I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen

Werbung
I
Newtonsche Mechanik
in bewegten
Koordinatensystemen
1
Die Newtonschen Gleichungen
in einem rotierenden Koordinatensystem
In allen gleichförmig gegeneinander bewegten Systemen (d. h. Inertialsystemen)
gelten in der klassischen Mechanik die Newtonschen Gesetze, wenn sie in einem
gelten. Dies trifft aber nicht mehr zu, wenn ein System Beschleunigungen unterworfen wird. Die neuen Beziehungen erhält man, indem man die Bewegungsgleichungen in einem festen System aufstellt und in das beschleunigte System
transformiert.
Zunächst betrachten wir die Rotation eines (x , y , z )-Koordinatensystems um den
Ursprung des Inertialsystems (x, y, z), wobei die beiden Koordinatenursprünge
zusammenfallen. Hierbei wird das Inertialsystem mit L („Laborsystem“) und das
rotierende System mit B („bewegtes System“) bezeichnet.
z
z'
A
y'
e'3
e'2
y
x
x'
e'1
Relative Lage der beiden
Koordinatensysteme x , y, z und x , y , z .
Der Vektor A(t) = A1e1 + A2e2 + A3e3 soll sich im gestrichenen System zeitlich
ändern; für einen in diesem System ruhenden Beobachter läßt sich das folgendermaßen darstellen:
dA dA1 dA dA e1 + 2e2 + 3e3 .
=
dt dt
dt
dt
B
Dabei bedeutet der Index B, daß die Ableitung vom bewegten System aus berechnet
wird. Im Inertialsystem (x,y,z) ist A ebenfalls zeitabhängig; aufgrund der Rotation
des gestrichenen Systems ändern sich hier auch noch die Einheitsvektoren e1 , e2 , e3
2
I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen
mit der Zeit, d. h., bei der Ableitung des Vektors A vom Inertialsystem aus müssen
auch noch die Einheitsvektoren differenziert werden:
dA1 dA dA dA e1 + 2e2 + 3e3 + A1e˙1 + A2e˙2 + A3e˙3
=
dt dt
dt
dt
L
dA =
+ A1e˙1 + A2e˙2 + A3e˙3 .
dt B
d
d
Nun gilt allgemein (eγ · eγ ) = eγ · e˙γ + e˙γ · eγ = (1) = 0.
dt
dt
Also ist eγ · e˙γ = 0. Die Ableitung eines Einheitsvektors e˙γ steht immer senkrecht
auf dem Vektor selbst. Deshalb läßt sich die Ableitung eines Einheitsvektors als
Linearkombination der beiden anderen schreiben:
e˙ = a1e + a2e ,
1
2
3
e˙2 = a3e1 + a4e3 ,
e˙3 = a5e1 + a6e2 .
Von diesen sechs Koeffizienten sind nur drei unabhängig. Um dies zu zeigen,
differenzieren wir zunächst e1 · e2 = 0 und erhalten
e˙ · e = −e˙ · e .
1
2
2
1
Multipliziert man e˙1 = a1e2 + a2e3 mit e2 und entsprechend e˙2 = a3e1 + a4e3 mit
e1 , so erhält man:
e2 · e˙1 = a1
und
e1 · e˙2 = a3 ,
damit folgt a3 = −a1 .
Analog ergibt sich auch a6 = −a4 und a5 = −a2 .
Die Ableitung des Vektors A im Intertialsystem läßt sich nun folgendermaßen
schreiben:
dA dA =
+ A1 (a1e2 +a2e3 )+A2 (−a1e1 +a4e3 )+A3 (−a2e1 −a4e2 )
dt dt L
B
dA =
+ e1 (−a1 A2 −a2 A3 )+e2 (a1 A1 −a4A3 )+e3 (a2 A1 +a4 A2 ).
dt B
Aus der Rechenregel für das Kreuzprodukt
e1 e2 e3 C × A = C1 C2 C3 A A A 1
2
3
= e1 (C2 A3 − C3 A2 ) − e2 (C1 A3 − C3 A1 ) + e3 (C1 A2 − C2 A1 )
1 Die Newtonschen Gleichungen in einem rotierenden Koordinatensystem
3
folgt, wenn man C = (a4 , − a2 , a1 ) setzt:
dA dA C×
A.
=
+
dt dt L
B
Es bleibt nun noch zu zeigen, welche physikalische Bedeutung dieser Vektor C hat. Dazu betrachten wir den
speziellen Fall dA/ dt|B = 0, d. h., die Ableitung des
Vektors A im bewegten System verschwindet; A bewegt
sich (rotiert) mit dem bewegten System; er ist darin fest
„montiert“. ϕ sei der Winkel zwischen der Rotationsachse (in unserem speziellen Fall die z-Achse) und A. Die
Komponente parallel zur Winkelgeschwindigkeit ω wird
durch die Rotation nicht verändert.
Die Änderung von A im Laborsystem ist dann gegeben
durch
dA dA = ω dt A sin ϕ bzw.
= ω A sin ϕ .
dt L
Dies kann man auch so schreiben:
dA = ω × A.
dt z,z',ω
ω dt
dA
A
ϕ
y'
y
ω dt
x
x'
Änderung eines im sich drehenden
System fest verankerten, aber belieA.
bigen Vektors L
Auch die Richtung von (ω × A) dt stimmt mit dA (siehe Zeichnung) überein. Da
der Vektor A beliebig (aber fest) gewählt werden kann, muß der Vektor C mit
der Winkelgeschwindigkeit ω , mit der das System B rotiert, identisch sein. Durch
Einsetzen erhalten wir:
dA dA (1.1)
=
+ ω × A.
dt dt B
Diesen Sachverhalt können wir auch noch folgendermaßen einsehen (vgl. Figur):
z=z'
.
ω = ϕ e'3
1
2
2
d. h.
a1 = ϕ̇ , a2 = a4 = 0
1
2
Fällt während eines Zeitintervalls dt die Drehachse des
gestrichenen Systems mit einer der Koordinatenachsen
des ungestrichenen Systems zusammen, etwa ω = ϕ̇e3 ,
so gilt
e˙ = ϕ̇e ,
e˙ = −ϕ̇e ,
x
.
e'1
ϕ dt
x' d e1'
und damit
= ϕ̇e3 = ω .
C
de'
L
| de1 | = | de2 | = ϕ̇ · dt .
e'2
y'
y
4
I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen
Im allgemeinen Fall ω = ω 1e1 + ω 2e2 + ω 3e3 zerlegt man ω = ∑ ω i mit ω i = ω iei
und erhält aufgrund der vorangegangenen Überlegung
Ci = ω i , d. h. C = ∑ Ci = ∑ ω i = ω .
i
i
Einführung des Operators D
Zur kürzeren Schreibweise des Ausdrucks (∂/∂t)F(x, . . . , t) = ∂F/∂t führen wir
= ∂/∂t ein. Die Unterscheidung zwischen Inertialsystem und
den Operator D
beschleunigtem System geschieht durch die Indizes L und B, also:
B = ∂ .
L = ∂ und
D
D
∂t
∂t L
B
dA dA =
+ ω × A vereinfacht sich dann zu
Die Gleichung
dt L
dt B
BA + ω × A.
LA = D
D
Läßt man den Vektor A fort, so spricht man von einer Operatorgleichung
L = D
B + ω × ,
D
die auf beliebige Vektoren wirken kann.
Winkelgeschwindigkeitsvektor ω
Beispiel 1.1
dω dω =
+ ω × ω .
dt L
dt B
Da ω × ω = 0, folgt
dω dω =
.
dt L
dt B
Diese beiden Ableitungen sind offensichtlich für alle Vektoren gleich, die parallel zur
Rotationsachse stehen, da dann das Kreuzprodukt verschwindet.
Beispiel 1.1
Ortsvektor r
Beispiel 1.2
Beispiel 1.2
dr dr =
+ ω ×r,
dt L
dt B
in Operatorschreibweise:
Br + ω ×r,
Lr = D
D
dr dr als
scheinbare
Geschwindigkeit
und
+ ω ×r als wahre Geschwindigkeit
wobei
dt B
dt B
bezeichnet werden. Der Term ω ×r heißt Rotationsgeschwindigkeit.
1 Die Newtonschen Gleichungen in einem rotierenden Koordinatensystem
5
Formulierung der Newtonschen Gleichungen im rotierenden
Koordinatensystem
Das Newtonsche Gesetz mr¨ = F gilt nur im Intertialsystem. In beschleunigten
Systemen treten zusätzliche Terme auf. Zuerst betrachten wir wieder eine reine
Rotation.
Für die Beschleunigung gilt:
d ˙
Br + ω ×r)
r¨L = (r)
ω ×)(D
L = DL (DLr) = (DB + dt
B (ω ×r) + ω × D
Br + ω × (ω ×r)
2Br + D
=D
2Br + (D
Bω ) ×r + 2ω × D
Br + ω × (ω ×r).
=D
Wir ersetzen den Operator durch den Differentialquotienten:
d2r dω dr d2r =
+
×
r
+
2
ω
×
+ ω × (ω ×r).
(1.2)
dt 2 L
dt 2 B
dt B
dt B
dω dr Dabei bezeichnet man die Ausdrücke
×r als lineare Beschleunigung, 2ω × dt B
dt B
als Coriolisbeschleunigung und ω × (ω ×r) als Zentripetalbeschleunigung.
Durch Multiplikation mit Masse m folgt die Kraft F:
2 dω dr d r
m 2 + m
×r + 2mω ×
+ mω × (ω ×r) = F.
dt
dt dt B
B
(1.3)
B
Im rotierenden System möchte man die Grundgleichung der Mechanik auch in
der Form Masse × Beschleunigung = Kraft schreiben, also wie im Inertialsystem.
Dazu müssen das zweite, dritte und vierte Glied auf der linken Seite von (1.3) auf
die rechte Seite, also zur Kraft F geschlagen werden.
Die Grundgleichung der Mechanik im rotierenden Koordinatensystem lautet also,
wenn wir den Index B unterdrücken:
dω
d2r
m 2 =
F −m
(1.4)
×r − 2mω × v − mω × (ω ×r).
dt
dt
Die zusätzlichen Terme auf der rechten Seite von Gleichung (3) sind Scheinkräfte
dynamischer Art, doch eigentlich von dem Beschleunigungsterm stammend. Für
Experimente auf der Erde kann man die Zusatzterme oft vernachlässigen, weil die
Winkelgeschwindigkeit der Erde ω = 2π /T (T = 24 h) nur 7,27·10−5 s−1 beträgt.
Die Newtonschen Gleichungen in beliebig gegeneinander bewegten
Systemen
Jetzt geben wir die Bedingung auf, daß die Ursprünge der beiden Koordinatensysteme zusammenfallen. Die allgemeine Bewegung eines Koordinatensystems
setzt sich zusammen aus einer Rotation des Systems und einer Translation des
Ursprungs. Gibt R den Ursprung des gestrichenen Systems an, so gilt für den
Ortsvektor im ungestrichenen System r = R +r .
6
I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen
x'
z
y'
R
r'
r=R+r'
r
x
y
z'
˙
Hierbei gilt für die Geschwindigkeit r˙ = R + r˙ und im
Inertialsystem nach wie vor:
d2r m 2 = F = F.
dt
L
L
Durch Einsetzen von r und anschließendes Differenzieren ergibt sich
d2R d2r F.
m 2 +m
=
dt L
dt 2 L
Relative Lage der beiden
Koordinatensysteme x , y, z und x , y , z .
Der Übergang zum beschleunigten System erfolgt wie
vorher (Gleichung (1.4)), nur tritt hier noch das Zusatz¨
glied mR auf:
R d2
dω d2r m 2 = F −m 2 −m ×r −2mω × vB −mω × (ω ×r ). (1.5)
dt B
dt L
dt B
2
Der freie Fall auf der rotierenden Erde
zω
z'
e'3
y'
e'2
R
e3
λ
e'1
ϕ e2
x'
e1
Oktant der Erdkugel: Lage der
verschiedenen Koordinatensysteme.
y
x
Auf der Erde gilt die bereits abgeleitete Form der Grundgleichung der Mechanik,
wenn wir die Rotation um die Sonne vernachlässigen und deshalb ein Koordinatensystem im Erdzentrum als Inertialsystem betrachten.
¨
mr¨ = F − mR − mω˙ ×r − 2mω ×r˙ − mω × (ω ×r ). (2.1)
B
L
B
B
2 Der freie Fall auf der rotierenden Erde
7
Die Rotationsgeschwindigkeit ω der Erde um ihre Achse kann als zeitlich konstant
angesehen werden; deshalb ist mω˙ ×r = 0.
Die Bewegung des Aufpunktes R, also die Bewegung des Koordinatenursprungs
des (x ,y ,z )-Systems muß noch auf das bewegte System umgerechnet werden;
nach (1.2) gilt:
R¨ = R¨ + ω˙ × R + 2ω × R˙ + ω × (ω × R).
L
B
B
B
Da R vom bewegten System aus eine zeitunabhängige Größe ist und da ω konstant
ist, lautet diese Gleichung schließlich
R¨ = ω × (ω × R).
L
Das ist die Zentripetalbeschleunigung, die ein sich auf der Erdoberfläche bewegender Körper aufgrund der Erdrotation erfährt. Für die Kraftgleichung (2.1) ergibt
sich:
F − mω × (ω × R) − 2mω ×r˙ − mω × (ω ×r ).
mr¨ = Beim freien Fall auf der Erde treten demnach im Gegensatz zum Intertialsystem
Scheinkräfte auf, die den Körper in x - und y -Richtung ablenken.
