (2.522) und (2.523) auch r1 (t) und r2 (t) bekannt. Mittels Energie- und Drehimpulserhaltungssatz kann die Bewegungsgleichung (2.527) in der im Abschnitt 2.2.5 beschriebenen Weise integriert werden. Gemäß (2.466) ist die kinetische Energie die Summe aus der konstanten (und somit unwesentlichen) kinetischen Energie der Massenmittelpunktsbewegung und der kinetischen Energie T der Bewegung 162 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK der beiden Massenpunkte relativ zum Massenmittelpunkt. Man kann sich leicht überzeugen, daß letztere – in Übereinstimmung mit (2.527) – gerade durch T = 12 μ|ṙ21 |2 (2.529) gegeben ist [siehe auch Gleichung (2.546)]. Gemäß (2.505) ist der auf den Massenmittelpunkt bezogene Drehimpuls L = L − (m1 + m2 )rc × ṙc . (2.530) Wegen ṙc = const. und somit rc × ṙc = const. ist für konstantes L auch L konstant, L = m1 r1 × ṙ1 + m2 r2 × ṙ2 = const. (2.531) [dies kann natürlich auch direkt aus (2.511) gefolgert werden], woraus wegen r1 ↑↓ r2 [Gleichungen (2.522) und (2.523)] L ·r1 = L ·r2 = 0 (2.532) folgt. Beide Massenpunkte bewegen sich also dauernd in der zu L senkrechten und durch den Massenmittelpunkt gehenden invariablen Ebene. Dieses Ergebnis kann natürlich auch direkt aus der Bewegungsgleichung (2.527) gewonnen werden (vektorielle Multiplikation mit r21). Kepler-Problem als Zweikörperproblem Wir identifizieren m1 mit der Sonnenmasse M und m2 mit der Planetenmasse m, bezeichnen den Abstandsvektor r2 − r1 von der Sonne zum Planeten mit r (relativer Radiusvektor), und erhalten aus (2.527) und (2.528) [zusammen mit (2.334)] r̈ = − γ(M +m) r . r2 r (2.533) Die Gleichung (2.533) hat dieselbe Form wie im Falle des Einkörpermodells [Gleichungen (2.333) und (2.334)], wobei anstelle von M die Gesamtmasse M + m auftritt. Dieser Unterschied ist beim 1. und 2. Keplerschen Gesetz unwesentlich, da hier die Masse nur in Verbindung 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 163 mit beliebigen Konstanten auftritt. Der Unterschied wird wesentlich beim 3. Keplerschen Gesetz. Anstelle von (2.383) gilt nunmehr 4π 2 4π 2 3 T = a = a3 . γ(M + m) γM(1 + m/M) 2 (2.534) Die rechte Seite dieser Gleichung ist für verschiedene Planeten des Sonnensystems verschieden, so daß hinsichtlich der Umlaufzeiten zweier Planeten die Relation (2.384) durch 2 3 T1 a1 1 + m2 /M = (2.535) T2 a2 1 + m1 /M zu ersetzen ist. Der Einfluß der Sonne äußert sich also in dem Verhältnis m/M. Dies ist beim Jupiter, dem Planeten mit der größten Masse, gerade ≈ 10/00. Die auf den gemeinsamen Massenmittelpunkt bezogene Bewegung von Sonne und Planet läßt sich mittels (2.522) und (2.523) leicht feststellen. Mit den Bezeichnungen rM = r1 und rm = r2 gilt m r, M +m M rm = r. m+M rM = − (2.536) (2.537) Die auf den Massenmittelpunkt bezogene Bewegung der beiden Körper ist ebenfalls eine Keplersche Bewegung. So ist im Falle einer elliptischen Bewegung die Ellipse des Planeten wegen des Faktors M/( M + m) ≈ 1 nahezu vom gleichen Maß wie die Ellipse der relativen Bewegung von Sonne und Planet. Demgegenüber ist die Ellipse der Sonne eine um das Verhältnis m/( M + m) ≈ m/M kleinere Ellipse. 2.3.7 Spezielle Probleme 2.3.7.1 Der Stoß Wir betrachten zwei Körper (Teilchen), die gewissen inneren Kräften unterworfen sind. Dabei wollen wir annehmen, daß die gegenseitige Kraftwirkung zwischen den beiden Körpern kurzreichweitig ist, d.h., 164 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK wenn die Körper hinreichend weit voneinander entfernt sind, kann angenommen werden, daß sie sich kräftefrei bewegen. Unter einem Stoß zweier (oder auch mehrerer) Körper wollen wir ihr plötzliches (kurzzeitiges) Zusammentreffen verstehen. Eine genaue, von den elastischen und plastischen Eigenschaften der Stoßpartner ausgehende Theorie der bei einem Stoß auftretenden Erscheinungen ist i. allg. recht schwierig. Offensichtlich reicht das Modell zweier Massenpunkte nicht aus, um die Einzelheiten der Wechselwirkung während eines Stoßes zu beschreiben, da hier die geometrische Gestalt der beiden Körper und die Art der inneren Kräfte zu berücksichtigen sind. Trotzdem lassen sich Aussagen über die Bewegung der Körper nach dem Stoß machen, da die inneren Kräfte die Bahn des Massenmittelpunkts nicht beeinflussen. u1 m1 m1 v1 Stoßgebiet v2 m2 m2 u2 Es ist üblich, Stöße unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu klassifizieren. Vom kinematischen Standpunkt aus ist der Stoß zweier Körper beliebiger Form zentral, wenn die gemeinsame Normale der beiden Flächen im Berührungspunkt – die Stoßnormale – mit der die Massenmittelpunkte verbindenden Geraden zusammenfällt. So ist der Stoß zweier homogener Kugeln immer zentral. Ein Stoß heißt schief oder gerade, je nachdem ob die beiden Geschwindigkeiten (der Massenmittelpunkte) unmittelbar vor dem Stoß in eine Gerade fallen oder nicht. So ist in der Abbildung der Stoß für α = 0 zentral und für α = 0 nichtzentral. Ferner ist er für β = 0 gerade und für β = 0 schief. Wir betrachten zwei Körper der Massen m1 und m2 ; ihre (Massenmittelpunkts-)Geschwindigkeiten vor dem Stoß seien v1 und v2 und nach dem Stoß u1 und u2 . Da die Stoßkräfte innere Kräfte sind, 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 165 Verbindungsgerade der Massenmittelpunkte α v1 v2 Gerade der Flächennormalen β gilt Erhaltung des Gesamtimpulses, m1 v1 + m2 v2 = m1 u1 + m2 u2 . (2.538) Wie im Abschnitt 2.3.6 ist es auch hier wieder zweckmäßig, Massenmittelpunktsvektor rc und Abstandsvektor r = r2 − r1 (2.539) zu verwenden, m2 r, m m1 r2 = rc + r, m r1 = rc − (2.540) (2.541) m = (m1 + m2 ) [Gleichungen (2.522) und (2.523)]. Aus (2.540) und (2.541) folgt für die Geschwindigkeiten m2 ṙ, m m1 ṙ2 = ṙc + ṙ. m ṙ1 = ṙc − (2.542) (2.543) Die Gleichungen (2.542) und (2.543) gelten sowohl für die Geschwindigkeiten vor dem Stoß (v1, v2, vc , v) und nach dem Stoß (u1, u2, uc , u), 166 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK und die Impulserhaltung bedeutet: ṙc = uc = vc (2.544) Der Massenmittelpunkt der beiden Stoßpartner führt eine gleichförmig geradlinige Bewegung aus oder ruht. Analog gilt auch Drehimpulserhaltung, die im vorliegenden Fall jedoch keine weiteren Gleichungen ergibt. Um die unbekannten Geschwindigkeiten u1 und u2 zu bestimmen, sind weitere Annahmen notwendig. Wir wollen im folgenden von möglichen Rotationsbewegungen der Körper absehen. Elastischer Stoß Im Idealfall des vollkommen elastischen Stoßes bleibt die kinetische Energie der Translationsbewegung des Gesamtsystems erhalten, m1 |v1 |2 + m2 |v2 |2 = m1 |u1 |2 + m2 |u2|2 . Wir verwenden (2.542) und (2.543) und erhalten m2 2 m1 2 v + m2 vc + v m1 vc − m m m1 m2 |v|2, = m|vc |2 + m μ (2.545) (2.546) so daß (2.545) in der Form m|vc |2 + μ|v|2 = m|uc |2 + μ|u|2 (2.547) geschrieben werden kann bzw. wegen (2.544) |v|2 = |u|2. (2.548) Während damit der Betrag von u durch den Betrag von v festgelegt ist, bleibt seine Richtung noch offen, u = ve (2.549) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 167 (v = |v|). In anderen Worten, der Vektor der Relativgeschwindigkeit wird im Ergebnis des betrachteten elastischen Stoßes i. allg. gedreht. Der die Richtung von u (d.h. die Richtung, in die die Relativgeschwindigkeit gedreht wird) festlegende Einheitsvektors e hängt offensichtlich von den konkreten Wechselwirkungen zwischen den stoßenden Körpern und ihrer relativen Lage zu Zeiten während des Stoßes ab. Wir wenden (2.542) und (2.543) auf die Geschwindigkeiten nach dem Stoß an, berücksichtigen (2.544) sowie (2.549) und erhalten m2 v e, m m1 u2 = vc + v e, m u1 = vc − (2.550) (2.551) bzw. ausführlich m1 v1 +m2 v2 m2 − v e, m m m1 v1 +m2 v2 m1 u2 = + v e. m m u1 = (2.552) (2.553) Wir drücken die Geschwindigkeiten v1 , v2 und u1, u2 durch die entsprechenden Impulse aus, p1 = m1 v1, p2 = m2 v2 , (2.554) q1 = m1 u1, q2 = m2 u2 , (2.555) und erhalten m1 (p1 + p2) − μv e, m m2 q2 = (p1 + p2) + μv e. m q1 = (2.556) (2.557) Die obigen Resultate können in übersichtlicher Weise graphisch veranschaulicht werden, wie die folgende Abbildung zeigt. −→ −→ m2 m1 (p1 +p2), OB = (p1 +p2), OC = μv e, AO = m m −→ −→ −→ (2.558) −→ AB = p1 + p2, AC = q2, CB = q1 . (2.559) 168 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK C e O A B Wir wollen annehmen, daß die Stoßnormale bekannt ist und zerlegen e in zwei Komponenten, nämlich eine in Richtung der Stoßnormalen (Einheitsvektor eN ) und eine senkrecht dazu in der Tangentialebene (Einheitsvektor eT ). u = uT eT + uN eN . (2.560) Für den elastischen Stoß gilt offensichtlich uT = vT , uN = vN . (2.561) Unelastischer Stoß Der andere Grenzfall ist der vollkommen unelastische Stoß, bei dem die beiden Körper in Richtung der Stoßnormalen die gleiche Geschwindigkeit annehmen, uN = 0 , (2.562) d.h. u1 N = u2 N . Bei den tatsächlich vorkommenden Stößen ist man in Ermangelung genauer Kenntnisse auf die Einführung von empirischen Koeffizienten angewiesen. Zu Beginn des Stoßes werden die Körper so lange zusammengedrückt, bis die ursprüngliche Relativgeschwindigkeit in Richtung der Stoßnormalen Null wird. Dann folgt der Rückgang der Formänderung. Die Richtung der Relativgeschwindigkeit in Richtung der Stoßnormalen kehrt sich um. Nach Beendigung des Vorgangs ist sie jedoch 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 169 wegen i. allg. unvollständiger Elastizität kleiner als zu Beginn des Stoßvorgangs, uN = , vN ≤ 1. (2.563) Die empirische Konstante wird auch Restitutions- oder Stoßkoeffizient genannt. Im Grenzfall des vollkommen elastischen Stoßes gilt = 1 und entsprechend = 0 für den vollkommen unelastischen Stoß. In der Praxis liegt der Wert von irgendwo dazwischen. So ist beispielsweise für Stahlkugeln ≈ 0.6 und für Elfenbein ≈ 0.9. Die Tangentialkomponenten können i. allg. als unveränderlich angesehen werden, uT = vT . (2.564) Eine graphische Darstellung kann analog zum Fall des vollkommen elastischen Stoßes erfolgen; jedoch gilt nunmehr ṽ ≤ v, u = ṽ e, (2.565) ṽ 2 = vT2 + 2vN2 v 2 N , = v 2 + (2 −1)vN2 = v 2 1 + (2 −1) v (2.566) d.h. ṽ = v 2.3.7.2 1+ (2 − 1) v 2 N v . (2.567) Gekoppelte Schwingungen Wir betrachten zwei (lineare) Federschwinger, die untereinander über eine dritte Feder gekoppelt sind. Die Bewegungsgleichungen lauten (ext) + F12 , (2.568) (ext) + F21 . (2.569) m1 ẍ1 = F1 m2 ẍ2 = F2 170 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK x m2 m1 Mit den linearen Kraftansätzen (ext) F1 (ext) F2 und F12 (0) (0) x1 , = −k1 x1 − (0) = −k2 x2 − x2 (0) (0) = −k x1 − x1 − x2 + x2 = −F21 (2.570) (2.571) (2.572) (0) (x1 , x2 - Ruhelagen) erhalten wir also m1 x̄¨1 = −k1x̄1 − k(x̄1 − x̄2), (2.573) m2 x̄¨2 = −k2x̄2 + k(x̄1 − x̄2), (2.574) wobei (0) (2.575) (0) (2.576) x̄1 = x1 − x1 , x̄2 = x2 − x2 die auf die Gleichgewichtslagen bezogenen Koordinaten sind. Die Kräfte sind konservativ, und die potentielle Energie ist durch die quadratische Form U = 12 (k1 + k)x̄21 + (k2 + k)x̄22 − 2kx̄1x̄2 (2.577) gegeben. Offensichtlich gilt Energieerhaltung. Das Differentialgleichungssystem (2.573) und (2.574) kann gemäß der allgemeinen Theorie gewöhnlicher, linearer Differentialgleichungssysteme über den Ansatz x̄1 = A1 eλt , x̄2 = A2eλt (2.578) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 171 gelöst werden, der, wie eine einfache Rechnung zeigt, auf die Säkulargleichung k1 k k2 k k k 2 2 λ + + + =0 (2.579) λ + − m1 m1 m2 m2 m1 m2 führt, deren Wurzeln unschwer berechnet werden können. Wir schreiben das Differentialgleichungssystem (2.573) und (2.574) etwas um, indem wir Massenmittelpunkts- und Relativkoordinaten einführen, x̄c = 1 (m1 x̄1 + m2 x̄2), m (2.580) x̄ = x̄2 − x̄1 , (2.581) so daß m2 x̄, m m1 x̄2 = x̄c + x̄ m x̄1 = x̄c − (2.582) (2.583) [siehe (2.540) und (2.541)] gilt. Eine kurze Rechnung liefert das folgende Differentialgleichungssystem für x̄c und x̄: k1 +k2 μ k1 k2 x̄¨c = − x̄, (2.584) x̄c + − m m m1 m2 x̄¨ = k1 k2 − m1 m2 k x̄c − + μ m2 k1 m1 k2 + m m1 m m2 x̄ (2.585) (μ - reduzierte Masse). Offensichtlich gilt keine Impulserhaltung, so daß natürlich auch Massenmittelpunkts- und Relativbewegung i. allg. nicht entkoppeln. Sie entkoppeln, falls k1 k2 = m1 m2 (2.586) 172 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK ist, d.h., falls die Eigenfrequenzen k k2 1 (0) (0) ω1 = , ω2 = m1 m2 (2.587) (0) der beiden ungestörten harmonischen Oszillatoren gleich sind, ω1 = (0) ω2 ≡ ω1 . Die Koordinaten, für die die Bewegungsgleichungen linear gekoppelter harmonischer Oszillatoren entkoppeln, heißen Normalkoordinaten. Ihre Bestimmung wird auch Normalkoordinatenanalyse genannt. Im Falle zweier linearer harmonischer Oszillatoren gleicher Frequenz sind also Massenmittelpunkts- und Relativkoordinate die Normalkoordinaten des gekoppelten Systems. Wir wollen uns der Einfachheit halber zunächst auf diesen Fall konzentrieren. Mit k1 m2 k1 k2 k1 + k2 m1 k2 = = = + = ω12 , (2.588) m1 m2 m m m1 m m2 wird aus (2.584) und (2.585) x̄¨c + ω12x̄c = 0, (2.589) x̄¨ + ω22x̄ = 0, (2.590) wobei k (2.591) μ ist. Die Gleichungen (2.589) und (2.590) sind die Bewegungsgleichungen harmonischer Oszillatoren, und die allgemeine Lösung lautet ω22 = ω12 + x̄c (t) = Ac cos(ω1t + αc ), (2.592) x̄(t) = A cos(ω2t + α), (2.593) (Abschnitt 1.3.3). Damit ergeben sich gemäß (2.582) und (2.583) für die Auslenkungen aus den Gleichgewichtslagen m2 x̄1(t) = Ac cos(ω1t + αc ) − A cos(ω2t + α), (2.594) m m1 x̄2(t) = Ac cos(ω1t + αc ) + A cos(ω2t + α). (2.595) m 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 173 Die sich für Ac = 0, A = 0 und Ac = 0, A = 0 ergebenden zwei Schwingungen der Eigenfrequenzen ω1 und ω2 des gekoppelten Systems werden auch Normalschwingungen bzw. Eigen- oder Fundamentalschwingungen des Systems genannt. Die allgemeine Lösung ergibt sich dann als beliebige Überlagerung der beiden Normalschwingungen. Normalschwingungsanalyse als lineares Eigenwertproblem Die Entkopplung der Bewegungsgleichungen eines linearen, schwingenden Systems durch Einführung geeigneter Linearkombinationen der Systemkoordinaten kann natürlich auch für Systeme mit mehr als zwei Massenpunkten (Teilchen) durchgeführt werden (z.B. für Moleküle und Kristallgitter). Eine systematische Methode zum Auffinden der Normalschwingungen basiert auf Diagonalisierungsverfahren für (reelle, symmetrische) Matrizen. Um dies zu sehen, schreiben wir die obigen Resultate für unsere zwei gekoppelten Oszillatoren etwas um. Wir beginnen mit den Bewegungsgleichungen (2.573) und (2.574), die in der Form x̃¨ν = − Vνμ x̃μ (2.596) μ geschrieben werden können, wobei die skalierten Koordinaten √ mν x̄ν = x̃ν (2.597) eingeführt wurden. Die symmetrische, reelle Matrix Vνμ hängt mit der Matrix Uνμ in der potentiellen Energie U= 1 2 Uνμ x̄ν x̄μ (2.598) ν,μ wie folgt zusammen: Vνμ = (mν mμ )−1/2Uνμ . (2.599) Gemäß (2.594) und (2.595) kann dann die Lösung in der Form x̃ν (t) = Cνμ qμ (t) μ (2.600) 174 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK dargestellt werden, wobei die Normalkoordinaten qν harmonische Oszillatoren repräsentieren: q̈ν + ων2 qν = 0 Die Matrix Cνμ lautet in unserem speziellen Fall √ √ m − m 1 1 2 Cνμ = √ . √ √ m m2 m1 (2.601) (2.602) Sie ist orthogonal, (C −1)νμ = Cμν , (2.603) und diagonalisiert offensichtlich die Matrix Vνμ : (C −1)νν Vν μ Cμ μ = ων2 δνμ ν ,μ (2.604) Wendet man C −1 (von links) auf die Gleichung (2.596) an, so ergibt sich die Gleichung (2.601) genau dann, wenn die Gleichung (2.604) erfüllt ist. Die Normalschwingungsanalyse läuft also auf die Lösung des Eigenwertproblems der Matrix Vνμ hinaus. Die Eigenwerte bestimmen die Quadrate der Eigenfrequenzen, und die Eigenvektoren legen die Geometrie der Normalschwingungen fest, d.h. die jeweilige Linearkombination der Ausgangskoordinaten. Es ist klar, daß das Verfahren nicht nur auf die zunächst betrachteten zwei speziellen, sondern ganz allgemein auf N gekoppelte harmonische Oszillatoren anwendbar ist (d.h. ν, μ = 1, 2, . . . , N in obigen Gleichungen, N beliebig).10 Normalschwingungen zeichnen sich meistens durch eine besonders hohe Symmetrie 10 Dies schließt auch dreidimenionale Bewegungen der beteiligten Massenpunkte ein, da den einzelnen Koordinaten x̄ν natürlich auch unterschiedliche Raumrichtungen entsprechen können. 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 175 der Bewegung der Massenpunkte aus, was die Rechnungen in der Praxis sehr vereinfachen kann. Schwebungen Wir kehren zu unserem Ausgangsproblem zweier gekoppelter harmonischer Oszillatoren zurück und wollen zwei Grenzfälle diskutieren. Ist (für entsprechende Anfangsbedingungen) über die frei wählbaren Koeffizienten in (2.594) und (2.595) so verfügt, daß Ac = (m2/m)A ist, so setzt sich x̄1(t) aus zwei Schwingungen gleicher Amplitude zusammen. Analog ist x̄2(t) für Ac = (m1/m)A eine Überlagerung zweier Schwingungen gleicher Amplitude. Ist m1 = m2 , trifft der Sachverhalt für x1(t) und x2(t) gleichermaßen zu. Unterscheiden sich die beiden Schwingungen (gleicher Amplitude) nur schwach in ihren Frequenzen, ω2 − ω1 ω2 + ω1 (2.605) so liegen jeweils Schwebungen vor (Abschnitt 1.3.3.2). Dies ist offensichtlich der Fall, wenn die beiden Oszillatoren nur schwach gekoppelt sind, k k1 k2 = . μ m1 m2 (2.606) Ist m1 = m2 , so führen beide Massenpunkte Schwebungen aus, die für αc = α offenbar gerade um π/2 verschoben sind. Hat die Amplitude der einen Schwingung ihren größten Wert erreicht, dann ist die der anderen Schwingung Null und umgekehrt. Der geschilderte Bewegungszustand kann erreicht werden, wenn anfangs die beiden Massenpunkte ruhen und einer von beiden aus der Gleichgewichtslage ausgelenkt ist. Bei der dann einsetzenden Bewegung wird die Energie des Systems zwischen den beiden Massenpunkten periodisch ausgetauscht. Erzwungene Schwingungen Wir wollen annehmen, daß in den Ausgangsgleichungen (2.573) und (2.574) m2 m1 (2.607) k k m2 m1 (2.608) und somit 176 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK gilt und die Werte von k1/m1 und k2 /m2 endlich (fest) sind. Dann kann in (2.574) der zweite Term (näherungsweise) weggelassen werden, m2 x̄¨2 = −k2 x̄2 , (2.609) und folglich führt der Massenpunkt m2 (näherungsweise) eine ungestörte Schwingung aus, (0) (2.610) x̄2(t) = A2 cos ω2 t + α2 . Wir setzen (2.610) in (2.573) ein und erhalten (0) ¨ m1 x̄1 = −(k1 + k) x̄1 + kA2 cos ω2 t + α2 . (2.611) Die Gleichung (2.611) ist die Bewegungsgleichung einer erzwungenen Schwingung eines harmonischen Oszillators der Eigenfrequenz k1 k ω1 = + (2.612) m1 m1 (0) unter dem Einfluß einer harmonischen Kraft der Frequenz ω2 (siehe Abschnitt 2.2.6.5). Wir sehen, eine erzwungene Schwingung kann als Grenzfall von Koppelschwingungen aufgefaßt werden. Die Erzeugung eines schwingungsfähigen Systems durch eine äußere Kraft bedeutet seine Kopplung mit einem zweiten System derart, daß dieses vom ersten nicht bzw. nur in vernachlässigbar kleinem Maß beeinflußt wird, die Rückwirkung des ersten auf das zweite System also weggelassen werden kann. 2.3.7.3 Die Raketengleichung Als Beispiel der Bewegung eines Körpers mit veränderlicher Masse wollen wir die Bewegung einer Rakete untersuchen, deren Masse sich durch Ausstoßen von Masse verändert. Fassen wir die Rakete plus ausgestoßene Masse als Massenpunktsystem auf, so gilt offensichtlich Massenerhaltung, und für den Gesamtimpuls gilt die Bilanzgleichung ṗ = F(ext) . (2.613) 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 177 t + Δt t m |Δm| m − |Δm| v v + Δv + u v + Δv Die zeitliche Änderung des Gesamtimpluses kann wie folgt berechnet werden (siehe die Abbildung): Impuls zur Zeit t: p = mv (2.614) Impuls zur Zeit t + Δt: p + Δp = [m − |Δm|][v + Δv] + |Δm|[v + Δv + u] = mv + mΔv + |Δm|u (2.615) (u - relative Austrittsgeschwindigkeit der ausströmenden Masse), d.h. Δp = mΔv + |Δm|u (2.616) bzw. in der Grenze Δt → 0 ṗ = mv̇ − ṁu (2.617) (ṁ<0). Wir fassen die Gleichungen (2.613) und (2.617) zusammen und erhalten die Raketengleichung mv̇ = F(ext) + ṁu (2.618) Die Gleichung (2.618) kann offensichtlich in die Form d (mv) = F(ext) + ṁ(v + u) dt (2.619) 178 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK gebracht werden, in der sie die Impulsbilanz für die Rakete darstellt. Die zeitliche Änderung des Impulses einer Rakete ist gleich der äußeren Kraft und der Schubkraft ṁ(v + u). Betrachten wir als Beispiel den geradlinigen Aufstieg einer Rakete (Bewegung in z-Richtung) im homogenen Schwerefeld der Erde, v = ż ez , (2.620) u = −u ez , (2.621) F(ext) = −mg ez . (2.622) In diesem Fall lautet die Raketengleichung (2.618)11 z̈ = −g − ṁ u. m (2.623) woraus für die Raketengeschwindigkeit t ṁ ż = −g(t − t0 ) − dt u m t0 (2.624) [ż(t0 ) = 0] und die Bahnkurve z(t) = − 12 g(t − t0 ) − t 2 t dt t0 t0 dt ṁ u m (2.625) [z(t0 ) = 0] folgen. Speziell für konstante Ausströmgeschwindigkeit u = const. gilt m(t0 ) . (2.626) ż = −g(t − t0) + u ln m(t) Ist zum Zeitpunkt t= tf sämtlicher Treibstoff verbraucht, hat die Rakete die Geschwindigkeit m(t0 ) (2.627) vf = −g(tf − t0 ) + u ln m(tf ) 11 Eine genauere Untersuchung erfordert i. allg. auch die Berücksichtigung der Reibungsverluste durch die Atmosphäre; siehe Abschnitt 2.2.6.2. 2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS 179 erreicht, und für t> tf unterliegt sie dann den Gesetzen des senkrechten Wurfs, ż = −g(t − tf ) + vf . (2.628) Der zweite Term in (2.627), der die Endgeschwindigkeit ohne äußere Kraft darstellt, hängt also nur vom Massenverhältnis m(t0 )/m(tf ) ab. Insgsamt wird also die maximal erreichbare Geschwindigkeit (2.627) um so größer, je schneller möglichst viel Masse ausströmt. 180 KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK Kapitel 3 Lagrangesche Mechanik 3.1 3.1.1 Das d’Alembertsche Prinzip Freie und gebundene Systeme Vom mechanisch-mikroskopischen Standpunkt aus könnte man die Welt“ als ein System von Massenpunkten auffassen, zwischen denen ” Kräfte wirken, die Anlaß für die Bewegung der Massenpunkte entsprechend den Newtonschen Bewegungsgleichungen geben. Abgesehen davon, daß sich die Physik nicht auf die klassische Punktmechanik reduzieren läßt, stößt dieses Konzept bereits in der Mechanik selbst auf unüberwindbare praktische Hindernisse. Stellen wir uns vor, ein ausgedehnter, makroskopischer Körper würde als ein System von Massenpunkten beschrieben, beispielsweise im Sinne von Atomen oder Molekülen. Wir hätten es dann größenordnungsmäßig mit N = 1023 Teilchen zu tun, d.h. mit 3·1023 gekoppelten, gewöhnlichen Differentialgleichungen zweiter Ordnung, die gelöst werden müßten zur Bestimmung der Bahnkurven aller Teilchen. Dies ist natürlich praktisch unmöglich. Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation besteht darin zu versuchen, das jeweilige Gesamtsystem in ein (möglichst kleines“) Ob” jekt, dessen physikalische Eigenschaften primär gesucht sind, und eine Umgebung, deren Einfluß auf das Objekt durch geeignete Annahmen (zumindest näherungsweise) erfaßbar sind, ohne auf die mikroskopischen Bewegungsgleichungen der Körper der Umgebung zurückzugreifen, zu unterteilen. Ein solches Vorgehen setzt in der Regel voraus, daß 181 182 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK die Rückwirkung des Objekts auf die Umgebung vernachlässigbar sein muß. z α x Betrachten wir beispielsweise einen Körper (im Sinne eines Massenpunkts), der unter dem Einfluß der Schwerkraft auf einer schiefen Ebene hinabgleitet. Er unterliegt der Gravitationskraft der Erde (die schiefe Ebene eingeschlossen) und seitens der schiefen Ebene Kräften, die ihn entlang der schiefen Ebene zwingen und verhindern, daß er in sie eindringen oder gar hindurchfallen kann. Das setzt insbesondere voraus, daß unter dem Einfluß des Körpers keine merkliche Deformation der schiefen Ebene eintritt, die Wirkung des Körpers auf die schiefe Ebene hinreichend schwach und somit vernachlässigbar ist. Unter diesen Bedingungen kann also im Sinne obiger Einteilung der Körper als Objekt und die schiefe Ebene als Umgebung betrachtet werden, deren Einfluß auf den Körper durch eine äußere Kraft beschrieben werden kann, einer Zwangskraft, die ihn zwingt, sich ausschließlich auf der schiefen Ebene zu bewegen. Es liegt auf der Hand, daß es sinnlos wäre, die schiefe Ebene in Massenpunkte zu zerlegen, die sowohl untereinander als auch mit dem zu untersuchenden Objekt wechselwirken, und zu versuchen, die resultierenden Bewegungsgleichungen zu lösen. Wie bereits erwähnt, ist es für viele Zwecke ausreichend anzunehmen, daß die schiefe Ebene ein starrer Körper ist, der durch den abgleitenden Körper nicht beeinflußt wird. Der Einfluß der schiefen Ebene besteht dann einzig darin, daß sich der Körper nicht frei bewegen kann, sondern nur eingeschränkt oder gebunden (nämlich entlang der Oberfläche der schiefen Ebene). Werden auch die Reibungsverluste in Rechnung gestellt, tritt neben die Zwangskraft noch eine zusätzliche dissipative Kraft. Die Vorstellung, daß sich ein Massenpunkt nur eingeschränkt bewegen kann, bedeutet, daß er in seinem Bewegungsablauf gewissen Ne- 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 183 benbedingungen unterworfen ist, die sich in Form von Bedingungsgleichungen für die Bahnkurve formulieren lassen, d.h., Elemente der Bahnkurve werden gewissermaßen vorgegeben.1 Im vorliegenden Beispiel ergibt sich die Bedingungsgleichung aus der Forderung, daß der Massenpunkt auf der schiefen Ebene bleibt, d.h. x sin α − z cos α = 0. (3.1) Es können also nur solche Werte von x(t) und z(t) während einer Bewegung realisiert werden, die der Bedingung (3.1) genügen. Entsprechend der Begriffsbildungen freie und eingeschränkte Bewegung spricht man auch von freien und gebundenen Systemen. Es sollte angemerkt werden, daß die erwähnte Einteilung eines Gesamtsystems in ein System und eine Umgebung (Rest des Gesamtsystems, das das System zwar beeinflußt, jedoch selbst im wesentlichen unbeeinflußt bleibt) typisch für das Herangehen an physikalische Probleme ist. Es ist klar, daß sich der Einfluß einer Umgebung auf ein System nicht immer durch Bedingungsgleichungen [etwa der Form (3.1)] und der damit verbundenen Zwangskräfte erfassen läßt. Ein typisches Beispiel dafür ist die Dämpfung (Reibung) eines Systems auf Grund seiner Wechselwirkung mit der Umgebung. Hier ist ein grundsätzlich anderes Vorgehen erforderlich, um die zusätzlichen dissipativen Kräfte zu finden. 3.1.2 Bedingungsgleichungen Wir wollen gebundene Systeme etwas genauer untersuchen und dabei andere Enflüsse wie etwa Reibung vernachlässigen. Ehe wir uns der Aufgabe zuwenden, ein allgemeines Verfahren zu formulieren, das es gestattet, zu praktischen Bewegungsgleichungen zu gelangen und in diesem Zusammenhang auch die den Bindungen entsprechenden Zwangskräfte zu bestimmen, wollen wir die üblichen Nebenbedingen klassifizieren. Dazu betrachten wir wieder ein System aus N Massenpunkten, wobei wir der Zweckmäßigkeit halber eine etwas andere Numerierung verwenden werden. Wir legen kartesiche Koordinaten zugrunde und numerieren die insgesamt 3N Koordinaten und Kraftkomponenten mit 1 Dies ist bei der Konstruktion von Maschinen mit ihren speziellen Bewegungsabläufen von elementarer Bedeutung. 184 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK lateinischen Indizes von 1 bis 3N . Die Massen numerieren wir ebenfalls von 1 bis 3N durch mit der Maßgabe, daß die drei Massen, die zu einem Teilchen gehören, jeweils gleich sind. Das System der Newtonschen Bewegungsgleichungen lautet dann mi ẍi = Fi (i = 1, 2, . . . , 3N ). (3.2) Die Massenpunkte gebundener Systeme können durch recht verschiedene Arten von Bindungen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. So kann zwischen äußeren und inneren Bindungen unterschieden werden. • Bindungen an feste Flächen oder Kurven im Raum: äußere Bindungen. • Bindungen, die die gegenseitigen Lagen der Massenpunkte einschränken: innere Bindungen. Wie bereits erwähnt, können derartige, die Bewegungsfreiheit einschränkende Bindungen als Nebenbedingungen formuliert werden. Dabei werden üblicherweise vier Grundtypen von Nebenbedingungen unterschieden. Holonome Nebenbedingungen Holonome Nebenbedingungen lassen sich in Form von Gleichungen der folgenden Art formulieren: fk (xj , t) = 0 (k = 1, 2, . . . , r) (3.3) [fk (xj , t) ≡ fk (x1, x2, . . . , x3N , t)] bzw. 3N ∂fk i=1 ∂xi ẋi + ∂fk = 0, ∂t (3.4) ∂fk dt = 0 ∂t (3.5) was gleichbedeutend mit 3N ∂fk i=1 ∂xi dxi + 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 185 ist. Die Anzahl r der (voneinander unabhängigen) Nebenbedingungen kann offensichtlich die Anzahl 3N der Bewegungsgleichungen nicht übersteigen, r ≤ 3N. (3.6) Die Größe f = 3N − r (3.7) bestimmt die Anzahl der Freiheitsgrade des Systems. Anholonome Nebenbedingungen Anholonome Nebenbedingungen lassen sich nur in Form von Differentialgleichungen formulieren, 3N fki(xj , t)ẋi + fk0(xj , t) = 0, (3.8) i=1 was gleichbedeutend mit 3N fki(xj , t)dxi + fk0(xj , t)dt = 0 (3.9) i=1 ist. Die Funktionen fki(xj , t) und fk0 (xj , t) sind so beschaffen, daß (für gegebenes k) keine Funktion fk (xj , t) existiert, für die die Gleichung ∂fk dfk ∂fk = =0 ẋi + dt ∂x ∂t i i=1 3N (3.10) zu (3.8) äquivalent ist. Die Differentialgleichung (3.8) besitzt also keinen integrierenden Faktor, d.h., es gibt kein vollständiges Differential, das zu (3.9) äquivalent ist. Ein typisches Beispiel für eine anholonome Bedingung ist die Bedingung für die Bewegung eines Schlittschuhs auf einer ebenen Eisfläche. Als vereinfachtes Modell eines Schlittschuhs nehmen wir eine (kurze) Gerade, die wir als Massenpunkt mit einem inneren Freiheitsgrad (Einstellwinkel ϕ der Schneide) ansehen können. Die Bewegung des Schlittschuhs ist offensichtlich dadurch eingeschränkt, daß sie nur in Richtung der Schneide erfolgen kann und nie senkrecht zu ihr, d.h. ẏ − tan ϕ ẋ = 0. (3.11) 186 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Die Bedingung (3.11) ist anholonom. Anderfalls wäre sie äquivalent zu y ϕ x einer Bedingung in der Form f (x, y, ϕ) = 0, was nicht möglich ist, weil dann ϕ bei vorgegebenem Ort festgelegt wäre. Dies kann natürlich auch direkt verfiziert werden, wenn die Bedingung (3.11) in differentieller Form aufgeschrieben wird, dy − tan ϕ dx + 0 dϕ = 0. (3.12) Da der Term mit dϕ verschwindet, kann es keinen integrierenden Faktor geben. Zu den anholonomen Bedingungen werden auch solche gezählt, die nur in Form von Ungleichungen formulierbar sind. Solche einseitigen Bindungen werden auch unilateral genannt im Gegensatz zu Bindungen, die in Form von Gleichungen formulierbar sind und auch als bilateral bezeichnet werden. Eine unilaterale Bindung ist beispielsweise die Forderung, daß ein Massenpunkt ein bestimmtes Volumen nicht verlassen darf. Ein typisches Beispiel ist der Fall, daß ein Massenpunkt eine Fläche nach einer Seite nicht verlassen kann, während er sich im Raum über der anderen Seite der Fläche frei bewegen kann. So kann beispielsweise ein Massenpunkt an einem Faden der Länge l im Schwerefeld der Erde alle Punkte innerhalb der Kugel r = l erreichen, aber nicht Punkte außerhalb. Es ist klar, daß der Massenpunkt die Kugelfläche tatsächlich verlassen kann und dann innerhalb der Kugel ein Stück einer Wurfparabel durchläuft. Ein anderes Beispiel ist ein Skispringer, der am Schanzentisch abhebt. Im allgemeinsten Fall wird man es mit Systemen zu tun haben, deren Bewegungsfreiheit sowohl durch holonome als auch anholonome 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 187 Bindungen eingeschränkt ist. Wir wollen Systeme mit gemischten Bindungen generell als anholonome Systeme bezeichnen und nur solche als holonome Systeme, für die ausschließlich Bedingungsgleichungen der Form (3.3) [bzw. (3.4) oder (3.5)] vorliegen. Skleronome Nebenbedingungen Nebenbedingungen (holonom oder anholonom) heißen skleronom, wenn sie nicht explizit von der Zeit abhängen. Im Falle von holonomen Bedingungen muß also ∂fk =0 ∂t (3.13) gelten und im Falle von anholonomen Bedingungen ∂fki = 0 (i = 1, 2, . . . , 3N ), ∂t fk0 = 0. (3.14) 188 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Rheonome Nebenbedingungen Rheonome Nebenbedingungen sind explizit zeitabhängige Nebenbedingungen. Es ist klar, daß im Falle eines Systems, das r Nebenbedingungen unterliegt, diese unterschiedlicher Art sein können. Neben holonomen können anholonome Bedingungen vorkommen, und die Bedingungen können teils skleronom und teils rheonom sein. 3.1.3 Das d’Alembertsche Prinzip Entsprechend dem zweiten Newtonschen Axiom genügen die Massenpunkte eines Massenpunktsystems den Bewegungsgleichen (3.2). Im Falle von gebundenen Systemen setzen sich die Kräfte aus eingeprägten Kräften und Zwangskräften zusammen. Eingeprägte Kräfte sind solche Kräfte, die auch im Falle des freien Systems (im Inertialsystem) wirksam sind. Wie bereits erwähnt, sind Zwangskräfte diejenigen Kräfte, die entsprechend den vorliegenden Bindungen die Bewegungsfreiheit der Massenpunkte einschränken. Wir wollen dies in den Bewegungsgleichungen (3.2) zum Ausdruck bringen, indem wir Fi + F̃i anstelle von Fi schreiben und unter Fi nunmehr nur noch die eingeprägten Kräfte verstehen und unter F̃i die Zwangskräfte, mi ẍi = Fi + F̃i (i = 1, 2, . . . , 3N ). (3.15) Zu diesen 3N Bewegungsgleichungen sind die entsprechenden r Nebenbedingungen hinzuzunehmen, d.h. beispielsweise im Falle von holonomen Nebenbedingen 3N ∂fk i=1 ∂xi dxi + ∂fk dt = 0 (k = 1, 2, . . . , r). ∂t (3.16) Um die Lösung der Bewegungsgleichungen zu finden, die den gestellten Nebenbedingungen genügt, muß offensichtlich noch ein Zusammenhang zwischen den (bisher noch unbekannten) Zwangskräften und den Nebenbedingungen hergestellt werden mit dem Ziel, die Zwangskräfte in geeigneter Weise durch die Nebenbedingungen auszudrücken. Dieser Zusammenhang wird durch das d’Alembertsche Prinzip hergestellt. 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 189 Dazu ist es zunächst nötig, den Begriff der virtuellen Verrückung einzuführen. Virtuelle Verrückungen Virtuelle Verrückungen δxi (i = 1, 2, . . . , 3N ) sind mit den Nebenbedingungen vereinbare, infinitesimal kleine Auslenkungen des Systems, die momentan geschehen sollen, d.h. δt = 0, und damit nur gedacht (virtuell) sind. Sie stimmen daher i. allg. nicht mit den tatsächlichen Verrückungen des Systems für δt = 0 überein. Im Falle von holonomen Bedingungen sind also virtuelle Verrückungen solche, die den Gleichungen (3.5) mit dt = 0 genügen, 3N ∂fk i=1 ∂xi δxi = 0. (3.17) Analog gilt gemäß (3.9) für den Fall anholonomer Bedingungen 3N fkiδxi = 0. (3.18) i=1 Das d’Alembertsche Prinzip Betrachten wir zunächst bilaterale Bindungen. Das d’Alembertsches Prinzip lautet: 3N F̃i δxi = 0 (3.19) i=1 Zwangskräfte leisten bei virtuellen Verrückungen keine Arbeit. Das d’Alembertsche Prinzip sichert, daß bei Bewegungen von Massenpunkten entlang vorgegebenen Raumkurven oder in vorgegebenen Flächen die Zwangskräfte (wie intuitiv zu erwarten ist) immer senkrecht zu diesen stehen. Bei anderen (inneren) Nebenbedingungen ist eine anschauliche Interpretation schwieriger. Das d’Alembertsche Prinzip kann 190 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK nicht bewiesen werden; es ist wie jedes physikalische Grundgesetz eine Erfahrungstatsache. Aus den Newtonschen Bewegungsgleichungen (3.15) folgt F̃i = mi ẍi − Fi, (3.20) und somit kann die Gleichung (3.19) auch in der Form 3N (mi ẍi − Fi) δxi = 0 (3.21) i=1 geschrieben werden, in der die Zwangskräfte eliminiert sind. Die Gleichung (3.21) und die r Nebenbedingungen stellen die Ausgangsgleichungen zur Bestimmung des Bewegungsablaufs eines gebundenen (und natürlich als Spezialfall auch des freien) Massenpunktsystems dar. Den im Zusammenhang mit unilateralen Bindungen angegebenen Beispielen ist gemeinsam, daß die virtuelle Verrückung in der jeweiligen Fläche liegt oder an einer Seite der Fläche von dieser wegzeigen kann, während die Zwangskraft offensichtlich nach eben dieser Seite der Fläche gerichtet ist. In diesem Fall ist die Gleichung (3.19) durch die entsprechende Ungleichung zu ersetzen, so daß im allgemeinen Fall 3N F̃i δxi ≥ 0 (3.22) (mi ẍi − Fi) δxi ≥ 0 (3.23) i=1 bzw. 3N i=1 gilt. Mechanisches Gleichgewicht Im mechanischen Gleichgewicht, wenn jeder Massenpunkt eines (in einem bestimmten Augenblick ruhenden) Systems ständig in Ruhe bleibt, ẍi = 0 (i = 1, 2, . . . , 3N ) (3.24) 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 191 geht (3.23) in 3N Fi δxi ≤ 0 (3.25) i=1 über, und es gilt das Prinzip der virtuellen Arbeit: Ein Massenpunktsystem ist dann und nur dann im Gleichgewicht, wenn die gesamte virtuelle Arbeit der am System angreifenden eingeprägten Kräfte verschwindet bzw. nicht positiv ist. Das Prinzip der virtuellen Arbeit ist das allgemeinste Gleichgewichtsprinzip der Mechanik (d.h. das allgemeinste Prinzip der Statik). Es geht bis auf Archimedes zurück und stammt in der angegebenen Formulierung von Bernoulli. Für komplizierte Systeme sind die den Bindungen entsprechenden Bedingungen in der Regel nicht in analytischer Form vorgegeben, und ihr Auffinden ist i. allg. eine nichttriviale Aufgabe. Bei einer Maschine können die virtuellen Verrückungen oft direkt aus der Arbeitsweise der Maschine erkannt werden. Sollen die Bedingungen für das Gleichgewicht eines Systems in einer gegebenen Lage bestimmt werden, so ist das System in Gedanken probeweise“ ein wenig aus dieser Lage zu ” verschieben, die Gesamtarbeit der eingeprägten Kräfte zu berechnen und Null zu setzen. Ein sehr einfaches Beispiel ist der Hebel (im Schwerefeld der Erde). Die einzig mögliche virtuelle Verrückung ist eine kleine Drehung um die Achse senkrecht zur Papierebene durch den Punkt O (siehe die Abbildung). Die virtuelle Arbeit ist folglich a O δϕ b F (b) F (a) F (a) aδϕ − F (b) bδϕ = 0, (3.26) 192 bzw. KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK (a) (b) F a−F b δϕ = 0, (3.27) beliebig und wir erhalten als Gleichgewichtsbedingung das bekannte Hebelgesetz F (a) a = F (b) b. (3.28) Die auf die Achse bezogenen Drehmomente sind einander gleich. 3.1.4 Bilanzgleichungen Die in den Abschnitten 2.3.2, 2.3.3 und 2.3.5 diskutierten Bilanzgleichungen für Impuls, Energie und Drehimpuls bleiben natürlich weiterhin gültig, wenn unter den wirkenden Kräften – wie dies grundsätzlich sein muß – alle wirkenden Kräfte verstanden werden, d.h. für gebundene Systeme eingeprägte Kräfte und Zwangskräfte. Entsprechend der Einteilung der auf einen Massenpunkt wirkenden Kräfte in innere und äußere Kräfte, können auch die Zwangskräfte in innere und äußere Zwangskräfte eingeteilt werden, F̃ν = F̃(ext) ν + N F̃νμ , (3.29) μ=1 wobei wir für die inneren Zwangskräfte die gleichen Annahmen machen wollen wie für die inneren eingeprägten Kräfte.2 Die Impulsbilanz (2.415) lautet nunmehr dp = F(ext) + F̃(ext) dt (3.30) und die Drehimpulsbilanz (2.490) dL = M(ext) + M̃(ext) . dt (3.31) Die zeitliche Änderung des Gesamtimpulses eines Massenpunktssystems ist gleich der Resultante der äußeren eingeprägten Kräfte und der 2 Man beachte, daß innere Zwangskräfte ihre physikalische Ursache in der Wechselwirkung von Systemfreiheitsgraden mit Umgebungs“-Freiheitsgraden haben können. ” 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 193 äußeren Zwangskräfte. Analog ist die zeitliche Änderung des Gesamtdrehimpulses eines Massenpunktssystems gleich dem Gesamtdrehmoment der äußeren eingeprägten Kräfte und der äußeren Zwangskräfte. Für die kinetische Energie gilt gemäß (2.437) dT = P + P̃ . dt (3.32) Die zeitliche Änderung der kinetischen Energie eines Massenpunktsystems ist gleich der Leistung aller am System angreifenden eingeprägten Kräfte und Zwangskräfte. Wir werden auf die Energiebilanz noch zurückkommen (Abschnitt 3.2.2). Hier wollen wir uns auf den Fall skleronomer Bedingungen beschränken, d.h. Bedingungen der Art 3N fki dxi = 0 (3.33) i=1 [vgl (3.14)]. Da es in diesem Fall keinen Unterschied zwischen virtuellen und realen Verrückungen gibt, dxi = δxi , (3.34) liefert das d’Alembertsche Prinzip (3.19) 3N F̃i δxi = 3N i=1 F̃i dxi = 0, (3.35) i=1 und folglich gilt P̃ = 3N F̃i ẋi = 0. (3.36) i=1 Damit geht die Bilanzgleichung (3.32) in die Bilanzgleichung für freie Systeme über, dT = P. (3.37) dt Mit anderen Worten, in der mechanischen Energiebilanz solcher Systeme spielen nur die eingeprägten Kräfte eine Rolle. Besitzen diese ein Potential, ∂U , (3.38) Fi = − ∂xi 194 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK z s m F α F F⊥ x so gilt also wie im Falle freier Systeme d ∂U (T + U ) = dt ∂t (3.39) [siehe Gleichung (2.462)] . 3.1.5 Spezielle Probleme Es ist klar, daß das d’Alembertsche Prinzip den Fall freier Systeme enthält. In diesem Fall werden die δxi in der Grundgleichung (3.21) durch keinerlei Nebenbedingungen eingeschränkt. Da also jedes δxi frei, d.h. unabhängig von den restlichen δxi (i = i), wählbar ist, kann die Gleichung (3.21) offensichtlich nur dann erfüllt sein, wenn für jedes δxi der Klammerausdruck bei δxi für sich verschwindet, d.h. mi ẍi = Fi (i = 1, 2, . . . , 3N ), (3.40) und somit die Newtonschen Gleichungen für freie Systeme gelten. 3.1.5.1 Massenpunkt auf schiefer Ebene Wir betrachten einen Massenpunkt, der sich unter dem Einfluß der Schwerkraft reibungsfrei auf einer schiefen Ebene bewegt. Eingeprägte Kraft: F = −mg ez . (3.41) Nebenbedingung: z = x tan α (3.42) 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 195 bzw. δz = δx tan α (3.43) (1 Teilchen, 1 Nebenbedingung ; 3 − 1 = 2 Freiheitsgrade). Mit (3.43) lautet das d’Alembertsche Prinzip ẍδx + ÿδy + (z̈ + g)δz = [ẍ + (z̈ + g) tan α] δx + ÿδy = 0. (3.44) Da δx und δy beliebig wählbar sind, liefert das d’Alembertsche Prinzip die zwei Gleichungen ẍ + (z̈ + g) tan α = 0, (3.45) ÿ = 0, (3.46) die zusammen mit der Nebenbedingung (3.42) zu lösen sind. Die Gleichung (3.46) besagt weiter nichts, als daß die Bewegung auf der schiefen Ebene in y-Richtung eine gleichförmig geradlinige ist. Zweimalige Differentiation der Nebenbedingung (3.42) liefert z̈ = ẍ tan α, (3.47) so daß nach Elimination von z̈ die Gleichung (3.45) in die Gleichung ẍ (1 + tan2 α) +g tan α = 0 2 1/ cos α (3.48) ẍ = −g sin α cos α (3.49) bzw. übergeht. Erwartungsgemäß ist die Bewegung in x-Richtung eine gleichförmig beschleunigte. Führen wir anstelle der x-Koordinate die Koordinate x s= (3.50) cos α (längs der schiefen Ebene) ein, so wird aus (3.49) s̈ = −g sin α = −|F |/m (3.51) 196 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK (siehe die Abbildung). Die Bewegung längs der s-Achse erfolgt unter dem Einfluß der Projektion der Schwerkraft auf diese Achse. Für die Komponenten der Zwangskraft F̃ = mr̈ − F (3.52) F̃x = mẍ = −mg sin α cos α = −|F⊥| sin α (3.53) F̃y = mÿ = 0, (3.54) ergibt die Rechnung F̃z = mz̈ + mg = m(ẍ tan α + g) = −mg(sin2 α − 1) = mg cos2 α = |F⊥| cos α. (3.55) Erwartungsgemäß ist die Zwangskraft entgegengesetzt gleich der Komponente der Schwerkraft senkrecht zur schiefen Ebene, F̃ = −F⊥ . 3.1.5.2 (3.56) Kreispendel Wir betrachten die Bewegung eines Körpers (Massenpunkts), der am Ende einer masselosen“ Stange befestigt ist, die im Schwerefeld der ” Erde an einer festen Achse drehbar aufgehängt ist (ebenes mathematisches Pendel). Eingeprägte Kraft: F = mg ex = mg cos ϕ e − mg sin ϕ eϕ . (3.57) Nebenbedingungen: z = 0, = l, (3.58) δ = 0, (3.59) bzw. δz = 0, (1 Teilchen, 2 Nebenbedingungen ; 3−2=1 Freiheitsgrad). Mit (3.59) ergibt sich für die virtuelle Verrückung δr = δ e + δϕ eϕ + δz ez = δϕ eϕ , (3.60) 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 197 ϕ l m F x und das d’Alembertsche Prinzip lautet (mr̈ − F)·δr = (mr̈·eϕ − F·eϕ ) δϕ = m (ϕ̈ + 2˙ ϕ̇ + g sin ϕ) δϕ = 0, (3.61) woraus wegen dem frei wählbaren δϕ die Gleichung ϕ̈ + 2˙ ϕ̇ = −g sin ϕ (3.62) folgt, die zusammen mit den Nebenbedingungen (3.59) zu lösen ist. Die Nebenbedingung z = 0 bringt zum Ausdruck, daß die Bewegung in der xy-Ebene erfolgt. Die Bedingung fester Pendellänge = l bedeutet eine Kreisbewegung, und aus (3.62) ergibt sich für die Winkelbewegung (˙ = 0): g ϕ̈ = − sin ϕ l (3.63) Kleine Auslenkungen Für hinreichend kleine Auslenkungen ϕ 1 gilt sin ϕ ≈ ϕ, (3.64) 198 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK so daß die Bewegungsgleichung (3.63) in die für eine harmonische Schwingung übergeht (Abschnitt 1.3.3.1), ϕ̈ + ω 2 ϕ = 0 mit ω= (3.65) g l ; T = 2π = 2π ω l . g (3.66) Eine bekannte Anwendung der Gleichung (3.66) ist die Eichung von Pendeluhren durch die Pendellänge. Beliebige Auslenkungen Im Falle beliebiger Auslenkungen kann die Lösung der Bewegungsgleichung (3.63) nach dem bekannten Rezept für eindimensionale Bewegungen konservativer Systeme erfolgen (Abschnitt 2.2.5). So gilt (im vorliegenden Fall skleronomer Bedingungen) T + U = E = const., T = 12 m|ṙ|2 = 12 m ˙ 2 + 2 ϕ̇2 + ż 2 = 12 ml2 ϕ̇2, (3.67) U = −mg cos ϕ = −mgl cos ϕ, (3.69) (3.68) und folglich lautet der Energieerhaltungssatz 1 ml2ϕ̇2 2 − mgl cos ϕ = E (3.70) bzw. 1 2 2 ϕ̇ + u(ϕ) = (3.71) mit = E/(ml2) und u(ϕ) = −ω 2 cos ϕ. (3.72) Anwenden von (2.168) liefert dann t als Funktion von ϕ [m → 1, E → und U (x) → u(ϕ)]: dϕ + const. (3.73) t= 2( + ω 2 cos ϕ) Für 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 199 u ω2 ϕ −ω 2 −ϕ0 ϕ0 ω 2 > > −ω 2 (3.74) ist die Bewegung offensichtlich finit (die Winkelauslenkung liegt innerhalb eines 2π-Intervalls). Die Umkehrpunkte ±ϕ0 folgen aus (3.71) für ϕ̇ = 0, u(ϕ0) = −ω 2 cos ϕ0 = . (3.75) Im Falle einer finiten Bewegung mit der Anfangsbedingung t = 0, wird aus (3.73) ϕ ωt = 0 ϕ=0 dϕ 2(cos ϕ − cos ϕ0) (3.76) . (3.77) Der maximalen Auslenkung ϕ0 entspricht dabei die Anfangsgeschwindigkeit ϕ̇|t=0 = ω 2(1 − cos ϕ0) . (3.78) Die rechte Seite von (3.77) stellt ein elliptisches Integral dar. Da ϕ periodisch anwächst and abfällt, t aber immer zunimmt, muß die Quadratwurzel abwechselnd mit positivem und negativem Vorzeichen genommen werden. Wir wollen uns auf die erste Viertelschwingung beschränken, während der sowohl ϕ und die Wurzel positiv sind. Mit sin 12 ϕ = k sin ψ , k = sin 12 ϕ0 (3.79) 200 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK und unter Verwendung der Relation cos ϕ =1−2 sin2(ϕ/2) läßt sich das elliptische Integral auf die Legendresche Normalform eines elliptischen Integrals erster Gattung bringen, ψ ωt = 0 dψ ≡ F (k, ψ). 1 − k 2 sin2 ψ (3.80) F (k, ψ) ist als Funktion des Moduls k und der Amplitude ψ tabelliert. Die folgende Abbildung zeigt eine halbe Schwingung für ϕ0 = π/2 und zum Vergleich die entsprechende harmonische Schwingung (rote Kurve). 1.6 ϕ0 = π/2 ϕ 1.2 ϕ0 sin(ωt) 0.8 0.4 0 0.5 1.5 2.5 ωt 3.5 Wir wollen die Schwingungsdauer der anharmonischen Schwingung berechnen. Dazu haben wir t = T /4 und ϕ = ϕ0 bzw. ψ = π/2 in (3.80) zu setzen, (3.81) ω 14 T = F (k, 12 π), d.h. T =4 l F (k, 12 π). g (3.82) Wegen F (k, 12 π) hängt die Schwingungsdauer i. allg. auch von der Amplitude ϕ0 ab [siehe die zweite Gleichung in (3.79)]. Eine Taylorent- 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 201 wicklung von F (k, 12 π) nach k liefert T = 2π 2 l 1 + 12 sin2 12 ϕ0 g + 1·3 2 2·4 4 sin 1 2 ϕ0 + · · · . (3.83) Wie erwartet, geht T für ϕ0 → 0 in den bekannten Ausdruck für die Schwingungsdauer einer harmonischen Pendelschwingung über [zweite Gleichung in (3.66)]. Bis einschließlich der Korrektur ∼ ϕ20 gilt ϕ20 l T = 2π 1+ . g 16 (3.84) Dieses Ergebnis ist noch bei Amplituden von 70o bis auf 1% richtig (siehe blaue Kurve in der Abbildung). 7.4 ωT 7 6.6 2π[1 + sin2 (ϕ0/2)/4] 2π 6.2 0 0.4 0.8 1.2 ϕ0 Zwangskraft F̃ = m ¨ − ϕ̇2 − F = −mlϕ̇2 − mg cos ϕ (3.85) 202 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK F̃ϕ = m (ϕ̈ + 2˙ ϕ̇) − Fϕ = mlϕ̈ + mg sin ϕ = 0 Bewegungsgleichung z̈ − Fz = 0. F̃z = m 0 0 Die Zwangskraft besitzt also nur eine -Komponente, F̃ = −ml ϕ̇2 + ω 2 cos ϕ e . (3.86) (3.87) (3.88) Wir eliminieren ϕ̇ mittels des Energieerhaltungssatzes (3.71) und erhalten F̃ = −ml 2 + 3ω 2 cos ϕ e , (3.89) woraus für eine finite Bewegung unter Berücksichtigung von (3.75) F̃ = −mg (3 cos ϕ − 2 cos ϕ0) e (3.90) folgt. Die Zwangskraft, die durch den Pendelstab aufgebracht werden muß, muß die -Komponente der Schwerkraft kompensieren und die Radialkraft realisieren, die die Kreisbewegung erzwingt. In den Umkehrpunkten, wenn das Pendel ruht, ist die Zwangskraft erwartungsgemäß entgegengesetzt gleich der -Komponente der Schwerkraft. 