Mm
Die Kraft F im Intertialsystem ist, wenn nur die Schwerkraft wirkt, F = −γ 3 r.
r
Eingesetzt ergibt sich:
Mm
mr¨ = −γ 3 r − mω × (ω × R) − 2mω ×r˙ − mω × (ω ×r ).
r
Wir führen nun den experimentell bestimmten Wert für die Gravitationsbeschleunigung g ein:
M
g = −γ 3 R − ω × (ω × R).
R
Hierbei haben wir in der Gravitationsbeschleunigung −γ Mr/r3 den Radius r =
R + r eingesetzt und die Näherung r ≈ R beibehalten. Sie ist in der Nähe
der Erdoberfläche recht vernünftig. Der zweite Term ist die von der Erdrotation
herrührende Zentrifugalbeschleunigung, die zu einer Verringerung der Schwerebeschleunigung (als Funktion der geographischen Breite) führt. Sie ist in dem
experimentellen Wert für g enthalten. Damit erhalten wir
mr¨ = mg − 2mω ×r˙ − mω × (ω ×r ).
In der Nähe der Erdoberfläche (r R) kann der letzte Term vernachlässigt werden, weil ω 2 auftritt und |ω | klein gegen 1/s ist. Damit vereinfacht sich die Gleichung zu:
r¨ = g − 2(ω ×r˙ ) bzw. r¨ = −ge − 2(ω ×r˙ ).
(2.2)
3
Zur Lösung der Vektorgleichung zerlegt man sie in ihre Komponenten. Zunächst
rechnet man zweckmäßigerweise das Kreuzprodukt aus. Aus der Figur auf Seite 6
8
I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen
erhält man, wenn e1 ,e2 ,e3 die Einheitsvektoren des Inertialsystems und e1 ,e2 ,e3
die Einheitsvektoren des bewegten Systems sind, die folgende Beziehung:
e3 = (e3 · e1 )e1 + (e3 · e2 )e2 + (e3 · e3 )e3 ,
= (− sin λ )e1 + 0e2 + (cos λ )e3 .
Wegen ω = ωe3 erhält man daraus die Komponentendarstellung von ω im bewegten System:
ω = −ω sin λ e1 + ω cos λ e3 .
Für das Kreuzprodukt ergibt sich damit
ω ×r˙ = (−ω ẏ cos λ )e1 + (ż ω sin λ + ẋ ω cos λ )e2 − (ω ẏ sin λ )e3 .
Man kann nun die Vektorgleichung (2.2) in die folgenden drei Komponentengleichungen zerlegen:
ẍ = 2ẏ ω cos λ ,
ÿ = −2ω (ż sin λ + ẋ cos λ ),
(2.3)
z̈ = −g + 2ω ẏ sin λ .
Dies ist ein System von drei gekoppelten Differentialgleichungen mit ω als Kopplungsparameter. Für ω = 0 ergibt sich der freie Fall in einem Inertialsystem. Die
Lösung eines solchen Systems ist auch auf analytischem Wege möglich. Es ist
jedoch zweckmäßig, an diesem Beispiel verschiedene Näherungsmethoden kennenzulernen. Wir wollen diese zunächst behandeln und daran anschließend dann
die exakte analytische Lösung erarbeiten und mit ihr die Näherungen vergleichen.
Zur Näherung bieten sich in diesem Fall die Störungsrechnung und die Methode
der sukzessiven Approximation an. Beide Methoden wollen wir hier zeigen. Die
Striche an den Koordinaten werden im folgenden weggelassen.
Methode der Störungsrechnung
Hierbei geht man von einem mathematisch einfacher zu behandelnden System aus
und berücksichtigt bei der Rechnung infolge der Störung auftretende Kräfte, die
klein gegen die übrigen Kräfte des Systems sind.
Zunächst integrieren wir die Gleichungen (2.3):
ẋ = 2ω y cos λ + c1 ,
ẏ = −2ω (x cos λ + z sin λ ) + c2 ,
(2.4)
ż = −gt + 2ω y sin λ + c3 .
Beim freien Fall auf der Erde wird der Körper aus der Höhe h zur Zeit t = 0 losgelassen, d. h., für unser Problem ergeben sich die folgenden Anfangsbedingungen:
z(0) = h,
ż(0) = 0,
y(0) = 0,
ẏ(0) = 0,
x(0) = 0,
ẋ(0) = 0.
2 Der freie Fall auf der rotierenden Erde
9
Damit bestimmen wir die Integrationskonstanten:
c1 = 0, c2 = 2ω h sin λ , c3 = 0
und erhalten
ẋ = 2ω y cos λ ,
ẏ = −2ω (x cos λ + (z − h) sin λ ),
(2.5)
ż = −gt + 2ω y sin λ .
Die zu ω proportionalen Glieder sind klein gegenüber dem Glied gt. Sie bilden
die Störung. Die Abweichung y vom Ursprung des bewegten Systems ist eine
Funktion von ω und t, d. h., es tritt in der ersten Näherung das Glied y1 (ω , t) ∼ ω
auf. Setzen wir dies in die erste Differentialgleichung ein, so erscheint dort ein
Ausdruck mit ω 2 . Wegen der Konsistenz in ω können wir deshalb alle Glieder mit
ω 2 vernachlässigen, d. h., wir erhalten in erster Ordnung in ω :
ẋ(t) = 0,
ż(t) = −gt,
bzw. integriert mit den Anfangsbedingungen folgt:
g
x(t) = 0,
z(t) = − t 2 + h.
2
Wegen x(t) = 0 fällt aus der zweiten Differentialgleichung (9) in dieser Näherung
das Glied 2ω x cos λ heraus; es bleibt:
ẏ = −2ω (z − h) sin λ .
Einsetzen von z liefert
1
ẏ = −2ω h − gt 2 − h sin λ
2
= ω gt 2 sin λ ,
und mit der Anfangsbedingung integriert folgt
y=
ω g sin λ
3
t 3.
Die Lösungen des Differentialgleichungssystems in der Näherung ω n = 0 mit
n ≥ 2 (d. h. konsistent bis zu linearen Gliedern in ω ), lauten also
x(t) = 0,
ω g sin λ
t 3,
3
g
z(t) = h − t 2 .
2
Die Fallzeit T erhält man aus z(t = T ) = 0,
2h
.
T2 =
g
y(t) =
10
I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen
Damit hat man die Ostablenkung (e2 zeigt nach Osten) als Funktion der Fallhöhe:
ω g sin λ 2h 2h
y(t = T ) = y(h) =
3g
g
2ω h sin λ 2h
=
.
3
g
Die Methode der sukzessiven Approximation
Geht man von dem bereits bekannten System (2.5) gekoppelter Differentialgleichungen aus, so lassen sich diese Gleichungen durch Integration in Integralgleichungen überführen:
x(t) = 2ω cos λ
t
y(u) du + c1 ,
0
y(t) = 2ω ht sin λ − 2ω cos λ
t
x(u) du − 2ω sin λ
0
1
z(t) = − gt 2 + 2ω sin λ
2
t
z(u) du + c2 ,
0
t
y(u) du + c3 .
0
Berücksichtigt man, daß die Anfangsbedingungen
x(0) = 0,
ẋ(0) = 0,
y(0) = 0,
ẏ(0) = 0,
z(0) = h,
ż(0) = 0,
erfüllt sein müssen, so ergeben sich die Integrationskonstanten zu
c1 = 0;
c2 = 0;
c3 = h.
Die Methode der Iteration besteht darin, daß für die unter dem Integralzeichen
stehenden Funktionen x(u), y(u), z(u) willkürlich geeignete Anfangsfunktionen
eingesetzt werden. Damit werden in erster Näherung x(t), y(t), z(t) bestimmt und
zur Ermittlung der zweiten Näherung als x(u), y(u), z(u) rechts wieder eingesetzt
usw. Im allgemeinen ergibt sich dann eine sukzessive Approximation an die exakte
Lösung, wenn ω · t = 2πt/T (wobei T = 24 Stunden) klein genug ist.
Setzt man im Beispiel x(u), y(u), z(u) in der nullten Näherung gleich Null, so ergibt
sich in der ersten Näherung
x(1) (t) = 0,
y(1) (t) = 2ω ht sin λ ,
g
z(1) (t) = h − t 2 .
2
Zur Überprüfung der Konsistenz dieser Lösungen bis zu Termen linear in ω
genügt die Überprüfung der zweiten Näherung. Bei Konsistenz dürfen in ihr keine
Verbesserungen auftreten, die ω linear enthalten:
2 Der freie Fall auf der rotierenden Erde
(2)
x (t) = 2ω cos λ
t
11
(1)
y (u) du = 2ω cos λ
0
t
2ω h(sin λ )u du
0
t2
= f (ω 2 ) ≈ 0.
2
Ebenso wie x(1) (t) ist auch z(1) (t) in 1. Ordnung in ω konsistent:
= 4ω 2 h cos λ sin λ
1
z(2) (t) = h − gt 2 + 2ω sin λ
2
t
y(1) (u) du
0
t
g
= h − t 2 + 2ω sin λ 2ω h(sin λ )u du
2
0
g 2
2
= h − t + i(ω ).
2
(1)
Dagegen ist y (t) nicht konsistent in ω , denn
y (t) = 2ω ht sin λ − 2ω cos λ
(2)
t
0
x (u) du − 2ω sin λ
(1)
t
z(1) (u) du
0
t3
= 2ω h sin λ · t − 2ω h sin λ · t + gω sin λ
3
t3
2
= gω sin λ = 2ω h(sin λ )t + k(ω ).
3
Wir erkennen, daß hier in diesem zweiten Schritt die Glieder linear in ω noch
einmal massiv geändert wurden. Der im ersten Iterationsschritt erhaltene Term
2ω ht sin λ wird ganz weggehoben und schließlich durch gω sin λ t 3 /3 ersetzt. Eine
Überprüfung von y(3) (t) zeigt, daß y(2) (t) konsistent bis zur 1. Ordnung in ω ist.
Genau wie bei der vorher besprochenen Methode der Störungsrechnung ergibt sich
bis zur ersten Ordnung in ω die Lösung
x(t) = 0,
gω sin λ 3
y(t) =
t ,
3
g
z(t) = h − t 2 .
2
Wir haben natürlich längst gemerkt, daß die Methode der sukzessiven Approximation (Iteration) der Störungsrechnung äquivalent ist und im Grunde ihre begrifflich
saubere Formulierung darstellt.
Exakte Lösung
Die Bewegungsgleichungen (2.3) können auch exakt gelöst werden. Dabei gehen
wir wieder von
ẍ = 2ω cos λ ẏ,
(2.3a)
ÿ = −2ω (sin λ ż + cos λ ẋ),
(2.3b)
z̈ = −g + 2ω sin λ ẏ,
(2.3c)
12
I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen
aus. Integriert man (2.3a)–(2.3c) mit den obigen Anfangsbedingungen, so folgt
ẋ = 2ω cos λ y,
(2.5a)
ẏ = −2ω (sin λ z + cos λ x) + 2ω h sin λ ,
(2.5b)
ż = −gt + 2ω sin λ y.
(2.5c)
Einsetzen von (2.5a) und (2.5c) in (2.3b) ergibt
(2.6)
ÿ + 4ω 2 y = 2ω g sin λ t ≡ ct.
Die allgemeine Lösung von (2.6) ist gegeben durch die Summe aus der allgemeinen
Lösung der homogenen Gleichung und einer speziellen Lösung der inhomogenen
Gleichung, d. h.
c
y=
t + A sin 2ω t + B cos 2ω t.
4ω 2
Aus den Anfangsbedingungen zur Zeit t = 0: x = y = 0, z = h, ẋ = ẏ = ż = 0 folgt
B = 0 und 2ω A = −c/4ω 2 , d. h. A = −c/8ω 3 und somit:
c
c
c
sin 2ω t
t−
sin 2ω t =
t−
,
y=
4ω 2
8ω 3
4ω 2
2ω
d. h.
sin 2ω t
g sin λ
t−
.
(2.7)
y=
2ω
2ω
Einsetzen von (2.7) in (2.5a)ergibt
sin 2ω t
ẋ = g sin λ cos λ t −
.
2ω
Aus den Anfangsbedingungen folgt
2
t
1 − cos 2ω t
x = g sin λ cos λ
−
.
(2.8)
2
4ω 2
Gleichung (2.7) in (2.5c) eingesetzt ergibt
g sin λ
sin 2ω t
ż = −gt + 2ω sin λ
t−
,
2ω
2ω
sin 2ω t
ż = −gt + g sin2 λ t −
,
2ω
und integriert mit den Anfangsbedingungen:
2
g 2
t
1 − cos 2ω t
2
z = − t + g sin λ
−
+ h.
2
2
4ω 2
Zusammengefaßt ist schließlich
2
t
1 − cos 2ω t
x = g sin λ cos λ
−
,
2
4ω 2
g sin λ
sin 2ω t
t−
,
y=
2ω
2ω
2
g
t
1 − cos 2ω t
z = h − t 2 + g sin2 λ
−
.
2
2
4ω 2
(2.9)
(2.10)
2 Der freie Fall auf der rotierenden Erde
Da ω t = 2π
13
Fallzeit
, also sehr klein ist (ω t 1), kann man (2.10) entwickeln:
1 Tag
gt 2
sin λ cos λ (ω t)2 ,
6
gt 2
y=
sin λ (ω t),
3
gt 2
sin2 λ
z =h−
1−
(ω t 2 ) .
2
3
x=
(2.11)
Berücksichtigt man nur Glieder erster Ordnung in ω t, so ist (ω t)2 ≈ 0 und (2.11)
wird zu:
x(t) = 0,
gω t 3 sin λ
,
(2.12)
3
g
z(t) = h − t 2 .
2
Dies ist identisch mit den mit Hilfe der Störungsrechnung gewonnenen Ergebnissen. Gleichung (2.10) ist jedoch exakt!
y(t) =
Die Ostablenkung einer fallenden Masse erscheint zunächst paradox, weil sich die
Erde doch auch nach Osten dreht. Sie wird aber sofort anschaulich verständlich,
wenn man bedenkt, daß die Masse in der Höhe h zur Zeit t = 0 im Inertialsystem
eine größere Geschwindigkeitskomponente ostwärts (aufgrund der Erdrotation)
besitzt als ein Beobachter auf der Erdoberfläche. Es ist diese „überschüssige“
Geschwindigkeit gen Osten, die für den Beobachter auf der Erde den Stein nach
Osten fallen läßt, und nicht ⊥ nach unten. Beim Wurf nach oben ist es umgekehrt
(siehe Aufgabe 2.1).
Ostablenkung eines fallenden Körpers
Beispiel 2.1
Als Beispiel berechnen wir die Ostablenkung eines Körpers, der
am Äquator aus einer Höhe von 400 m herunterfällt.
Die Ostablenkung eines aus der Höhe h fallenden Körpers ist
gegeben durch
2ω sin λ h 2h
y(h) =
.
3
g
Die Höhe h = 400 m und die Winkelgeschwindigkeit der Erde
ω = 7,27·10−5 rad · s−1 sind bekannt, ebenso die Fallbeschleunigung.
Die Werte in y(h) eingesetzt:
2 · 7,27 · 400 rad · m
y(h) =
3 · 105 s
2 · 400 s2
,
9,81
v1=ω(R+h)
v2=ω . R
ω
Turm der Höhe h
h
ω
R
M
Projektion
der Meridiane
ω
Schnitt durch die Erde am Äquator in
Draufsicht (vom Nordpol aus). M ist der
Erdmittelpunkt, ω die Winkelgeschwindigkeit.
14
I Newtonsche Mechanik in bewegten Koordinatensystemen
wobei rad eine dimensionslose Größe ist. Als Ergebnis ergibt sich
y(h) = 17,6 cm.
Der Körper wird also um 17,6 cm nach Osten abgelenkt.
Beispiel 2.1
Ostablenkung eines geworfenen Körpers
Aufgabe 2.1
Ein Gegenstand wird mit der Anfangsgeschwindigkeit v0 nach oben geworfen. Gesucht ist
die Ostablenkung.
Lösung:
Legen wir das Koordinatensystem in den Ausgangspunkt der Bewegung, so lauten die
Anfangsbedingungen:
z(t = 0) = 0,
ż(t = 0) = v0 ,
y(t = 0) = 0,
ẏ(t = 0) = 0,
x(t = 0) = 0,
ẋ(t = 0) = 0.
Die Auslenkung nach Osten wird durch y, die nach Süden durch x angegeben, und z = 0
bedeutet die Höhe h über der Erdoberfläche.
Für die Bewegung in y-Richtung wurde gezeigt (vgl. Gleichung (2.4)):
dy
= −2ω (x cos λ + z sin λ ) + C2 .
dt
Wegen ihrer Kleinheit kann die Bewegung des Körpers in x-Richtung vernachlässigt werden,
x ≈ 0. Vernachlässigt man weiter die Wirkung der Ostablenkung auf z, so kommt man gleich
zur Gleichung:
g
z = − t 2 + v0 t,
2
die bereits von der Behandlung des freien Falles ohne Berücksichtigung der Erdrotation
bekannt ist. Einsetzen in obige Differentialgleichung ergibt:
g
dy
= 2ω
t 2 − v0 t sin λ ,
dt
2
g
v t 3 − 0 t 2 sin λ .
y(t) = 2ω
6
2
Am Umkehrpunkt (nach der Steigzeit T = v0 /g) beträgt die Ablenkung
v3
2
y(T ) = − ω sin λ 02 .
3
g
Sie zeigt, wie erwartet, nach Westen.
Aufgabe 2.1
V
Lagrange-Gleichungen
14
Generalisierte Koordinaten
Die Bewegung der in der Mechanik betrachteten Körper erfolgt in vielen Fällen
nicht frei, sondern ist gewissen Zwangsbedingungen unterworfen. Die Zwangsbedingungen können verschiedene Formen annehmen. So kann ein Massenpunkt
auf einer Raumkurve oder einer Fläche festgehalten werden. Beim starren Körper
geben die Zwangsbedingungen an, daß die Abstände zwischen den einzelnen
Punkten konstant sind. Betrachten wir Gasmoleküle in einem Gefäß, so geben
die Zwangsbedingungen an, daß die Moleküle nicht die Gefäßwand durchdringen
können. Da die Zwangsbedingungen für die Lösung eines mechanischen Problems
wichtig sind, nimmt man eine Klassifizierung mechanischer Systeme nach der Art
der Zwangsbedingungen vor.
Wir bezeichnen ein System als holonom, wenn die Zwangsbedingungen durch
Gleichungen der Form
fk (r1 ,r2 , . . . ,t) = 0,
k = 1, 2, . . . , s
(14.1)
dargestellt werden können. Diese Form der Zwangsbedingungen ist von Bedeutung, weil sie benutzt werden kann, um abhängige Koordinaten zu eliminieren.
Für ein Pendel der Länge l lautet die Gleichung (14.1) x2 + y2 − l 2 = 0, wenn wir
das Koordinatensystem in den Aufhängepunkt legen. Mit dieser Gleichung kann
die Koordinate x und y ausgedrückt werden.
Ein weiteres einfaches Beispiel für holonome Zwangsbedingungen haben wir
schon beim starren Körper kennengelernt, nämlich die Konstanz der Abstände
zwischen zwei Punkten: (ri −r j )2 −Ci2j = 0. Dort dienten diese Zwangsbedingungen
dazu, die 3N Freiheitsgrade eines Systems von N Massenpunkten auf die sechs
Freiheitsgrade des starren Körpers zu reduzieren.
Alle Zwangsbedingungen, die nicht in der Form (14.1) dargestellt werden können,
heißen nichtholonom. Dies sind Bedingungen, die nicht in einer geschlossenen
Form oder durch Ungleichungen beschrieben werden. Ein Beispiel hierfür sind in
einer Kugel vom Radius R eingeschlossene Gasmoleküle. Ihre Koordinaten müssen
den Bedingungen ri ≤ R genügen.
Eine weitere Unterscheidung der Zwangsbedingungen wird nach ihrer Zeitabhängigkeit vorgenommen. Ist die Zwangsbedingung eine explizite Funktion der Zeit,
238
V Lagrange-Gleichungen
so heißt sie rheonom, tritt die Zeit nicht explizit auf, nennen wir die Zwangsbedingung skleronom. Eine rheonome Zwangsbedingung liegt vor, wenn sich ein
Massenpunkt auf einer bewegten Raumkurve bewegt oder Gasmoleküle in einer
Kugel mit zeitlich veränderlichem Radius eingeschlossen sind.
In gewissen Fällen können die Zwangsbedingungen auch in differentieller Form
gegeben sein, zum Beispiel, wenn eine Bedingung für Geschwindigkeiten vorliegt,
wie beim Abrollen eines Rades. Die Zwangsbedingungen haben dann die Form
N
∑ ak (x1 , x2 , . . . , xN ) dxk = 0,
(14.2)
k
wobei die xk für die verschiedenen Koordinaten stehen und die ak Funktionen dieser
Koordinaten sind. Wir müssen nun zwei Fälle unterscheiden.
Wenn die Gleichung (14.2) das vollständige Differential einer Funktion U darstellt,
können wir sie sofort integrieren und erhalten eine Gleichung von der Form
der Gleichung (14.1). In diesem Fall sind die Zwangsbedingungen holonom. Ist
Gleichung (14.2) kein vollständiges Differential, so kann sie erst integriert werden,
wenn das vollständige Problem schon gelöst ist. Die Gleichung (14.2) eignet sich
dann nicht, um abhängige Koordinaten zu eliminieren, sie ist nichtholonom.
Aus der Forderung, daß Gleichung (14.2) ein vollständiges Differential sein soll,
können wir ein Kriterium für die Holonomität differentieller Zwangsbedingungen
angeben. Es muß dann gelten
∑ ak dxk =
dU
mit
k
ak =
∂U
∂xk
.
Daraus folgt, daß
∂ak
∂xi
=
∂2U
∂xi ∂xk
=
∂ai
∂xk
.
Die Gleichung (14.2) stellt also eine holonome Zwangsbedingung dar, wenn
zwischen den Koeffizienten die Integrabilitätsbedingungen
∂ak
∂xi
=
∂ai
∂xk
gelten. Diese bedeuten nichts weiter, als daß der „Vektor“ a = {a1 , a2 , . . . , aN }
rotationsfrei (wirbelfrei) sein muß. Im Band 1 der Vorlesungen, Kapitel 13 (siehe
besonders Beispiel 13.1) haben wir dies für den 3 dimensionalen Fall ausführlich
besprochen. Im N-dimensionalen Raum ist es genauso.
Zur Klassifizierung eines mechanischen Systems geben wir noch zusätzlich an, ob
es sich um ein konservatives System handelt oder nicht.
14 Generalisierte Koordinaten
239
Kleine Kugel rollt auf großer Kugel
Beispiel 14.1
Eine Kugel rollt im Schwerefeld reibungslos vom oberen Pol
einer größeren Kugel. Das System ist konservativ. Da mit dem
Ablösen der Kugel die Zwangsbedingungen sich völlig ändern
und sich nicht in der geschlossenen Form der Gleichung (14.1)
darstellen lassen, ist das System nichtholonom. Weil die Zeit
nicht explizit auftritt, ist das System skleronom.
Kleine Kugel rollt auf großer
Kugel.
Beispiel 14.1
Ein Körper rutscht auf schiefer Ebene
Beispiel 14.2
Ein Körper rutscht mit Reibung auf einer schiefen Ebene herunter. Der Neigungswinkel der Ebene ist zeitlich veränderlich.
Zwischen den Koordinaten und dem Neigungswinkel besteht
die Beziehung
y
− tan ω t = 0.
x
Die Zeit tritt also explizit in der Zwangsbedingung auf. Das
System ist holonom und rheonom. Da Reibung vorliegt, ist es
außerdem nicht konservativ.
y
ωt
x
Ein Körper rutscht eine schiefe Ebene
herunter.
Beispiel 14.2
Rad rollt auf Ebene
Beispiel 14.3
Als ein Beispiel für differentielle Zwangsbedingungen betrachten wir ein Rad, das (ohne zu
rutschen) auf einer Ebene rollt. Das Rad kann nicht umfallen. Der Radius des Rades ist a.
z
ψ
ψ
ϕ
x
v
yM
y
xM
Ein Rad rollt auf einer Ebene (zwei
Ansichten).
Zur Berechnung benutzen wir die Koordinaten xM , yM des Mittelpunktes, den Winkel ϕ ,
der die Drehung angibt, und den Winkel ψ , der die Orientierung der Radebene zur y-Achse
angibt.
Zwischen der Geschwindigkeit v des Radmittelpunktes und der Drehgeschwindigkeit besteht die Beziehung (Rollbedingung):
v = aϕ̇ .
240
V Lagrange-Gleichungen
Die Komponenten der Geschwindigkeit sind
ẋM = −v sin ψ ,
ẏM = v cos ψ .
Setzen wir v ein, so erhalten wir
dxM + a sin ψ · dϕ = 0,
dyM − a cos ψ · dϕ = 0,
also Zwangsbedingungen der Art von Gleichung (14.2).
Da der Winkel ψ erst nach Lösung des Problems bekannt ist, sind die Gleichungen nicht
integrabel. Das Problem ist also nichtholonom, skleronom und konservativ.
Beispiel 14.3
Bewegt sich ein Körper auf einer durch Zwangsbedingungen vorgegebenen (oder
eingeschränkten) Bahn, so treten Zwangskräfte auf, die ihn auf dieser Bahn halten.
Derartige Zwangskräfte sind Auflagekräfte, Lagerkräfte(-momente), Fadenspannungen usw. Falls man sich nicht speziell für die Belastung eines Fadens oder
Lagers interessiert, versucht man die Aufgabe so zu formulieren, daß die Zwangsbedingung (und damit die Zwangskraft) in den zu lösenden Gleichungen nicht
mehr auftritt. Bei den bisher behandelten Problemen haben wir dieses Verfahren
schon unausgesprochen praktiziert. Ein einfaches Beispiel ist das ebene Pendel.
Statt der Formulierung in kartesischen Koordinaten, bei der die Zwangsbedingung
x2 + y2 = l 2 explizit berücksichtigt werden muß, benutzen wir Polarkoordinaten
(r, ϕ ).
Die Konstanz der Pendellänge bedeutet, daß die r-Koordinate konstant bleibt
und wir die Bewegung des Pendels mit der Winkelkoordinate allein vollständig
beschreiben können. Dieses Vorgehen, die Transformation auf dem Problem angepaßte Koordinaten, wollen wir jetzt etwas allgemeiner fassen.
Betrachten wir ein System von n Massenpunkten, so wird es durch 3n Koordinaten r1 ,r2 , . . . ,rn beschrieben. Die Zahl der Freiheitsgrade ist ebenfalls 3n.
Liegen s Zwangsbedingungen vor, so wird die Zahl der Freiheitsgrade auf 3n − s
eingeschränkt. In dem Satz von ursprünglich 3n unabhängigen Koordinaten sind
jetzt s abhängige Koordinaten enthalten. Nun wird die Bedeutung der holonomen
Zwangsbedingungen klar. Werden nämlich die Zwangsbedingungen durch Gleichungen der Form (14.1) ausgedrückt, so lassen sich die abhängigen Koordinaten
eliminieren. Wir können auf 3n − s Koordinaten q1 , q2 , . . . , q3n−s transformieren,
die die Zwangsbedingungen implizit enthalten und voneinander unabhängig sind.