3.1.5.3 Bewegungsgleichungen des starren Körpers Wie bereits erwähnt, wollen wir einen starren (dreidimensionalen) Körper als ein System von Massenpunkten mν ansehen, deren gegenseitige Abstände sich nicht ändern sollen, d.h. bei allen Bewegungen des Systems als fest vorgegeben angesehen werden können. Ein solches System kann offensichtlich nur 6 Freiheitsgrade besitzen, nämlich 3 Translations- und 3 Rotationsfreiheitsgrade. Im Falle von N Massenpunkten (N ≥ 3) mit festen gegenseitigen Abstaänden muss es also r = 3N − 6 Nebenbedingungen geben, die die Abstände zwischen den Massenpunkten fixieren. 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 203 mν rν rν ϕν r1 O m1 D’Alembertsches Prinzip: N (mν r̈ν − Fν ) · δrν = 0. (3.91) ν=1 Nebenbedingungen: rν = r1 + rν , (3.92) δrν = δr1 + δrν , (3.93) δ|rν | = 0, (3.94) wobei m1 ein willkürlich herausgegriffener Massenpunkt ist. Für festen Abstand, δ|rν | = 0, kann der Massenpunkt mν nur eine Drehung um eine Achse durch den Massenpunkt m1 ausführen, δrν = δ ϕ ν × rν (3.95) (vgl. Abschnitt 2.1.5), und somit gilt δrν = δr1 + δ ϕ ν × rν . (3.96) Obige Gleichung gilt natürlich für alle Massenpunkte. Da jedoch alle gegenseitigen Abstände fest bleiben, muß für alle Massenpunkte δϕ ν = δϕ ν (ν = ν ) (3.97) 204 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK gelten, und somit sind die mit den Nebenbedingen verträglichen virtuellen Verrückungen durch δrν = δr1 + δ ϕ × rν (3.98) ṙν = ṙ1 + ω × rν . (3.99) gegeben, und es gilt repräsentieren offensichtlich die 6 Die beliebig wählbaren δr1 und δ ϕ Freiheitsgrade des starren Körpers (3 Translations- und 3 Rotationsfreiheitsgrade). Wir setzen (3.98) in (3.91) ein und erhalten N δr1 · (mν r̈ν − Fν ) ν=1 + N δϕ × rν · (mν r̈ν − Fν ) = 0, (3.100) ν=1 δr1 · N (mν r̈ν − Fν ) ν=1 + δϕ · N (mν rν × r̈ν − rν × Fν ) = 0 (3.101) ν=1 bzw. wegen rν = rν − r1 δr1 · N (mν r̈ν − Fν ) + δ ϕ · ν=1 N [mν rν × r̈ν − rν × Fν ν=1 −r1 × (mν r̈ν − Fν )] = 0. (3.102) Da δr1 und δ ϕ frei wählbar sind, folgt also N ν=1 mν r̈ν = N ν=1 Fν , (3.103) 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP N mν rν × r̈ν = ν=1 N rν × F ν , 205 (3.104) ν=1 Das heißt, die Impulsbilanz dp = F = F(ext) dt (3.105) (Abschnitt 2.3.2) und die Drehimpulsbilanz dL = M = M(ext) dt (3.106) (Abschnitt 2.3.5) für das Massenpunktsystem sind gerade die Bewegungsgleichungen eines frei beweglichen starren Körpers. Die Gesamtkraft und das Gesamtdrehmoment sind nur durch die eingeprägten äußeren Kräfte bestimmt, da die Zwangskräfte als innere Kräfte keinen Beitrag leisten. Ist der starre Körper nicht frei beweglich, d.h., ist seine Bewegung durch bestimmte Nebenbedingungen eingeschränkt,3 so treten neben den eingeprägten äußeren Kräften natürlich auch äußere Zwangskräfte F̃(ext) und Zwangsdrehmomente M̃(ext) auf, und anstelle von (3.105) und (3.106) gilt 3.1.5.4 dp = F(ext) + F̃(ext) , dt (3.107) dL = M(ext) + M̃(ext) . dt (3.108) Um eine feste Achse drehbarer starrer Körper Ein typisches Beispiel ist ein starrer Körper, der nur um eine feste Achse drehbar ist.4 Es sei die z-Achse die Drehachse und r1 fixiere einen Punkt 3 4 Diese Nebenbedingungen schränken δr1 und δ ϕ ein. Eine Translationsbewegung entlang der Achse sei ausgeschlossen. 206 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK auf der Achse. Die Einschränkung der Bewegung des starren Körpers auf eine Drehung um diese Achse bedeutet δr1 = 0, δϕ = δϕ ez , (3.109) und aus (3.101) folgt erwartungsgemäß die Drehimpulsbilanz für die z-Komponente:5 dLz = Mz = Mz(ext) dt (3.110) Die Zwangskräfte geben offensichtlich keinen Anlaß zu einem Zwangsdrehmonent in Richtung der Drehachse. Bekanntlich kann Lz in der Form Lz = Θ ϕ̇ geschrieben werden [Gleichung (2.498)], wobei N Θ= mν 2ν = dm 2 (3.111) (3.112) ν=1 das auf die (z-Achse als) Drehachse bezogenem Trägheitsmoment des starren Körpers ist [Gleichungen (2.497) und (2.499)]. Das Trägheitsmoment ist für einen gegebenen starren Körper und fixierter Drehachse ein systemspezifischer (zeitunabhängiger) Parameter (der senkrechte Abstand des jeweiligen Massenelements von der Drehachse ändert sich nicht). Damit lautet die Bewegungsgleichung (3.110) Θ ϕ̈ = M (3.113) (M ≡Mz ). Da beim Vorliegen skleronomer Bedingungen in die Energiebilanz nur eingeprägte Kräfte eingehen, gilt im Falle von eingeprägten Kräften, die ein Potential besitzen, d ∂U (T + U ) = dt ∂t 5 Bezugspunkt ist ein Punkt der Drehachse. (3.114) 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 207 Hier ist U = U (ϕ, t), und die kinetische Energie lautet T = N 2 1 2 mν |ṙν | = ν=1 = N ν=1 = N N 1 ω 2 mν | × rν |2 ν=1 1 2 mν ˙ 2ν + 2ν ϕ̇2ν + żν2 0 0 2ν ϕ̇2 2 2 1 2 mν ν ϕ̇ = 1 2 Θ ϕ̇2. (3.115) ν=1 Somit nimmt (3.114) die Form d 1 ∂ 2 Θ ϕ̇ + U (ϕ, t) = U (ϕ, t) 2 dt ∂t (3.116) an. Differentiation nach der Zeit liefert dT dU ∂U ∂U = Θ ϕ̇ϕ̈ = − + =− ϕ̇, dt dt ∂t ∂ϕ (3.117) d.h. ∂U ∂ϕ (3.118) ∂U ∂ϕ (3.119) Θ ϕ̈ = − woraus durch Vergleich mit (3.113) M =− folgt. Die Drehung eines starren Körpers um eine feste Achse ist also völlig analog zu einer eindimensionalen Translationsbewegung (x = ϕ, m= Θ, F = M). Gilt Energieerhaltung, d.h. ∂U/∂t = 0, kann die Bewegungsgleichung (3.113) gemäß der für eindimensionale konservative Systeme gültigen Regel (2.168) integriert werden, dϕ t= + const. (3.120) 2 [E − U (ϕ)] /Θ 208 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Steinerscher Satz Der Steinersche Satz stellt den Zusammenhang zwischen den Trägheitsmomenten eines Körpers bezüglich der Drehachse und der parallel zur Drehachse verschobenen und durch den Massenmittelpunkt verlaufenden Achse her. Aus der Abbildung lesen wir ab: mν ν Drehachse x ν c ϑν xν Achse durch den Massenmittelpunkt parallel zur Drehachse Θ= N mν 2ν = ν=1 = N N mν ν 2 + 2c − 2c ν cos ϑν ν=1 mν ν 2 ν=1 Θc + m 2c − 2c N ν=1 mν ν cos ϑν , xc = 0 (3.121) d.h.: Θ = Θc + m 2c (3.122) Ist das Trägheitsmoment eines Körpers bezüglich einer durch den Massenmittelpunkt gehenden Achse bekannt, so ist es (bei bekannter Gesamtmasse und bekannter Massenmittelpunktslage) bezüglich jeder dazu parallel verschobenen Achse bekannt. Der praktische Vorteil liegt auf der Hand: Das Trägheitsmoment muß nur einmal berechnet werden. Zwangskräfte und Zwangsdrehmomente Gemäß (3.107) und (3.108) gilt für die (äußeren) Zwangskräfte und 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 209 Zwangsdrehmomente F̃(ext) = dp − F(ext) , dt (3.123) M̃(ext) = dL − M(ext) . dt (3.124) Eine wichtige Rolle spielen die F̃(ext) und M̃(ext) für die Fixierung der Drehachse, die seitens der Achsenlager i. allg. durch Kräfte und Drehmomente gestützt werden muß, bzw. müssen die Achsenlager die entgegengesetzt gleichen Kräfte und Drehmomente aufnehmen können. Es liegt auf der Hand, daß die Bestimmung der Zwangskräfte und Zwangsdrehmomente für die Konstruktion technischer Anlagen von allergrößter Bedeutung ist. Betrachten wir die gleichförmige Drehbewegung eines Körpers um eine feste Achse im homogenen Schwerefeld der Erde, wobei wir annehmen wollen, daß die Drehachse die senkrecht zur Erdoberfläche nach oben gerichtete z-Achse ist. In diesem Fall liefern die Gleichungen (3.123) und (3.124) F̃(ext) = mr̈c + mgez = −mc ϕ̇2 e + mgez (3.125) [vergleiche (1.82) für ˙ = 0 und ϕ̈ = 0] und M̃(ext) = L̇ + mgrc × ez = L̇x + mgyc ex + L̇y − mgxc ey (3.126) [vergleiche (2.515)]. Die Zwangskraft (3.125) ist gerade die Kraft, die den Massenmittelpunkt auf eine Kreisbahn vom Radius c in fester Höhe über der Erdoberfläche zwingt. Erwartungsgemäß hat das Zwangsdrehmoment keine z-Komponente (nach Voraussetzung soll die Drehung um die z-Achse frei sein). Wir wollen die Komponenten des zur Achsenfixierung notwendigen Zwangsdrehmoments, das aus der Drehbewegung selbst resultiert (d.h. 210 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK nicht durch das äußere Drehmoment bedingt ist), noch etwas genauer untersuchen und die entsprechenden Drehimpulskomponenten berechnen. Wir finden zunächst6 N N d L̇x = mν (yν żν − zν ẏν ) = − mν zν ÿν dt ν=1 ν=1 = N mν zν ϕ̇2yν , (3.127) ν=1 N N d L̇y = mν (zν ẋν − xν żν ) = mν zν ẍν dt ν=1 ν=1 =− N mν zν ϕ̇2xν (3.128) ν=1 bzw. L̇x = −ϕ̇2Θyz , (3.129) L̇y = ϕ̇2 Θxz . (3.130) Die Größen −Θij = N mν xνi xνj (i = j) (3.131) ν=1 heißen auch Deviationsmomente. Anstelle zeitabhängige Deviationsmomente im raumfesten Koordinationsystem zu benutzen, ist es oft zweckmäßiger, in ein körperfestes Koordinatensystem überzugehen, 6 xν = xν cos ϕ − yν sin ϕ, (3.132) yν = xν sin ϕ + yν cos ϕ, (3.133) zν = zν . (3.134) Man beachte, daß für eine Kreisbewegung aus xν = ν cos ϕ und yν = ν sin ϕ die Beziehungen ẋν = −ϕ̇yν und ẏν = ϕ̇xν folgen, woraus im Falle einer gleichförmigen Kreisbewegung nach einer weiteren Differentiation die verwendeten Ausdrücke für ẍν und ÿν folgen. 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP y y 211 x, y körperfest x ϕ x Drehachse Damit finden wir Θxz = Θx z cos ϕ − Θy z sin ϕ, (3.135) Θyz = Θx z sin ϕ + Θy z cos ϕ, (3.136) wobei die (körper- und achsenspezifischen) Größen Θx z und Θy z nunmehr zeitunabhängig sind. Fazit: Verschwinden für eine gewählte Drehachse eines Körpers, der sich nicht unter dem Einfluß (äußerer) eingeprägter Kräfte befindet, die Deviationsmomente, so ist sowohl keine Zwangskraft als auch kein Zwangsdrehmoment notwendig, um die Drehachse zu stützen und ein Kippen zu verhindern. Ein um eine solche Achse nach einem Anstoß in Drehung versetzter Körper kann um diese Achse frei weiterrotieren, da die Achse ihre Lage beibehält.7 Eine solche Achse wird auch freie Achse genannt (Abschnitt 3.2.6.6). 3.1.5.5 Atwoodsche Fallmaschine Wir betrachten zwei Körper (Massenpunkte) m1 und m2 , die an einem Seil über eine Rolle der Masse m(R) geführt werden, wobei wir annehmen wollen, daß die Haftreibung zwischen Seil und Rolle ein Gleiten des Seiles verhindert. Von der Bewegung des Seiles selbst wollen wir 7 Geht die Drehachse im Falle eines Körpers, der sich im homogenen Schwerefeld der Erde befindet, durch den Massenmittelpunkt, so ist ebenfalls kein Zwangsdrehmoment erforderlich. 212 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK absehen (seine Masse soll klein im Vergleich zu den Massen m1 , m2 und m(R) sein). Ferner soll die Bewegung der beiden Punktmassen nur längs der y-Achse erfolgen und die Achse der Rolle (Radius R) durch ihren (festen) Massenmittelpunkt gehen (siehe Abbildung). y R ϕ z mR x Drehachse m1 m2 Eingeprägte Kräfte: F(R) = −m(R) g ey , F1 = −m1 g ey , F2 = −m2 g ey . (3.137) (3.138) Nebenbedingungen: x(R) = yc(R) = zc(R) = 0, c (3.139) ω = ϕ̇ ez , (3.140) x1 = const., x2 = const., z1 = z2 = 0, (3.141) y1 + Rϕ = const. (Rollbedingung), (3.142) y1 + y2 = const. (3.143) (12 Koordinaten, 11 Nebenbedingungen ; 12 − 11 = 1 Freiheitsgrad). Die Nebenbedingungen (3.139) und (3.141) reduzieren das d’Alembertsche Prinzip zunächst auf Θϕ̈ δϕ + m1 (ÿ1 + g) δy1 + m2 (ÿ2 + g) δy2 = 0, (3.144) 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 213 woraus wegen Rδϕ = −δy1 [Nebenbedingung (3.142)] und δy1 = −δy2 [Nebenbedingung (3.143)] Θ (3.145) − ϕ̈ + m1 (ÿ1 + g) − m2 (ÿ2 + g) δy1 = 0 R folgt. Da δy1 beliebig ist (d.h. durch keinerlei Bedingung eingeschränkt ist), muß also der Klammerausdruck verschwinden, − Θ ϕ̈ + m1 ÿ1 − m2 ÿ2 − (m2 − m1 ) g = 0. R (3.146) Die Gleichung (3.146) zusammen mit den Nebenbedingungen (3.142) und (3.143) bestimmen die Bewegung der Rolle und der beiden Massenpunkte. Die Nebenbedingungen (3.139) und (3.141) sind offensichtlich trivial, da sie die Bewegung des Massenmittelpunkts der Rolle und die Bewegung der Massenpunkte in x- und z-Richtung bereits vollständig festlegen, und die Nebenbedingung (3.140) ist bereits in (3.146) berücksichtigt. Um die Lösung der Gleichungen (3.142), (3.143) und (3.146) zu finden, differenzieren wir die Nebenbedingungen (3.142) und (3.143) zweimal, ÿ1 + Rϕ̈ = 0, (3.147) ÿ1 + ÿ2 = 0, (3.148) und können damit in (3.146) z.B. ϕ̈ und ÿ2 durch ÿ1 ausdrücken, ÿ1 = m2 − m1 g. Θ/R2 + m1 + m2 (3.149) Die Rolle führt also eine gleichförmig beschleunigte Rotation und die Massenpunkte m1 und m2 gleichförmig beschleunigte Translationen aus. Mit Θ Θ M1 = m1 + , M = m + (3.150) 2 2 2R2 2R2 lautet (3.149) M2 − M1 ÿ1 = g. (3.151) M1 + M2 Die Massen m1 , m2 und M1 , M2 unterscheiden sich durch die halbe der auf den Umfang der Rolle reduzierten Masse Θ/R2. Ist die Rolle 214 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK unbeweglich und gleitet das Seil (reibungsfrei) über die Rolle, ist in den Ergebnissen diese Zusatzmasse einfach Null zu setzen. Wir berechnen die Zwangskräfte. Es ist klar, daß wegen der Nebenbedingungen (3.139) und (3.141) die Zwangskräfte (R) F̃(R) = m(R) r̈(R) , c −F F̃1 = m1 r̈1 − F1 , F̃2 = m2 r̈2 − F2 (3.152) (3.153) nur y- Komponenten besitzen können, F̃(R) = m(R) g ey , F̃1 = F̃1y ey , F̃2 = F̃2y ey , (3.154) (3.155) F̃1y = m1 ÿ1 + m1 g = m1 =2 M2 − M1 g + m1 g M1 + M2 m1 M1 M2 g M1 M1 + M2 (3.156) bzw. F̃1y = 2 m1 μg M1 (3.157) m2 μg. M2 (3.158) [μ = M1 M2 /(M1 +M2 )], und analog F̃2y = 2 Eingeprägte und Zwangskräfte sind äußere Kräfte. Für die Bewegung des Massenmittelpunkts muß also nach dem Massenmittelpunktssatz die Resultante aus eingeprägten Kräften und Zwangskräften ausschlaggebend sein. Dies läßt sich durch direktes Ausrechnen schnell 3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 215 verifizieren: (R) m + m1 + m2 ÿc = m(R) ÿ (R) + m1 ÿ1 + m2 ÿ2 = m1 ÿ1 − m2 ÿ1 = − (m1 − m2 )(M1 − M2 ) g M1 + M2 (m1 + m2 )(M1 + M2 ) − 2m1M2 − 2m2 M1 g M1 + M2 m1 m2 μg + 2 μg = −(m1 + m2 )g + 2 M1 M2 (R) = − m + m1 + m2 g + F̃y(R) + F̃1y + F̃2y . F̃y Fy =− (3.159) Wir wollen an dieser Stelle auf die Berechnung des Zwangsdrehmoments verzichten. Handelt es sich bei der Rolle um einen homogenen Zylinder, dessen Massenmittelpunkt als Aufhängepunkt fungiert, stellt die (durch den Massenmittelpunkt gehende) Drehachse eine freie Achse dar, zu deren Richtungsfixierung es keines Drehmoments bedarf. 3.1.5.6 Physisches Pendel y O c Drehachse Massenmittelpunkt ϕ Schwingungsmittelpunkt O x OO = l F = mgex Wir betrachten einen starren Körper, der um eine Achse parallel zur Erdoberfläche frei beweglich ist. Gemäß (3.113) [mit (2.515)] lautet 216 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK die Bewegungsgleichung Θ ϕ̈ = Mz = −yc Fx = −c mg sin ϕ (3.160) bzw. ϕ̈ = − c mg sin ϕ Θ (3.161) Die Gleichung (3.161) entspricht genau der eines mathematischen Pendels [Gleichung (3.63)] der Pendellänge l= Θ , c m (3.162) so daß alle Ergebnisse des Abschnitts 3.1.5.2 übernommen werden können. Wir verwenden den Steinerschen Satz [Gleichung (3.122)] und setzen die reduzierte Pendellänge l in Beziehung zum Trägheitsmoment bezüglich der parallel verschobenen, durch den Massenmittelpunkt gehenden Achse, Θc l = c 1 + 2 . (3.163) c m Für gegebenes l gibt es offensichtlich zwei Werte von c , d.h., die möglichen Aufhängepunkte können i. allg. auf zwei verschiedenen Kreisen um y (1) c (1) (2) c + c = l (1) (2) c c = Θc /m (2) c x 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 217 den Massenmittelpunkt gewählt werden. Wird also speziell der Schwingungsmittelpunkt zum neuen Aufhängepunkt gemacht, ergibt sich die gleiche Pendelbewegung (und im Falle einer Schwingung natürlich auch die gleiche Schwingungsdauer). Die Schwingungsdauer ist gegen Änderungen von c am unempfindlichsten, wenn c so gewählt wird, daß dl =0 (3.164) dc gilt, d.h. (2) c = (1) c = c = Θc . m (3.165) Die entsprechende reduzierte Pendellänge Θc . (3.166) l=2 m ist die kleinstmögliche (Minimumpendel) und gibt damit auch für die kleinstmögliche Schwingungsdauer Anlaß. 5 l l0 4 3 l0 = 2 (2) c l0 3.2 1 2 (1) c l0 Θ0 m 3 4 c l0 Lagrangesche Gleichungen Das d’Alembertsche Prinzip liefert die Bewegungsgleichungen nicht explizit. Es müssen zunächst über die r Nebenbedingungen 3N − r =f frei 218 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK verfügbare virtuelle Verrückungen bestimmt werden, d.h., es müssen r Verrückungen δxi (i = 1, 2, . . . , r) eliminiert werden, um zu 3N − r = f frei verfügbaren Verrückungen zu gelangen. Erst dann können die Bewegungsgleichungen abgelesen werden. Das d’Alembertsche Prinzip kann jedoch auch ganz allgemein ausgewertet werden, und es können explizite Bewegungsgleichungen in allgemeiner Form angegeben werden. 3.2.1 Lagrangesche Gleichungen 1. Art Wir beginnen mit dem d’Alembertschen Prinzip 3N (mi ẍi − Fi) δxi = 0 (3.167) i=1 [Gleichung (3.21)] und nehmen (bilaterale) anholonome Bedingungen an,8 3N fki dxi + fk0 dt = 0 (k = 1, 2, . . . , r) (3.168) i=1 [Gleichungen (3.9)]. Wir multiplizieren die k-te Gleichung (3.168) für dt = 0 mit einem Lagrangeschen Multiplikator λk , summieren über alle k, 3N r λk fki δxi = 0, (3.169) k=1 i=1 und subtrahieren das Ergebnis von (3.167). Wir finden 3N r λk fki δxi = 0. mi ẍi − Fi − i=1 (3.170) k=1 Von den 3N virtuellen Verrückungen δxi sind 3N − r =f Verrückungen frei wählbar, während die restlichen r Verrückungen über die Nebenbedingungen (d.h. durch die frei wählbaren Verrückungen) festgelegt sind. Wir wählen die r Lagrangeschen Multiplikatoren λk nun so, daß 8 Im Falle holonomer Nebenbedingungen sind die fki bekanntlich durch Ableitungen ∂fk /∂xi und fk0 durch ∂fk /∂t zu ersetzen. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 219 für die nicht frei wählbaren r virtuellen Verrückungen die Vorfaktoren in (3.170) verschwinden. Da die restlichen f virtuellen Verrückungen frei wählbar sind, müssen deren Vorfaktoren in (3.170) ebenfalls verschwinden. Damit erhalten wir als Bewegungsgleichungen die Lagrangeschen Gleichungen 1. Art: mi ẍi = Fi + r λk fki (i = 1, 2, . . . , 3N ) (3.171) k=1 Die 3N Lagrangeschen Gleichungen 1. Art zusammen mit den r Nebenbedingungen 3N fki ẋi + fk0 = 0 (k = 1, 2, . . . , r) (3.172) i=1 [siehe (3.8)] bilden ein System von 3N + r Gleichungen zur Bestimmung der 3N Koordinaten xi und der r Lagrangeschen Multiplikatoren λk . Der Preis, der für die allgemeine Auswertung des d’Alembertschen Prinzips in obiger Form zu zahlen ist, besteht offensichtlich in der zusätzlichen Bestimmung der Lagrangeschen Multiplikatoren, d.h., es sind nicht 3N sondern 3N + r Gleichungen zu lösen. Aus (3.171) lesen wir ab, daß die Zwangskräfte F̃i durch die Nebenbedingungen und die Lagrangeschen Multiplikatoren wie folgt dargestellt werden können: F̃i = r λk fki (3.173) k=1 Speziell im Fall von holonomen Bedingungen gilt F̃i = r k=1 λk ∂fk . ∂xi (3.174) Die Lagrangeschen Gleichungen 1. Art bedeuten offenbar nichts anderes als den analytischen Ausdruck des d’Alembertschen Prinzips in 220 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK rechtwinkligen Koordinaten. Sie liefern im Sonderfall, wenn die Beschleunigungen aller Massenpunkte verschwinden, zusammen mit den Nebenbedingungen eine explizite Form des für das mechanische Gleichgewicht geltenden Prizips der virtuellen Arbeit: Die expliziten Gleichgewichtsbedingungen eines Massenpunktsystems ergeben sich aus den Lagrangeschen Gleichungen 1. Art und den Nebenbedingungen, wenn dort ẍi = 0 (i = 1, 2, . . . , 3N ) gesetzt wird. Lösungsstrategie • Die 3N Beschleunigungen ẍi aus den Lagrangeschen Gleichungen 1. Art sind in die durch Differentiation der Nebenbedingungen zu gewinnenden r Gleichungen einzusetzen. • Diese r Gleichungen sind als Bestimmungsgleichungen für die r Lagrangeschen Multiplikatoren λk anzusehen und zu lösen ; λk = λk (xj , ẋj , t). • Die so erhaltenen λk = λk (xj , ẋj , t) sind in die Lagrangeschen Gleichungen einzusetzen. Damit sind die Lagrangeschen Multiplikatoren eliminiert (d.h., es werden in den Newtonschen Bewegungsgleichungen analytische Ausdrücke für die Zwangskräfte eingesetzt, und damit ist das Kraftgestz insgesamt bekannt). • Die resultierenden 3N Gleichungen, die dann Bewegungsgleichungen im üblichen Sinn der Newtonschen Mechanik darstellen, sind zu lösen und liefern xi = xi(t). Beispiel: Massenpunkt auf schiefer Ebene Wir erinnern an den Abschnitt 3.1.5.1 und die Abbildung auf Seite 194, aus der wir die eingeprägte Kraft und die Nebenbedingung wie folgt entnehmen. Eingeprägte Kraft: F = −mg ez . (3.175) f (x, y, z) = z − x tan α = 0 (3.176) Nebenbedingung: 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 221 bzw. ∂f = − tan α, ∂x ∂f = 1. ∂z (3.177) Lagrangesche Gleichungen 1. Art: mẍ = −λ tan α, (3.178) mÿ = 0, (3.179) mz̈ = −mg + λ. (3.180) Wir folgen der angegebenen Lösungsstrategie und differenzieren die Nebenbedingung (3.176) zweimal nach der Zeit, z̈ − ẍ tan α = 0, (3.181) und eliminieren mittels der Bewegungsgleichungen (3.178) und (3.180) ẍ und z̈, −g + λ λ + tan2 α = 0, m m (3.182) λ = mg cos2 α. (3.183) d.h. Nunmehr können wir λ in den Bewegungsgleichungen eliminieren, ẍ = −g sin α cos α, (3.184) ÿ = 0, (3.185) z̈ = −g sin2 α. (3.186) Mit ẍ z̈ = = s̈ cos α sin α erhalten wir das bekannte Resultat (3.51), s̈ = −g sin α. (3.187) (3.188) 222 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Für die Zwangskraft gilt gemäß (3.174) F̃ = λ∇f = mg cos2α∇(z − x tan α) (3.189) bzw. komponentenweise F̃x = −mg sin α cos α, (3.190) F̃y = 0, (3.191) F̃z = mg cos2 α, (3.192) d.h. exakt das Resultat (3.53) – (3.55). Die Gradientenbildung in (3.189) bringt unmittelbar zum Ausdruck, daß die Zwangskraft senkrecht auf der für die Bewegung relevanten Fläche der schiefen Ebene steht. 3.2.2 Energiebilanz Wir kehren zur Energiebilanz (3.32) zurück, dT = P + P̃ . dt (3.193) Mit (3.173) können wir die Leistung der Zwangskräfte P̃ = 3N F̃i ẋi (3.194) i=1 durch die Nebenbedingungen und die Lagrangeschen Multiplikatoren ausdrücken, 3N r (3.195) P̃ = λk fki ẋi , k=1 i=1 wobei 3N i=1 fki(xj , t)ẋi + fk0(xj , t) = 0 (3.196) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 223 gilt [Gleichung (3.8)]. Folglich kann (3.195) als P̃ = − r λk fk0 (3.197) k=1 geschrieben werden, und die Energiebilanz lautet: r dT =P− λk fk0 dt (3.198) k=1 Ensprechend gilt für holonome Bindungen r ∂fk dT =P− . λk dt ∂t (3.199) k=1 Während im Falle skleronomer Bindungen die Änderung der kinetischen Energie eines Massenpunktsystems allein durch die Leistung der eingeprägten Kräfte bestimmt wird, tragen die aus rheonomen Bindungen resultierenden Zwangskräfte i. allg. zur Leistung bei; sie können sowohl zu einer Zunahme der Energie des Systems als auch einer Abnahme Anlaß geben. Besitzen die eingeprägten Kräfte ein Potential, so gilt [vgl. (2.462)] r d ∂U (T + U ) = − λk fk0 dt ∂t (3.200) k=1 und speziell im Falle von holonomen Bindungen r d ∂U ∂fk (T + U ) = − . λk dt ∂t ∂t (3.201) k=1 Ist das System konservativ und skleronom, gilt Energieerhaltung. 