Die alten Koordinatenri werden durch die neuen Koordinaten q j mittels Gleichungen der Form
r1 =r1 (q1 , q2 , . . . , q3n−s , t),
r2 =r2 (q1 , q2 , . . . , q3n−s , t),
..
.
rn =rn (q1 , q2 , . . . , q3n−s , t)
(14.3)
14 Generalisierte Koordinaten
241
ausgedrückt. Diese Koordinaten qi , die jetzt als frei betrachtet werden können,
heißen generalisierte (oder verallgemeinerte) Koordinaten. In den meisten praktischen Fällen, die wir betrachten, wird die Wahl der generalisierten Koordinaten
schon durch die Problemstellung nahegelegt, und die Transformationsgleichungen
(14.3) müssen nicht explizit aufgestellt werden. Die Benutzung von generalisierten
Koordinaten ist auch bei Problemen ohne Zwangsbedingungen nützlich. So läßt
sich ein Zentralkraftproblem einfacher und vollständig durch die Koordinaten
(r, ϑ , ϕ ) statt durch (x, y, z) beschreiben.
Als generalisierte Koordinaten dienen in der Regel Längen und Winkel. Wie wir
später sehen werden, können aber auch Impulse und Energien usw. als generalisierte Koordinaten verwendet werden.
Generalisierte Koordinaten
Beispiel 14.4
Eine Ellipse sei in der x-y-Ebene gegeben. Ein Teilchen, das
sich auf der Ellipse bewegt, hat die Koordinaten (x, y).
y
Die kartesischen Koordinaten lassen sich durch den Parameter
ϕ ausdrücken:
y = b sin ϕ ,
x = a cos ϕ .
m
b
ϕ
x
a
Es ist also möglich, die Bewegung des Teilchens vollständig
durch den Winkel ϕ (die generalisierte Koordinate ϕ ) zu beschreiben.
Ellipse: y = b sin ϕ ,x = a cos ϕ .
Beispiel 14.4
Zylinder rollt auf schiefer Ebene
Beispiel 14.5
Die Position eines Zylinders auf einer schiefen Ebene ist durch
den Abstand l vom Nullpunkt zum Massenschwerpunkt und den
Winkel ϕ der Rotation des Zylinders um seine Achse vollständig gegeben.
Rutscht der Zylinder auf der Ebene, so sind beide generalisierten Koordinaten von Bedeutung.
ϕ
l
Zylinder rollt auf schiefer Ebene.
Wenn der Zylinder nicht rutscht, ist l über eine Rollbedingung
von ϕ abhängig; dann ist nur eine der beiden generalisierten
Koordinaten zur vollständigen Beschreibung der Bewegung des
Zylinders notwendig.
Beispiel 14.5
242
V Lagrange-Gleichungen
Klassifizierung der Zwangsbedingungen
Aufgabe 14.1
Klassifizieren Sie die folgenden Systeme nach den Gesichtspunkten: skleronom oder rheonom, holonom oder nichtholonom, konservativ oder nichtkonservativ:
a)
b)
c)
d)
eine Kugel, die auf einer festen Kugel reibungsfrei hinunterrollt;
ein Zylinder, der eine rauhe, schiefe Ebene (Neigungswinkel α ) herabrollt;
ein Teilchen, das auf der rauhen Innenfläche eines Rotationsparaboloides hinuntergleitet;
ein Teilchen, das sich längs eines sehr langen Stabes reibungslos bewegt. Der Stab rotiert
mit der Winkelgeschwindigkeit ω in der vertikalen Ebene um eine horizontale Achse.
Lösung:
a) Skleronom, da die Zwangsbedingung keine explizite Zeitfunktion ist. Nichtholonom, da
die rollende Kugel die feste Kugel verläßt. Konservativ, da die Schwerkraft aus einem
Potential hergeleitet werden kann.
b) Skleronom, holonom, nichtkonservativ: Die Gleichung der Zwangsbedingung stellt entweder eine Linie oder Fläche dar. Weil die Oberfläche rauh ist, gibt es Reibung. Daher
ist dieses System nichtkonservativ.
c) Skleronom, holonom, aber nichtkonservativ, da die Reibungskraft nicht aus einem Potential folgt!
d) Rheonom: Zwangsbedingung ist explizite Zeitfunktion. Holonom: Die Gleichung der
Zwangsbedingung ist eine Gerade, die die Zeit explizit enthält; konservativ.
Aufgabe 14.1
Größen der Mechanik in generalisierten Koordinaten
Die Geschwindigkeit des i-ten Massenpunktes läßt sich entsprechend der Tranformationsgleichung
ri = ri (q1 , . . . , qν , t)
als
r˙i =
∂ri dq1
∂q1 dt
+ ···+
∂ri dqν
∂qν dt
+
∂ri
∂t
darstellen.
Im skleronomen Fall fällt der letzte Summand weg. In anderer Form können wir
auch schreiben:
f
r˙i = ∑
α
∂ri
∂qα
q̇α +
∂ri
∂t
,
wobei
q̇α =
dqα
dt
(14.4)
ist und q̇α als generalisierte Geschwindigkeit bezeichnet wird. Wir beschränken
uns im folgenden auf die x-Komponente. Auch betrachten wir nur den skleronomen
Fall und schreiben für die x-Komponente von Gleichung (14.4):
∂xi
ẋi = ∑
q̇α .
(14.5)
α ∂qα
14 Generalisierte Koordinaten
243
Differenzieren wir (14.5) noch einmal nach der Zeit, so erhalten wir für die
kartesischen Komponenten der Beschleunigung:
d ∂xi
∂xi
ẍi = ∑
q̇α +
q̈α .
∂qα
∂qα
α dt
Die totale Ableitung im ersten Term schreiben wir wie üblich
∂2 xi
d ∂xi
=∑
q̇β .
dt ∂qα
β ∂qβ ∂qα
Der griechische Index, über den jetzt zusätzlich zu summieren ist, wird hier mit
dem Buchstaben β bezeichnet, um eine Verwechslung mit dem Summationsindex
α zu vermeiden. Somit gilt:
ẍi =
∂2 xi
∂xi
∑ ∂qβ ∂qα q̇β q̇α + ∑ ∂qα q̈α .
α ,β
α
Der erste Term enthält eine doppelte Summation über α und β .
Ein System habe die generalisierten Koordinaten q1 , . . . , q f , die nun einen Zuwachs von dq1 , . . . , dq f erfahren sollen. Wir wollen die dabei geleistete Arbeit
bestimmen. Für eine infinitesimale Verschiebung des i-ten Teilchens gilt:
f
dri =
∑
α =1
∂ri
∂qα
dqα .
(14.6)
Daraus erhalten wir die verrichtete Arbeit als
n
n
f
i=1
i=1
α =1
dW =
∂ri
∑ Fi · dri = ∑ ∑ Fi · ∂qα
dqα = ∑ Qα dqα ,
α
wobei
Qα = ∑ Fi ·
i
∂ri
∂qα
(14.7)
ist.
Wir nennen Qα die verallgemeinerte (generalisierte) Kraft. Da die generalisierte
Koordinate nicht die Dimension einer Länge zu haben braucht, muß Qα nicht
die Dimension einer Kraft haben. Das Produkt Qα qα hat allerdings immer die
Dimension einer Arbeit.
In konservativen Systemen, wenn also W nicht von der Zeit abhängt, hat man
∂W
dW = ∑
dqα
und
dW = ∑ Qα dqα .
α ∂qα
α
Dann muß gelten:
∂W
dW − dW = 0 = ∑ Qα −
dqα = 0.
∂qα
α
244
V Lagrange-Gleichungen
Da die qα generalisierte Koordinaten sind, sind sie voneinander unabhängig, und
daher folgt nun, daß der Ausdruck (Qα − ∂W /∂qα ) = 0 sein muß, um die Gleichung
∂W
Q
−
∑ α ∂qα dqα = 0
α
zu erfüllen.
Dies ist aber nur der Fall, wenn
∂W
Qα =
∂qα
ist. Die Komponenten der verallgemeinerten Kraft ergeben sich also als Ableitung
der Arbeit nach der betreffenden verallgemeinerten Koordinate.
15
D’Alembertsches Prinzip und Herleitung
der Lagrange-Gleichungen
Virtuelle Verrückungen
D’Alembert
(1717–1783)
→ unten
Unter einer virtuellen Verrückung δr verstehen wir eine mit den Zwangsbedingungen vereinbare infinitesimale Auslenkung des Systems. Im Gegensatz zu einer
reellen infinitesimalen Auslenkung dr sollen sich bei einer virtuellen Verrückung
die Kräfte und Zwangskräfte, denen das System unterliegt, nicht ändern. Eine
virtuelle Verrückung wird mit dem Symbol δ gekennzeichnet, eine reelle mit d.
Mathematisch gehen wir mit dem Element δ wie mit einem Differential um, z. B.
ist
δ sin x
δ sin x =
δ x = (cos x)δ x
usw.
δx
Wir betrachten ein System von Massenpunkten im Gleichgewicht. Dann verFi auf jeden einzelnen Massenpunkt; also Fi = 0. Als
schwindet die Gesamtkraft virtuelle Arbeit bezeichnen wir das Produkt aus Kraft und virtueller Verrückung
Fi · δri . Da die Kraft im Gleichgewicht für jeden einzelnen Massenpunkt ver-
J EAN LE ROND D’A LEMBERT
D’Alembert, Jean le Rond, D’, geb. 16. oder 17.11.1717 in Paris als Sohn eines Generals, gest. 29.10.1783
Paris. – D’Alembert wurde von der Mutter ausgesetzt, bei der Kirche Jean le Rond gefunden und von der
Familie eines Glasers aufgezogen. Später, durch Zuwendungen unterstüzt, wurde er seinem Stande gemäß
erzogen. Er studierte am Collège des Quatre Nations und wurde 1741 Mitglied der Académie des sciences. –
In der Mechanik ist das D’Alembertsche Prinzip nach ihm benannt, außerdem arbeitete er über die Theorie
der analytischen Funktionen (1746), über partielle Differentialgleichungen (1747) und über Grundlagen der
Algebra. D’Alembert ist der Verfasser der mathematischen Artikel der Encyclopédie.
15 D’Alembertsches Prinzip und Herleitung der Lagrange-Gleichungen
245
schwindet, ist auch die Summe über die an den einzelnen Massenpunkten geleistete
virtuelle Arbeit gleich Null:
∑ Fi · δri = 0.
(15.1)
i
Die Kraft Fi wird jetzt aufgeteilt in Zwangskraft Fiz und die einwirkende (angewandte) Kraft Fia :
∑(Fia + Fiz ) · δri = 0.
(15.2)
i
Wir beschränken uns jetzt auf solche Systeme, in denen die von den Zwangskräften
verrichtete Arbeit verschwindet. In vielen Fällen (ausgenommen z. B. solche mit
Reibung) steht die Zwangskraft senkrecht auf der Bewegungsrichtung, und das
Produkt F z · δr verschwindet. Ist ein Massenpunkt zum Beispiel gezwungen, sich
auf einer vorgegebenen Raumkurve zu bewegen, so ist seine Bewegungsrichtung
immer tangential zur Kurve, die Zwangskraft normal. Es gibt aber auch Beispiele
dafür, daß die einzelnen Zwangskräfte zwar Arbeit verrichten, jedoch die Summe
der Arbeiten aller Zwangskräfte verschwindet; also:
∑ Fiz · δri = 0.
i
Die Fadenspannungen zweier über einer Rolle hängenden Massen liefern einen
solchen Fall. Wir verweisen dazu auf Beispiel 15.1. Dies ist die eigentliche, richtige
Erkenntnis, die im D’Alembertschen Prinzip steckt: Die Zwangskräfte leisten
insgesamt keine Arbeit. Es ist also immer
∑ Fiz · δri = 0.
i
Das ist schlechtweg das Charakteristikum der Zwangskräfte. Man kann zwar diese
Voraussetzung, wie wir es gerade am Beispiel der Fadenspannungen zwischen
zwei Massen gesehen haben, auf das Newtonsche Axiom „Aktion gleich Reaktion“
zurückführen; sie folgt aber im allgemeinen nicht aus den Newtonschen Axiomen
allein. Die Annahme, daß die gesamte virtuelle Arbeit der Zwangskräfte verschwindet, kann zunächst als neues Postulat angesehen werden. Sie berücksichtigt
Situationen nicht frei beweglicher Massenpunkte und kann, wie wir gleich sehen
werden (siehe Gleichung (15.5)), durch die auf das System wirkenden eingeprägten
Kräfte ausgedrückt werden. Dadurch fällt die Zwangslage aus Gleichung (15.2)
heraus, und es gilt
∑ Fia · δri = 0.
(15.3)
i
Während in Gleichung (15.1) jeder Summand für sich Null ist, verschwindet
jetzt nur die Summe als Ganzes. Die Aussage von Gleichung (15.3) wird als
Prinzip der virtuellen Arbeit bezeichnet und gibt an, daß ein System nur dann im
Gleichgewicht ist, wenn die gesamte virtuelle Arbeit der angewandten (äußeren)
Kräfte verschwindet. Im nächsten Kapitel (Gleichungen (15.8) und (15.9)) wird
246
V Lagrange-Gleichungen
das Prinzip der virtuellen Arbeit (die gesamte virtuelle Arbeit verschwindet) aus
dem Lagrange-Formalismus heraus begründet.
Die Wirkung der Zwangskräfte läßt sich für holonome Zwangsbedingungen durch
die folgenden Überlegungen verdeutlichen: Betrachten wir die i-te Zwangsbedingung in der Form
gi (r1 ,r2 , . . . ,rN ,t) = 0,
dann muß die Änderung von gi bezüglich einer Änderung des Ortsvektors r j ein
Maß für die Zwangskraft Fjiz auf das j-te Teilchen auf Grund der Zwangsbedingung
gi (r1 ,r2 , . . . ,rN , t) = 0 sein. Wir können also schreiben
Fjiz = λ i ∂gi (r1 ,r2 , . . . ,rN ,t) = λ i∇ j gi (r1 , . . . ,t).
∂r j
Hierbei ist λ i ein unbekannter Faktor, weil ja die Zwangsbedingungen
gi (r1 ,r2 , . . . ,rN , t) = 0 bis auf einen nichtverschwindenden Faktor bekannt sind.
Die gesamte Zwangskraft auf das j-te Teilchen ist dann die Summe über alle von
den einzelnen k Zwangsbedingungen herrührenden Zwangskräfte, also
k
k
Fjz = ∑ Fjiz = ∑ λ i ∂gi (r1 , . . . ,rN , t) .
∂r j
i=1
i=1
Die von allen Zwangskräften geleistete virtuelle Arbeit ist dann
N
δW =
k
N
∂gi
∑ Fjz · δr j = ∑ ∑ λ i ∂r j (r1 , . . . ,rN , t) · δr j
j=1
i=1 j=1
k
= ∑ λ i δ gi (r1 , . . . ,rN , t),
i=1
wobei
N
δ gi (r1 , . . . ,rN , t) =
∂gi
∑ ∂r j · δr j
j=1
ist. Das ist gerade die Änderung von gi auf Grund der virtuellen Verrückungen
δr j . Die virtuellen Verrückungen δr j sollen mit den Zwangsbedingungen nach
Voraussetzung verträglich sein. Das bedeutet
gi (r1 + δr1 , r2 + δr2 , . . . , rN + δrN , t) = 0
oder
gi (r1 ,r2 , . . . ,rN , t) + ∑
j
∂gi
∂r j
· δr j
= gi (r1 ,r2 , . . . ,rN , t) + δ gi (r1 ,r2 , . . . ,rN , t) = 0.
Weil gi (r1 ,r2 , . . . ,rN , t) = 0, muß gerade
δ gi (r1 , . . . ,rN , t) = 0
15 D’Alembertsches Prinzip und Herleitung der Lagrange-Gleichungen
247
sein. Daraus folgt sofort
Fiz · δri = 0
(15.4a)
und daher auch
N
δW =
∑ Fjz · δr j = 0.
(15.4b)
j=1
Für holonome Zwangsbedingungen stehen demnach die Zwangskräfte senkrecht
auf den mit den Zwangsbedingungen verträglichen Verrückungen, und die virtuelle
Arbeit der einzelnen Zwangskräfte verschwindet. Im Kapitel 16, Gleichungen
(15.8) und (15.9), werden wir von einem sehr allgemeinen Standpunkt aus verstehen, daß im allgemeinen Fall (also den Fall nichtholonomer Zwangsbedingungen
einschließend) die Summe der virtuellen Arbeit aller Zwangskräfte verschwinden
muß. Demnach gilt immer ∑i Fiz · δri = 0, während Fiz · δri = 0 nur in speziellen
(holonomen) Fällen gilt.
Mit dem Prinzip der virtuellen Arbeit können zunächst nur Probleme der Statik
behandelt werden. Indem d’Alembert die Trägheitskraft nach dem Newtonschen
Axiom
Fi = p˙i
(15.5)
einführte, gelang es ihm, das Prinzip der virtuellen Arbeit auch auf Aufgabenstellungen der Dynamik anzuwenden. Wir verfahren analog zur Herleitung des Prinzips der virtuellen Arbeit. Wegen Gleichung (15.4) verschwindet in der Summe
(
Fi − p˙i ) · δri = 0
(15.6a)
∑
i
Fi wieder in angewandte Kraft
jeder einzelne Summand. Wenn wir die Gesamtkraft Fia und Zwangskraft Fiz aufteilen, so folgt mit der gleichen Beschränkung wie oben
die Gleichung
∑(Fia − p˙i ) · δri = 0,
(15.6b)
i
bei der die einzelnen Summanden von Null verschieden sein können; nur die
Summe in (15.6b) verschwindet. Diese Gleichung drückt das D’Alembertsche
Prinzip aus.
Zwei Massen an konzentrischen Rollen
Beispiel 15.1
An zwei konzentrisch befestigten Rollen mit den Radien R1 und R2 hängen zwei Massen
m1 und m2 . Die Masse der Rollen ist zu vernachlässigen. Mit dem Prinzip der virtuellen
Arbeit soll die Gleichgewichtsbedingung bestimmt werden.
Für das vorliegende konservative System (in dem keine Reibung auftritt) verschwindet die
von den Zwangskräften insgesamt verrichtete Arbeit, d. h.
∑ Fiz · δri = 0.
i
248
V Lagrange-Gleichungen
Im vorliegenden Beispiel werden die Zwangskräfte durch die
Fadenspannungen F1z und F2z realisiert.
ϕ
R1
R2
Das Verschwinden von ∑i Fiz · δri im Gleichgewichtsfall ist
gleichbedeutend mit der Gleichheit der durch die Fadenspannungen F1z , F2z bezüglich der Radien R1 , R2 ausgeübten Drehmomente:
z
F2
z
F1
D1 = R1 F1z = D2 = R2 F2z .
m2
m1
z1
Mit Hilfe der Zwangsbedingung folgt nämlich mit δ z1 = R1 δ ϕ ,
z2
δ z2 = −R2 δ ϕ :
Zwei Massen an konzentrischen
Rollen. Die Fadenspannungen
F1z und F2z sind gleichgerichtet,
haben aber verschiedenen
Betrag.
F1z δ z1 + F2z δ z2 = (F1z R1 − F2z R2 )δ ϕ
= (D1 − D2 )δ ϕ = 0.
Im Falle gleicher Radien (R1 = R2 ) sind die Fadenspannungen
gleich.
Aus
∑ Fia · δri = 0
i
folgt
m1 gδ z1 + m2 gδ z2 = 0.
Die Verrückungen sind über die Zwangsbedingung miteinander verknüpft; es gilt
δ z2 = −R2 δ ϕ .
δ z1 = R1 δ ϕ ,
Somit ergibt sich
(m1 R1 − m2 R2 )δ ϕ = 0
oder
m1 R1 = m2 R2
als Gleichgewichtsbedingung.
Beispiel 15.1
Zwei durch Seil verbundene Massen auf schiefer Ebene
Beispiel 15.2
l1
m1
α
m 1g
l2
β m2
m 2g
Zwei durch Seil verbundene Massen auf
schiefer Ebene.
In der Anordnung, die die Skizze zeigt, bewegen sich zwei
durch ein Seil verbundene Massen reibungslos. Mit dem
D’Alembertschen Prinzip soll die Bewegungsgleichung gefunden werden. Für die zwei Massen lautet das D’Alembertsche
Prinzip:
(
F a − p˙ ) · δl + (
F a − p˙ ) · δl = 0.
(1)
1
1
1
2
2
2
Die Länge des Seils ist konstant (Zwangsbedingung):
l1 + l2 = l.
15 D’Alembertsches Prinzip und Herleitung der Lagrange-Gleichungen
249
Daraus folgt
δ l1 = −δ l2
und
Die Trägheitskräfte sind:
¨
p˙1 = m1l1
und
l¨1 = −l¨2 .
¨
p˙2 = m2l2 .
Setzen wir alles in Gleichung (1) ein und berücksichtigen, daß die Beschleunigungen
parallel zu den Verrückungen sind, so folgt
(m1 g sin α − m1 l¨1 )δ l1 + (m2 g sin β − m2 l¨2 )δ l2 = 0,
(m1 g sin α − m1 l¨1 − m2 g sin β − m2 l¨2 )δ l1
= 0,
oder
m sin α − m2 sin β
l¨1 = 1
g.
m1 + m2
Beispiel 15.2
Gleichgewichtsbedingung einer Klappbrücke
Beispiel 15.3
Finden Sie mit Hilfe des D’Alembertschen Prinzips die Gleichgewichtsbedingung für
y
a) einen Hebel der Länge l1 , auf dem im Abstand l2 vom
Aufliegepunkt eine Masse m liegt und an dessen Ende eine
Kraft F1 senkrecht nach oben angreift;
b) die Klappbrücke der Abbildung, auf der die Kräfte G und Q
wirken.
m
l2
l1
F1
F 2 = − mge y
ϕ
Hebel mit Masse m und Kraft Fl .
Lösung:
a) Das D’Alembertsche Prinzip liefert:
∑ Fν · δrν
= 0.
ν
Es sind
F1 = F1ey ,
F2 = −mgey
und
r1 = l1 cos ϕex + l1 sin ϕey ,
l
l1
r2 = l2 cos ϕex + l2 sin ϕey = 2r1 .
Weiterhin gilt:
δr1 = (−l1 sin ϕex + l1 cos ϕey )δ ϕ
und
Damit folgt
2
∑ Fν · δrν
ν =1
= (F1 l1 cos ϕ − mgl2 cos ϕ )δ ϕ = 0
δr2 =
l2
r .
l1 1
x
250
V Lagrange-Gleichungen
d. h., die Gleichgewichtsbedingung lautet:
l2
π 3π
für ϕ = , , . . . .
F1 = mg
l1
2 2
b)
y
b
a
d
c
r2
b
ϕ
1
r1
Q
ϕ
Ursprung
2
G=F z
x
Geometrie der in der Aufgabe beschriebenen Klappbrücke.
Die Kräfte in den Punkten 1 und 2 sind
F2 = −Gey ,
F1 = −Qey .
Es sind weiter
r1 = −a cos ϕex + (d − a sin ϕ )ey
und
r2 = (b + c) cos ϕex + (b + c) sin ϕey ,
d. h.
δr1 = (a sin ϕex − a cos ϕey )δ ϕ
und
δr2 = (−(b + c) sin ϕex + (b + c) cos ϕey )δ ϕ .
Das D’Alembertsche Prinzip lautet:
2
0=
∑ Fν · δrν
= (Qa cos ϕ − G(b + c) cos ϕ )δ ϕ
ν =1
= [Qa − G(b + c)] cos ϕ dϕ .
Die Gleichgewichtsbedingung
b+c
Q=G
a
ist also vom Winkel ϕ unabhängig!
Beispiel 15.3
Wie auch die beiden Beispiele 15.1 und 15.2 zeigen, liegt der Nachteil des Prinzips
der virtuellen Verrückungen darin, daß immer noch über die Zwangsbedingungen
abhängige Verrückungen eliminiert werden müssen, bevor eine Bewegungsgleichung gewonnen werden kann. Wir führen deshalb generalisierte Koordinaten qi
VII Nichtlineare Dynamik
Die Behandlung der Mechanik in diesen Vorlesungen wäre nicht komplett, wenn
wir nicht wenigstens kurz auch auf ein Themengebiet eingingen, das sich gerade in
jüngerer Zeit großer Aufmerksamkeit erfreut, nämlich die Nichtlineare Dynamik
und darin als Spezialgebiet die „Chaostheorie“.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß geordnete und regelmäßige Bewegungen,
wie sie etwa beim harmonischen Oszillator, dem Pendel oder dem Keplerproblem
der Planetenbewegung auftreten, in der Natur eher die Ausnahme als die Regel
sind. Erratischen und häufig bei aller Anstrengung im Detail nicht vorhersehbaren Phänomenen begegnet man häufig (ein besonders markantes Beispiel ist das
Auftreten von Turbulenz bei Flüssigkeitsströmungen).
Gegen Ende des 19. Jahrunderts hat der „Vater der nichtlinearen Dynamik“
Henri Poincaré erstmals darauf hingewiesen, daß irreguläres Verhalten in der
Mechanik durchaus nichts Ungewöhnliches ist, sobald das untersuchte System
eine nichtlineare Wechselwirkung aufweist. Damit verbunden ist die zunächst
verblüffende Erkenntnis, daß auch sehr einfache Systeme eine höchst komplexe
Dynamik aufweisen können. Eine simple deterministische Differentialgleichung
mit Nichtlinearitäten kann Lösungen besitzen, deren Verhalten sich über längere
Zeiträume hinweg ganz unregelmäßig entwickelt und praktisch nicht vorhersagen
läßt. Dies ist eine der charakteristischen Eigenschaften chaotischer Systeme. Die
Bedeutung dieses Begriffs, der im Rahmen der nichtlinearen Dynamik präzise
J.-H. Poincaré
(1854–1912)
→ unten
J ULES -H ENRI P OINCARÉ
Poincaré, Jules-Henri, französischer Mathematiker und Physiker, geb. 29.4.1854 in Nancy, gest. 17.7.1912
in Paris. Poincaré studierte an der École Polytechnique und der École des Mines und war Schüler von
Ch. Hermite. Bald nach der Promotion erhielt er 1881 einen Lehrstuhl an der Sorbonne, den er bis zu
seinem Lebensende einnahm. In der reinen Mathematik machte er sich einen Namen u. a. als Begründer
der algebraischen Topologie und der Theorie der analytischen Funktionen mehrerer komplexer Variablen.