224 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK 3.2.3 Generalisierte Koordinaten Wenn ein aus einer hinreichend großen Anzahl von Massenpunkten bestehendes System einer Vielzahl von Bindungen unterliegt, kann die bisherige Auswertung des d’Alembertschen Prinzips recht aufwendig werden. So muß unter Umständen eine große Anzahl von Ausgangsgleichungen betrachtet werden, obwohl die Bewegung des Systems relativ einfach sein kann, da es nur über eine relativ geringe Anzahl von Freiheitsgraden verfügt. Auch bei Systemen, die nur aus wenigen Massenpunkten bestehen, kann eine Verbesserung der Auswertung angebracht sein. So enthalten die bei der direkten Auswertung des d’Alembertschen Prinzips nach Elimination der abhängigen virtuellen Verrückungen resultierenden f = 3N − r Bewegungsgleichungen noch alle 3N Koordinaten. Zusammen mit den r Nebenbedingungen bilden sie ein System von 3N Gleichungen, das zu lösen ist. Erst nach Elimination von r Variablen in den Bewegungsgleichungen mittels der r Nebenbedingungen resultieren die eigentlichen Bewegungsgleichungen für die den f Freiheitsgraden entsprechenden Variablen. Bei Verwendung der 3N Lagrangeschen Gleichungen 1. Art entsteht zunächst ein aus 3N + r Gleichungen bestehendes Gleichungssystem. Elimination der r Lagrangeschen Multiplikatoren mittels der r Nebenbedingungen reduziert dieses auf 3N Bewegungsgleichungen für 3N Variablen, die gelöst werden müssen – ein Verfahren, was recht mühevoll sein kann. Es macht deshalb Sinn nach einem Lösungsverfahren zu fragen, bei dem die Nebenbedingungen einmal elimiert werden und im Ergebnis dessen genau f Bewegungsgleichungen für exakt f Variablen entstehen, d.h. Bewegungsgleichungen, die nach Art und Anzahl genau den Freiheitsgraden des Systems entsprechen. Ein solches Verfahren ist für holonome Systeme möglich und führt auf die Lagrangeschen Gleichungen 2. Art. Wir betrachten ein aus N Massenpunkten bestehendes System, das in seiner Bewegungsfreiheit durch r Nebenbedingungen der Form fk (xj , t) ≡ fk (x1, x2, . . . , x3N , t) = 0 (k = 1, 2, . . . , r) (3.202) [Gleichung (3.3)] eingeschränkt ist. Fassen wir das Gleichungssystem (3.202) als Gleichungssystem zur Bestimmung der xi auf, so sehen wir, daß f = 3N − r Koordinaten unbestimmt bleiben. Bezeichnen wir diese 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 225 mit xj1 , xj2 , . . . , xjf , so können wir die Lösung von (3.202) als xi = xi(xj1 , xj2 , . . . , xjf , t) (i = 1, 2, . . . , 3N ) (3.203) darstellen. Die Koordinaten xj1 , xj2 , . . . , xjf sind offensichtlich durch keinerlei Nebenbedingungen weiter eingeschränkt. Anstelle der (beliebig wählbaren) f Koordinaten xj1 , xj2 , . . . , xjf können natürlich auch f beliebige Kombinationen dieser Koordinaten verwendet werden, qα = qα (xj1 , xj2 , . . . , xjf , t) (α = 1, 2, f ), (3.204) die unter Umständen dem System besser angepaßt sind. Wir werden also ganz allgemein xi = xi(qα , t) ≡ xi(q1, q2, . . . , qf , t) (i = 1, 2, . . . , 3N ) (3.205) schreiben und die keinerlei Nebenbedingungen unterworfenen Koordinaten qα (α=1, 2, . . . , f ) als generalisierte Koordinaten bezeichnen. Entsprechend heißen die q̇α generalisierte Geschwindigkeiten. Aus (3.205) folgt durch Differentiation nach der Zeit ẋi = f ∂xi α=1 ∂qα q̇α + ∂xi , ∂t (3.206) so daß also ∂xi ∂ ẋi = ∂ q̇α ∂qα (3.207) gilt (man beachte, daß ∂xi/∂qα nicht von den generalisierten Geschwindigkeiten abhängt). Ohne sie so zu benennen, haben wir schon bei vielen Beispielen generalisierte Koordinaten verwendet. So kann die Winkelkoordinate ϕ bei der Drehung eines starren Körpers um eine feste Achse (Abschnitt 3.1.5.4) natürlich als generalisierte Koordinate aufgefaßt werden. Im Falle eines auf einer schiefen Ebene abgleitenden Massenpunkts (Abschnitt 3.1.5.1) stellen s, y generalisierte Koordinaten dar. 226 3.2.4 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Lagrangesche Gleichungen 2. Art Wir verwenden (3.205) und drücken die virtuellen Verrückungen δxi durch die virtuellen Verrückungen δqα aus, δxi = f ∂xi α=1 ∂qα δqα , (3.208) und setzen das Egebnis in (3.167) ein: 3N (mi ẍi − Fi ) α=1 i=1 bzw. 3N f α=1 f ∂xi ∂qα δqα = 0 (3.209) ∂xi δqα = 0. ∂qα (mi ẍi − Fi) i=1 (3.210) Da die f virtuellen Verrückungen δqα frei wählbar sind, liefert das d’Alembertsche Prinzip zunächst die f Bewegungsgleichungen 3N (mi ẍi − Fi) i=1 ∂xi = 0 (α = 1, 2, . . . , f ). ∂qα (3.211) Wir wollen diese Gleichungen noch etwas umschreiben und beginnen mit dem ersten Term auf der linken Seite: 3N i=1 ∂xi d mi ẍi = mi ẋi ∂qα dt i=1 3N ∂xi ∂ ẋi − mi ẋi ∂qα ∂qα i=1 ∂ ẋi/∂ q̇α 3N ∂ ẋi ∂ ẋi d = mi ẋi − mi ẋi dt i=1 ∂ q̇α i=1 ∂qα 3N 3N 3N 3N d ∂ 1 ∂ 1 2 = mi ẋi − mi ẋ2i , 2 2 dt ∂ q̇α i=1 ∂qα i=1 T T (3.212) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 227 d.h. 3N i=1 mi ẍi ∂xi d ∂T ∂T = − , ∂qα dt ∂ q̇α ∂qα (3.213) wobei die kinetische Energie als Funktion der generalisierten Koordinaten und Geschwindigkeiten sowie der Zeit angesehen werden kann, T = T (qα , q̇α , t). (3.214) Der zweite Term in (3.211) definiert die generalisierten Kräfte Φα = Φα (qα , q̇α , t) = 3N i=1 Fi ∂xi . ∂qα (3.215) Somit lauten die Bewegungsgleichungen (3.211): ∂T d ∂T − = Φα dt ∂ q̇α ∂qα (α = 1, 2, . . . , f ) (3.216) Besitzen die (eingeprägten) Kräfte Fi ein Potential U = U (xi, t), Fi = − ∂U , ∂xi (3.217) dann kann Φα in (3.215) als 3N ∂U ∂xi ∂U Φα = − =− ∂xi ∂qα ∂qα i=1 (3.218) geschrieben werden. Die potentielle Energie kann als Funktion der generalisierten Koordinaten und der Zeit angesehen werden, U = U (qα , t), (3.219) ∂U =0 ∂ q̇α (3.220) und folglich gilt 228 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK und somit auch Φα = − ∂U d ∂U + . ∂qα dt ∂ q̇α (3.221) Wir setzen Φα aus (3.221) in (3.216) ein und erhalten d ∂L ∂L − = 0 (α = 1, 2, . . . , f ) dt ∂ q̇α ∂qα (3.222) mit L = L(qα , q̇α , t) = T − U (3.223) als der Lagrange-Funktion des Systems.9 Die Gleichungen (3.223) für holonome Systeme, die ein Potential besitzen, bzw. die Gleichungen (3.216) für holonome Systeme, die kein Potential besitzen, stellen f gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung zur Bestimmung der qα (t) dar. Sie heißen Lagrangesche Gleichungen 2. Art oder auch kurz nur Lagrangesche Gleichungen. Wie gewünscht, entspricht die Anzahl der Gleichungen genau der Anzahl der Freiheitsgrade, und die Nebenbedingungen treten nicht mehr explizit auf. Vorgehensweise: • Es sind in der kinetischen Energie und der potentiellen Energie (bzw. im Kraftgesetz) des Systems die 3N Koordinaten xi und zugehörigen Geschwindigkeiten ẋi des freien Systems entsprechend den r holonomen Nebenbedingungen durch f generalisierte Koordinaten qα und zugehörigen generalisierte Geschwindigkeiten q̇α auszudrücken. • Es ist die Lagrange-Funktion L = T − U aufzustellen (bzw. das Kraftgesetz für die generalisierten Kräfte zu formulieren). 9 Jedes System kann durch Vergrößerung“ zu einem System gemacht werden, für das eine ” Lagrange-Funktion existiert. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 229 • Die f Lagrangeschen Gleichungen (3.222) [bzw. (3.216)] sind aufzustellen und zu lösen. • Falls notwendig, können aus den erhaltenen qα =qα (t) die xi =xi(t) = xi[qα (t), t] bestimmt werden und über die ẍi(t) gemäß (3.20) dann die Zwangskräfte. Es ist klar, daß sich die Lagrangeschen Gleichungen sowohl auf holonom gebundene als auch freie Systeme anwenden lassen. Für die Lagrangeschen Gleichungen in der Form (3.222) ist nur wichtig, daß die eingeprägten Kräfte ein Potential besitzen, was natürlich auch explizit zeitabhängig sein kann.10 Die formale Gestalt der Lagrangeschen Gleichungen ist völlig unabhängig von der Wahl der generalisierten Koordinaten. Die Größen pα = ∂L ∂T = ∂ q̇α ∂ q̇α (3.224) heißen auch generalisierte Impulse, und es gilt ṗα = ∂L ∂T = + Φα , ∂qα ∂qα (3.225) d.h., die zeitliche Änderung der generalisierten Impulse ist durch die jeweilige generalisierte Kraft und die Ableitung der kinetischen Energie nach der jeweiligen generalisierten Koordinate gegeben. Für ein freies System mit Potentialkräften kann die LagrangeFunktion in der Form L= 3N 1 2 2 mi ẋi − U (x1, x2, . . . , x3N , t) (3.226) i=1 angegeben werden. Hier stimmen die generalisierten Impulse mit den gewöhnlichen Impulsen überein, ∂L = mi ẋi = pi , ∂ ẋi 10 (3.227) Genauer gesagt ist nur wichtig, daß eine Lagrange-Funktion existiert, die auf die richtigen Bewegungsgleichungen führt. 230 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK und die generalisierten Kräfte mit den gewöhnlichen Kräften, ∂L ∂U =− = Fi . ∂xi ∂xi (3.228) Erwartungsgemäß liefern die Lagrangeschen Gleichungen (3.222) die Newtonschen Bewegungsgleichungen des freien Systems, d ∂L ∂L − = ṗi − Fi = 0. dt ∂ ẋi ∂xi (3.229) Anholonome Systeme Wir betrachten ein anholonomes System mit gemischten (bilateralen) Bindungen. Nehmen wir an, es liegen r holonome Bedingungsgleichungen und r anholonome Bedingungsgleichungen vor. Die holonomen Bedingungsgleichungen können wie oben angegeben verarbeitet werden. Es verbleibt das d’Alembertsche Prinzip in einer der Gleichung (3.210) entsprechenden Form, d.h. f ∂T d ∂T − − Φα δqα = 0 dt ∂ q̇ ∂q α α α=1 (3.230) f d ∂L ∂L δqα = 0 − dt ∂ q̇ ∂q α α α=1 (3.231) bzw. zusammen mit r (r ≤ f ) anholonomen Bedingungsgleichungen f flα dqα + fl0 dt = 0 (l = 1, 2, . . . , r) (3.232) α=1 [siehe (3.9)]. Die Größen flα und fl0 sind i. allg. Funktionen der generalisierten Koordinaten und der Zeit derart, daß keine integrierenden Faktoren gefunden werden können, die aus den Gleichungen (3.232) vollständige Differentiale machen. Auf Grund der r Nebenbedingungen sind also nur f = f − r virtuelle Verrückungen δqα unabhängig 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 231 voneinander. Allerdings kann die Anzahl der notwendigen Koordinaten qα selbst nicht kleiner als f gemacht werden, da sich die Differentialgleichungen der r verbliebenen Nebenbedingungen nicht in endliche Gleichungen überführen lassen, aus denen dann weitere r Koordinaten eliminiert werden könnten. Diese Tatsache wird verbal dadurch zum Ausdruck gebracht, daß man sagt, daß das anholonome System im Endlichen f und im Infinitesimalen nur f = f − r Freiheitsgrade besitzt. Die weitere Auswertung der Gleichungen (3.230) bzw. (3.231) und (3.232) kann wie in den Beispielen im Abschnitt 3.1.5 erfolgen. Sie kann natürlich auch im Sinne der Lagrangeschen Gleichungen 1. Art (Abschnitt 3.2.1) erfolgen: r d ∂T ∂T − = Φα + λl flα dt ∂ q̇α ∂qα (3.233) l=1 bzw. r d ∂L ∂L − = λl flα . dt ∂ q̇α ∂qα (3.234) l=1 Diese Gleichungen zusammen mit den Nebenbedingungen liefern die erforderliche Anzahl von Gleichungen zur Bestimmung der Koordinaten qα und der Lagrangeschen Multiplikatoren λl . Langrangesche Gleichungen vom gemischten Typ können natürlich auch für holonome Systeme aufgestellt werden, wenn es wünschenswert ist, mit mehr Koordinaten als Freiheitsgraden zu arbeiten. Mehrdeutig bestimmte Lagrange-Funktion Wir betrachten zwei Lagrange-Funktionen L(qα, q̇α , t) und L (qα , q̇α, t) mit d (3.235) L = L + R(qα , t) dt [R(qα , t) - beliebige Funktion der generalisierten Koordinaten und der Zeit]. Dann gilt f dR ∂R ∂R = , q̇α + dt ∂q ∂t α α=1 (3.236) 232 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK ∂L ∂L ∂R = + , ∂ q̇α ∂ q̇α ∂qα (3.237) d ∂L d ∂L ∂ dR , = + dt ∂ q̇α dt ∂ q̇α ∂qα dt (3.238) ∂L ∂L ∂ dR , = + ∂qα ∂qα ∂qα dt (3.239) d ∂L ∂L d ∂L ∂L − = − . dt ∂ q̇α ∂qα dt ∂ q̇α ∂qα (3.240) und folglich finden wir Die Lagrange-Funktionen L und L führen also auf die gleichen Bewegungsgleichungen (Eichtransformation). Mit anderen Worten, die Lagrange-Funktion eines Systems ist bis auf die totale zeitliche Ableitung einer beliebigen Funktion der Koordinaten und der Zeit bestimmt. 3.2.5 Erhaltungssätze und Symmetrien Erhaltungssätze für physikalische Größen können als Ausdruck von Symmetrien angesehen werden: Die Lagrange-Funktion des Systems ist invariant gegenüber den entsprechenden Symmetrietransformationen. Erhaltungssatz, der aus der Homogenität der Zeit folgt. Im Falle eines abgeschlossenen Systems hängt die Lagrange-Funktion nicht explizit von der Zeit ab.11 Dieser Sachverhalt bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß die Lagrange-Funktion eines abgeschlossenen Systems invariant gegenüber einer zeitlichen Translation t → t + δt (3.241) ist. Ist L = L(qα , q̇α , t) die Lagrange-Funktion eines Systems, so gilt für eine zeitliche Translation L(qα, q̇α , t+δt) = L(qα , q̇α , t) + δL, 11 Ein abgeschlossenes Systems besitzt in der Regel eine Lagrange-Funktion. (3.242) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN δL = 233 ∂L δt. ∂t (3.243) D.h., δL verschwindet dann und nur dann, wenn die partielle Ableitung der Lagrange-Funktion nach der Zeit verschwindet – die LagrangeFunktion also nicht explizit von der Zeit abhängt, ←→ δL = 0 ∂L = 0. ∂t (3.244) Die Invarianz der Lagrange-Funktion gegenüber einer zeitlichen Translationen ist Ausdruck der Homogenität der Zeit. Wir wollen die Frage beantworten, was diese Symmetrie physikalisch bedeutet: f dL ∂L ∂L ∂L = q̇α + q̈α + dt ∂qα ∂ q̇α ∂t α=1 f d ∂L ∂L = q̇α + dt α=1 ∂ q̇α ∂t (3.245) bzw. d dt f ∂L q̇α − L ∂ q̇ α α=1 =− ∂L , ∂t (3.246) d.h. ∂L =0 ∂t ; f ∂L q̇α − L = const. ∂ q̇ α α=1 (3.247) Invarianz der Lagrange-Funktion gegenüber einer zeitlichen Translationen führt also auf den Erhaltungssatz (3.247). Da nur die kinetische Energie von den Geschwindigkeiten abhängt, folgt sofort, daß f f ∂L ∂T q̇α = q̇α ∂ q̇ ∂ q̇ α α α=1 α=1 (3.248) 234 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK gilt. Ganz allgemein ist bei Vorliegen skleronomer Bindungen die kinetische Energie eine homogene Funktion 2. Grades in den q̇α ,12 T (qα , λq̇α ) = λ2 T (qα , q̇α ), (3.249) so daß (nach dem Eulerschen Theorem über homogene Funktionen) f ∂T q̇α = 2T ∂ q̇ α α=1 (3.250) f ∂L q̇α − L = 2T − (T − U ) = T + U = E. ∂ q̇ α α=1 (3.251) ist. Damit erhalten wir Energieerhaltung ist also Ausdruck der Invarianz der LagrangeFunktion eines abgeschlossenen Systems gegenüber einer zeitlichen Translation, d.h. Ausdruck der Homogenität der Zeit, ∂L =0 ∂t ; dE =0 dt ; E = const. (3.252) Es ist klar, daß Energieerhaltung nicht nur für abgeschlossene Systeme gilt, sondern auch für Systeme gelten kann, die sich in äußeren Kraftfeldern befinden. Bedingung ist, daß die äußeren eingeprägten Kräfte konservativ sind und nur skleronome Bindungen auftreten. Handelt es sich um zeitabhängige Potentialkräfte, so nimmt die Bilanzgleichung (3.246) im Falle skleronomer Bindungen die Form der Energiebilanz an: dE ∂L =− dt ∂t (3.253) Erhaltungssatz, der aus der Homogenität des Raumes folgt. Im Falle eines abgeschlossenen Systems kann die Lagrange-Funktion nicht von den absoluten Koordinaten der Massenpunkte, sondern 12 Dies kann insbesondere für ein abgeschlossenes System angenommen werden. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 235 nur von ihren gegenseitigen Abständen abhängen. Die LagrangeFunktionen muß also bei einer beliebigen räumlichen Translation δr invariant sein, rν → rν + δr δL = ; N L → L + δL, δr · ∇rν L, (3.254) (3.255) ν=1 δL = 0 N ; ∇rν L = 0. (3.256) ν=1 Die Invarianz der Lagrange-Funktion gegenüber einer räumlichen Translation ist Ausdruck der Homogenität des Raumes. Führen wir die Translationsvariable r als eine generalisierte Koordinate ein, so hängt die Lagrange-Funktion offensichtlich nicht von dieser Koordinate ab, ∂L = ∇r L = 0, (3.257) ∂r und es muß folglich d ∂L d = ∇ṙ L = 0 dt ∂ ṙ dt ; ∂L = const. ∂ ṙ (3.258) dṙ · ∇ṙν L + · · · (3.259) gelten. Da in dL = N dr · ∇rν L + ν=1 N ν=1 die Ableitungen von L nach ṙν die Ableitungen von T nach ṙν sind, finden wir N N N ∂L = ∇ṙν T = mν ṙν = pν = p. ∂ ṙ ν=1 ν=1 ν=1 (3.260) Invarianz der Lagrange-Funktionen gegenüber einer räumlichen Translation bedeutet also Erhaltung des Gesamtimpulses des Systems: p = const. (3.261) 236 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Erhaltungssatz, der aus der Isotropie des Raumes folgt. Isotropie des Raumes bedeutet, daß sich die Physik eines abgeschlossenen Systems bei einer Drehung des Systems nicht ändert. Mit anderen Worten, bei einer Transformation rν → rν + δrν , δrν = δ ϕ × rν , L → L + δL (3.262) (3.263) soll die Lagrange-Funktion ungeändert bleiben, δL = 0, (3.264) d.h. δL = N δrν · ∇rν L = δ ϕ · ν=1 N rν × ∇rν L = 0 (3.265) ν=1 Fassen wir für eine gewählte (momentan als fest gedachte) Achse den Drehwinkel ϕ als generalisierte Koordinate auf, so gilt ∂L = 0, ∂ϕ (3.266) und wir finden d ∂L =0 dt ∂ ϕ̇ ; ∂L = const. ∂ ϕ̇ (3.267) Da dies für die Drehung um eine beliebige Achse gilt, ist die Größe, die erhalten bleibt, der Drehimpuls des Systems, wie unschwer zu sehen ist, N ˙ dL = (d ϕ × rν ) · ∇rν L + (dϕ × rν ) · ∇ṙν L + · · · (3.268) ν=1 = d ϕ· N ν=1 rν × ∇rν L + dϕ ˙ · N ν=1 rν × p ν + · · · , (3.269) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 237 d.h., N N ∂L = eω · rν × pν = eω · Lν = eω · L ∂ ϕ̇ ν=1 ν=1 (3.270) (eω - Einheitsvektor in Richtung der Drehachse). Invarianz der Lagrange-Funktionen gegenüber einer räumlichen Drehung um eine beliebige Achse bedeutet also Erhaltung des Gesamtdrehimpulses des Systems: L = const. (3.271) Zyklische Koordinaten Wir wollen wieder annehmen, daß ausgehend von den kartesischen Koordinaten und unter Berücksichtigung möglicher Nebenbedingungen geeignete (systemangepaßte) generalisierte Koordinaten eingeführt wurden. Ändert sich bei einer Transformation qα → qα + δqα , L → L + δL = L + ∂L δqα , ∂qα (3.272) (3.273) die Lagrange-Funktion nicht, dann hängt sie offensichtlich nicht von qα ab, δL = 0 ←→ ∂L = 0, ∂qα (3.274) so daß wegen d ∂L =0 dt ∂ q̇α (3.275) ∂L = const. ∂ q̇α (3.276) der Erhaltungssatz 238 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK gilt. Generalisierte Koordinaten, von denen die Lagrange-Funktion nicht abhängt, heißen zyklische Koordinaten. Sie stellen Symmetriekoordinaten des Systems dar und geben Anlaß zu Erhaltungssätzen. Noether-Theorem Wie wir gesehen haben, ist das Auftreten von Erhaltungsgrößen, d.h. Invarianten der Bewegung, an die Invarianz der Lagrange-Funktion bei bestimmten Transformationen gebunden. Betrachten wir eine von einem kontinuierlichen Parameter λ abhängige und stetig differenzierbare Transformation qα = qα (qβ , t, λ) ↔ qβ = qβ (qα , t, λ), (3.277) wobei annehmen wollen, daß qα (qβ , t, λ = 0) = qα (3.278) gilt, d.h., gestrichene und ungestrichene Koordinaten mögen für λ = 0 zusammenfallen. Es sei L(qα , q̇α , t, λ) = L[qβ (qα , t, λ), q̇β (qα , q̇α , t, λ), t]. (3.279) Invarianz der Lagrange-Funktion bedeutet, daß L(qα , q̇α , t, λ) = L(qα , q̇α , t) (3.280) gelten muß, d.h., L kann nicht von λ abhängen, ∂L = 0. ∂λ (3.281) Wir berechnen die Ableitung von L nach λ: f ∂L ∂ q̇β ∂L ∂L ∂qβ = + ∂λ ∂qβ ∂λ ∂ q̇β ∂λ β=1 f d ∂L ∂qβ ∂L d ∂qβ = + dt ∂ q̇β ∂λ ∂ q̇β dt ∂λ β=1 f d ∂L ∂qβ = . dt ∂ q̇β ∂λ β=1 (3.282) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 239 Folglich bedeutet Invarianz der Lagrange-Funktion, daß f d ∂L ∂qβ =0 dt ∂ q̇β ∂λ (3.283) β=1 gelten muß, und somit ist die Größe f ∂L ∂qβ C= ∂ q̇β ∂λ λ=0 (3.284) β=1 eine Erhaltungsgröße des Systems. Jeder Transformation der Form (3.277), die die Lagrange-Funktion invariant läßt, entspricht also eine Erhaltungsgröße. Es ist sofort zu sehen daß im Falle einer zyklischen Koordinate qα die Gleichung (3.284) für qα =qα +λ auf den Erhaltungssatz (3.276) führt. Beispiel: Bewegung im homogenen Kraftfeld Wir betrachten die Bewegung eines Massenpunktsystems in einem homogenen Kraftfeld längs der z-Achse, Fν = cν ez , (3.285) und schreiben die Lagrange-Funktion in Zylinderkoordinaten auf, T = 1 2 N L = T − U, (3.286) mν ˙2ν + 2ν ϕ̇2ν + żν2 , (3.287) ν=1 U= 1 2 N ν,μ=1 Uνμ (|rν −rμ|) − N cν zν (3.288) ν=1 [vgl. (2.454)], wobei |rν − rμ |2 =|rν |2 + |rμ |2 − 2rν · rμ = 2ν + 2μ + zν2 + zμ2 − 2zν zμ − 2ν μ cos(ϕν −ϕμ) (3.289) 240 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK gilt. Wir führen neue Koordinaten ψν ein: ϕ1 = N ψν , (3.290) ν=1 ϕν = ψ1 − ψν (ν = 2, 3, . . . , N ). (3.291) Offensichtlich hängen die Differenzwinkel ϕν − ϕμ nicht von ψ1 ab, und wegen (3.288) und (3.289) hängt also auch die potentielle Energie nicht von ψ1 ab. Da ferner die kinetische Energie nicht von den ϕν und damit auch nicht von den ψν abhängt, ist ψ1 zyklische Variable, und es gilt der Erhaltungssatz ∂L = const. ∂ ψ̇1 (3.292) Wir finden N N ∂L ∂ ϕ̇ν ∂L ∂L = = ∂ ϕ̇ ∂ ϕ̇ν ∂ ψ̇1 ∂ ψ̇ ν 1 ν=1 ν=1 = N mν 2ν ϕ̇ν = Lz = const. (3.293) ν=1 Die Erhaltungsgröße ist die z-Komponente des Drehimpulses. Beispiel: Zwei-Körper-Problem Wir betrachten zwei Massenpunkte, die über eine abstandsabhängige Zentralkraft miteinander wechselwirken (z.B. Planet und Zentralgestirn vermittels der Gravitationskraft). Wie wir wissen, gilt in diesem Fall der Impulserhaltungssatz. Die Massenmittelpunktskoordinaten müssen folglich zyklische Koordinaten und das Zwei-Körper-Problem auf ein Einköperproblem zurückführbar sein. Die Lagrange-Funktion lautet zunächst L = 12 m1 |ṙ1 |2 + 12 m2 |ṙ2|2 − U (|r2 −r1|). (3.294) Wir führen Relativ- und Massenmittelpunktkoordinaten ein (siehe Abschnitt 2.3.7), r2 − r1 = r, (3.295) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 241 m1 r1 + m2 r2 = mrc (3.296) (m = m1 + m2 ), woraus m2 r, m m1 r2 = rc + r m r1 = rc − (3.297) (3.298) folgt. Damit ergibt sich m22 2 m2 |ṙ1| = |ṙc | + 2 |ṙ| − 2 ṙc · ṙ, m m (3.299) m21 2 m1 ṙc · ṙ, |ṙ| + 2 m2 m (3.300) 2 2 |ṙ2|2 = |ṙc |2 + 2 1 2 m1 |ṙ1 | + 12 m2 |ṙ2 |2 = 2 1 2 m|ṙc | + 12 μ|ṙ|2 (3.301) (μ - reduzierte Masse), und die Lagrange-Funktion (3.294) nimmt die Gestalt L = 12 m|ṙc |2 + 12 μ|ṙ|2 − U (|r|) (3.302) an. Sie setzt sich additiv aus der Lagrange-Funktion für die Massenmittelpunktsbewegung und der Lagrange-Funktion für die Relativbewegung zusammen, wobei, wie erwartet, die Massenmittelpunktskoordinaten zyklische Koordinaten sind. 3.2.6 Spezielle Probleme Die Lagrangeschen Gleichungen 2. Art bzw. die vom gemischten Typ bedeuten in bezug auf Anwendungen eine der weitreichendsten und brauchbarsten Methoden, die in der Mechanik bekannt sind. Die Stärke des Formalismus wird insbesondere bei schwierigen technischmechanischen Problemen deutlich, bei denen Bindungen und Zwangskräfte der verschiedensten Art vorkommen, aber auch bei relativ einfachen Problemstellungen kann die Verwendung der Lagrangeschen Gleichungen von beträchtlichem Vorteil sein. 242 3.2.6.1 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Beschleunigung in beliebigen Koordinaten Unabhängig davon, ob es sich um gebundene oder freie Systeme handelt, können die für ein Problem gewählten (von kartesischen Koordinaten abweichenden) Koordinaten immer auch als generalisierte Koordinaten angesehen werden. Ein Beispiel ist die Beschreibung der Bewegung eines frei beweglichen Massenpunkts in beliebigen Koordinaten xi (siehe Abschnitt 1.2). Es sei L = L(xi, ẋi) die Lagrange-Funktion in diesen generaliserten Koordinaten und dazugehörigen generalisierten Geschwindigkeiten. Mit der Geschwindigkeit ṙ = ẋi gi (3.303) ergibt sich für die kinetische Energie T = 12 m gik ẋi ẋk . (3.304) Die Lagrangeschen Gleichungen lauten d ∂L ∂L d ∂T ∂T ∂U − = − + =0 dt ∂ ẋi ∂xi dt ∂ ẋi ∂xi ∂xi (3.305) bzw. d ∂T ∂T ∂U − = − = −gi ·∇U = gi ·F, dt ∂ ẋi ∂xi ∂xi woraus wegen r̈ = F/m 1 gi ·r̈ = m d ∂T ∂T − dt ∂ ẋi ∂xi (3.306) (3.307) folgt. Speziell für den Fall orthogonaler Koordinaten gilt gi = λi ei , (3.308) und (3.309) lautet 1 ei ·r̈ = mλi d ∂T ∂T − dt ∂ ẋi ∂xi (3.309) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 243 Verglichen mit den Gleichungen (1.63) und (1.68), sind die Gleichungen (3.307) und (3.309) wesentlich einfacher auszuwerten, da die explizite Differentiation der Basisvektoren entfällt. Beispiel: Zylinderkoordinaten (x1 = , x2 = ϕ, x3 = z) ds2 = d2 + 2 dϕ2 + dz 2 , (3.310) λ = 1, λϕ = , λz = 1, (3.311) T = 12 m ˙2 + 2 ϕ̇2 + ż 2 . (3.312) -Komponente: ∂T = m, ˙ ∂ ˙ d ∂T = m¨ , dt ∂ ˙ 1 m ∂T d ∂T − dt ∂ ˙ ∂ ∂T = mϕ̇2 , ∂ = ¨ − ϕ̇2 = e ·r̈. (3.313) (3.314) ϕ-Komponente: ∂T d ∂T ∂T = m2 ϕ̇, = m2 ϕ̈ + 2m˙ ϕ̇, = 0, ∂ ϕ̇ dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ 1 m 3.2.6.2 d ∂T ∂T − dt ∂ ϕ̇ ∂ (3.315) = ¨ + 2˙ϕ̇ = eϕ ·r̈. (3.316) Massenpunkt im beschleunigten Bezugssystem Es seien x, y, z und ẋ, ẏ, ż die kartesischen Koordinaten und Geschwindigkeiten eines Massenpunkts im Inertialsystem sowie x, y , z und ẋ , ẏ , ż die Koordinaten und Geschwindigkeiten in einem beliebig beschleunigten Bezugssystem (siehe Abschnitt 2.1.5 und die dort verwendeten Bezeichnungen). Die Größen x , y , z und ẋ, ẏ , ż können natürlich auch als generalisierte Koordinaten und Geschwindigkeiten 244 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK aufgefaßt werden. Um die Lagrange-Funktion in diesen Variablen aufzustellen, gehen wir in einem ersten Schritt vom Inertialsystem in ein rein translatorisch beschleunigtes Bezugssystem über. Mit ṙ = ṙ0 + ṙ = ṙ0 + ẋ ex + ẏ ey + ż ez (3.317) finden wir für die kinetische Energie T = 12 m|ṙ0 + ṙ |2 = 12 m|ṙ0 |2 + mṙ0 · ṙ + 12 m|ṙ |2 = 12 m|ṙ0 |2 + m d ṙ0 ·r − mr̈0 ·r + 12 m|ṙ |2 . dt (3.318) Da die Lagrange-Funktion nur bis auf die totale zeitliche Ableitung einer beliebigen Funktion der Koordinaten bestimmt ist, finden wir: L = 12 m|ṙ |2 − mr̈0 ·r − U (3.319) Nunmehr lassen wir auch eine Drehung des bewegten Bezugssystems zu. Dazu haben wir gemäß (2.29) in (3.319) die Ersetzung13 ṙ → ṙ + ω × r. (3.320) vorzunehmen: L = 12 m|ṙ |2 − mr̈0 ·r + mṙ ·(ω × r ) (3.321) + 12 m|ω × r|2 − U Wir wollen uns überzeugen, daß die Lagrange-Funktion (3.321) auf die Bewegungsgleichung (2.43) führt. Die Rechnung wird am übersicht13 Beachte, daß nach der Ersetzung zeitliche Ableitungen gestrichener Größen im Sinne eines Beobachters im bewegten Koordinatensystem zu bilden sind. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 245 lichsten, wenn wir zunächst das Differential von L (für dt=0) aufschreiben: dL = mṙ ·dṙ − mr̈0 ·dr + mṙ ·(ω × dr ) + m(ω × r )·dṙ + m(ω × r)·(ω × dr ) − (∇U )·dr = − [mr̈0 + m ω × ṙ + mω × (ω × r ) + ∇U ]·dr + (mṙ + m ω × r )·dṙ . (3.322) Aus dieser Gleichung lesen wir ab: d ∂L d d L = ∇ (mṙ + m ω × r ) = ṙ dt ∂ ṙ dt dt ˙ × r + m ω × ṙ , = mr̈ + m ω − (3.323) ∂L = −∇r L ∂r = mr̈0 + m ω × ṙ + mω × (ω × r ) + ∇U. (3.324) Damit lautet die (vektorielle) Lagrangesche Gleichung d ∂L ∂L − = mr̈ + m ω˙ × r + m ω × ṙ dt ∂ ṙ ∂r + mr̈0 + m ω × ṙ + mω × (ω × r ) + ∇U = 0. (3.325) Mit F = −∇U ist dies genau die im Abschnitt 2.1.5 hergeleitete Gleichung (2.43). 3.2.6.3 Kugelpendel Wir betrachten die Bewegung eines Körpers (Massenpunkts), der am Ende einer masselosen“ Stange befestigt ist, die im Schwerefeld der ” Erde an einem festen Punkt drehbar aufgehängt ist. Kinetische Energie: T = 12 m ẋ2 + ẏ 2 + ż 2 2 2 2 2 2 2 1 = 2 m ṙ + r ϑ̇ + r sin ϑ ϕ̇ . (3.326) 246 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK z m l F ϑ Drehpunkt ϕ y x Potentielle Energie: U = mgz = mgr cos ϑ. (3.327) r = l = const. (3.328) Nebenbedingung: Lagrange-Funktion: L=T −U = 2 1 2 ml 2 2 2 ϑ̇ + sin ϑ ϕ̇ − mgl cos ϑ. (3.329) Lagrangesche Gleichungen: d 2 d ∂L = ml ϑ̇ = ml2ϑ̈, dt ∂ ϑ̇ dt (3.330) ∂L = ml2 sin ϑ cos ϑ ϕ̇2 + mgl sin ϑ, ∂ϑ (3.331) d ∂L ∂L = ml2ϑ̈ − ml2 sin ϑ cos ϑ ϕ̇2 − mgl sin ϑ = 0, − dt ∂ ϑ̇ ∂ϑ (3.332) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 247 d.h.:14 l g 2 ϑ̈ − sin ϑ 1 + cos ϑ ϕ̇ = 0 l g (3.333) d ∂L d 2 2 = ml sin ϑ ϕ̇ dt ∂ ϕ̇ dt = 2ml2 sin ϑ cos ϑ ϑ̇ϕ̇ + ml2 sin2 ϑ ϕ̈, ∂L = 0, ∂ϕ d ∂L ∂L − = 2ml2 sin ϑ cos ϑ ϑ̇ϕ̇ + ml2 sin2 ϑ ϕ̈ = 0, dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ (3.334) (3.335) (3.336) d.h.: sin ϑ ϕ̈ + 2 cos ϑ ϑ̇ϕ̇ = 0 (3.337) Die Integration der Bewegungsgleichungen (3.333) und (3.337) kann mit Hilfe des Energieerhaltungssatzes und des Erhaltungssatzes für die z-Komponente des Drehimpulses15 erfolgen (siehe Abschnitt 2.2.5). Ausdruck letzteren ist die Tatsache, daß ϕ zyklische Variable ist und somit ∂L = ml2 sin2 ϑ ϕ̇ = const. (3.338) ∂ ϕ̇ Lz gilt. Energieerhaltung bedeutet E =T +U 2 2 2 2 1 = 2 ml ϑ̇ + sin ϑ ϕ̇ + mgl cos ϑ = const. 14 (3.339) Für ϕ̇ = 0 geht die Gleichung (3.333) in die Bewegungsgleichung (3.63) des Kreispendels über (ϑ → ϑ − π). 15 Das homogene Schwerefeld der Erde liefert keine z-Komponente des Drehmoments. 248 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Aus (3.338) ergibt sich dann für ϕ̇ Lz ϕ̇ = ml2 sin2 ϑ ; L2z ϕ̇ = 2 4 4 , m l sin ϑ 2 (3.340) und dies in (3.339) eingesetzt liefert eine Differentialgleichung nur für ϑ, 2 2 1 2 ml ϑ̇ L2z + + mgl cos ϑ = E. 2ml2 sin2 ϑ (3.341) Wir wählen die z-Koordinate anstelle der Winkelkoordinate ϑ als (unabhängige) Koordinate z = l cos ϑ ; ż = −l sin ϑ ϑ̇, (3.342) d.h. ϑ̇2 = ż 2 ż 2 = . l2 sin2 ϑ l2 − z 2 (3.343) Mit (3.342) und (3.343) geht (3.341) in eine Differentialgleichung für z über, L2z ml2 ż 2 + + mgz = E 2(l2 − z 2 ) 2m(l2 − z 2 ) (3.344) bzw. ż 2 = mit 2 V (z) m 2 1 L z V (z) = 2 (l2 − z 2 )(E − mgz) − . l 2m (3.345) (3.346) Separation der Variablen liefert t = t(z) in integraler Form, dz t= + const. 2V (z)/m (3.347) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 249 Ist t = t(z) bekannt, kann über die Umkehrfunktion z = z(t) bestimmt werden [und daraus dann auch ϑ = ϑ(t)]. Aus (3.340) und (3.342) folgt Lz , m(l2 − z 2 ) (3.348) dϕ dϕ dz = , dt dz dt (3.349) dϕ Lz = dz m(l2 − z 2 )ż (3.350) dϕ Lz = . dz m(l2 −z 2 ) 2V (z)/m (3.351) ϕ̇ = und es gilt ϕ̇ = d.h. bzw. mit (3.345) Separation der Variablen liefert dann ϕ = ϕ(z), Lz dz + const. ϕ= m(l2 −z 2 ) 2V (z)/m (3.352) Mit z = z(t) kann dann ϕ als Funktion von t berechnet werden. Damit ist die gestellte Aufgabe prinzipiell gelöst. Die Integrale in (3.347) und (3.352) sind elliptische Integrale und können auf Tabellenwerte zurückgeführt werden. Wichtige Eigenschaften der Bewegung können auch hier wieder aus den Erhaltungssätzen abgeleitet werden, ohne die verbliebenen Integrale explizit auszuwerten. Dazu untersuchen wir die (in der Wurzel in den Integralnennern auftretende) Funktion V (z) [Gleichung (3.346)] etwas näher. Da ż 2 ≥ 0 ist und entsprechend (3.342) −l ≤ z ≤ l (3.353) gilt, muß V (z) als Polynom dritten Grades in z in einem gewissen, zwischen −l und l liegenden Intervall positiv sein.16 Dieses Intervall 16 Die in V (z) auftretenden Konstanten E und Lz können immer so gewählt werden, daß diese Forderung erfüllt ist. 250 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK 0.8 0.6 V mgl 0.4 (1) 0.2 −1 −0.5 0 −0.2 0.5 1 1.5 z l (2) −0.4 −0.6 (3) −0.8 E/(mgl) = 0.5; L2z /(2m2gl3) = 0 (1), 0.5 (2), 0.6 (3). wird durch die zwei kleinsten Wurzeln z1 und z2 der Gleichung V (z) = 0 festgelegt (siehe die Abbildung). Die dritte Wurzel liegt offensichtlich außerhalb l, da V (l) = −L2z /(2ml2) < 0 und V (∞) > 0 (3.354) ist. Nur die zwischen z1 und z2 liegenden Punkte sind physikalisch sinnvoll, d.h., die z-Koordinate des Massenpunkts kann sich nur zwischen z1 und z2 und die Winkelkoordinate ϑ nur zwischen den entsprechenden Werten ϑ1 und ϑ2 ändern. Der Massenpunkt muß sich also stets innerhalb zweier Breitenkreise bewegen. Diese Breitenkreise werden auch tatsächlich am Ende jedes Aufstiegs bzw. Abstiegs erreicht. Für den Augenblick der Umkehr gilt ż = 0 und folglich V (z) = 0, d.h., z = z1, z2 . Ferner gilt wegen (3.348) und (3.353) ϕ̇ > 0 (3.355) (Lz > 0), d.h., der Winkel ϕ kann nicht abnehmen und ändert sich folglich nur in einer Richtung.17 Die Zeit, die der Massenpunkt benötigt, um von seiner höchsten Lage z2 zu seiner tiefsten Lage z1 zu gelangen, kann völlig analog zum 17 ϕ̇ = 0 ist nur für Lz = 0 möglich. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 251 z l m z2 z1 Kreispendel als das Viertel der vollen Schwingungsdauer T (bzgl. der Bewegung der z-Koordinate) aufgefaßt werden (vgl. Abschnitt 3.1.5.2). Aus (3.347) folgt z2 dz T = 4l . (3.356) 2V (z)/m z1 Die Bewegung insgesamt ist i. allg. nicht periodisch. Zwar wird ein gegebener Winkel ϑ nach der Zeit T wieder angenommen, doch ändert sich der Winkel ϕ in dieser Zeit nicht um 2π, so daß der Ausgangspunkt der Bewegung nicht wieder erreicht wird. Gemäß (3.352) ergibt sich für die Änderung von ϕ während der Zeit T 4lLz z2 dz Δϕ = 2π + δϕ = (3.357) m z1 (l2 −z 2 ) 2V (z)/m (δϕ - Abweichung von der periodischen Bewegung). Die Bewegung ist also i. allg. nur bedingt periodisch; sie wird dann periodisch, wenn δϕ/(2π) eine rationale Zahl ist (siehe Abschnitt 1.3.3.2, LissajousFiguren). Kleine Auslenkungen Im Falle kleiner Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage, y x 1, 1, l l (3.358) 252 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK gilt 2 2 x +y 1 , z = − l2 − (x2 +y 2 ) ≈ −l 1 − 2 l2 (3.359) und die Lagrange-Funktion lautet (näherungsweise) L≈ 1 2m g 2 2 x +y ẋ + ẏ − . l 2 2 (3.360) Es ist leicht zu sehen, daß in diesem Fall die Lagrangeschen Gleichungen die Bewegungsgleichungen zweier harmonischer Oszillatoren sind: d ∂L − dt ∂ ẋ d ∂L − dt ∂ ẏ ∂L = 0 ; ẍ + ω 2 x = 0, ∂x ∂L = 0 ; ÿ + ω 2 y = 0, ∂y ω2 = g . l (3.361) (3.362) (3.363) Die Bewegung ist also eine Überlagerung zweier zueinander senkrecht stehender harmonischer Schwingungen gleicher Frequenz (Abschnitt 1.3.3.2). Im Falle kleiner Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage und beliebiger Phasendifferenz beider Schwingungen bewegt sich der Endpunkt des Kugelpendels (näherungsweise) mit der Periodendauer T = 2π/ω auf einer horizontalen Ellipse, deren Form und Lage durch die Anfangsbedingungen festgelegt sind. 3.2.6.4 Sympathisches Pendel Wir betrachten die Bewegung eines Doppelpendels in der Ebene (siehe Abbildung), wobei wir die Pendelstäbe wieder als (im Vergleich zu den Pendelkörpern nahezu) masselos ansehen wollen. Als generalisierte Koordinaten wählen wir die Winkel ϕ1 und ϕ2. Es gilt 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 253 x l1 ϕ1 Achsen senkrecht zur Papierebene m1 ϕ2 l2 m2 y x1 = l1 sin ϕ1 , y1 = l1 cos ϕ1 , (3.364) (3.365) x2 = l1 sin ϕ1 + l2 sin ϕ2 , y2 = l1 cos ϕ1 + l2 cos ϕ2 , (3.366) (3.367) ẋ1 = l1 ϕ̇1 cos ϕ1 , ẏ1 = −l1ϕ̇1 sin ϕ1 , (3.368) (3.369) ẋ2 = l1 ϕ̇1 cos ϕ1 + l2 ϕ̇2 cos ϕ2 , ẏ2 = −l1ϕ̇1 sin ϕ1 − l2ϕ̇2 sin ϕ2 . (3.370) (3.371) Damit lautet die potentielle Energie U = −m1 gy1 − m2 gy2 = −(m1 + m2 )gl1 cos ϕ1 − m2 gl2 cos ϕ2 , (3.372) und für die kinetische Energie ergibt sich T = 12 m1 ẋ21 + ẏ12 + 12 m2 ẋ22 + ẏ22 = 12 (m1 + m2 ) l12ϕ̇21 + 12 m2 l22ϕ̇22 + m2 l1l2 ϕ̇1ϕ̇2 cos(ϕ1 − ϕ2 ). (3.373) 254 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Mit L = T − U folgt dann ∂L = −m2 l1 l2ϕ̇1 ϕ̇2 sin(ϕ1 − ϕ2 ) ∂ϕ1 − (m1 + m2 )gl1 sin ϕ1 (3.374) ∂L = m2 l1 l2ϕ̇1 ϕ̇2 sin(ϕ1 − ϕ2) ∂ϕ2 − m2 gl2 sin ϕ2 (3.375) ∂L = (m1 + m2 )l12ϕ̇1 ∂ ϕ̇1 + m2 l1 l2 ϕ̇2 cos(ϕ1 − ϕ2 ) (3.376) ∂L = m2 l22ϕ̇2 + m2 l1l2 ϕ̇1 cos(ϕ1 − ϕ2). ∂ ϕ̇2 (3.377) Die Lagrangeschen Gleichungen d ∂L ∂L − = 0, dt ∂ ϕ̇1 ∂ϕ1 (3.378) d ∂L ∂L − =0 dt ∂ ϕ̇2 ∂ϕ2 (3.379) führen somit auf die Bewegungsgleichungen: (m1 + m2 ) l12ϕ̈1 + + m2 l1l2 ϕ̈2 cos(ϕ1 − ϕ2) + m2 l1l2 ϕ̇22 sin(ϕ1 − ϕ2) + (m1 + m2 ) gl1 sin ϕ1 = 0 m2 l22 ϕ̈2 + m2 l1 l2ϕ̈1 cos(ϕ1 − ϕ2) − m2 l1 l2ϕ̇21 sin(ϕ1 − ϕ2 ) + m2 gl2 sin ϕ2 = 0 (3.380) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 255 (3.381) Speziell in Linearisierungsnäherung (kleine Auslenkungen und kleine Geschwindigkeiten) vereinfachen sich die Gleichungen (3.380) und (3.381) zu (m1 + m2 ) l12ϕ̈1 + m2 l1l2 ϕ̈2 + (m1 + m2 ) gl1 ϕ1 = 0, m2 l22ϕ̈2 + m2 l1l2 ϕ̈1 + m2 gl2ϕ2 = 0 (3.382) (3.383) bzw. ϕ̈1 + g m2 l2 ϕ1 = − ϕ̈2 , l1 m1 + m2 l1 (3.384) g l1 ϕ2 = − ϕ̈1 . l2 l2 (3.385) ϕ̈2 + Die Gleichungen beschreiben die Bewegung zweier über die Beschleunigung (linear) gekoppelter harmonischer Oszillatoren. Sie können über den Standardansatz ϕ1 = Aeiωt, ϕ2 = Beiωt (3.386) gelöst werden. Die Bewegung beider Pendel entspricht dann der Summe zweier harmonischer Schwingungen i. allg. verschiedener Frequenzen, Phasen und Amplituden. 3.2.6.5 Auf einer schiefen Ebene abrollender Zylinder Wir wollen die Bewegung eines auf einer schiefen Ebene abrollenden zylinderförmigen Körpers untersuchen und zunachst den allgemeinen Fall betrachten, daß der Massenmittelpunkt nicht auf der Zylinderachse liegt. Gemäß (2.465) lautet die kinetische Energie T = 2 1 2 m|ṙ0 | + N ν=1 2 1 2 mν |ṙν | + mṙ0 · ṙc , (3.387) 256 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK y eϕ e c ϕ h R r0 es s α x wobei ṙ0 = ṡ es (3.388) ist, für die Rotationsbewegung gemäß (3.99) ṙν = ω × rν , ω = ϕ̇ ez (3.389) gilt und die Rollbedingung ṡ + Rϕ̇ = 0 ; ϕ̇ = − s ṡ ; ϕ = − + const. R R (3.390) bzw. für ϕ(s = 0) = 0 ϕ=− s R (3.391) zu beachten ist. Damit sowie (3.115) und ṙ0 · ṙc = ṙ0 ·(ω × rc ) = (ṡ es )·(ϕ̇ ez × c e ) = (ṡ es )·(cϕ̇ eϕ ) = −c ṡϕ̇ sin ϕ (3.392) ergibt sich die kinetische Energie als T = 12 mṡ2 + 12 Θϕ̇2 − mc ṡϕ̇ sin ϕ s ṡ2 ṡ2 2 1 1 sin . = 2 mṡ + 2 Θ 2 − mc R R R (3.393) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 257 Die potentielle Energie lautet U = mgyc = mg [h − s sin α − c sin(α − ϕ)] s = mg h − s sin α − c sin α + , R (3.394) und somit stellt s Θ c sin ṡ2 L = m + 2 − 2m R R R s + mg s sin α + c sin α + R 1 2 (3.395) die Lagrange-Funktion des Systems dar. Aus (3.395) folgt s ∂L c = − m 2 cos ṡ2 ∂s R R s c cos α + , + mg sin α + R R s ∂L Θ c = m + 2 − 2m sin ṡ, ∂ ṡ R R R (3.396) (3.397) und die Bewegungsgleichung d ∂L ∂L − =0 dt ∂ ṡ ∂s (3.398) nimmt die Form s Θ c m + 2 − 2m sin s̈ R R R s c s c 2 − m 2 cos ṡ − mg sin α + cos α+ =0 R R R R (3.399) 258 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK an.18 Wir wollen die Bewegungsgleichung für den einfachen Fall eines homogenen Zylinders auswerten. In diesem Fall ist offensichtlich c = 0, und die Bewegungsgleichung lautet Θ (3.400) m + 2 s̈ = mg sin α. R Mit dem Trägheitsmoment Θ = ρ dV 2 R = ρl2π d 3 = ρl2πR4/4 = 12 R2 m (3.401) 0 finden wir dann s̈ = 23 g sin α. (3.402) Die Beschleunigung eines auf einer schiefen Ebene abrollenden homogenen Zylinders beträgt also nur zwei Drittel der Beschleunigung des Körpers, wenn er auf der schiefen Ebene reibungsfrei abgleitet. Anmerkungen (1) Wahl der Drehachse Wir schreiben (3.400) als 1 1 2 Θ + mR s̈ = ΘP s̈ = mg sin α R2 R2 ΘP (3.403) bzw. (ṡ = −Rϕ̇) ΘP ϕ̈ = −mgR sin α. (3.404) Gemäß dem Steinerschen Satz [Gleichung (3.122)] ist ΘP offensichtlich das Trägheitsmoment bezüglich der Achse P entlang der Berührungslinie zwischen Zylinder und schiefer Ebene. 18 Die Differentialgleichung (3.399) ersetzt gewissermaßen die einfache Differentialgleichung (3.51) für den punktförmigen Körper im Sinne eines reibungsfrei abgleitenden Körpers. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN FR Achse durch den Berührungspunkt 259 Achse durch den Massenmittelpunkt P F (2) Haftreibung Wir schreiben (3.400) noch etwas anders um, mR2 ms̈ = mg sin α Θ + mR2 = mg sin α − mg sin α + mR2 mg sin α Θ + mR2 Θ mg sin α Θ + mR2 Θ mg sin α. = mg sin α − ΘP = mg sin α − (3.405) Hier ist F = mg sin α es (3.406) die Komponente der Schwerkraft in der schiefen Ebene, die ein reines Abgleiten des Zylinders bewirken würde, und F = FR = − Θ mg sin α es ΘP (3.407) ist offenbar eine von der schiefen Ebene (d.h. der Unterlage des Zylinders) aufzubringende Zwangskraft, die notwendig ist, damit der Zylinder rollt und nicht einfach abgleitet. Diese Zwangskraft heißt auch Haftreibung (oder Haftreibungskraft). Wir bezeichnen mit |FR |max den größten Betrag der Haftreibung, die die Unterlage aufbringen kann. Wie die Erfahrung besagt, ist |FR |max von der Berührungsebene unabhängig und proportional zum Betrag der 260 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Normalkraft |FN |, mit der die beiden Berührungsflächen gegeneinander gedrückt werden, |FR |max = μ0 |FN | (3.408) (μ0 - Haftreibungskoeffizient). Der Zylinder kann also nur dann rollen, wenn die Bedingung |FR | ≤ |FR |max (3.409) erfüllt ist. Mit |FN | = mg cos α ; |FR |max = μ0 mg cos α (3.410) sowie (3.407) lautet die Bedingung (3.409) Θ mg sin α ≤ μ0 mg cos α, ΘP (3.411) ΘP Θ/m + R2 = μ0 tan α ≤ μ0 Θ Θ/m (3.412) d.h. ( Θ/m - Trägheitsradius um die Massenmittelpunktsachse). Gilt anfangs anstatt der Rollbedingung |ṡ| = R|ϕ̇|) |ṡ| > R|ϕ̇|, (3.413) so wird die Abwärtsbewegung des Zylinders zunächst mit einer Gleitbewegung verbunden sein, und diese Art der Bewegung wird (wegen der durch Reibung verusachten Abbremsung) nach einer gewissen Zeit in eine reine Rollbewegung umschlagen oder nicht, je nachdem ob die Bedingung (3.412) erfüllt ist oder nicht. Ist umgekehrt zu Beginn |ṡ| < R|ϕ̇|, (3.414) so wird zunächst eine mit Gleiten verbundene Aufwärtsbewegung zu beobachten sein, die nach einer gewissen Zeit mit Sicherheit aufhören und in eine Abwärtsbewegung übergehen wird. Diese ist dann eine reine 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 261 Rollbewegung, wenn die Bedingung (3.412) erfüllt ist. Andernfalls setzt eine Bewegung vom zuerst genannten Typ ein. (3) Gleitreibung Wir wollen einen Körper betrachten, der (beispielsweise wegen seiner Geometrie) nicht rollen, sondern nur gleiten kann. Im Falle eines reibungsfreien Abgleitens wäre dann s̈ = g sin α (3.415) [Gleichung (3.51)]. Damit der Körper tatsächlich gleiten kann, muß zunächst die Haftreibung überwunden werden. Dazu muß die Bedingung mg sin α ≥ |FR |max = μ0 mg cos α (3.416) tan α ≥ μ0 . (3.417) tan α0 = μ0 (3.418) erfüllt sein, d.h. Das durch definierte α0 bestimmt den Neigungswinkel der schiefen Ebene, bei dem das Gleiten gerade einsetzt. Wenn der Körper dann gleitet, übt der Untergrund reibungsbedingt eine bremsende Wirkung auf den Körper aus. Die der Gleitreibung zuzuschreibende (dissipative) Kraft ist der Geschwindigkeit des Körpers entgegengerichtet, und ihr Betrag kann typischerweise proportional dem Betrag der zur Fläche senkrechten Druckkraft angesetzt werden, FS = −μ |FN | ṙ |ṙ| (3.419) (μ - Gleitreibungskoeffizient). Anstelle von (3.415) gilt also für die gleitende Bewegung19 s̈ = g (sin α − μ cos α) . 19 (3.420) Bei einer Aufwärtsbewegung ist in den folgenden Gleichungen μ durch −μ zu ersetzen. 262 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Aus dieser Gleichung ist ersichtlich, daß sich der (in Bewegung gesetzte Körper) im weiteren unbeschleuningt bewegt, wenn für den Neigungswinkel der schiefen Ebene tan β = μ. (3.421) gilt. Diese als Reibungswinkel bezeichnete, recht anschauliche Größe wird oft anstelle von μ zur Kennzeichnung der Gleitreibung verwendet, und die Bewegungsgleichung (3.420) wird in der Form s̈ = g sin(α−β) cos β (3.422) geschrieben. (4) Rollreibung Kehren wir wieder zu unserem rollenden Zylinder zurück. Auch hier übt der Untergrund eine bremsende Wirkung auf die Bewegung des Körpers aus, die Rollreibung. Zylinder und Unterlage berühren sich gegenseitig infolge ihrer Deformation längs einer Fläche, und daraus läßt sich ein bremsendes Drehmoment MR ableiten, dessen Betrag erfahrungsgemäß proportional dem Betrag der Normalkraft gesetzt werden kann,20 MR = −μR |FN | ω |ω | (3.423) (μR - Rollreibungskoeffizient). Der Rollreibungskoeffizient als eine Länge heißt auch Radius der Rollreibung. Die dadurch modifizierte Bewegungsgleichung erhalten wir am einfachsten aus (3.404), indem wir dort das Drehmoment der Schwerkraft durch das Reibungsdrehmoment ergänzen, ΘP ϕ̈ = −mg (R sin α − μR cos α) . (3.424) Insbesondere erfordert gleichförmiges Abrollen (ϕ̈=0) eine schiefe Ebene mit dem Winkel μR (3.425) tan γ = R (große Räder rollen leichter“ als kleine). ” 20 Der Vollständigkeit wegen sei neben Gleit- und Rollreibung auch noch die Bohrreibung erwähnt, die zu einem Drehmoment senkrecht zur Berührungsebene Anlaß gibt, dessen Betrag ebenfalls als proportional zum Betrag der Normalkraft angenommen werden kann. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 3.2.6.6 263 Grundlagen der Kreiseltheorie Aus Abschnitt 3.1.5.3 wissen wir, daß die Bewegungsgleichungen eines (frei beweglichen) starren Körpers durch die Impulsbilanz und die Drehimpulsbilanz gegeben sind, dp = F = F(ext) , dt dL = M = M(ext) dt (3.426) (3.427) [Gleichungen (3.105) und (3.106)]. Ehe wir uns mit diesen Gleichungen etwas näher beschäftigen, ist es zweckmäßig, zunächst einige Vorbetrachtungen anzustellen. Trägheitstensor Gemäß (2.466) kann die kinetische Energie eines Massenpunktsystems mν z rν Rν Z x Y X y Rc raumfestes Koordinatensystem Koordinatensystem im Massenmittelpunkt des Körpers in der Form T = 2 1 2 m|Ṙc | + N 2 1 2 mν |ṙν | (3.428) ν=1 geschrieben werden, wenn der Bezugspunkt der Massenmittelpunkt des Systems ist. Wie dazu bereits im Abschnitt 2.3.3 festgestellt, setzt sich 264 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK die kinetische Energie aus der kinetischen Energie der Translationsbewegung des im Massenmittelpunkt vereinigt gedachten Systems und der kinetischen Energie der Massenpunkte relativ zum Massenmittelpunkt zusammen. Für einen starren Körper bedeutet dies, daß sich die kinetische Energie aus der kinetischen Energie der Translationsbewegung und der kinetischen Energie der Rotation zusammensetzt. Gemäß (3.99) gilt ṙν = ω × rν , (3.429) T = Ttr + Tr , (3.430) Ttr = 12 m|Ṙc |2 , (3.431) und wir finden: Tr = N 1 ω 2 mν | × rν |2 ν=1 = N 1 2 mν 2 2 |ω | |rν | − (ω ·rν )2 . (3.432) ν=1 Wir wollen den Ausdruck für die Rotationsenergie noch etwas umformen. Wir schreiben |ω |2 |rν |2 = (ω ·ω )(rν ·rν ) = ωiω i (xν )j (xν )j = gik (xν )j (xν )j ω i ω k , (ω ·rν )2 = ω i (xν )i ω k (xν )k , |ω |2|rν |2 − (ω ·rν )2 = gik (xν )j (xν )j − (xν )i(xν )k ω i ω k , (3.433) (3.434) (3.435) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 265 definieren den Trägheitstensor Θik = N mν gik (xν )j (xν )j − (xν )i (xν )k (3.436) ν=1 und können damit die Rotationsenergie in die Form Tr = 12 Θik ω i ω k (3.437) bringen. In kartesischen Koordinaten stellen die Diagonalelemente die bereits eingeführten Trägheitsmomente bezüglich der Koordinatenachsen dar, und die Nichtdiagonalelemente sind bis auf das Vorzeichen die ebenfalls bereits bekannten Deviationsmomente (Abschnitt 3.1.5.4). In den Gleichungen (3.428) – (3.437) ist das dem starren Körper zugeordnete Koordinatensystem nur insoweit spezifiziert, daß der Ursprung mit dem Massenmittelpunkt des starren Körpers zusammenfällt. Die Achsen können sowohl mit dem starren Körper fest verbundenen als auch raumfest orientiert sein. Es ist klar, daß nur im ersten Fall der Trägheitstensor zeitunabhängig und damit eine rein körperspezifische Größe ist. Aus der Definition ist ersichtlich, daß der Trägheitstensor symmetrisch ist, Θik = Θki . (3.438) Der Trägheitstensor kann mittels einer Fläche zweiter Ordnung veranschaulicht werden, und zwar durch das Trägheitsellipsoid. Ist Θ das Trägheitsmoment bezüglich der Achse, um die (momentan) die Drehung erfolgt, so kann die kinetische Energie der Rotation als Tr = 12 Θ ω 2 (3.439) geschrieben werden [Gleichung (3.115)], und der Vergleich mit (3.437) liefert Θik ω i ω k = Θ ω 2 (3.440) 266 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK bzw. ωk ωi √ Θik √ = Θik y i y k = 1 Θ|ω | Θ|ω | (3.441) √ [y i = ω i /( Θ|ω |)]. Dies ist aber gerade die Gleichung eines Ellipsoids, wie unter Zugrundelegung von kartesischen Koordinaten sofort zu sehen ist. Bekanntlich kann sie durch eine Hauptachsentransformation vereinfacht werden, indem das Koordinatensystem so gelegt wird, daß seine (ξ, η, ζ)-Achsen mit den Achsen des Ellipsoids zusammenfallen, ⎛ ⎞ A 0 0 Θik = ⎝ 0 B 0 ⎠, (3.442) 0 0 C A ξ 2 + B η 2 + C ζ 2 = 1. (3.443) Die Größen A, B, C heißen Hauptträgheitsmomente des Körpers. z √ 1/ C 1 ω √ Θ |ω | y √ 1/ B x √ 1/ A Sie sind die Trägheitsmomente bezüglich der Hauptträgheitsachsen des Körpers. Im Hauptachsensystem nimmt die kinetische Energie der Rotation die einfache Form Tr = 12 A p2 + B q 2 + C r2 (3.444) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 267 an, wobei p ≡ ωξ , q ≡ ωη und r ≡ ωζ die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit im Hauptachsensystem bezeichnen, ω = p eξ + q eη + r eζ . (3.445) Hinsichtlich ihres Trägheitstensors werden starre Körper üblicherweise in drei Klassen eingeteilt. Bei einem unsymmetrischen Kreisel sind alle drei Hauptträgheitsmonente verschieden voneinander (A = B = C). Stimmen zwei Hauptträgheitsmomente überein (z.B. A = B = C), liegt ein symmetrischer Kreisel vor, dessen Trägheitsellipsoid ein Rotationsellipsoid ist. Stimmen alle drei Hauptträgheitsmomente überein (A = B = C), handelt es sich um einen Kugelkreisel. Eulersche Gleichungen Als nächstes wollen wir die Drehimpulsbilanz (d.h. die drei für die Rotation zuständigen Bewegungsgleichungen des starren Körpers) unter Verwendung des Trägheitstensors in eine etwas andere Form bringen. Wir gehen von der Definition des Drehimpulses aus, L= N mν rν × ṙν , (3.446) ν=1 legen den Bezugspunkt wieder in den Massenmittelpunkt des Körpers und finden mit (3.429): L= N mν rν × (ω × rν ) ν=1 = N mν ω |rν |2 − rν (rν ·ω ) , (3.447) ν=1 bzw. komponentenweise Li = N mν ωi (xν )j (xν )j − (xν )i (xν )k ω k ν=1 = N ν=1 mν gik (xν )j (xν )j − (xν )i (xν )k ω k , (3.448) 268 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK d.h. Li = Θik ω k (3.449) Die Komponenten des Drehimpulses sind also lineare Funktionen der Komponenten der Winkelgeschwindigkeit, wobei dieser Zusammenhang durch den Trägheitstensor vermittelt wird. Speziell im Hauptachsensystem gilt [mit der Bezeichnung (3.445)] L = A p eξ + B q eη + C r eζ . (3.450) Wir wollen uns den Zusammenhang zwischen Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit mit Hilfe des Trägheitsellipsoids veranschaulichen. Mit f (y j ) = Θik y i y k − 1 (3.451) lautet die Gleichung des Trägheitsellipsoids f (y j ) = 0, (3.452) ∼ ω ∼L ζ η ξ 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 269 woraus mit (3.449) ∂f 2 = 2Θik y k = √ Li i ∂y Θ|ω | (3.453) folgt. Der Gradient an das Trägheitsellipsoid ist also proportional zum Drehimpuls. Mit (3.449) liefert die Drehimpulsbilanz (3.427) die Bewegungsgleichungen für die Rotation in der Form d Θik ω k = Mi . dt (3.454) Diese Gleichungen gelten [im Gegensatz zu (3.449)] in dem im Massenmittelpunkt des Körpers verankerten Koordinatensystem, dessen Achsen raumfest orientiert sind (zur Rolle des Bezugspunkts für die Drehimpulsbilanz siehe Abschnitt 2.3.6). Wie bereits bemerkt, besteht der Nachteil raumfest orientierter Achsen