Weitere wesentliche Arbeitsgebiete waren die algebraische Geometrie und die Zahlentheorie. Poincaré
befaßte sich aber auch mit Anwendungen der Mathematik auf zahlreiche physikalische Fragestellungen,
etwa in der Optik, Elektrodynamik, Telegrafie, Thermodynamik. Mit Einstein und Lorentz war er einer
der Begründer der Speziellen Relativitätstheorie. Poincarés Arbeiten zur Himmelsmechanik, insbesondere
zum Dreikörperproblem, mündeten in einer dreibändigen Monographie (1892–1899). Hierbei entdeckte er
als erster das Auftreten chaotischer Bahnen bei der Planetenbewegung. Wegen seiner ungewöhnlich breit
gefaßten Interessen wurde Poincaré als der letzte Universalist in der Mathematik bezeichnet.
376
VII Nichtlineare Dynamik
definiert werden kann, weist weit über die Mechanik hinaus, da Chaos in vielen
Bereichen nicht nur in der Physik, sondern auch der Chemie, Biologie etc. auftritt.
In den folgenden Abschnitten werden wir einiges über allgemeine Eigenschaften
nichtlinearer dynamischer Systeme lernen. Die Zeitabhängigkeit und Stabilität
ihrer Lösungen wird diskutiert, und Begriffe wie Attraktoren, Bifurkationen und
Chaos werden eingeführt. Eine ins Einzelne gehende Behandlung der nichtlinearen
Dynamik, ihrer vielfältigen Fragestellungen und interdisziplinären Anwendungen
überschreitet aber den hier gesteckten Rahmen. 1) Insbesondere werden wir auch
nicht näher auf das wichtige Thema des Chaos in Hamiltonschen Systemen eingehen können.
21
Dynamische Systeme
Für viele der hier interessierenden Systeme läßt sich eine einheitliche theoretische
Beschreibung geben. Ein System wird durch einen Satz von endlich vielen dynamischen Variablen beschrieben, die wir in einem Spaltenvektor x = (x1 , . . . , xN )T ∈
RN zusammenfassen. Zu einem gegebenen Zeitpunkt t wird der Zustand des
Systems eindeutig durch einen solchen Punkt x im Phasenraum beschrieben. Die
xi sind generalisierte Koordinaten, hinter denen sich die verschiedensten Größen
verbergen können. Wichtig ist, daß der Vektor x auch die Geschwindigkeiten
(bzw. die Impulse) umfassen soll. Wir nehmen nun an, daß sich das System
deterministisch verhält. Die gesamte Zeitentwicklung x(t) ist also bestimmt, wenn
ein Anfangswert x(t0 ) vorgegeben wird. Die zeitliche Entwicklung soll durch eine
Differentialgleichung erster Ordnung in der Zeit beschrieben werden:
d
x(t) = F x(t), t; λ .
(21.1)
dt
Hier ist F eine im allgemeinen nichtlineare Funktion der Koordinaten x (auch als
Geschwindigkeitsfeld oder Vektorfeld bezeichnet). Darüber hinaus kann F auch
noch explizit von der Zeit t abhängen, etwa wenn von außen veränderliche Kräfte
auf das System einwirken. Besteht keine solche Abhängigkeit, dann spricht man
von einem autonomen System. Schließlich soll das dritte Argument in (21.1)
andeuten, daß möglicherweise ein oder mehrere Kontrollparameter λ existieren.
Es handelt sich dabei um fest vorgegebene Konstanten, deren Werte die Dynamik
des Systems beeinflussen und diese unter Umständen in ihrem Charakter verändern
können. Typische Kontrollparameter sind zum Beispiel die Kopplungsstärke einer
1)
Einige Lehrbücher aus der sehr umfangreichen Literatur zur nichtlinearen Dynamik:
H. Schuster, Deterministic Chaos, VCH Verlag (1989)
J. Argyris, G. Faust, M. Haase, Die Erforschung des Chaos, Vieweg (1995)
H.-O. Peitgen, H. Jürgens, D. Saupe: Chaos and Fractals – New Frontiers of Science, Springer
(1992)
R. C. Hilborn, Chaos and nonlinear dynamics, Oxford University Press (1994)
G. Jetschke, Mathematik der Selbstorganisation, Deutscher Verlag der Wiss., Berlin (1989)
21 Dynamische Systeme
377
Wechselwirkung oder die Amplitude oder Frequenz einer dem System aufgeprägten äußeren Störung.
Anmerkung: Mit einem kleinen Trick läßt sich eine mögliche explizite Zeitabhängigkeit in (21.1) eliminieren. Dazu betrachtet man ein System mit einem
Freiheitsgrad mehr,
x˜ = (x1 , . . . , xN , xN+1 )T ∈ RN+1 ,
und postuliert für die hinzugekommene Vektorkomponente die Differentialgleichung
d
xN+1 = 1.
dt
Mit der Anfangsbedingung xN+1 (0) = 0 heißt dies einfach xN+1 (t) = t. Die Zeit
auf der rechten Seite von t kann also durch xN+1 ersetzt werden, und wir haben ein
autonomes System mit einer Dimension mehr vorliegen.
Die Bewegungsgleichung (21.1) ist trotz ihrer scheinbar einfachen Gestalt sehr
umfassend. Insbesonders ist darin die Hamiltonsche Mechanik als Spezialfall enthalten: Für ein System mit N Freiheitsgraden, beschrieben durch die generalisierten
Koordinaten q1 , . . . , qN und die zugehörigen kanonischen Impulse p1 , . . . , pN ,
lauten die Hamilton-Bewegungsgleichungen (siehe Kapitel 18)
∂H
∂H
q̇i =
,
ṗi = − .
(21.2)
∂ pi
∂qi
Fassen wir Koordinaten und Impulse gemäß x = (q1 , . . . , qN ; p1 , . . . , pN )T zu
einem 2N-dimensionalen Vektor zusammen, dann läßt sich (21.2) als eine kombinierte Matrixgleichung der Form (21.1) schreiben:
d
x = J∇x H.
(21.3)
dt
Dabei steht ∇x H für den Gradientenvektor der Hamiltonfunktion:
T
∇x H = ∂H , . . . , ∂H ; ∂H , . . . , ∂H
∂q1
∂qN ∂ p1
∂ pN
(21.4)
und die 2N × 2N-Matrix J sorgt für die Vertauschung der Komponenten sowie für
die richtigen Vorzeichen:
0 +I
J=
,
(21.5)
−I 0
wobei I die N × N Einheitsmatrix bezeichnet. Nebenbei bemerkt hat J folgende
nützliche Eigenschaften:
J−1 = JT = −J,
J2 = −I,
det J = 1.
(21.6)
Darüber hinaus lassen sich auch dissipative Systeme durch die Gleichung (21.1) beschreiben, indem man geschwindigkeitsabhängige Reibungsterme einführt, siehe
etwa Aufgabe 21.1.
378
VII Nichtlineare Dynamik
Es ist klar, daß die Lösungen von (21.1) äußerst vielgestaltig sein können. Für
einen vorgegebenen Startvektor x(t = 0) = x0 läßt sich eine Bahnkurve, auch
Trajektorie oder Orbit genannt, x(t) berechnen (was in nichtlinearen Systemen
natürlich in der Regel nicht analytisch möglich ist), deren mathematische Existenz
und Eindeutigkeit unter sehr allgemeinen Bedingungen durch die Theorie der
Differentialgleichungen sichergestellt wird. Besonders interessant ist das asymptotische Verhalten der Trajektorie für große Zeiten: Erreicht sie einen stationären
Zustand (einen Fixpunkt) oder eine periodische Schwingung (einen Grenzzyklus),
oder verhält sie sich irregulär?
Der Zusammenhang zwischen x(t) und x0 stellt mathematisch betrachtet eine
Abbildung Φ t : RN → RN dar, nämlich
Φ t (x0 ) = x(t).
(21.7)
Diese Abbildung, die von der Zeit t als Parameter abhängt, wird als Phasenfluß
F (x) bezeichnet. Der Fluß reduziert sich für
oder einfach Fluß des Vektorfelds t = 0 offensichtlich auf die identische Abbildung
Φ t=0 = I.
(21.8)
Für autonome (nicht explizit zeitabhängige) Systeme gilt außerdem bei Hintereinanderschaltung zweier zeitlicher Verschiebungen
Φ t1 Φ t2 = Φ t1 +t2 .
(21.9)
Um das dynamische System gründlich zu verstehen, genügt es nicht, sich einzelne
Trajektorien anzuschauen. Von Interesse ist vielmehr auch das Verhalten der
Gesamtheit aller Bahnen im Phasenraum. Dies läßt sich auch als Frage nach den
globalen Eigenschaften der Abbildung Φ t interpretieren. Wichtige Fragestellungen
sind hier: Läßt sich der Fluß „im Großen“ allgemeingültig charakterisieren? Gibt
es Bereiche mit qualitativ unterschiedlichem Verhalten (geordnete vs. ungeordnete
Bewegung)? Wie verändert sich der Fluß mit dem Wert eines etwa vorhandenen
Kontrollparameters λ (gibt es etwa kritische Schwellenwerte, wo neuartiges Verhalten auftritt?).
Die Antwort auf diese Fragen hängt natürlich vom jeweils betrachteten System ab.
Dennoch lassen sich im Rahmen der nichtlinearen Dynamik allgemeine Kriterien
finden, und es zeigt sich, daß scheinbar sehr unterschiedliche Systeme verblüffende
Ähnlichkeiten in ihrer Dynamik aufweisen.
Dissipative Systeme: Kontraktion des Phasenraumvolumens
Konservative Systeme sind dadurch gekennzeichnet, daß der dynamische Fluß
volumenerhaltend ist. Der in Kapitel 18 bewiesene Satz von Liouville besagte ja, daß sich das Volumen einer Zelle im 2N-dimensionalen Phasenraum
(q1 , . . . , qN ; p1 , . . . , pN ) zeitlich nicht ändert, wenn sich die darin befindlichen
Punkte gemäß den Hamiltonschen Gleichungen bewegen. In dissipativen Systemen
hingegen schrumpfen die Zellen im Phasenraum mit der Zeit zusammen. Wir
21 Dynamische Systeme
379
werden jetzt ein quantitatives Maß dafür ableiten, und zwar für ein allgemeines
autonomes dynamisches System, dessen Trajektorien der Bewegungsgleichung
d
x(t) = F x(t)
(21.10)
dt
in einem N-dimensionalen Phasenraum genügen. Dazu betrachten wir ein kleines
Volumenelement ΔV (x), das sich zur Zeit t = t0 an der Stelle x = x0 befinden
und mit dem Fluß mitbewegen soll. Das Volumen ist, in cartesischen Koordinaten,
gerade durch das Produkt der Seitenlängen gegeben
N
ΔV (x) = ∏ Δxi (x).
(21.11)
i=1
Für die Zeitableitung dieser Größe gilt gemäß der Kettenregel
N
d
dΔxi (x) N
ΔV (x) = ∑
∏ Δx j (x)
dt
dt
i=1
j=i
N
= ∏ Δx j (x)
j=1
N
1
∑ Δxi (x) ·
i=1
dΔxi (x)
,
dt
(21.12)
=ΔV (x)
wobei mit Δxi /Δxi erweitert wurde. Die relative Veränderung (= logarithmische
Zeitableitung) des Volumens ist also
N
1
d
1
dΔxi (x)
· ΔV (x) = ∑
·
.
ΔV (x) dt
Δx
(
x)
dt
i
i=1
(21.13)
Die Änderung der Seitenlängen des Volumens 1) läßt sich aus der Bewegungsgleichung (21.10) berechnen. Betrachten wir den Abstand von zwei Ecken des
Würfels in i-Richtung, die durch die Trajektorien x0 (t) mit x0 (t0 ) = x0 sowie x(t)
mit x(t0 ) = x0 + ei Δxi bestimmt sind
d
dΔxi =
xi (t) − x0i (t) dt dt
t0
t0
= Fi (x(t0 )) − Fi (x0 (t0 ))
= Fi (x0 + ei Δxi ) − Fi (x0 ).
(21.14)
Für kleine Abweichungen Δxi liefert die Taylorentwicklung von F (x) in erster
Ordnung
∂Fi dΔxi =
Δxi .
(21.15)
dt t
∂xi x
0
0
genommen verzerrt sich auch die Form von ΔV , und die Seiten bleiben nicht orthogonal
aufeinander. Dies macht sich aber bei der Berechnung des Volumens in niedrigster Ordnung nicht
bemerkbar.
1) Genau
380
VII Nichtlineare Dynamik
An der Stelle t0 = t, x0 = x liefert (21.13) demnach
Λ (x) :=
N
1
∂Fi
d
· ΔV (x) = ∑
= ∇ · F.
ΔV (x) dt
i=1 ∂xi
(21.16)
Die Änderungsrate Λ des Phasenraumvolumens ist daher durch die Divergenz des
F bestimmt.
Geschwindigkeitsfelds Der Satz von Liouville ist als Spezialfall in (21.16) enthalten. Gemäß (21.3)–
(21.5) lautet das Geschwindigkeitsfeld für ein Hamiltonsches System mit den
Koordinaten x = (q1 , . . . , qN ; p1 , . . . , pN )T nämlich
T
F (x) = ∂H , . . . , ∂H ; − ∂H , . . . , − ∂H .
(21.17)
∂ p1
∂ pN
∂q1
∂qN
Dies führt auf die Volumenänderung
N
Λ = ∇ · F = ∑
i=1
N
=∑
i=1
∂
∂qi
∂
∂qi
N
Fi + ∑
i=1
·
∂H
∂ pi
∂
∂ pi
N
−∑
i=1
FN+i
∂
∂ pi
·
∂H
∂qi
= 0,
(21.18)
wodurch sich bestätigt, daß konservative Systeme volumenerhaltend sind.
Wenn der Fluß im Phasenraum kontrahierend ist, d. h., wenn Λ = ∇ · F < 0 gilt,
dann nennen wir das System dissipativ. Dies ist zunächst eine lokale Aussage,
die an einem Punkt x im Phasenraum gilt. Um zu einer globalen Einschätzung
der Dynamik zu kommen, muß Λ (x) über eine Trajektorie x(t) gemittelt werden.
Wechselt Λ dabei sein Vorzeichen, dann gibt es keine einfache Methode um
zu erkennen, ob ein System dissipativ ist; man muß tatsächlich den Mittelwert
ausrechnen.
In dissipativen Systemen schrumpft das Volumen, das von benachbarten Trajektorien ausgefüllt wird, mit der Zeit zusammen, asymptotisch wird es sogar Null.
Dies kann auf triviale Weise geschehen, indem die Trajektorien zusammenlaufen.
Im einfachsten Fall laufen sie in einen Gleichgewichtspunkt, und die Bewegung
kommt zur Ruhe (siehe Abschnitt Grenzzyklen). Es gibt aber auch die Möglichkeit, daß das Volumen schrumpft, indem der Abstand der Trajektorien nur
in gewissen Richtungen kleiner wird, während sie in anderen Richtungen aber
auseinanderlaufen. In diesem Fall wächst der resultierende Abstand sogar mit der
Zeit an. Ein ursprünglich lokalisierter Bereich im Phasenraum wird also durch den
dynamischen Fluß gewissermaßen „ausgewalzt“ und weit verteilt. Das Schrumpfen
des Volumens zu Null bedeutet dann, daß aus einem ursprünglich N-dimensionalen
Hyperwürfel im Phasenraum ein geometrisches Gebilde mit niedrigerer Dimension
D < N entsteht. Wie in Kapitel 24 (Abschnitt Fraktale Geometrie) erläutert wird,
kann D sogar einen nicht-ganzzahligen Wert annehmen.
21 Dynamische Systeme
381
Attraktoren
Die Dynamik eines nichtlinearen Systems kann sehr komplex sein. Um Ordnung
in die auftretenden Phänomene zu bringen, empfiehlt es sich, zunächst zwischen
transientem und asymptotischem Verhalten zu unterscheiden. Als Transiente oder
Einschwingvorgang bezeichnet man das anfängliche Verhalten eines Systems,
nachdem es von einem vorgegebenen Punkt x0 im Phasenraum gestartet ist. Naturgemäß ist es hier besonders schwierig, allgemeine Aussagen zu machen, da die
Transienten von der speziellen Anfangsbedingung abhängen. Der Theoretiker ist
daher geneigt, diesen Teil der Trajektorie zu ignorieren, auch wenn er in der Praxis,
abhängig von den vorherrschenden Zeitskalen, eine wichtige Rolle spielen kann.
Erst in jüngerer Zeit widmet die Forschung den Transienten mehr Aufmerksamkeit.
Etwas einfacher systematisch zu behandeln ist das asymptotische oder stationäre
Verhalten eines Systems. „Stationär“ soll hier nicht bedeuten, daß das System
in Ruhe ist, sondern nur, daß etwaige Einschwingvorgänge abgeklungen sind. In
dissipativen Systemen, die wir hier vornehmlich behandeln wollen, werden sich
die Trajektorien asymptotisch zu einer Teilmenge des Phasenraums von niedrigerer
Dimension hinbewegen, einem sogenannten Attraktor.
Die Definition und saubere mathematische Klassifikation von Attraktoren ist nicht
ganz einfach. Tatsächlich finden sich in der Literatur verschiedene Begriffsbildungen, die im Detail voneinander abweichen. Wir geben hier zunächst eine mathematische Definition 1) , werden den Begriff des Attraktors im Laufe der nachfolgenden
Kapitel aber auch an verschiedenen Beispielen veranschaulichen.
F (x) auf einem Raum M (z. B. M = RN ) mit
Betrachtet werde ein Vektorfeld zugehörigem Phasenfluß Φ t .
Eine Teilmenge A ⊂ M heißt Attraktor, wenn sie folgende Kriterien erfüllt:
1) A ist kompakt.
2) A ist invariant unter dem Phasenfluß Φ t .
3) A hat eine offene Umgebung U, die sich unter dem Fluß auf A zusammenzieht.
Dies bedarf einiger Erläuterungen.
Zu 1): Eine Menge heißt kompakt wenn sie abgeschlossen und beschränkt ist.
Das heißt, jeder Grenzwert einer unendlichen Folge von Punkten gehört selbst zur
Menge, und die Menge kann sich nicht ins Unendliche erstrecken. „Explodierende“
Lösungen, bei denen z. B. Teilchen ins Unendliche entweichen, können also keine
Attraktoren sein.
Zu 2): Invarianz unter dem Phasenfluß bedeutet
Φ t (A) = A
für alle t.
Ein Punkt auf dem Attraktor kann diesen also niemals verlassen.
1) F.
Scheck: Mechanik, Springer (1992)
(21.19)
382
VII Nichtlineare Dynamik
Zu 3): Dies läßt sich in zwei Schritten formulieren.
Zunächst ist die Umgebung U ⊃ A größer als der Attraktor selbst, da es sich um
einen offenen Bereich handelt, der das kompakte A umfaßt. U soll positiv invariant
sein, d. h., es soll gelten
Φ t (U) ⊆ U
für alle t ≥ 0.
(21.20)
Liegt ein Punkt also erst einmal in U, dann kann er sich nicht mehr herausbewegen.
Vielmehr wird er sogar zu A hingezogen, was sich wie folgt formulieren läßt.
Zu jeder offenen Umgebung V von A, die ganz in U liegt,
also A ⊂ V ⊂ U, kann man eine Zeit tV finden, nach deren
Überschreitung das Bild von U ganz in V liegt:
Φ t (U) ⊂ V
für alle t > tV .
(21.21)
Da V beliebig „eng“ um A gewählt werden kann, bedeutet
dies, daß U für große Zeiten auf den Attraktor A zusammenschrumpft.
Veranschaulichung der Definition eines
Attraktors A (schraffiert). Die Umgebung
U schrumpft im Verlauf der Zeitentwicklung zusammen, so daß sie für t > tV in
jeder beliebigen kleineren Umgebung V
enthalten ist.
Häufig wird die Definition eines Attraktors noch um die
Forderung erweitert, daß er aus einem Stück bestehen
soll.
4) A kann nicht in mehrere abgeschlossene nichtüberlappende invariante Teilmengen zerlegt werden.
Eine wichtige Eigenschaft eines Attraktors ist sein Einzugsbereich. Als Attraktorbecken B wird die maximale Umgebung U bezeichnet, die sich auf A zusammenzieht. Mathematisch korrekt formuliert: B ist die Vereinigung aller offenen
Umgebungen von A, die die Bedingungen (21.20) und (21.21) erfüllen.
Die hier gegebene Einführung des Begriffs Attraktor ist recht aufwendig. Dies
wird aber dadurch gerechtfertigt, daß Attraktoren sehr komplexe Eigenschaften
haben können. Von zentraler Bedeutung für die nichtlineare Dynamik sind die
Begriffe seltsamer bzw. chaotischer Attraktor, die manchmal – nicht ganz korrekt –
synonym verwendet werden. Diese Begriffe werden erst in den folgenden Kapiteln
und anhand von Beispielen richtig klar werden. Wir geben jedoch hier schon die
Definitionen:
Chaotischer Attraktor: Die Bewegung ist extrem sensitiv auf die Anfangsbedingungen. Der Abstand zwischen zwei anfangs nahe benachbarten Trajektorien
wächst exponentiell mit der Zeit an. Näheres hierzu siehe Kapitel 24.
Seltsamer Attraktor: Der Attraktor hat eine eine stark zerklüftete geometrische
Gestalt, die durch ein Fraktal beschrieben wird. Näheres hierzu siehe Kapitel 24
(Abschnitt Fraktale Geometrie).
21 Dynamische Systeme
383
Beide Eigenschaften treten in der Regel gemeinsam auf. Es wurden jedoch auch
Beispiele gefunden 1), bei denen ein Attraktor chaotisch, aber nicht seltsam, oder
seltsam, aber nicht chaotisch ist.
Gleichgewichtslösungen
Ein besonders einfacher Fall liegt vor, wenn sich das System im stationären
Gleichgewicht befindet, also
F (x0 ) = 0, so daß x(t) = x0 = const.
(21.22)
Ein solches x0 wird auch als kritischer Punkt oder Fixpunkt bezeichnet. Besonders
interessant ist die Frage, ob sich das System zu einen solchen Fixpunkt hinbewegt
und – falls mehrere vorhanden sind – zu welchem. Ein Fixpunkt, der die Trajektorien zu sich hinzieht, ist das einfachste Beispiel eines Attraktors. Die im Abschnitt
Attraktoren definierte Menge A ist in diesem Fall trivial und besteht aus einem
einzigen Punkt.
Wir interessieren uns daher für die Stabilität von Gleichgewichtslösungen. Dazu
werden die Bahnen x(t) in der Umgebung eines kritischen Punkts x0 untersucht.
Wir fordern also, daß der Abstand
ξ (t) = x(t) − x0
(21.23)
eine kleine Größe ist. Unter dieser Bedingung läßt sich das Problem sehr vereinfachen, denn es genügt gewöhnlich, den niedrigsten Term der Taylorentwicklung
von F (x) mitzunehmen. Die linearisierte Bewegungsgleichung lautet dann
d
ξ (t) = Mξ (t),
(21.24)
dt
wobei Terme von quadratischer oder höherer Ordnung in ξ vernachlässigt wurden.
Bei M handelt es sich um die Jacobimatrix (Funktionalmatrix) der Funktion F (x),
ausgewertet an der Stelle x0 . Diese Matrix hat die Elemente
∂Fi Mik =
.
(21.25)
∂xk x
0
Im Gegensatz zur ursprünglichen nichtlinearen Bewegungsgleichung (21.1) ist die
Lösung des linearisierten Problems (21.24) im Prinzip einfach, nämlich analytisch
angebbar. Betrachten wir zunächst den wirklich trivialen Spezialfall eines eindimensionalen Systems (N = 1). Dann hat die Jacobimatrix nur ein einziges Element,
nennen wir es μ , und (21.24) wird gelöst durch
ξ (t) = eμ t ξ (0).
(21.26)
Der Charakter der Lösung wird vom Vorzeichen von μ bestimmt. μ < 0: x0 ist
ein stabiler Gleichgewichtspunkt, denn kleine Störungen klingen exponentiell ab.
1) C.
Grebogi, E. Ott, S. Pelikan, J.A. Yorke: Physica 13D, 261 (1984)
384
VII Nichtlineare Dynamik
μ > 0: Das Gleichgewicht ist instabil, da schon kleinste Auslenkungen exponentiall „explodieren“. Ist μ = 0, dann liegt der Grenzfall des labilen oder auch
neutralen Gleichgewichts vor. Das Verhalten bei Störungen wird dann durch die
höheren Ableitungen der Funktion F(x) im Punkt x0 bestimmt.
Den allgemeinen Fall (N > 1) kann man wie in Kapitel 8 mit der Methode der
Normalschwingungen behandeln. Es werden auf 1 normierte Lösungsvektorenu(t)
konstruiert, bei denen alle Komponenten die gleiche (exponentielle) Zeitabhängigkeit aufweisen:
u(t) = eμ tu.
(21.27)
Mit (21.24) führt dies auf das Eigenwertproblem
M u = μu.
(21.28)
Dieses N-dimensionale lineare Gleichungssystem hat nur dann nichttriviale Lösungen, wenn die Determinante
(21.29)
det Mi j − μ δ i j = 0
verschwindet. Diese charakteristische Gleichung (Säkulargleichung) hat als Polynom N-ter Ordnung im allgemeinen N Eigenwerte μ n mit den zugehörigen
Eigenvektoren un . Die allgemeine Lösung von (21.24) läßt sich dann als eine
Überlagerung
ξ (t) =
N
∑ cn eμntun
(21.30)
n=1
schreiben, wobei sich die Entwicklungskoeffizienten cn aus der Anfangsbedingung
bei t = 0 bestimmen lassen. Die Eigenwerte μ n können reell oder auch komplex
sein. Komplexe Eigenwerte treten dabei immer paarweise auf: Wenn μ n die
Gleichung (21.29) löst, dann tut dies offensichtlich auch das komplex konjugierte
μ n∗ , da die Jacobimatrix Mi j reell ist.
Entscheidend für die Charakterisierung eines Gleichgewichtspunkts x0 sind die
Realteile der Eigenwerte der charakteristischen Gleichung. Wir definieren nun eine
verschärfte Form der Stabilitätsbedingung:
Ein Gleichgewichtspunkt x0 mit F (x0 ) = 0 heißt asymptotisch stabil, wenn es eine
Umgebung U x0 gibt, innerhalb derer sämtliche Bahnen für große Zeiten nach
x0 laufen:
lim x(t) = x0
t→∞
für x(0) ∈ U.
(21.31)
Wenn die Funktion (das Vektorfeld) F genügend glatt ist, um durch die lineare
Näherung beschrieben werden zu können, dann läßt sich sofort eine hinreichende
Bedingung für asymptotische Stabilität angeben:
21 Dynamische Systeme
385
Der Punkt x0 ist asymptotisch stabil, wenn alle Eigenwerte der Jacobimatrix einen
negativen Realteil besitzen, wenn also
Re μ n ≤ c < 0 für alle n = 1, . . . ,N
(21.32)
mit einer positiven Konstante c.