darin, daß der Trägheitstensor zeitabhängig ist und die zeitliche Differentiation in (3.454) sowohl die Winkelgeschwindigkeit als auch den Trägheitstensor erfaßt. Einfacher wird die Situation, wenn die Drehimpulsbilanz im körperfesten Koordinatensystem (mit Ursprung im Massenmittelpunkt) aufgeschrieben wird und als körperfestes Koordinatensystem das Hauptachsensystem gewählt wird. Gemäß (2.33) gilt für den Zusammenhang der zeitlichen Ableitungen in beiden Koordinatensystemen dL d L = + ω × L, dt dt (3.455) so daß die Drehimpulsbilanz für einen Beobachter im körperfesten Koordinatensystem d L + ω × L = M dt (3.456) lautet. In Komponenten lautet (3.456) L̇i + ikl ω k Ll = Mi (3.457) 270 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK bzw. unter Berücksichtigung des Zusammenhangs (3.449) von Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit Θik ω̇ k + ikl ω k Θln ωn = Mi . (3.458) Die zunächst immer noch recht kompliziert aussehenden drei Gleichungen (3.458) nehmen im Hauptachsensystem [mit den Bezeichnungen (3.445) und (3.450)] eine recht einfache Gestalt an: A ṗ + (C − B) q r = Mξ B q̇ + (A − C) r p = Mη C ṙ + (B − A) p q = Mζ (3.459) Dies sind die Eulerschen Gleichungen. Sie stellen die Bilanzgleichungen für die Komponenten des Drehimpulses im mitrotierenden Hauptachsensystem des starren Körpers dar. Die Orientierung des mitrotierenden Bezugssystems relativ zum raumfesten Bezugssystem kann durch die Eulerschen Winkel ϑ, ψ, ϕ beschrieben werden. In der Abbildung sind x, y, z die kartesischen Koz η ζ ξ ϑ ψ ϕ x Knotenlinie y 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 271 ordinaten des Koordinatensystems fester Achsenorientierung bzgl. des Inertialsystems und ξ, η, ζ die kartesischen Koordinaten des körperfesten (d.h. mit dem Körper mitrotierenden) Koordinatensystems. (1) Drehung um die Knotenlinie K (ϕ, ψ fest; ϑ variabel): ωK = ϑ̇ eK = ϑ̇ (cos ψ eξ − sin ψ eη ) . (3.460) (2) Drehung um die z-Achse (ϑ, ψ fest; ϕ variabel): ωz = ϕ̇ ez = ϕ̇ (sin ϑ sin ψ eξ + sin ϑ cos ψ eη + cos ϑ eζ ) . (3.461) (3) Drehung um die ζ-Achse (ϑ, ϕ fest; ψ variabel): ωζ = ψ̇ eζ . (3.462) ω = ω K + ωz + ωζ (3.463) Wir setzen in die Ausdrücke (3.460) – (3.462) ein, vergleichen mit (3.445) und finden: p = ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ q = ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ r = ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ (3.464) Kombination von (3.464) und (3.459) liefert dann die Bewegungsgleichungen für die Rotationsbewegung in der Form eines Differentialgleichungssystems zweiter Ordnung zur Bestimmung der Eulerschen Winkel ϑ, ϕ, ψ als Funktionen der Zeit. In gewissen einfachen Fällen (wie beispielsweise für Mξ = Mη = Mζ = 0) lassen sich die Eulerschen Gleichungen direkt integrieren und die Winkelgeschwindigkeitskomponenten q, p, r als Funktionen der Zeit bestimmen. Diese Funktionen können 272 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK dann in (3.464) eingesetzt werden, und es bleibt, die drei Differentialgleichungen erster Ordnung für die Eulerschen Winkel ϑ, ϕ, ψ zu lösen, um das Problem der Rotationsbewegung insgesamt zu lösen. Anmerkung Um den Zusammenhang zwischen den Komponenten eines Vektors in den beiden Koordinatensystemen herzustellen, ist es nützlich, die Richtungskosinusse der Achsen des einen Systems in bezug auf die Achsen des anderen Systems zu kennen. Ausgedrückt durch die Eulerschen Winkel, sind sie in der folgenden Tabelle zusammengestellt. ξ η ζ x cos ψ cos ϕ − sin ψ sin ϕ cos ϑ − sin ψ cos ϕ − cos ψ sin ϕ cos ϑ sin ϕ sin ϑ y cos ψ sin ϕ + sin ψ cos ϕ cos ϑ − sin ψ sin ϕ + cos ψ cos ϕ cos ϑ − cos ϕ sin ϑ sin ψ sin ϑ cos ψ sin ϑ cos ϑ z Lagrangesche Gleichungen Die Bewegungsgleichungen (3.426) und (3.427) – letztere in Form der Eulerschen Gleichungen (3.459) zusammen mit den Gleichungen (3.464) – können natürlich auch als Lagrangesche Gleichungen geschrieben werden. Die für die Rotationsbewegung zuständigen generalisierten Koordinaten sind dann gerade die Eulerschen Winkel ϑ, ϕ, ψ. Mit (3.430), (3.431) und (3.437) lautet die Lagrange-Funktion zunächst L = T − U = 12 m|Ṙc |2 + 12 Θik ω i ω k − U. (3.465) Schreiben wir die kinetische Energie der Rotation im (körperfesten) Hauptachsensystem auf [Gleichung (3.444)] und drücken gemäß (3.464) die Winkelgeschwindigkeiten p, q, r durch die Eulerschen Winkel und deren zeitliche Ableitungen aus, so erhalten wir für die LagrangeFunktion (3.465) L = 12 m|Ṙc |2 2 1 + 2 A ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ 2 1 + 2 B ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ 2 1 + 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − U (Rc , ϑ, ϕ, ψ), (3.466) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 273 wobei das Potential natürlich auch noch explizit von der Zeit abhängen kann. Die Bewegungsgleichungen des starren Körpers lauten dann ∂L d ∂L − = 0, dt ∂ Ṙc ∂Rc d ∂L ∂L d ∂L ∂L d ∂L ∂L = 0, − = 0, = 0. − − dt ∂ ϑ̇ ∂ϑ dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ dt ∂ ψ̇ ∂ψ (3.467) (3.468) Stimmt der Koordinatenursprung des körperfesten Bezugssystems nicht mit dem Massenmittelpunkt überein, so ist in (3.466) Rc = R0 + rc (3.469) zu setzen,21 und es tritt gemäß (2.465) noch der Term mṘ0 · ṙc in der kinetischen Energie auf, 2 1 2 m|Ṙc | → 12 m|Ṙ0 |2 + mṘ0 · ṙc , (3.470) wobei nunmehr R0 den Koordinatenursprung des körperfesten Bezugssystems definiert und rc den darauf bezogenen Massenmittelpunkt festlegt. Befindet sich der Körper im homogenen Schwerefeld der Erde, so lautet das Potential (wenn die Z-Achse senkrecht nach oben gerichtet ist) U = mg (Z0 + rc cos ϑ) , (3.471) wobei rc der (feste) Abstand des Massenmittelpunkts vom Koordinatenursprung des körperfesten Bezugssystems ist. Ein starrer Körper werde in einem Punkt festgehalten (Kreisel im engeren Sinn), und es sei R0 der Unterstützungspunkt. Befindet sich der Kreisel im homogenen Schwerefeld der Erde, lautet die LagrangeFunktion 2 1 L = 2 A ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ 2 1 + 2 B ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ 2 1 + 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − mgrc cos ϑ (3.472) 21 Beachte, daß rc als Funktion der Eulerschen Winkel auszudrücken ist. 274 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK [siehe die Gleichungen (3.466) und (3.469) – (3.471) mit Ṙ0 = 0]. Ein symmetrischer Kreisel liegt bekanntlich vor, wenn zwei Hauptträgheitsmomente gleich sind. Die in die Richtung des dritten Hauptträgheitsmoments fallende Symmetrieachse heißt auch Figurenachse. Wir wollen die ζ-Achse als Figurenachse annehmen, d.h. A = B. Die LagrangeFunktion (3.472) nimmt dann die Form 2 2 2 1 L = 2 A ϕ̇ sin ϑ + ϑ̇ 2 1 + 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − mgrc cos ϑ (3.473) an. Ein symmetrischer Kreisel ist kräftefrei, wenn auf ihn kein Drehmoment wirkt. Unter irdischen Bedingungen läßt sich dies bekanntlich dadurch erreichen, daß der Massenmittelpunkt als Unterstützungspunkt gewählt wird. Wie aus (3.473) ersichtlich, verschwindet für rc = 0 der durch die Schwerkraft bedingte Potentialterm. Rotation um freie Achsen Rotiert ein Körper bei Abwesenheit von Drehmomenten um eine Achse, deren Lage sich im körperfesten Bezugssystem nicht ändert, so spricht man – wie bereits kurz erwähnt – von einer freien Achse. Für verschwindendes Drehmoment lauten die Eulerschen Gleichungen (3.459) A ṗ + (C − B) q r = 0, (3.474) B q̇ + (A − C) r p = 0, (3.475) C ṙ + (B − A) p q = 0. (3.476) Da sich die Drehachse im körperfesten Bezugssystem nicht ändern soll, muß ferner ṗ = q̇ = ṙ = 0 (3.477) (C − B) q r = (A − C) r p = (B − A) p q = 0 (3.478) und somit gelten. Wir wollen den allgemeinen Fall A = B = C (3.479) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 275 betrachten. Aus (3.478) ist dann ersichtlich, daß mindestens zwei der p, q, r identisch verschwinden müssen. Dieses Ergebnis besagt, daß nur die Hauptträgheitsachsen freie Achsen sind. Nun gilt in einem solchen Fall L ω , (3.480) so daß wegen L = const. sich die Drehachse auch im raumfesten Koordinatensystem nicht ändert. Man sollte einen starren Körper, der um eine freie Achse rotiert, also daran erkennen, daß er nicht torkelt“. Wir wollen diesen Punkt ” etwas genauer untersuchen und nehmen an, daß der Körper, der um die ξ-Achse rotieren möge, etwas gestört und die Drehachse dabei etwas aus der ξ-Richtung gebracht wird, p = p0 + δp, q = δq, r = δr. (3.481) Mit (3.481) lauten die Eulerschen Gleichungen (3.474) – (3.476) A δ ṗ + (C − B) δq δr = 0, (3.482) B δ q̇ + (A − C) δr (p0 + δp) = 0, (3.483) C δ ṙ + (B − A) (p0 + δp) δq = 0. (3.484) Für hinreichend kleine Störungen gehen die letzten zwei Gleichungen näherungsweise in B δ q̇ + (A − C) p0 δr ≈ 0, (3.485) C δ ṙ + (B − A) p0 δq ≈ 0 (3.486) über, die über den Ansatz δq = beλt , δr = ceλt (3.487) gelöst werden können. Wir erhalten das algebraische Gleichungssystem B λ b + (A − C) p0 c = 0, (3.488) (B − A) p0 b + C λ c = 0, (3.489) 276 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK woraus die Bestimmungsgleichung Bλ (A − C) p0 (B − A) p0 Cλ =0 (3.490) folgt und somit λ2 = − (A−C)(A−B) 2 p0 BC gilt. Damit die Achse stabil ist, muß offensichtlich λ2 < 0 ; λ = ±i |λ2 | (3.491) (3.492) sein, d.h., es muß entweder A>C und A > B (3.493) A<C und A < B (3.494) oder gelten. In diesem Fall führen δq und δr harmonische Schwingungen um die Nulllage aus. Sind δq und δr anfangs klein, so bleiben sie also immer klein, und die Achse kann als stabil angesehen werden. Ist C>A>B oder C < A < B, (3.495) λ = ± |λ2 | , (3.496) dann gilt λ2 > 0 ; und die Achse kann offensichtlich nicht als stabil angesehen werden. Drehungen um die Achsen des größten (A > C, A > B) und des kleinsten (A < C, A < B) Hauptträgheitsmoments sind also stabil, während eine Drehung um die Achse des mittleren Hauptträgheitsmoments labil ist. Die Stabilität der Rotation um die Achse des größten Trägheitsmoments nutzt beispielsweise jeder Diskuswerfer aus. Der rotierende Diskus behält seine Lage im Raum während des Wurfs bei, steht damit im absteigenden Teil der Bahn schräg zur Bahnkurve und erhält so einen zusätzlichen Auftrieb. 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 277 Kräftefreier symmetrischer Kreisel Wir wollen wieder die ζ-Achse als Figurenachse annehmen, d.h. A = B. Anstelle die Lagrangeschen Gleichungen direkt zu lösen, wollen wir unter Verwendung der Eulerschen Gleichungen in zwei Schritten vorgehen. Für den symmetrischen Kreisel lauten die Eulerschen Gleichungen (3.474) – (3.476) A ṗ + (C − A) q r = 0, (3.497) A q̇ + (A − C) r p = 0, (3.498) C ṙ = 0. (3.499) Aus (3.499) folgt zunächst r = r0 = const.. (3.500) Die verbleibenden Gleichungen (3.497) und (3.498) können über den Standardansatz p = aeλt , q = beλt (3.501) gelöst werden, der das algebraische Gleichungssystem A λ a + (C − A) r0 b = 0, (3.502) (A − C) r0 a + A λ b = 0 (3.503) liefert. Die Bestimmungsgleichung für λ, Aλ (C − A) r0 (A − C) r0 Aλ = 0, (3.504) liefert λ2 = − (A−C)2 2 r0 , A2 (3.505) d.h. λ = ± iΩ, Ω= A−C r0 . A (3.506) 278 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Aus (3.502) folgt dann (für λ = iΩ) b= Aλ a = ia. (A − C)r0 (3.507) Mit a = |a|eiα ergibt sich dann für b = |b|eiβ |b| = |a|, β = α + 12 π. (3.508) Die Lösung von (3.497) und (3.498) lautet somit p(t) = |a| cos(Ωt + α) = |a| sin(Ωt + β), (3.509) q(t) = |a| cos(Ωt + β), (3.510) p2 + q 2 = |a|2 = const. (3.511) und es gilt bzw. unter Berücksichtigung von (3.500) ω 2 = p2 + q 2 + r2 = |a|2 + r02 = const. (3.512) Die Winkelgeschwindigkeit ω besitzt also eine konstante ζ-Komponente ζ Figurenachse |a| r0 Polkegel ω α η ξ und ihr Betrag ist ebenfalls konstant. Ferner führt die Projektion der 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 279 Winkelgeschwindigkeit auf die ξη-Ebene eine gleichförmige Kreisbewegung aus. Die Winkelgeschwindigkeit wandert also auf einem Kreiskegel, dem Polkegel, gleichförmig um die Figurenachse. Figurenachse und momentane Drehachse fallen also i. allg. nicht zusammen; für den Winkel α gilt tan α = |a| , r0 (3.513) wobei (durch entsprechende Wahl der Orientierung der ζ-Achse) o.B.d.A. angenommen werden kann, daß r0 positiv ist. So bewirkt beispielsweise die Bewegung der momentanen Drehachse der Erde, daß der Nordpol auf einem Kreis von etwa 10 m Radius in 433 Tagen einmal um den geometrischen“ Nordpol wandert. ” Um die Bewegung des Kreisels im raumfesten Koordinatensystem (Inertialsystem) zu erhalten, müssen noch die Eulerschen Winkel als Funktionen der Zeit berechnet werden. Dazu ist gemäß (3.464) das Gleichungssystem p = |a| sin(Ωt+β) = ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ, (3.514) q = |a| cos(Ωt+β) = ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ, (3.515) r = r0 = ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ (3.516) zu lösen. Dazu schauen wir uns zunächst die aus der Drehimpulserhaltung folgenden Bewegungsintegrale an. Wir legen die z-Achse des raumfesten Koordinatensystems so, daß sie mit der Richtung des (konstanten) Drehimpulses zusammenfällt, L = L ez , (3.517) so daß bezüglich des körperfesten Koordinatensystems L = L (sin ϑ sin ψ eξ + sin ϑ cos ψ eη + cos ϑ eζ ) , (3.518) und folglich [unter Berücksichtigung von (3.450)] Lξ = L sin ϑ sin ψ = Ap, (3.519) Lη = L sin ϑ cos ψ = Aq, (3.520) Lζ = L cos ϑ = Cr (3.521) 280 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK gilt. Mit den Gleichungen (3.514) und (3.515) erhalten wir dann L sin ϑ sin ψ = ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ, A L sin ϑ cos ψ = ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ, A L cos ϑ = r0 = ϕ̇ cos ϑ + ψ̇. C (3.522) (3.523) (3.524) Aus den Gleichungen (3.522) – (3.524) lesen wir ab, daß ϑ̇ = 0, cos ϑ = r0 C L (3.525) und L L ; ϕ(t) = t + ϕ0 (3.526) A A gelten muß. Damit folgt aus (3.524) [zusammen mit (3.506)] für ψ̇ ϕ̇ = ψ̇ = A−C r0 = Ω, A (3.527) d.h. ψ = Ω t + ψ0 . (3.528) Somit sind die drei Eulerschen Winkel als Funktionen der Zeit bestimmt. Sie enthalten insgesamt noch vier Konstanten, nämlich r0, L, ψ0, ϕ0. Von den ursprünglich sechs Konstanten sind bereits zwei durch die Fixierung der z-Achse als Drehimpulsachse festgelegt. Die Konstante L kann zugunsten von |a| wie folgt eliminiert werden. Mit ϑ̇ = 0 sowie (3.528) liefert die Gleichung (3.515) ϕ̇ = |a| cos(Ωt+β) . sin ϑ cos(Ωt+ψ0) (3.529) Da wegen (3.526) ϕ̇ konstant (und ϕ̇ ≥ 0) ist, können die Konstanten ψ0 und β als einander gleich angenommen werden, ψ0 = β. Aus (3.529) und durch Vergleich mit (3.526) folgt somit ϕ̇ = |a| sin ϑ ; L= |a| A, sin ϑ (3.530) 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN so daß (3.525) auf tan ϑ = 281 |a|A r0 C (3.531) führt. Die Figurenachse (als Symmetrieachse des Kreisels) schließt mit der Drehimpulsachse einen festen Winkel ϑ ein und jeder ihrer in die xyEbene projizierten Punkte vollführt eine gleichförmige Kreisbewegung (ϕ̇ = const.). Die Figurenachse bewegt sich also gleichförmig auf einem Kreiskegel mit dem Öffnungswinkel ϑ um die Drehimpulsachse. Dieser Kegel wird auch Nutationskegel genannt. Dabei dreht sich der Körper (repräsentiert durch die körperfesten ξ, η-Achsen) gleichzeitig um die Figurenachse mit der Winkelgeschwindigkeit ψ̇. Die Winkelgeschwindigkeit ω ergibt sich dann aus den Winkelgeschwindigkeiten der Drehungen um die Drehimpulsachse und die Figurenachse gemäß ω = ωz + ωζ = ϕ̇ ez + ψ̇ eζ , (3.532) woraus ersichtlich ist, daß ω immer in der z, ζ-Ebene liegt. Die momentane Drehachse rotiert also zusammen mit der Figurenachse um die Drehimpulsachse. Folglich bewegt sich die momentane Drehachse gleichförmig auf einem Kreiskegel, dem Spurkegel, mit dem Öffnungswinkel |ϑ − α| um die Drehimpulsachse. Gleichzeitig bewegt sie Drehimpulsachse z Figurenachse ζ A>C (ψ̇ > 0) Nutationskegel ω ωz Spurkegel Polkegel ωζ 282 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK sich auf dem Polkegel um die Figurenachse. Die gegenseitige Bewegung der Achsen kann als Abrollen von Kegeln veranschaulicht werden. Wir Drehimpulsachse z Figurenachse ζ A<C (ψ̇ < 0) Spurkegel Nutationskegel ω ωz ωζ Polkegel wollen wieder o.B.d.A. annehmen, daß die ζ-Achse so orientiert ist, daß r0 positiv ist. Während für A > C die momentane Drehachse zwischen der Drehimpulsachse und der Figurenachse liegt, liegt für A < C die Drehimpulsachse zwischen der momentanen Drehachse und der Figurenachse [siehe die Gleichungen (3.513), (3.531) und (3.527)]. Der Polkegel rollt für A>C mit seiner Außenfläche und für A<C mit seiner Innenfläche auf dem Spurkegel ab und führt dabei die Figurenachse auf dem Nutationskegel. Schwerer symmetrischer Kreisel Die Lagrange-Funktion eines symmetrischen Kreisels im Schwerefeld z ζ Unterstützungspunkt mg 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 283 der Erde, der nicht im Massenmittelpunkt unterstützt wird, lautet 2 2 2 1 L = T − U = 2 A ϕ̇ sin ϑ + ϑ̇ 2 1 + 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − mgrc cos ϑ (3.533) [Gleichung (3.473)]. Die Lösung der daraus folgenden Bewegungsgleichungen kann mit Hilfe der Erhaltungssätze erfolgen. Da L nicht explizit von der Zeit abhängt, gilt Energieerhaltung, 2 2 2 2 1 1 T + U = 2 A ϕ̇ sin ϑ + ϑ̇ + 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ + mgrc cos ϑ = E = A = const. (3.534) Ferner sind ϕ und ψ zyklische Koordinaten, so daß die Erhaltungssätze ∂L 2 = Aϕ̇ sin ϑ + C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ cos ϑ = A a = const. (3.535) ∂ ϕ̇ und ∂L = C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ = A b = const. ∂ ψ̇ (3.536) gelten. Mittels dieser beiden Gleichungen können ϕ̇ und ψ̇ in (3.534) eliminiert werden, und wir erhalten 1 2 2 ϑ̇ + u(ϑ) = (3.537) mit (a − b cos ϑ)2 Ab2 mgrc cos ϑ u(ϑ) = + + . 2C A 2 sin2 ϑ Aus (3.537) folgt dann t = t(ϑ) in der Form dϑ t= + const. 2[ − u(ϑ)] (3.538) (3.539) Ist die Umkehrfunktion ϑ = ϑ(t) bestimmt, kann diese in die Gleichungen (3.535) und (3.536) eingesetzt werden, und aus den resultierenden 284 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK Gleichungen können dann ϕ(t) und ψ(t) in Form von Integralen bestimmt werden. Damit ist das Problem des schweren symmetrischen Kreisels im Prinzip gelöst. Ist speziell rc = 0, liegt der Fall des kräftefreien Kreisels vor. Wir wollen annehmen, daß die Figurenachse des Kreisels parallel zur Erdoberfläche gerichtet ist und der Kreisel in eine schnelle Drehung um diese Achse versetzt wird. Diese Situation entspricht den Anfangsbedingungen (für t = 0) ϑ = 12 π, ϕ = 0, ψ = 0, ϑ̇ = 0, ϕ̇ = 0, ψ̇ = ψ̇0 . (3.540) (3.541) Die Gleichungen (3.535) und (3.536) liefern dann für die Konstanten a und b C ψ̇0 , A (3.542) C 2 A 2 ψ̇0 = b . 2A 2C (3.543) a = 0, b= und aus (3.534) ergibt sich für = Wir setzen die Konstanten aus (3.542) und (3.543) in (3.537) [zusammen mit (3.538)] ein und erhalten 1 2 2 ϑ̇ + 12 b2 cot2 ϑ + mgrc cos ϑ = 0 A (3.544) bzw. 1 2 2 δ̇ mgrc sin δ = 0 + 12 b2 tan2 δ − A ũ(δ) (3.545) mit ϑ = 12 π + δ. (3.546) Der Bewegungsbereich ist offensichtlich auf solche Werte von δ einge- 3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN 0.01 0.005 −0.1 285 ũ/b2 (1) 0.1 0.2 0.3 δ −0.005 (2) (3) −0.01 mgrc /(Ab2) = 0.05 (1), 0.1 (2), 0.15 (2). schränkt, für die ũ ≤ 0 gilt. Je größer |b| (d.h. je größer |ψ̇0 |), desto kleiner wird der erlaubte δ-Bereich. Für einen in eine hinreichend schnelle Umdrehung um die Figurenachse versetzten Kreisel können also die trigonometrischen Funktionen entwickelt werden, und es reicht, die Glieder in jeweils niedrigster Ordnung zu berücksichtigen. Demgemäß geht (3.545) näherungsweise in mgrc 1 2 1 2 2 δ=0 (3.547) δ̇ + b δ − 2 2 A über. Die Gleichung (3.547) entspricht offensichtlich der Energie eines harmonischen Oszillators, der unter dem Einfluß der konstanten Kraft“ mgrc /A aus seiner ungestörten Ruhelage (δ = 0, δ̇ = 0 für t = 0) ” ausgelenkt wird, mgrc , (3.548) δ̈ + b2δ = A woraus unschwer die Lösung mgrc δ = 2 [1 − cos(bt)] bA mgrc A C = 2 1 − cos ψ̇0 t (3.549) A ψ̇0 C 2 286 KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK z ζ zu erhalten ist. Die Figurenachse führt also unter dem Einfluß der Schwerkraft in vertikaler Richtung eine Schwingung zwischen δ = 0 und δ = 2mgrc A/(ψ̇02C 2) mit hoher Frequenz und kleiner Amplitude aus. Diese Bewegung wird auch Nutation genannt. In der gleichen Näherung lautet die Gleichung (3.535) d.h. woraus Aϕ̇ − C ψ̇0δ = 0, (3.550) mgrc C ϕ̇ = 1 − cos ψ̇0 t , A C ψ̇0 (3.551) mgrc A C ϕ= t− ψ̇0t sin A C ψ̇0 C ψ̇0 (3.552) folgt. Die Figurenachse bewegt sich also mit der mittleren Winkelgeschwindigkeit mgrc /(C ψ̇0) zusätzlich um die z-Achse. Diese Bewegung wird auch Präzession genannt. Schließlich folgt aus (3.536) näherungsweise ψ̇ = ψ̇0 , (3.553) d.h., der Kreisel dreht sich mit der ihm anfangs gegebenen Winkelgeschwindigkeit um die Figurenachse. Kapitel 4 Hamiltonsche Mechanik Ausgehend von den Newtonschen Bewegungsgleichungen haben wir die Grundgleichungen der Dynamik in Form der Lagrangeschen Gleichungen (2. Art) formuliert. Als zusätzliches Axiom haben wir dabei das d’Alembertsche Prinzip verwendet, das es uns ermöglichte, (holonom) gebundene Systeme in die Behandlung einzubeziehen. Es hat sich gezeigt, daß den Lagrangeschen Gleichungen ein fundamentales Variationsprinzip – das Hamiltonsche Prinzip – zugrunde liegt, das weit über die Mechanik hinaus von zentraler Bedeutung für die theoretische Physik ist. 4.1 Das Hamiltonsche Prinzip Wir bleiben bei der Mechanik und wollen die Frage beantworten, wodurch sich die tatsächliche Bewegung eines Massenpunktsystems von einer davon etwas abweichend gedachten Bewegung unterscheidet. Die Bewegung eines Massenpunktsystems mit f Freiheitsgraden kann durch eine Bahnkurve“ in einem abstrakten f -dimensionalen Konfigurati” onsraum der generalisierten Koordinaten qα charakterisiert werden. Wir wollen die Bahnkurve etwas variieren, wobei wir die zugelassenen Vergleichsbahnen dadurch einschränken, daß wir jedem Punkt P der wirklichen Bahnkurve einen (infinitesimal) benachbarten Punkt P derart zuordnen, daß P und P jeweils zum gleichen Zeitpunkt gehören, die Zeit also nicht variiert wird, qα = qα (t) → qα = qα (t), 287 (4.1) 288 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK bzw. δqα (t) = qα (t) − qα (t), δt = 0. (4.2) Die Variationen der generalisierten Koordinaten δqα (t) stellen also get P2 t2 Vergleichsbahnkurve P P δqα tatsächliche Bahnkurve t1 P1 qα rade virtuelle Verrückungen dar. Gemäß (4.2) können sie als differenzierbare Funktionen der Zeit angesehen werden, d δqα (t) = q̇α (t) − q̇α (t) = δ q̇α (t), dt (4.3) wobei die δ q̇α (t) die Variationen der generalisierten Geschwindigkeiten sind. Bei der gewählten Variationsart dürfen also die Operationen d/dt und δ vertauscht werden. Nunmehr betrachten wir eine Funktion Φ(qα , q̇α , t). Die Variation dieser Funktion, d.h. die Differenz der Funktion auf der wirklichen Bahn und einer variierten Bahn, ist δΦ = Φ(qα , q̇α , t) − Φ(qα , q̇α , t) = Φ(qα + δqα , q̇α + δ q̇α , t) − Φ(qα , q̇α , t). (4.4) Für hinreichend kleine Variationen δqα , δ q̇α folgt dann δΦ = f ∂Φ α=1 ∂Φ δqα + δ q̇α . ∂qα ∂ q̇α (4.5) 4.1. DAS HAMILTONSCHE PRINZIP 289 Um die Frage zu beantworten, wodurch sich die wirkliche Bahnkurve des Systems von den zugelassenen Vergleichsbahnen unterscheidet, erinnern wir zunächst daran, daß nach dem d’Alembertschen Prinzip f 3N ∂L d ∂L δqα = 0 (mi ẍi − Fi) δxi = − (4.6) dt ∂ q̇ ∂q α α α=1 i=1 gilt, woraus bekanntlich die Lagrangeschen Gleichungen folgen, da die δqα frei wählbar sind. Wie bereits erwähnt, entsprechen die virtuellen Verrückungen δqα in (4.6) genau den oben definierten Bahnvariationen. Wir formen (die zweite Gleichung in) (4.6) etwas um, indem wir d ∂L ∂L d d ∂L δqα = δqα δqα − dt ∂ q̇α dt ∂ q̇α ∂ q̇α dt ∂L d ∂L = δqα − δ q̇α (4.7) dt ∂ q̇α ∂ q̇α schreiben, und folglich f f d ∂L ∂L ∂L δqα + δ q̇α = δqα ∂q ∂ q̇ dt ∂ q̇ α α α α=1 α=1 δL (4.8) gilt, d.h., die einer Variation der Bahnkurve entsprechende Variation der Lagrange-Funktion ist f d ∂L δL = (4.9) δqα . dt ∂ q̇ α α=1 Zeitliche Integration dieser Gleichung in den Grenzen t1 , t2 liefert t2 t2 f ∂L dt δL = δqα . (4.10) ∂ q̇ α t1 t 1 α=1 Die rechte Seite dieser Gleichung verschwindet, wenn die Vergleichsbahnen so gewählt werden, daß ihre Anfangs- und Endpunkte mit denen der wirklichen Bahnkurve übereinstimmen: δqα (t1 ) = δqα (t2) = 0. (4.11) 290 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK Wir finden also t2 t2 dt δL = δ dt L = 0. t1 (4.12) t1 Mit der Definition der Wirkung t2 dt L S= (4.13) t1 lautet das Ergebnis: δS = 0 (4.14) Die von einem Massenpunktsystem (im Konfigurationsraum) tatsächlich durchlaufene Bahnkurve zeichnet sich gegenüber den zugelassenen Vergleichsbahnen dadurch aus, daß für sie die Wirkung einen Extremwert1 – meistens ein Minimum – annimmt. Dieser Sachverhalt bildet den Inhalt des Hamiltonschen Prinzips, auch Prinzip der kleinsten Wirkung genannt. Aus dem Prinzip ist sofort ablesbar, daß mit L auch L = L + d R(qα , t) dt (4.15) eine zulässige Lagrange-Funktion ist, wobei R(qα , t) eine beliebige Funktion der generalisierten Koordinaten und der Zeit ist [Eichtransformation, siehe (3.235) und folgende Gleichungen]. Umgekehrt kann das Hamiltonsche Prinzip an die Spitze gestellt werden, und es können aus ihm die Lagrangeschen Gleichungen hergeleitet 1 Bei der Anwendung des Hamilton-Prinzips ist es belanglos, ob es sich um einen Extremwert (Minimum bzw. Maximum) oder um einen Sattelpunkt handelt. Man spricht deshalb auch besser von einem stationären Wert anstatt von einem Extremwert. 4.1. DAS HAMILTONSCHE PRINZIP 291 werden: t2 δS = δ t2 dt L = t1 t2 = dt t1 f ∂L α=1 t2 dt δL t1 ∂L δqα + δ q̇α ∂qα ∂ q̇α f ∂L d ∂L ∂L δqα δqα − ∂q ∂ q̇ dt ∂ q̇ α α α t1 α=1 t2 t2 f f ∂L ∂L d ∂L δqα + = dt − δqα = 0, (4.16) ∂qα dt ∂ q̇α ∂ q̇α t1 t1 α=1 α=1 0 = dt δqα + d dt und da die δqα frei wählbar sind, ∂L d ∂L − = 0 (α = 1, 2, . . . , f ). ∂qα dt ∂ q̇α (4.17) Mathematisch stellen die Lagrangeschen Gleichungen die Lösung der sogenannten Euler-Lagrangeschen Variationsaufgabe dar.2 Das Hamiltonsche Prinzip in der Form (4.12) bzw. (4.14) setzt nur die Existenz einer Lagrange-Funktion voraus, d.h., kinetische und potentielle Energie müssen i. allg. definierbar sein (siehe auch Abschnitt 4.6). Sowohl holonome als auch (bilaterale) anholonome Nebenbedingungen sind möglich. Im Falle von anholonomen Nebenbedingungen ergeben sich natürlich nicht die Lagrangeschen Gleichungen 2. Art, sondern je nach der Art der Auswertung Bewegungsgleichungen beispielsweise vom Typ der Lagrangeschen Gleichungen 1. Art oder Gleichungen vom gemischten Typ. Legen wir die ursprünglichen 3N Koordinaten des Systems zugrunde, so folgt anstelle von (4.16) t2 3N ∂L d ∂L δxi = 0 dt − (4.18) ∂x dt ∂ ẋ i i t1 i=1 2 In diesem Zusammenhang werden sie auch als Eulersche Gleichungen bezeichnet. 292 bzw. KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK t2 dt 3N t1 (Fi − mi ẍi) δxi = 0, (4.19) i=1 wobei nunmehr die δxi nicht mehr frei wählbar sind, sondern gemäß 3N fki δxi = 0 (k = 1, 2, . . . , r) (4.20) i=1 mit den (im allgemeinen Fall anholonomen) Nebenbedingungen verträglich sein müssen [siehe (3.18)]. Aus (4.19) kann also zunächst nur auf 3N (Fi − mi ẍi) δxi = 0 (4.21) i=1 geschlossen werden, d.h. auf das d’Alembertsche Prinzip. 4.2 Hamiltonsche Gleichungen Die Bewegung eines (holonom gebundenen) Massenpunktsystems wird durch die Lagrange-Funktion des Systems beherrscht. Aus der Kenntnis der Lagrange-Funktion, die eine Funktion der generalisierten Koordinaten und Geschwindigkeiten und (im Falle einer expliziten Zeitabhängigkeit) der Zeit ist, können über die Lagrangeschen Gleichungen die Bewegungsgleichungen des Systems in Form von f gekoppelten, gewöhnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung für die generalisierten Koordinaten aufgestellt werden. Die Bewegung erfolgt insbesondere so, daß die Wirkung extremal (in der Regel minimal) ist. Für bestimmte Aufgaben kann es zweckmäßig sein, neben den generalisierten Koordinaten nicht die generalisierten Geschwindigkeiten, sondern die generalisierten Impulse zu verwenden. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, wie und in welcher Form bei einer solchen Formulierung der Mechanik die Bewegungsgleichungen gewonnen werden können. Der Übergang von einer Gesamtheit unabhängiger Variablen zu einer anderen kann durch eine Legendre-Transformation rea- 4.2. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 293 lisiert werden. Aus L = L(qα , q̇α , t) folgen die generalisierten Impulse pβ = ∂L ∂ q̇β (β = 1, 2, . . . , f ) (4.22) als Funktionen von qα , q̇α und gegebenenfalls t, woraus die generalisierten Geschwindigkeiten q̇α als Funktionen von qβ , pβ und gegebenenfalls t bestimmbar sind, pβ = pβ (qα , q̇α , t) ; q̇α = q̇α (qβ , pβ , t) . (4.23) Das totale Differential der Lagrange-Funktion lautet dL = f ∂L ∂L ∂L dt dqα + dq̇α + ∂qα ∂ q̇α ∂t α=1 = f (ṗα dqα + pα dq̇α ) + α=1 = f ∂L dt ∂t [ṗα dqα + d (pα q̇α ) − q̇α dpα ] + α=1 d.h. d f α=1 pα q̇α − L H = f (−ṗα dqα + q̇α dpα ) − α=1 ∂L dt, ∂t (4.24) ∂L dt. ∂t (4.25) Die Funktion H = H(qα , pα, t) = f pα q̇α − L (4.26) α=1 ist die Hamilton-Funktion des Systems. Aus Abschnitt 3.2.5 wissen wir, daß im Falle skleronomer Bindungen H gerade die Energie des Systems darstellt [siehe Gleichung (3.251)]. Das vollständige Differential 294 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK der Hamilton-Funktion lautet f ∂H ∂H ∂H dH = dqα + dpα + dt, ∂q ∂p ∂t α α α=1 (4.27) und der Vergleich mit (4.25) liefert ṗα = − ∂H , ∂qα q̇α = ∂H ∂pα (4.28) (α = 1, 2, . . . , f ) und ∂H ∂L =− . (4.29) ∂t ∂t Die Gleichungen (4.28) stellen gerade die gesuchten Bewegungsgleichungen für die qα und pα dar. Sie heißen Hamiltonsche Gleichungen oder auch kanonische Gleichungen und bilden ein System von 2f gekoppelten, gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung für die 2f unbekannten Funktionen qα (t) und pα (t). Sie ersetzen die f Lagrangeschen Gleichungen (f gekoppelte, gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung). Gemäß Abschnitt 3.2.5 ist die totale zeitliche Ableitung der Hamilton-Funktion die negative partielle Zeitableitung der LagrangeFunktion, d.h. dH ∂L =− (4.30) dt ∂t [siehe Gleichung (3.253)]. Mit (4.29) erhalten wir also dH ∂H ∂L = =− . dt ∂t ∂t Dieses Ergebnis ist natürlich auch direkt verifizierbar, f ∂H ∂H dH ∂H = q̇α + ṗα + dt ∂qα ∂pα ∂t α=1 −ṗα q̇α − ∂L ∂t = ∂L ∂H =− . ∂t ∂t (4.31) (4.32) 4.2. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 295 Hängt die Hamilton-Funktion nicht explizit von der Zeit ab, ist sie Erhaltungsgröße, ∂H dH =0 ; = 0 ; H = const. ∂t dt (4.33) Da dies skleronome Bindungen impliziert, ist diese Erhaltungsgröße erwartungsgemäß die (mechanische) Energie des Systems. Wenn die Lagrange-Funktion von einer Koordinate qβ nicht abhängt – die Koordinate also zyklische Koordinate ist – tritt sie wegen (4.26) offensichtlich auch nicht in der Hamilton-Funktion auf, d.h., pβ ist Erhaltungsgröße, ṗβ = − ∂H =0 ∂qβ ; pβ = const. (4.34) Die kanonischen Gleichungen können auch direkt, d.h. ohne über die Lagrangeschen Gleichungen zu gehen, aus dem Hamiltonschen Prinzip hergeleitet werden. Zu diesem Zweck ersetzen wir in der LagrangeFunktion L(qα , q̇α , t) die generalisierten Geschwindigkeiten q̇α durch Variablen kα , betrachten die 2f Variablen qα und kα als zu variierende Variablen und lösen die Euler-Lagrangesche Variationsaufgabe t2 δ dt L(qα, kα , t) = 0 (4.35) t1 mit den f Nebenbedingungen q̇α − kα = 0 (α = 1, 2, . . . , f ). (4.36) Mittels Lagrangescher Multiplikatoren λα führt dies auf die Variationsaufgabe t2 δ t1 dt Φ(qα , kα , q̇α , t) = 0 mit3 Φ(qα , kα , q̇α , t) = L(qα , kα , t) + f λα (q̇α − kα ), (4.37) (4.38) α=1 3 Da die Funktion Φ(qα , kα , q̇α , k̇α , t) im vorliegenden Fall nicht von den k̇α abhängt, unterdrücken wir die Angabe dieser Variablen in den Argumenten von Φ. 296 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK wobei die qα und kα als unabhängig zu variierende Funktionen angesehen werden können. Aus den dann folgenden Eulerschen Gleichung ∂Φ ∂L d ∂Φ − = λα − =0 dt ∂ k̇α ∂kα ∂kα (4.39) ergeben sich die Lagrangeschen Multiplikatoren als λα = ∂L . ∂kα (4.40) Einsetzen von (4.40) in (4.38) liefert f ∂L (q̇α − kα ), Φ(qα , kα , q̇α , t) = L(qα , kα , t) + ∂k α α=1 (4.41) so daß (4.37) mit Φ(qα, kα , q̇α , t) aus (4.41) auf die Variationsaufgabe mit 2f unbekannten Funktionen qα (t) und kα (t) ohne Nebenbedingungen führt. Definieren wir die Funktionen ∂L(qα, q̇α , t) ∂L(qα, kα , t) pα = = , (4.42) ∂kα ∂ q̇α so können die kα (und damit auch L) als Funktionen von qα , pα und t ausgedrückt werden, kα = kα (qβ , pβ , t), (4.43) und somit die qα und pα (anstelle der qα und kα ) als unabhängig zu variierende Funktionen aufgefaßt werden. Führen wir die HamiltonFunktion H(qα , pα, t) = f pα kα (qβ , pβ , t) − L[qα , kα (qβ , pβ , t), t] (4.44) α=1 ein, so geht (4.41) in Φ[qα, kα (qβ , pβ , t), q̇α, t] → Φ(qα , pα, q̇α , t) = L(qα , pα , q̇α , t) f pα q̇α − H(qα , pα, t) α=1 (4.45) 4.2. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 297 über, und die 2f Eulerschen Gleichungen liefern gerade die kanonischen Gleichungen (4.28): d ∂Φ ∂Φ ∂H − = ṗα + = 0, dt ∂ q̇α ∂qα ∂qα (4.46) d ∂Φ ∂Φ ∂H − = −q̇α + = 0. dt ∂ ṗα ∂pα ∂pα (4.47) Die Herleitung zeigt, daß die kanonischen Gleichungen unmittelbar aus dem Hamilton-Prinzip (4.12) folgen, wenn gemäß (4.45) die Lagrange-Funktion als Funktion der qα , pα und q̇α angesehen wird, L = L(qα , pα, q̇α , t) = f pα q̇α − H(qα , pα, t), (4.48) α=1 und die qα und pα unabhängig voneinander variiert werden. Anwendung des Hamilton-Prinzips heißt dann t2 dt L = δ δ t2 dt t1 t1 α=1 t2 f = dt t1 f α=1 t2 = t1 pα q̇α − H(qα , pα , t) ∂H ∂H δpα q̇α + pα δ q̇α − δqα − δpα ∂qα ∂pα f d dt pα δqα dt α=1 t2 + dt t1 f α=1 ∂H ∂H δpα q̇α − ṗα δqα − δqα − δpα ∂qα ∂pα = 0, (4.49) 298 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK und folglich gilt t2 δ t1 t2 dt L = pα δqα α=1 t1 0 t2 f ∂H ∂H q̇α − δpα − ṗα + δqα = 0, + dt ∂p ∂q α α t1 α=1 (4.50) f woraus (da die δqα und δpα unabhängig voneinander beliebig wählbar sind) sofort die kanonischen Gleichungen (4.28) folgen. 4.3 Poisson-Klammern Obwohl die kanonischen Gleichungen ihrer Form nach auf den ersten Blick recht ähnlich sind, unterscheiden sie sich durch das Vorzeichen und müssen deshalb separat aufgeschrieben werden. Wir wollen versuchen, die Bewegungsgleichungen physikalischer Größen in einer einheitlichen Weise zu formulieren. Es sei A eine physikalische Größe als Funktion der generalisierten Koordinaten und Impulse und gegebenenfalls der Zeit, A = A(qα, pα , t). (4.51) Unter Berücksichtigung der kanonischen Gleichungen (4.28) gilt für die zeitliche Änderung der Größe A f ∂A ∂A dA ∂A = q̇α + ṗα + dt ∂qα ∂pα ∂t α=1 f ∂A ∂A ∂H ∂A ∂H + = . − ∂q ∂p ∂p ∂q ∂t α α α α α=1 (4.52) 4.3. POISSON-KLAMMERN 299 Mit der Definition der Poisson-Klammer {A, B} zweier Größen A und B, f ∂A ∂B ∂A ∂B {A, B} = − (4.53) ∂q ∂p ∂p ∂q α α α α α=1 lautet die Bewegungsgleichung (4.53) für die Größe A: dA ∂A = {A, H} + dt ∂t (4.54) Speziell für A = qα bzw. A = pα ergeben sich aus (4.54) die kanonischen Gleichungen in der (symmetrischen) Form: ṗα = {pα , H}, q̇α = {qα , H} (4.55) Wie man sich durch direktes Ausrechnen überzeugen kann, gelten für Poisson-Klammern folgende Regeln: {A, B} = −{B, A}, (4.56) {(A + B), C} = {A, C} + {B, C}, (4.57) {AB, C} = A{B, C} + {A, C}B, ∂A , {A, pα} = ∂qα ∂A , {A, qα } = − ∂pα {A, {B, C}} + {B, {C, A}} + {C, {A, B}} = 0. (4.58) (4.59) (4.60) (4.61) Die Gleichung (4.61) wird auch als Jakobi-Identität bezeichnet. Insbesondere folgt aus (4.59) und (4.60) für die Poisson-Klammern der generalisierten Koordinaten und Impulse {qα , pβ } = δαβ , (4.62) 300 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK {qα , qβ } = {pα , pβ } = 0. (4.63) Ferner liefert die Anwendung der Regeln (4.59) und (4.60) auf (4.55) die kanonischen Gleichungen in ihrer ursprünglichen Form (4.28). Funktionen der dynamischen Variablen, die bei der Bewegung eines Massenpunktsystems konstant bleiben, stellen bekanntlich Bewegungsintegrale des Systems dar. Wie aus (4.54) ersichtlich, ist in der Sprache der Hamiltonschen Mechanik eine Größe A Bewegungsintegral, falls dA ∂A = {A, H} + =0 dt ∂t (4.64) gilt. Wenn also insbesondere die Größe A nicht explizit von der Zeit abhängt, lautet die Bedingung dafür, daß A Erhaltungsgröße ist, {A, H} = 0. (4.65) Die Poisson-Klammer der Größe A mit der Hamilton-Funktion des Systems muß verschwinden. Wir betrachten die Bewegungsgleichung einer in Form einer Poisson-Klammer gegebenen physikalischen Größe {A, B}. Gemäß (4.54) gilt ∂ d {A, B} = {A, B}, H + {A, B}. dt ∂t (4.66) Wir verwenden die Jacobi-Indentität (4.61), so daß für die doppelte Poisson-Klammer auf der rechten Seite der Gleichung (4.66) {A, B}, H = A, {B, H} + B, {H, A} = A, {B, H} + {A, H}, B (4.67) geschrieben werden kann. Berücksichtigen wir ferner, daß ∂ {A, B} = ∂t ∂A ,B ∂t ∂B + A, ∂t (4.68) 4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN 301 ist, so kann (4.66) wie folgt umgeschrieben werden: d {A, B} = A, {B, H} + {A, H}, B dt ∂A ∂B + , B + A, ∂t ∂t ∂A ,B = {A, H} + ∂t ∂B + A, {B, H} + ∂t d.h. d {A, B} = dt dA ,B dt dB + A, dt (4.69) . (4.70) Der durch diese Gleichung ausgedrückte Sachverhalt wird auch Poisson-Theorem genannt. Falls insbesondere A und B Erhaltungsgrößen sind, d.h. dA dB = =0 (4.71) dt dt gilt, ist also die Poisson-Klammer von A und B auch eine Erhaltungsgröße, d {A, B} = 0 ; {A, B} = const. (4.72) dt Die Anwendung des Poisson-Theorems liefert selbstverständlich nicht immer neue Bewegungsintegrale. Dies ist der Fall, wenn die PoissonKlammer zweier Größen A und B eine Funktion dieser Größen ist oder trivialerweise auf eine Konstante führt. Trifft weder das eine noch das andere zu, ist ein neues Bewegungsintegral gefunden. 4.4 Kanonische Transformationen Kanonische Transformationen sind Transformationen des 2f dimensionalen Phasenraums der Variablen qα und pα , die diesen 302 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK Variablen in eindeutiger Weise neue Variable qα = qα (qβ , pβ , t), (4.73) pα = pα (qβ , pβ , t) (4.74) zuordnen, wobei zu jeder Hamilton-Funktion H(qα , pα , t) eine neue Hamilton-Funktion H (qα , pα , t) existiert mit der Eigenschaft, daß auch in den neuen Variablen die Bewegungsgleichungen in Form von kanonischen Gleichungen ṗα ∂H =− , ∂qα q̇α ∂H = ∂pα (4.75) angegeben werden können, wenn bezüglich der Ausgangsvariablen die kanonischen Gleichungen ṗα = − ∂H , ∂qα q̇α = ∂H ∂pα (4.76) erfüllt sind. Mit anderen Worten, kanonische Transformationen lassen lassen die kanonischen Gleichungen forminvariant. Die Frage, ob es derartige Transformationen gibt, läßt sich durch die Angabe eines Konstruktionsverfahrens bejahen. Wie wir wissen, sind die kanonischen Gleichungen aus dem Hamiltonschen Prinzip herleitbar, d.h., es muß mit t2 f δ dt pα q̇α − H = 0 (4.77) t1 auch α=1 t2 δ dt t1 f pα q̇α − H =0 (4.78) α=1 gelten. Die Variationsprobleme (4.77) und (4.78) müssen dabei auf die gleiche Lösungsmannigfaltigkeit führen, d.h., sie müssen einander äquivalent sein. Diese Äquivalenz ist vorhanden, wenn sich die beiden Integranden in (4.77) und (4.78) höchstens um die (totale) Zeitableitung 4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN 303 einer beliebigen Funktion R1 (qα , qα , t) unterscheiden (siehe auch Abschnitt 3.2.4), f pα q̇α − H = α=1 L Wegen f pα q̇α − H + α=1 L d R1 (qα , qα , t). dt δqα (t1 ) = δqα (t1) = δqα (t2) = δqα (t2 ) = 0 (4.79) (4.80) gilt offensichtlich t2 dt δ t1 d R1 (qα , qα , t) dt = δR1 [qα (t2 ), qα (t2 ), t2] − δR1 [qα (t1 ), qα (t1 ), t1] = 0. (4.81) Aus (4.79) folgt f dR1 ∂R1 ∂R1 ∂R1 = q̇α + q̇α + dt ∂qα ∂qα ∂t α=1 = f (pα q̇α − pα q̇α ) + H − H, (4.82) α=1 d.h., es müssen die Relationen pα = ∂R1 , ∂qα pα = − ∂R1 ∂qα (4.83) (α = 1, 2, . . . , f ) und H = H + ∂R1 ∂t (4.84) 304 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK gelten. Die 2f Gleichungen (4.83) stellen gerade die gesuchten Transformationsgleichungen für den Übergang von den qα , pα zu den qα , pα dar. Die (beliebige) Funktion R1 (qα , qα , t) heißt die Erzeugende der Transformation. Auflösen der Gleichungen (4.83) nach den qβ , pβ liefert qβ = qβ (qα , pα, t), pβ = pβ (qα , pα , t) (4.85) und Einsetzen in H und R1 in (4.84) liefert dann die transformierte Hamilton-Funktion4 H (qα , pα , t) = H[qβ (qα , pα, t), pβ (qα , pα , t), t] + ∂ R1 [qβ (qα , pα, t), qα , t] ∂t (4.86) Es kann zweckmäßig sein, als Erzeugende nicht eine Funktion der Variablen qα , qα , sondern anderer alter und neuer Variablen zu wählen. Wir wollen zwischen folgenden Typen von Erzeugenden unterscheiden: R1 (qα , qα , t), R2(qα , pα , t), R3 (pα, qα , t), R4 (pα , pα, t). Der Übergang von einer Erzeugenden zu einer anderen kann mittels LegendreTransformationen realisiert werden. Gemäß (4.83) können die gestrichenen Koordinaten qβ als Funktionen der ungestrichenen Koordinaten qα und der gestrichenen Impulse pα aufgefaßt werden, pα = − ∂R1 ∂qα ; qβ = qβ (qα , pα , t). (4.87) Aus (4.82) folgt dann f dR1 = (pα q̇α − pα q̇α ) + H − H dt α=1 f d pα q̇α − (pα qα ) + ṗα qα + H − H = dt α=1 4 Unter der partiellen Ableitung der ∂R1 (qβ , qα , t)/∂t|qβ =qβ (qα ,pα ,t) zu verstehen. Erzeugenden in der Gleichung (4.88) (4.86) ist 4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN bzw. d dt R1 + f pα qα = α=1 Mit f (pα q̇α + qα ṗα ) + H − H. 305 (4.89) α=1 R2 (qα , pα , t) = R1 qα , qβ (qα , pα , t), t + f pα qα (qβ , pβ , t) (4.90) α=1 liefert (4.89) f dR2 ∂R2 ∂R2 ∂R2 = q̇α + ṗα + dt ∂qα ∂pα ∂t α=1 = f (pα q̇α + qα ṗα ) + H − H, (4.91) α=1 d.h., es müssen anstelle von (4.83) und (4.84) nunmehr die Relationen pα = ∂R2 , ∂qα qα = ∂R2 ∂pα (4.92) (α = 1, 2, . . . , f ) und ∂R2 ∂t gelten. Die zwei übrigen Fälle lassen sich analog behandeln: f dR1 d = (pα qα ) − qα ṗα − pα q̇α + H − H, dt dt α=1 H = H + d dt R1 − f α=1 = p α qα R3(pα , qα ) = (4.93) (4.94) dR3 dt f α=1 (−qα ṗα − pα q̇α ) + H − H, (4.95) 306 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK qα = − ∂R3 , ∂pα pα = − ∂R3 , ∂qα ∂R3 , ∂t f dR2 d = (pα qα ) − qα ṗα + qα ṗα + H − H, dt dt α=1 H = H + d dt R2 − f α=1 = p α qα R4 (pα , pα) = (4.96) (4.97) (4.98) dR4 dt f (−qα ṗα + qα ṗα ) + H − H, (4.99) α=1 qα = − ∂R4 , ∂pα qα = ∂R4 , ∂pα (4.100) ∂R4 . (4.101) ∂t In den bisher betrachteten Fällen, in denen die Erzeugende von jeweils einer Sorte alter und einer Sorte neuer Variablen abhing, ergaben sich algebraische Gleichungen zur Bestimmung der Transformation. Die Erzeugende kann natürlich auch als Funktion der alten Koordinaten und Impulse bzw. der neuen Koordinaten und Impulse gegeben werden. Drücken wir beispielsweise die qα in R1 (qα , qα ) als Funktion der alten Koordinaten und Impulse aus, H = H + qα = qα (qβ , pβ , t), (4.102) so können wir die Erzeugende als Funktion der alten Koordinaten und Impulse auffassen, und es gilt R = R(qα , pα , t) ≡ R1[qα , qβ (qα , pα , t), t], (4.103) f ∂R ∂R dR ∂R = . q̇α + ṗα + dt ∂q ∂p ∂t α α α=1 (4.104) 4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN 307 Aus (4.102) folgt q̇α = f ∂q β=1 ∂qα α q̇β + ṗβ ∂qβ ∂pβ ∂qα + . ∂t (4.105) Wir setzen dies auf der rechten Seite (der erste Zeilen) von (4.88) ein und erhalten ⎤ ⎡ f f f ∂q ∂q dR ∂q α pα q̇α − pα ⎣ q̇β + α ṗβ + α ⎦ + H − H = dt ∂qβ ∂pβ ∂t α=1 α=1 β=1 ⎛ ⎡⎛ ⎞ ⎞ ⎤ f f f ∂qβ ∂qβ ⎣⎝pα − ⎠ q̇α − ⎝ ⎠ ṗα ⎦ pβ pβ = ∂qα ∂pα α=1 β=1 β=1 − f pα α=1 ∂qα + H − H. (4.106) ∂t Der Vergleich mit (4.104) liefert f ∂qβ ∂R = pα − pβ , ∂qα ∂qα β=1 f ∂qβ ∂R =− pβ , ∂pα ∂pα (4.107) β=1 f ∂q ∂R =H −H − pα α . ∂t ∂t α=1 (4.108) Ist also die Erzeugende als Funktion der alten kanonisch konjugierten Variablen gegeben, erfordert die Bestimmung der Transformation die Lösung der partiellen Differentialgleichungen (4.107). Es ist unschwer zu sehen, daß analoge partielle Differentialgleichungen zu lösen sind, wenn die Erzeugende als Funktion der neuen kanonisch konjugierten Variablen gegeben ist. Die sehr große Freiheit in der Wahl der kanonischen Transformationen bringt es mit sich, daß der Koordinaten- und Impulscharakter der kanonischen Variablen ganz verloren gehen kann. Da die Bedeutung der Benennung sehr unscharf werden kann, werden die Variablen qα und pα häufig einfach als kanonisch konjugierte Variable bezeichnet. 308 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK Beispiel 1: Wählen wir als Erzeugende die Funktion R= f qα qα , (4.109) α=1 so liefern die Relationen (4.83) pα = ∂R = qα , ∂qα pα = − ∂R = −qα . ∂qα (4.110) Bei dieser Transformation werden also Koordinaten“ und Impulse“ ” ” (bis auf ein Vorzeichen) vertauscht, so daß es wenig Sinn macht, die einen als Koordinaten und die anderen als Impulse zu bezeichnen. Beispiel 2: Kanonische Transformation und Störungsrechnung Wir wollen der Einfachheit halber ein eindimensionales Problem mit der Hamilton-Funktion H(x, p) = H0(x, p) + HI (x, p) (4.111) betrachten und annehmen, daß die Lösung der zu H0 gehörenden Bewegungsgleichungen bekannt ist: ṗ = − ∂H0 , ∂x ẋ = ∂H0 ∂p ; p = p0(t), x = x0(t). (4.112) Falls die Lösung des durch die Hamilton-Funktion H(x, p) definierten Problems nicht in geschlossener Form möglich ist und die durch HI gegebene Störung klein ist, kann eine störungstheoretische Entwicklung versucht werden. Zu diesem Zweck machen wir den Ansatz x = x0(t) + x , p = p0(t) + p , (4.113) der als kanonische Transformation von den Variablen x, p zu den Variablen x , p aufgefaßt werden kann und auf eine explizit zeitabhängige Hamilton-Funktion führt. Offensichtlich ist R(x, p, t) = [x − x0 (t)] [p + p0(t)] (4.114) 4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN 309 die Erzeugende: ∂R = p + p0(t) = p, (4.115) ∂x ∂R = x − x0(t) = x . (4.116) ∂p Die zu den kanonisch konjugierten Variablen x, p gehörende HamiltonFunktion H lautet folglich H = H + ∂R , ∂t (4.117) wobei ∂R = − [p + p0(t)] ẋ0(t) + [x − x0(t)] ṗ0(t) ∂t = − [p + p0(t)] ẋ0(t) + xṗ0(t) (4.118) gilt. Ausführlich geschrieben, lautet also die Hamilton-Funktion H H (x, p, t) = H[x0(t) + x , p0(t) + p ] + xṗ0 (t) − [p + p0(t)] ẋ0(t). (4.119) Die Differentialgleichungen zur Bestimmung von x (t) und p (t) sind die kanonischen Gleichungen ∂H ∂H = − x˙0(t) = g(x, p , t), ẋ = ∂p ∂p ∂H ∂H ṗ = − = − − p˙0(t) = f (x, p, t), ∂x ∂x wobei wir o.B.d.A. als Anfangsbedingungen x (t0) = 0, p (t0) = 0 (4.120) (4.121) (4.122) annehmen können [x(t0) = x0(t0), p(t0) = p0(t0 )]. Die formale Lösung von (4.120) und (4.121) lautet t x(t) = dτ g[x(τ ), p(τ ), τ ], (4.123) t0 310 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK t p (t) = dτ f [x(τ ), p(τ ), τ ], (4.124) dτ g[x(n) (τ ), p(n)(τ ), τ ], (4.125) dτ f [x(n)(τ ), p(n)(τ ), τ ], (4.126) t0 und sukzessive Iteration liefert x(n+1)(t) p(n+1)(t) t = t0 t = t0 x(0) (t) = p(0) (t) = 0. (4.127) Poisson-Klammern Kanonische Transformationen sind gerade solche Transformationen, die die Poisson-Klammern zweier (beliebiger) Größen A und B invariant lassen, {A, B}p,q = {A, B}p,q (4.128) wobei die Bezeichnungsweise {A, B}p,q ({A, B}p,q ) angibt, daß die Größen A und B als Funktionen der qα , pα (qα , pα) aufzufassen sind. Die Gleichung (4.128) läßt sich durch direktes Ausrechnen beweisen, f ∂A ∂B ∂A ∂B {A, B}p,q = − ∂q ∂p ∂pα ∂qα α α α=1 f ∂A ∂qβ ∂B ∂qγ ∂A ∂pβ ∂B ∂pγ = + + ∂qβ ∂qα ∂pβ ∂qα ∂qγ ∂pα ∂pγ ∂pα α,β,γ=1 ∂A ∂qβ ∂B ∂qγ ∂A ∂pβ ∂B ∂pγ − + + (4.129) ∂qβ ∂pα ∂pβ ∂pα ∂qγ ∂qα ∂pγ ∂qα 4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN bzw. {A, B}p,q = f α,β,γ=1 ∂A ∂B ∂qβ ∂qγ ∂A ∂B + ∂pβ ∂pγ 311 ∂qβ ∂qγ ∂qβ ∂qγ − ∂qα ∂pα ∂pα ∂qα ∂pβ ∂pγ ∂pβ ∂pγ − ∂qα ∂pα ∂pα ∂qα ∂qβ ∂pγ ∂qβ ∂pγ − ∂qα ∂pα ∂pα ∂qα ∂p ∂p ∂q ∂q ∂A ∂B γ γ β β − , − ∂pβ ∂qγ ∂qα ∂pα ∂pα ∂qα ∂A ∂B + ∂qβ ∂pγ woraus zunächst {A, B}p,q = f (4.130) ∂A ∂B ∂A ∂B {qβ , qγ }p,q + {pβ , pγ }p,q ∂qβ ∂qγ ∂pβ ∂pγ β,γ=1 ∂A ∂B ∂A ∂B + − {qβ , pγ }p,q (4.131) ∂qβ ∂pγ ∂pγ ∂qβ folgt. Das Problem reduziert sich also auf die Berechnung der PoissonKlammern der transformierten Koordinaten und Impulse als Funktionen der ursprünglichen Koordinaten und Impulse. Der Zusammenhang zwischen beiden Arten von Variablen wird durch eine kanonische Transformation vermittelt, so daß wegen pα = ∂R1 , ∂qα pβ = − ∂R1 ∂qβ (4.132) [Gleichungen (4.83)] ∂pβ ∂ 2R1 ∂pα = − = ∂qα ∂qβ ∂qα ∂qβ (4.133) gelten muß. Analog folgt wegen pα = ∂R2 , ∂qα qβ = ∂R2 ∂pβ (4.134) 312 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK [Gleichungen (4.92)] ∂qβ ∂ 2R2 ∂pα = = . ∂qα ∂pβ ∂qα ∂pβ (4.135) Mit (4.133) und (4.135) erhalten wir {qβ , pγ }p,q = f ∂qβ α=1 = ∂qβ ∂pγ ∂pγ − ∂pα ∂pα ∂pα ∂qα ∂qα /∂qγ −∂pα /∂qγ f ∂qβ ∂qα α=1 ∂qβ ∂pα + ∂qα ∂qγ ∂pα ∂qγ ∂qβ = = δβ,γ , ∂qγ (4.136) d.h. {qβ , pγ }p,q = {qβ , pγ }p ,q = δβ,γ . (4.137) Ferner finden wir {qβ , qγ }p,q = f ∂qβ ∂qβ ∂qγ ∂qγ − ∂qα ∂pα ∂pα ∂qα −∂qα /∂pγ ∂pα/∂pγ α=1 =− f ∂qβ ∂qα α=1 ∂qβ ∂pα + ∂qα ∂pγ ∂pα ∂pγ ∂qβ = − = 0, ∂qγ (4.138) d.h. {qβ , qγ }p,q = {qβ , qγ }p,q = 0, (4.139) {pβ , pγ }p,q = {pβ , pγ }p ,q = 0. (4.140) und analog Die Gleichungen (4.137), (4.139) und (4.140) bringen die Invarianz der Poisson-Klammern der kanonischen Variablen bei kanonischen Transformationen zum Ausdruck. Setzen wir (4.137), (4.139) und (4.140) in (4.131) ein, so folgt die aufgestellte Behauptung (4.128). 