Ein Blick auf (21.30) zeigt, daß unter dieser Bedingung sämtliche Beiträge zur
Abweichung ξ (t) exponentiell gegen Null gehen, so daß asymptotisch gilt
||x(t) − x0 || < const e−(minn | Re μ n |)t .
(21.33)
Umgekehrt gilt auch: Wenn wenigstens einer der Eigenwerte einen positiven
Realteil besitzt, Re μ n > 0, dann ist x0 ein instabiler Fixpunkt, denn Auslenkungen
in Richtung un wachsen exponentiell an.
Unter Kenntnis der Eigenvektoren un läßt sich der gesamte Phasenraum in Teilräume aufspannen. Der stabile (bzw. instabile) Teilraum wird von allen Vektoren un
aufgespannt, für die Re μ n < 0 (bzw. > 0) ist. Zusätzlich kann noch ein Teilraum
auftreten mit dem speziellen Wert Re μ n = 0. Ist dies der Fall, dann spricht man
von einem degenerierten Fixpunkt. (Der zugehörige Teilraum wird auch als das
Zentrum bezeichnet; auf die damit verbundenen Fragen wollen wir hier nicht näher
eingehen.) Betrachtet man eine allgemeine Störung einer Trajektorie, so wird diese
Komponenten in allen Teilräumen besitzen. Nach hinreichend langer Zeit wird sich
dann immer derjenige Beitrag mit dem maximalen Re μ n durchsetzen.
Abschließend ist zu bemerken, daß die lineare Stabilitätsanalyse nur in der Umgebung eines kritischen Punkts x0 gilt. Mathematisch läßt sich zeigen, daß sich
dort das topologische Verhalten des Flusses im allgemeinen unter dem Einfluß der
Nichtlinearität nicht ändert. Die Umgebung kann allerdings sehr klein sein, so daß
sich über das globale Verhalten des Flusses auf diese Weise keine Aussage machen
läßt.
Lineare Stabilität in zwei Dimensionen
Beispiel 21.1
Besonders übersichtlich wird die Stabilitätsanalyse für den Fall N = 2, was einem dynamischen System mit einem Freiheitsgrad x1 = q und dem dazugehörigen Impuls x2 = p
entspricht. In der der Nähe eines Fixpunkts x˙ = F (x0 ) = 0 wird die Bewegung in linearer
Näherung durch die vier Elemente der Jacobimatrix Mi j bestimmt. Die charakteristische
Gleichung (21.29)
M − μ M
11
12 (1)
=0
M21 M22 − μ ist ein quadratisches Polynom
μ 2 − (M11 + M22 )μ + M11 M22 − M12 M21 = 0
(2)
μ 2 − 2sμ + d = 0
(3)
oder
386
VII Nichtlineare Dynamik
Beispiel 21.1
mit
s=
1
1
(M + M22 ) = SpM,
2 11
2
d = M11 M22 − M12 M21 = det M.
Die beiden Lösungen von (3) lassen sich explizit angeben:
μ 1/2 = s ± s2 − d.
(4)
(5)
In Abhängigkeit von Größe und Vorzeichen der beiden Konstanten s und d gibt es etliche
verschiedene Möglichkeiten für die Eigenwerte μ 1 , μ 2 :
a)
b)
c)
d)
e)
f)
μ 1 ,μ 2 reell und beide negativ (wenn s < 0 und 0 < d < s2 )
μ 1 ,μ 2 reell und beide positiv (wenn s > 0 und 0 < d < s2 )
μ 1 ,μ 2 reell mit unterschiedlichen Vorzeichen (wenn d < 0)
μ 1 = μ 2∗ , negativer Realteil (wenn s < 0 und d > s2 )
μ 1 = μ 2∗ , positiver Realteil (wenn s > 0 und d > s2 )
μ 1 = μ 2∗ , rein imaginär (wenn s = 0 und d > 0)
d
a
Die Bereiche sind in der Figur in der s-d-Ebene dargestellt.
Diesen Alternativen entprechen jeweils unterschiedliche Typen
von Trajektorien ξ (t) = x(t) − x0 gemäß Gleichung (21.30).
d = s2
d
Die nächste Figur zeigt, wie die Trajektorien in der Nähe eines
stabilen Knotens in den Fixpunkt hineinlaufen:
e
f
ξ (t) = c1 e−|μ 1 |tu1 + c2 e−|μ 2 |tu2 ,
b
s
c
Stabiler Knoten
Instabiler Knoten
Sattel
Stabiler Strudel
Instabiler Strudel
Wirbel
c
Bereiche unterschiedlicher Stabilität
in Abhängigkeit von den Parametern
s und d .
a)
wobei u1 und u2 die (nicht notwendig orthogonalen) Eigenvektoren sind. Die Krümmung der Trajektorien entsteht, wenn μ 1 =
μ 2 . Es handelt sich um parabelartige Kurven, die im Ursprung
eine gemeinsame Tangente aufweisen (in u1 - oder u2 -Richtung,
je nachdem, ob μ 2 oder μ 1 größer ist).
b)
d)
(6)
e)
c)
f)
Verschiedene Stabilitätstypen eines Fixpunkts in zwei Dimensionen. Obere Reihe:
Stabiler und instabiler Knoten, Sattel. Untere Reihe: Stabiler und instabiler Strudel,
Wirbel.
21 Dynamische Systeme
387
Die Bahnen für den instabilen Knoten, Figur b), sehen genauso aus, werden aber in
umgekehrter Richtung durchlaufen (Exponentielle „Explosion“). Im Fall des Sattels laufen
die Bahnen zwar in der u1 -Richtung (sei o.B.d.A. μ 1 < μ 2 ) auf den Fixpunkt zu, werden
jedoch in der u2 -Richtung fortgetrieben, so daß sich die hyperbelartigen Trajektorien aus
der Figur c) ergeben.
Wenn die Eigenwerte komplex sind,
μ 1 = μ r + iμ i ,
μ 2 = μ r − iμ i ,
(7)
wird dies wegen (21.28) auch für die Eigenvektoren gelten:
u1 = ur + iui ,
u2 = ur − iui .
(8)
Die allgemeine Lösung (21.30) hat dann die Form
ξ (t) = c1 eμ 1 tu1 + c2 eμ 2tu2
∗
= c1 eμ 1 tu1 + c∗1 eμ 1 tu∗1
= 2 eμ r t Re c1 e iμ i tu1 ,
(9)
wobei c2 = c∗1 , damit ξ reell wird. Wenn wir die Konstante c1 , deren Wert durch die
Anfangsbedingung ξ (0) festgelegt ist, in Betrag und Phase aufspalten und dies ebenso für
die cartesischen Komponenten des komplexen Eigenvektors u1 tun,
c1 = ρ e iφ ,
u1 = a e iαex + b e iβ ey mit a2 + b2 = 1,
dann läßt sich (9) wie folgt umschreiben:
ξ (t) = 2ρ eμ r t a cos(μ it + φ + α )ex + b cos(μ it + φ + β )ey .
(10)
(11)
Der Faktor in Klammern beschreibt gegeneinander phasenverschobene (wenn α = β )
harmonische Schwingungen, es handelt sich also um die Parameterdarstellung einer Ellipse.
Die Größe der Ellipse hängt wegen des Vorfaktors exponentiell von der Zeit ab. Die
Trajektorien sind also logarithmische Spiralen, die je nach dem Vorzeichen des Realteils von
μ zum Fixpunkt hin oder von ihm weg streben, siehe Figur d) und e), daher auch der Name
Strudel. Der Fall des Wirbels mit Re μ = 0 spielt eine Sonderrolle, da hier die Bahnen in der
Umgebung von x0 periodische Funktionen (konzentrische Ellipsen) sind. Das bedeutet, daß
der Gleichgewichtspunkt zwar stabil (kleine Abweichungen werden nicht verstärkt), aber
nicht asymptotisch stabil (die Trajektorie läuft nicht in den Fixpunkt hinein) ist, dieser ist
also kein Attraktor.
Beispiel 21.1
Nichtlinearer Oszillator mit Reibung
Aufgabe 21.1
Ein eindimensionales System werde durch folgende Bewegungsgleichung beschrieben:
ẍ + α ẋ + β x + γ x3 = 0.
(1)
Zeigen Sie, daß es sich um ein dissipatives System handelt. Man interpretiere die einzelnen
Terme und diskutiere die möglichen Fixpunkte und deren Stabilität.
Lösung:
Es handelt sich um einen harmonischen Oszillator mit Reibung und Nichtlinearität. Neben
der linearen rücktreibenden Kraft des harmonischen Oszillators (3. Term) wirkt hier eine
388
VII Nichtlineare Dynamik
Aufgabe 21.1
zur Geschwindigkeit proportionale Reibung (2. Term). Außerdem macht sich bei großen
Auslenkungen eine kubische Nichtlinearität bemerkbar (4. Term). Zu diesem Kraftgesetz
gehört das Potential
V (x) =
m 2 m 4
β x + γx ,
2
4
(2)
wenn m die Masse bezeichnet. Je nach Größe und Vorzeichen der Konstanten in (1) ergeben
sich unterschiedliche Bewegungstypen. Zunächst bringen wir die Bewegungsgleichung (1)
in die Standardform. Dazu führen wir die Geschwindigkeit als zweite Koordinate ein, x =
(x, y) = (x, ẋ), was zu den gekoppelten Differentialgleichungen erster Ordnung
d x
y
˙
x =
=
F (x)
(3)
≡
dt y
α y − β x − γ x3
führt. Für α > 0 ist das System dissipativ, denn die Divergenz des Geschwindigkeitsfelds
ist
Λ = ∇ · F =
∂
∂
y + (−α y − β x − γ x3 ) = −α < 0.
∂x
∂y
(4)
F (x0 ) lautet
Die Gleichgewichtsbedingung y = 0,
x(β + γ x2 ) = 0.
(5)
Neben der Gleichgewichtslage x0 = (0, 0)
ohne Auslenkung
gibt es also noch zwei weitere
symmetrisch gelegene Fixpunkte x0 = ± −β /γ , 0 , vorausgesetzt, die Konstanten β und
γ haben unterschiedliches Vorzeichen. In der Figur sind die zugehörigen Potentialfunktionen
V (x) für alle vier Vorzeichenkombinationen dargestellt.
v
β > 0, γ > 0
v
β > 0, γ < 0
v
β < 0, γ > 0
v
β < 0, γ < 0
x
x
a)
x
x
b)
c)
d)
Das Potential des quartischen Oszillators für verschiedene Vorzeichen der Parameter β und γ .
Zur Diskussion der linearen Stabilität wird die Jacobimatrix benötigt:
0
1
∂F1 /∂x ∂F1 /∂y
M=
=
.
∂F2 /∂x ∂F2 /∂y
−β − 3γ x2 −α
(6)
Die charakteristische Gleichung (3) in Beispiel 21.1 für die Eigenwerte enthält die folgenden
Koeffizienten:
1
: s = − α, d = β ,
2
1
für x0 = (0, ± −β /γ ) : s = − α , d = −2β .
2
Für x0 = (0, 0)
21 Dynamische Systeme
389
Asymptotische Stabilität ist offenbar nur bei positivem Vorzeichen der Konstanten α > 0
möglich. Nur dann handelt es sich physikalisch um einen dämpfenden Reibungsterm. Für
den Fixpunkt in der Ruhelage x0 = (0, 0) finden wir die Alternativen
1
1.
β > α 2 : stabiler Strudel
4
1
2. 0 < β < α 2 : stabiler Knoten
4
β <0
3.
: Sattel
Im ersten Fall liegen schwach gedämpfte Schwingungen vor, im zweiten Fall ist der
Oszillator überdämpft, und die Auslenkung geht monoton gegen Null. Für β < 0 ist die
Gleichgewichtslage labil, wie den Potentialbildern c) und d) zu entnehmen ist.
Die analogen Überlegungen für die Fixpunkte x0 = ± −β /γ , 0 führen auf (wir setzen
α > 0 voraus)
1
1.
−2β > α 2 : stabiler Strudel
4
1
2. 0 < −2β < α 2 : stabiler Knoten
4
β >0
3.
: Sattel
Der Faktor zwei rührt daher, daß die Krümmung des Potentials (2) in den ausgelenkten
Gleichgewichtslagen doppelt so groß ist wie in der Ruhelage. Nur das DoppeloszillatorPotential (vorige Figur c)) erlaubt stabile ausgelenkte Fixpunkte (β < 0 und γ > 0).
a)
x0
γ>0
b)
β
x0
γ<0
β
Die Lage der stabilen (durchgezogen)
und instabilen (gepunktet) Fixpunkte in
Abhängigkeit der Parameter β und γ .
Interessant ist es, die Lage der Fixpunkte als Funktion des Parameters β aufzutragen. Wie
die Figur zeigt, liegt bei β = 0 eine Quadratwurzel-Verzweigung vor. Im Fall γ > 0 gabelt
sich eine stabile Gleichgewichtslage in zwei neue stabile Lösungen. Derartige Bifurkationen
(lat. furca = Gabel) treten in nichtlinearen Systemen sehr häufig auf, siehe auch Kapitel 23.
Aufgabe 21.1
Grenzzyklen
Neben den simplen stationären Gleichgewichtspunkten, die wir in Abschnitt Attraktoren ausführlich untersucht haben, kann ein dynamisches System auch noch
andere Arten stabiler Lösungen aufweisen. Dies sind die sogenannten Grenzzyklen,
die durch periodisch oszillierende, in sich geschlossene Trajektorien charakterisiert
sind. Ähnlich wie die schon diskutierten Fixpunkte können auch Grenzzyklen
als Attraktoren der Bewegung wirken, vgl. Abschnitt Attraktoren. Es gibt dann
Herunterladen