4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN 313 Infinitesimale kanonische Transformationen Eine Transformation qα = qα + gα (qα , pα , t), (4.141) pα = pα + hα (qα , pα , t), (4.142) heißt infinitesimal, wenn so klein ist, daß Glieder proportional zu 2 und höheren Potenzen von vernachlässigt werden dürfen. Mit (4.141) und (4.142) folgt f f L − L = pα q̇α − H − pα q̇α − H α=1 = − α=1 f (ġα pα + hα q̇α ) + H − H α=1 f f d gα pα + (gα ṗα − hα q̇α ) + H − H. = − dt α=1 α=1 (4.143) Damit die Transformation kanonisch ist, muß die rechte Seite dieser Gleichung gleich der totalen zeitlichen Ableitung einer Funktion (Erzeugenden) R von 2f unabhängigen Variablen und der Zeit sein, d.h. f (gα ṗα − hα q̇α ) + H − H α=1 = f ∂R α=1 woraus gα = ∂R ∂R , q˙α + p˙α + ∂qα ∂pα ∂t ∂R , ∂pα hα = − H = H + ∂R ∂t ∂R , ∂qα (4.144) (4.145) (4.146) 314 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK folgt, und die Gleichungen (4.141) und (4.142) lauten: qα = qα + ∂R ∂pα (4.147) pα = pα − ∂R ∂qα (4.148) Entsprechend den kanonischen Gleichungen gilt für die zeitliche Entwicklung der qα und pα qα (t + dt) = qα (t) + q̇α dt = qα (t) + ∂H dt, ∂pα (4.149) ∂H dt. (4.150) ∂qα Wir vergleichen mit (4.147) und (4.148) und finden, daß die kanonischen Gleichungen im Sinne einer infinitesimalen kanonischen Transformation mit H als der Erzeugenden interpretiert werden können [qα → qα (t + dt), pα → pα (t + dt), → dt]. Gilt insbesondere Energieerhaltung, bleibt die Hamilton-Funktion bei dieser Transformation unverändert. pα (t + dt) = pα (t) + ṗα dt = pα (t) − 4.5 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung Die kanonischen Gleichungen als 2f gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung sind einer (f + 1)-dimensionalen partiellen Differentialgleichung 1. Ordnung, der Hamilton-Jacobi-Gleichung, äquivalent. Dazu betrachten wir eine kanonische Transformation, die auf H = 0 (4.151) führt. In diesem Fall werden alle transformierten kanonischen Variablen qα , pα zu zyklischen Variablen, d.h., es gilt qα = aα = const., pα = bα = const. (4.152) 4.5. DIE HAMILTON-JACOBI-GLEICHUNG 315 (α =1, 2, . . . , f ). Ist die Transformation von den qα , pα zu den qα , pα bekannt, ist das dynamische Problem gelöst. Die (gesuchten) kanonischen Variablen qα , pα können dann durch die transformierten kanonischen Variablen qα , pα – und zwar in Form der Konstanten aα , bα – und der Zeit ausgedrückt werden, qα = qα (qα , pα, t) = qα (aα , bα , t), (4.153) pα = pα (qα , pα , t) = pα (aα , bα , t). (4.154) Die kanonischen Variablen qα , pα sind damit als Zeitfunktionen gegeben. Da sie noch von 2f (Integrations-)Konstanten aα , bα abhängen, die z.B. entsprechend den jeweiligen konkreten Anfangsbedingungen spezifiziert werden können, stellen sie offensichtlich die allgemeine Lösung des Problems dar. Das eigentliche Problem besteht natürlich darin, die kanonische Transformation zu bestimmen. Wir betrachten dazu die Erzeugende R = R(qα , pα, t) = R(qα , bα , t), (4.155) so daß nach (4.92) pα = ∂R , ∂qα aα = ∂R ∂bα (4.156) (α = 1, 2, . . . , f ) gilt. Da ferner nach (4.93) H = H + ∂R ∂t (4.157) gelten muß, folgt wegen der Forderung H = 0 H+ ∂R = 0, ∂t (4.158) d.h. unter Berücksichtigung von (4.156) ∂R ∂R =0 H qα , ,t + ∂qα ∂t (4.159) 316 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK bzw. ausführlich ∂R ∂R ∂R ∂R H q1 , q2 , . . . , qf , , ,..., ,t + = 0. ∂q1 ∂q2 ∂qf ∂t (4.160) Diese als Hamilton-Jacobi-Gleichung bezeichnete Gleichung ist die partielle Differentialgleichung für die gesuchte Erzeugende R. Jede partielle Differentialgleichung erster Ordnung hat eine Lösung, die von einer beliebigen Funktion abhängt. Eine solche Lösung heißt allgemeine Lösung. Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht die allgemeine Lösung, sondern die vollständige Lösung gefragt. Die vollständige Lösung ist eine Lösung, die gerade so viele (frei wählbare) Konstanten enthält, wie unabhängige Variable vorhanden sind. In der HamiltonJacobi-Gleichung treten die Zeit und die f Variablen qα als unabhängige Variablen auf. Folglich muß die vollständige Lösung dieser Gleichung gerade f + 1 freie Konstanten enthalten. Da von der Funktion R in der Hamilton-Jacobi-Gleichung nur Ableitungen vorkommen, ist eine der Konstanten additiv, und somit hat die vollständige Lösung die Form R = f (q1, q2, . . . , qf , b1, b2, . . . , bf , t) + A, (4.161) woraus mit Hilfe der Gleichungen (4.156) dann die gesuchten kanonischen Variablen qα , pα als Funktionen der Zeit berechnet werden können. Wir wollen uns die physikalische Bedeutung der Erzeugenden R in der Hamilton-Jacobi-Gleichung klarmachen. Es gilt f dR ∂R ∂R = q̇α + dt ∂qα ∂t α=1 (4.162) und wegen (4.156) und (4.159) f dR = pα q̇α − H = L, dt α=1 (4.163) d.h. R= dt L = S. (4.164) 4.5. DIE HAMILTON-JACOBI-GLEICHUNG 317 Die Erzeugende R in der Hamilton-Jacobi-Gleichung ist also (bis auf eine unwesentliche Konstante) gleich der Wirkung S. Folglich ist die Hamilton-Jacobi-Gleichung die Gleichung, der die Wirkung S genügen muß: ∂S ∂S =0 H qα , ,t + ∂qα ∂t (4.165) Unter Berücksichtigung des Hamilton-Prinzips folgt diese Gleichung natürlich auch direkt aus der Definition der Wirkung als Funktion der Zeit t S= dτ L, (4.166) t0 wobei t0 ein beliebig gewählter Anfangszeitpunkt ist. Gemäß (4.16) gilt (für festes t) t δS = dτ t0 f ∂L d ∂L δqα − ∂q dt ∂ q̇ α α α=1 0 t f ∂L δqα + ∂ q̇α α=1 t0 pα (4.167) und wegen der Gültigkeit der Lagrange-Gleichungen f ! " (0) (0) δS = pα δqα − pα δqα (4.168) α=1 (0) (0) [qα = qα (t0), pα = pα (t0)]. Die Wirkung kann also als Funktion der (0) qα = qα (t) und qα aufgefaßt werden, wobei gegebenenfalls noch eine explizite Zeitabhängigkeit zu berücksichtigen ist, S = S(qα , qα(0) , t), (4.169) und es gilt pα = ∂S , ∂qα p(0) α = − ∂S (0) ∂qα . (4.170) 318 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK (0) Für festgehaltene Konstanten qα haben wir also f f dS ∂S ∂S ∂S q̇α + pα q̇α + = = , dt ∂q ∂t ∂t α α=1 α=1 (4.171) und der Vergleich mit dS =L dt [siehe (4.166)] liefert unter Berücksichtigung von (4.170) ∂S ∂S ∂S = H qα , = 0, pα q̇α − L + ,t + ∂t ∂q ∂t α α=1 H f (4.172) (4.173) d.h. die Hamilton-Jacobi-Gleichung (4.165). Hängt die Hamilton-Funktion nicht explizit von der Zeit ab, gilt (skleronome Bedingungen vorausgesetzt) Energieerhaltung. In diesem Fall ist aus (4.165) zu ersehen, daß S = −Et + S0, (4.174) wobei die charakteristische Funktion oder auch verkürzte Wirkungsfunktion genannte Funktion S0 nur von den qα abhängt und der verkürzten Hamilton-Jacobi-Gleichung genügt: ∂S0 H qα , ∂qα =E (4.175) Für das totale Differential der charakteristischen Funktion gilt offensichtlich f f ∂S0 dS0 = dqα = pα dqα . (4.176) ∂q α α=1 α=1 Andererseits ist dS = Ldt = dS0 − E dt, (4.177) 4.5. DIE HAMILTON-JACOBI-GLEICHUNG 319 d.h. dS0 = (L + E) dt, (4.178) woraus mit L = T − U und E = T + U dS0 = 2T dt (4.179) folgt. Die charakteristische Funktion eines konservativen, skleronomen Systems zwischen zwei Zeiten t1 und t2 ist also durch das Zeitintegral der doppelten kinetischen Energie gegeben: t2 dt 2T (4.180) S0 = t1 (hinsichtlich der Äquivalenz der Gleichungen (4.176) und (4.179) siehe auch (3.250). Beispiel: Wurf Für die Bewegung eines Massenpunkts im homogenen Schwerefeld der Erde lautet die Hamilton-Funktion 1 2 1 2 1 2 H= px + py + p + mgz, (4.181) 2m 2m 2m z und folglich lautet die verkürzte Hamilton-Jacobi-Gleichung 2 2 2 1 ∂S0 ∂S0 1 ∂S0 1 + + + mgz = E. 2m ∂x 2m ∂y 2m ∂z (4.182) Wir versuchen, die Gleichung durch einen Separationsansatz (1) (2) (3) S0(x, y, z) = S0 (x) + S0 (y) + S0 (z) zu lösen: (1) 2 (2) 2 (3) 2 1 dS0 dS0 dS0 1 1 + + + mgz = E. 2m dx 2m dy 2m dz Diese Gleichung ist erfüllt für (1) 2 dS0 1 = const., 2m dx (4.183) (4.184) (4.185) 320 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK (2) dS0 2 1 = const., 2m dy (3) 2 1 dS0 + mgz = const.. 2m dz (4.186) (4.187) Die Gleichungen (4.185) und (4.186) liefern (1) dS0 = c1 dx (1) (4.188) (2) (4.189) ; S0 (x) = c1 x, ; S0 (y) = c2 y, (2) dS0 = c2 dy und aus (4.187) folgt (3) dS0 = dz d.h. (3) S0 = − # c23 − 2m2 gz , %3/2 2 $ 2 2 c − 2m gz . 6m2g 3 (4.190) (4.191) Offensichtlich gilt % 1 $ 2 c1 + c22 + c23 = E. 2m Mit (4.188), (4.189) und (4.191) lautet die Wirkung (4.174) % 1 $ 2 c1 + c22 + c23 t 2m %3/2 2 $ 2 2 c − 2m gz , + c1 x + c2 y − 6m2 g 3 (4.192) S(x, y, z, t) = − (4.193) und wir finden c1 ∂S = − t + x = a1 , ∂c1 m c2 ∂S = − t + y = a2 , ∂c2 m %1/2 c3 $ c3 ∂S = − t − 2 c23 − 2m2gz = a3 . ∂c3 m mg (4.194) (4.195) (4.196) 4.6. VERALLGEMEINERTE INTEGRALPRINZIPIEN 321 Die Gleichungen (4.194) – (4.196) stellen die bekannte Bahnkurve für den Wurf im homogenen Schwerefeld der Erde dar. Die Gleichungen (4.194) und (4.195) beschreiben eine gleichförmig geradlinige Bewegung in x und y-Richtung, und die Gleichung (4.194) liefert für die Bewegung in z-Richtung die Überlagerung einer gleichförmig geradlinigen mit der gleichförmig beschleunigten Bewegung, wie durch eine einfache Umformung zu sehen ist, 2 g a3 m c23 − t+ , (4.197) z= 2m2 g 2 c3 d.h. z = − 12 gt2 + at + b (4.198) (a, b - Konstante). 4.6 Verallgemeinerte Integralprinzipien Das Hamiltonsche Prinzip in der im Abschnitt 4.1 angegebenen Form setzt die Existenz einer Lagrange-Funktion in der Gestalt L = T − U voraus. Das Hamiltonsche Prinzip kann aber auch so allgemein formuliert werden, daß es auch dann angewendet werden kann, wenn keine potentielle Energie definierbar ist und damit keine Lagrange-Funktion im üblichen Sinn angebbar ist. Um dies einzusehen, besinnen wir uns zunächst wieder auf das d’Alembertsche Prinzip 3N (mi ẍi − Fi ) δxi = 0 (4.199) i=1 und schreiben 3N d.h. (4.200) 3N d (mi ẋiδxi ) − δT. mi ẍiδxi = dt i=1 (4.201) i=1 3N i=1 (mi ẋi δxi) − mi ẋiδ ẋi , mi ẍiδxi = i=1 3N d dt 322 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK Berücksichtigen wir ferner, daß 3N Fi δxi = δW (4.202) i=1 die virtuelle Arbeit der am System angreifenden eingeprägten Kräfte ist, so nimmt die Gleichung (4.199) die Form der Lagrangeschen Zentralgleichung 3N d δT + δW = (mi ẋiδxi ) (4.203) dt i=1 an. Zeitliche Integration von (4.203) in den Grenzen t1 bis t2 liefert dann mit δxi (t1) = δxi (t2) = 0: t2 δ t2 dt T + t1 dt δW = 0 (4.204) t1 Im allgemeinen Fall, wenn die (äußeren) eingeprägten Kräfte kein Potential besitzen, kann im zweiten Intergral die Variation δ nicht vor das Integral gezogen werden. Besitzen die (äußeren) eingeprägten Kräfte ein Potential, δW = −δU , so haben wir δT + δW = δ(T − U ) = δL (4.205) und (4.204) nimmt die Form (4.12) bzw. (4.14) an. Wir wollen bei der Variation die Zeit mitvariieren, d.h., wir wollen die Bahnkurve xi (t) mit benachbarten Kurven xi(t) zu unterschiedlichen Zeiten vergleichen, Δxi = xi (t + Δt) − xi(t), (4.206) und Δxi und Δt als differenzierbare Funktionen der Zeit ansehen. Wir finden bis auf kleine Größen höherer als erster Ordnung Δxi = xi(t + Δt) − xi(t + Δt) + xi (t + Δt) − xi(t) = δxi + ẋi Δt (4.207) 4.6. VERALLGEMEINERTE INTEGRALPRINZIPIEN 323 [δxi(t + Δt) ≈ δxi(t)] und analog Δẋi = ẋi(t + Δt) − ẋi (t) = δ ẋi + ẍi Δt. (4.208) Die Variation einer Funktion Φ(xi, ẋi, t) lautet somit ΔΦ = Φ(xi + Δxi, ẋi + Δẋi, t + Δt) − Φ(xi, ẋi, t) 3N ∂Φ ∂Φ ∂Φ Δt Δxi + Δẋi + = ∂x ∂ ẋ ∂t i i i=1 3N ∂Φ ∂Φ ∂Φ Δt ẋi + ẍi + = δΦ + ∂x ∂ ẋ ∂t i i i=1 = δΦ + dΦ Δt. dt (4.209) Man beachte, daß bei der betrachteten Variationsart die Operationen Δ und d/dt nicht miteinander vertauscht werden dürfen. Wir formen den Term auf der rechten Seite der Lagrangeschen Zentralgleichung (4.203) unter Berücksichtigung von (4.207) etwas um, d d mi ẋiδxi = mi ẋi (Δxi − ẋi Δt) dt i=1 dt i=1 3N 3N d d mi ẋi Δxi − (2T Δt) = dt i=1 dt 3N dΔt dT d Δt − 2T , mi ẋi Δxi − 2 = dt i=1 dt dt 3N (4.210) und erhalten dΔt d dT Δt + 2T = mi ẋi Δxi . δT + δW + 2 dt dt dt i=1 3N (4.211) 324 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK Zeitliche Integration von t1 bis t2 liefert dann t2 dt δT + δW + 2 t1 dΔt dT Δt + 2T dt dt = 3N i=1 t2 mi ẋi Δxi . t1 (4.212) Es seien 3N fki ẋi + fk0 = 0 (k = 1, 2, . . . , r) (4.213) i=1 die Nebenbedingungen,5 so daß für die virtuellen Verrückungen 3N fki δxi = 0 (k = 1, 2, . . . , r) (4.214) i=1 gilt. Folglich gilt wegen (4.207) 3N i=1 fki Δxi − 3N i=1 fkiẋi Δt = fk0 3N fki Δxi+fk0 Δt = 0 (k = 1, 2, . . . , r). i=1 (4.215) Die weitere Auswertung von (4.212) zusammen mit (4.215) kann in unterschiedlicher Weise erfolgen. Wird Δt = 0 gesetzt und werden die Variationen δxi an den Grenzen ebenfalls Null gesetzt, δxi =0, gelangen wir zu (4.204). Wir wollen für den Fall Δt = 0 die Variationen Δxi und Δt an den Grenzen so wählen, daß 3N t2 mi ẋi Δxi = 0 (4.216) i=1 t1 gilt. Ferner wollen wir so variieren, daß (anstelle Δt = 0) die Relation δT = δW 5 (4.217) Zur Erinnerung: Im Falle von holonomen Systemen kann fki = ∂fk /∂xi und fk0 = ∂fk /∂t gesetzt werden. 4.6. VERALLGEMEINERTE INTEGRALPRINZIPIEN 325 erfüllt ist, d.h., bezüglich der virtuellen Verrückungen soll die Zunahme der kinetischen Energie gleich der virtuellen Arbeit sein. Damit sowie δT = ΔT − dT Δt dt (4.218) [siehe Gleichung (4.209)] geht die Gleichung (4.212) in t2 dΔt =0 dt ΔT + T dt t1 (4.219) über. Wegen t2 Δ t2 dt T = t1 t1 t2 = t1 d(t + Δt) (T + ΔT ) − dΔt dt ΔT + T dt t2 dt T t1 (4.220) können wir also (4.219) in die Form t2 Δ dt T = 0 (4.221) t1 bringen, wobei natürlich die Nebenbedingen (4.215) zu erfüllen sind. Verglichen mit den gemäß (4.216) und (4.217) zugelassenen Vergleichsbahnen verschwindet [unter Berücksichtigung der Nebenbedingungen (4.215)] die Variation des Zeitintegrals der kinetischen Energie für die wirkliche Bewegung (Euler-Maupertuis-Prinzip). Bei skleronomen Systemen können die Bedingungsgleichungen (4.215) und die Randbedingung (4.216) erfüllt werden, wenn für t1 und t2 Δxi = 0 und Δt beliebig ist. In diesem Fall können also die Vergleichsbewegungen zwischen gegebener Anfangs- und Endlage zu beliebigen Zeiten ablaufen. Ist das System noch konservativ, so gilt wegen (4.217) δ(T + U ) = δE = 0, (4.222) 326 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK d.h., die Gesamtenergie längs einer Vergleichsbahn hat den gleichen Wert wie längs der wirklichen Bahn. Unter den genannten Bedingungen können wir also folgende Aussage treffen: Die Variation des Zeitintegrals der kinetischen Energie verschwindet für die wirkliche Bewegung verglichen mit Nachbarbewegungen gleicher Gesamtenergie sowie gleicher Anfangs- und Endlage, die zu beliebigen Zeiten durchlaufen werden. Mit (4.180) nimmt (4.221) dann die Form ΔS0 = 0 (4.223) an. Das heißt, unter den gegebenen Bedingungen verschwindet nicht die Variation der Wirkung, sondern die die Variation der verkürzten Wirkung.6 Im Falle konservativer, skleronom-holonomer Systeme kann (4.223) noch etwas weiter umgeformt werden. Es gilt bekanntlich f 2 2T dt = g αβ dqα dqβ . (4.224) α,β=1 Sehen wir die g αβ als die Elemente des metrischen Fundamentaltensors des Konfigurationsraums an, so ergibt sich für das Linienelement f 2 ds = g αβ dqα dqβ (4.225) α,β=1 und es gilt ; 2T dt2 = ds2 Damit wird aus (4.223) ΔS0 = Δ so daß i. allg. s2 ds s1 6 √ s2 T = s1 s2 ds ds dt = √ . 2T √ 2T = 0, (4.226) (4.227) s1 √ ds E − U = Extremum. (4.228) Dies ist natürlich in Übereinstimmung mit dem Hamilton-Prinzip zusammen mit den Gleichungen (4.174) und (4.180), wie unschwer zu sehen ist. 4.7. TEILCHEN- UND WELLENAUSBREITUNG 327 Verschwinden die eingeprägten Kräfte, dann reduziert sich E − U auf eine Konstante, und aus (4.228) wird s2 ds = Extremum. (4.229) s1 Unterliegt also das Massenpunktsystem keinen eingeprägten Kräften, so ist die Länge der tatsächlich zwischen zwei Punkten im Konfigurationsraum (in Übereinstimmung mit den Nebenbedingungen) durchlaufenen Bahn i. allg. extremal und zwar in der Regel minimal. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von dem Prinzip der kürzesten Bahn. 4.7 Teilchen- und Wellenausbreitung Wir betrachten einen Massenpunkt mit den kartesischen Koordinaten x, y, z, der sich in einem konservativen Kraftfeld bewegen soll. Gemäß (4.174) gilt für die Wirkung S(x, y, z, t) = S0 (x, y, z) − Et. (4.230) Während die Gleichung S0 (x, y, z) = const. eine zeitlich unveränderliche Fläche im Konfigurationsraum des Massenpunkts beschreibt, stellt S(x, y, z, t) = const. eine bewegte Fläche dar. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Ausbreitung von Wirkungswellen. Wenn zum Zeitpunkt t die Fläche S = C mit der Fläche S0 (x, y, z) = C + Et (4.231) zusammenfällt, so fällt sie zum Zeitpunkt t + dt mit der Fläche S0 (x, y, z) + dS0(x, y, z) = C + E(t + dt) (4.232) zusammen, d.h. dS0 = E dt. (4.233) Ist ds der senkrechte Abstand der beiden benachbarten Flächen, so gilt andererseits (4.234) dS0 = ds|∇S0 | 328 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK (ds > 0 für dS0 > 0), und der Vergleich mit (4.233) liefert ds|∇S0 | = Edt, (4.235) woraus für den Betrag der Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wirkungswellen u = |ds/dt| die Beziehung u= |E| |∇S0| (4.236) folgt. Die verkürzte Hamilton-Jakobi-Gleichung (4.175) liefert (∇S0 )·(∇S0) = 2m(E − U ), (4.237) so daß wir für den Betrag der Ausbreitungsgeschwindigkeit |E| u= & 2m(E − U ) (4.238) schreiben können. Die Geschwindigkeit des Massenpunkts lautet bekanntlich v= 1 p = ∇S0 , m m (4.239) so daß ihr Betrag wegen (4.237) als p 1 v= = |∇S0 | = m m & 2m(E − U ) m (4.240) geschrieben werden kann. Wir vergleichen mit (4.238) und sehen, daß u= |E| |E| = mv p (4.241) gilt. Die Bahnkurven des Massenpunkts sind also orthogonale Trajektorien der sich im Raum ausbreitenden Flächen konstanter Wirkung. Der Betrag der Geschwindigkeit der Wirkungswellen ist dabei umgekehrt proportional zum Betrag der Teilchengeschwindigkeit. 4.7. TEILCHEN- UND WELLENAUSBREITUNG 329 r(t) S0 = C + Et Betrachten wir ein zunächst völlig anders erscheinendes Problem, nämlich die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen gemäß der Wellengleichung n2 ∂ 2 Ψ ΔΨ = 2 , (4.242) c0 ∂t2 wobei c0 die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist und n = n(r) den i. allg. räumlich veränderlichen Brechungsindex darstellt. Im Falle eines homogenen Mediums (konstanter Brechungsindex) wird die Gleichung (4.242) bekanntlich durch ebene Wellen gelöst: Ψ(r, t) = A ei(nk·r−ωt+ϕ) , (4.243) ω 2π . (4.244) = c0 λ Die Bezeichnung ebene Welle bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß die Flächen konstanter Phase, |k| = Φ(r, t) = nk·r − ωt = const., (4.245) Ebenen sind. In Verallgemeinerung von (4.243) kann man nun für den Fall inhomogener Medien, wenn sich der Brechungsindex räumlich ändert, den Lösungsansatz Ψ(r, t) = A(r) eiΦ(r,t) , (4.246) 330 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK Φ(r, t) = Φ0 (r) − ωt. (4.247) machen. Wir setzen (4.246) in die Wellengleichung (4.242) ein und erhalten (nach Trennen von Real- und Imaginärteil) unschwer die zwei Gleichungen (4.248) ΔA + A k 2 n2 − (∇Φ0)·(∇Φ0) = 0, 2(∇A)·(∇Φ0) + AΔΦ0 = 0 (4.249) (k = |k|). Wir wollen im Sinne der geometrischen Optik annehmen, daß die Wellenlänge hinreichend klein ist gegenüber der räumlichen Änderung sowohl des Brechungsindexes als auch der Amplitude der Welle. In diesem Fall kann der erste Term in (4.248) vernachlässigt werden, und wir erhalten die Eikonalgleichung7 (∇Φ0 )·(∇Φ0) = k 2n2 (4.250) Die Gleichungen (4.247) und (4.250) der geometrischen Optik haben offensichtlich die gleiche Form wie die Gleichungen (4.230) und (4.237) der klassischen Mechanik für die Bewegung eines Teilchens in einem konservativen Kraftfeld [Φ ↔ S, ω ↔ |E|, k 2 n2 ↔ 2m(E − U ) = p2]. Insbesondere breiten sich die Flächen konstanter Phase, Φ(r, t) = const. mit der (Phasen-)Geschwindigkeit c= c0 ω = nk n (4.251) aus. Die orthogonalen Trajektorien dieser Flächen bezeichnet man bekanntlich als Lichtstrahlen. Ist die Eikonalgleichung (4.250) gelöst und Φ0(r) bekannt, kann aus der Gleichung (4.249) der Gradient der Amplitudenfunktion A(r) in Richtung des Gradienten von Φ0(r) bestimmt werden. In der dazu senkrechten Richtung bleibt der Gradient der Amplitudenfunktion (im Sinne von Strahlen) unbestimmt. Um den Strahlgang r = r(s) zu bestimmen (s - Bogenlänge), schreiben wir zunächst gemäß (4.250) dr (4.252) ∇Φ0 = kn ds 7 Oft wird auch die Größe Φ0 /k Eikonal genannt, und es wird die Bezeichnung S0 verwendet. 4.7. TEILCHEN- UND WELLENAUSBREITUNG 331 und leiten nach s ab, d dr d dr kn = ∇Φ0 = · ∇ ∇Φ0 ds ds ds ds 1 1 [(∇Φ0) · ∇] ∇Φ0 = ∇ [(∇Φ0)·(∇Φ0)] kn 2kn 1 (4.253) ∇k 2 n2 = ∇kn. = 2kn = Also lautet die Strahlgleichung d dr n = ∇n. ds ds (4.254) Die Äquivalenz zwischen der Eikonalgleichung in der geometrischen Optik und der verkürzten Hamilton-Jakobi-Gleichung in der klassischen Mechanik sowie die Tatsache, daß Lichtrahlen und Bahnkurven orthogonale Trajektorien der entsprechenden Flächen sind, kann auch wie folgt formuliert werden. Bewegt sich ein Massenpunkt in einem konservativen Kraftfeld, so sind seine Bahnen identisch mit denjenigen der Lichtstrahlen in einem inhomogenen Medium, dessen Brechungsindex √ n (bis auf einen konstanten Faktor) zu E − U korrespondiert Nach (4.229) bedeutet dies, daß für Lichtstrahlen s2 ds n = Extremum (4.255) s1 gilt. Diese Gleichung ist aber nichts anderes als das aus der geometrischen Optik wohlbekannte Fermatsche Prinzip, welches besagt, daß die optische Länge eines Strahls zwischen zwei festen Punkten extremal ist, meistens minimal. Es ist unschwer zu zeigen, daß das Extremalprinzip (4.255) tatsächlich die Strahlgleichung (4.254) liefert. Zu diesem Zweck parametrisieren wir die Bogenlänge s gemäß & (4.256) ds = x2 + y 2 + z 2 dμ = s dμ, x = dx , dμ y = dy , dμ z = dz , dμ (4.257) 332 KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK so daß (4.255) in der Form s2 μ2 & n ds = dμ n(x, y, z) x2 + y 2 + z 2 = Extremum s1 μ1 geschrieben werden kann. Dieses Extremalwertproblem führt, da der Parameter μ nicht variiert wird, auf die Eulerschen Gleichungen bezüglich der Funktion & F (x, y, z, x, y , z ) = n(x, y, z) x2 + y 2 + z 2 , (4.258) d.h. ∂F d ∂F = 0, − dμ ∂x ∂x d ∂F ∂F = 0, − dμ ∂y ∂y d ∂F ∂F = 0. − dμ ∂z ∂z Betrachten wir beispielsweise die erste dieser drei Gleichungen. Mit x ∂F = n , ∂x s ∂F ∂n = s ∂x ∂x (4.259) erhalten wir die Gleichung bzw. x d ∂n n = s dμ s ∂x (4.260) 1 dx ∂n 1 d n = , s dμ s dμ ∂x (4.261) d.h. exakt die (x-Komponente der) Strahlgleichung (4.254): dx ∂n d n = . ds ds ∂x (4.262) Der obige Sachverhalt kann auch durch die Feststellung zum Ausdruck gebracht werden, daß sich jedem Problem der geometrischen Optik ein klassisch-mechanisches Problem zuordnen läßt, indem das Eikonal proportional zur verkürzten Wirkungsfunktion gesetzt wird. Die klassische Mechanik entspricht damit der geometrischen Optik als dem Grenzfall der Wellenoptik für hinreichend kleine Wellenlängen. Die 4.7. TEILCHEN- UND WELLENAUSBREITUNG 333 charakteristischen Welleneigenschaften von Licht (wie Interferenz und Beugung) treten in diesem Grenzfall nicht in Erscheinung. Man kann nun die Frage stellen, ob die klassische Mechanik nicht auch als Grenzfall einer allgemeineren Wellenmechanik aufgefaßt werden kann, so daß nur im Grenzfall hinreichend kleiner Wellenlängen eine Beschreibung der Bewegung mittels Bahnkurven sinnvoll ist. Dies ist in der Tat so – diese allgemeinere Mechanik ist die Quantenmechanik, die sich in der Tat als eine Wellenmechanik formulieren läßt.