Durcheinandertal - Theater St. Gallen

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Theater St.Gallen
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Theater St.Gallen
ANHANG
HINTERGRUND
GRUNDLAGEN
Übersicht
1 Grundlagen
Eckdaten
Zum Stück
Durcheinandertal
Zusammenfassung (kompakt)
Groteske, Wimmelbild, Gangsterballade
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2 Die Figuren
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3 Der Ort
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4 Themenvielfalt
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5 Seligpreisung
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6 Weltuntergang in der Literatur
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7 Postfaktische Zeiten
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8 Ich bin der finsterste Komödienschreiber, den es gibt
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Zum Autor
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Rezension zu Dürrenmatts Durcheinandertal
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Von Durcheinander und Chaos
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Die Rampe fürs Durcheinandertal
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Der Hund
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Dürrenmatt über Durcheinandertal
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Auszüge aus der Theaterfassung von Martin Pfaff
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Theater St.Gallen
1 Grundlagen
Durcheinandertal
Anti-Märchen nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt
in einer Theaterfassung von Martin Pfaff [16+]
Uraufführung: 6. Januar 2017, Theater St.Gallen, Grosses Haus
Dauer: ca. 2 Stunden (inklusive Pause)
Inszenierung: Martin Pfaff
Bühne: Claudia Rohner
Kostüme: Marion Steiner
Musik: Stefan Pinkernell
Dramaturgie: Armin Breidenbach
Erzählerin | Raphael |Big-Jimmy | Polizist Eggler | Satan: Jessica Cuna
Erzählerin |Raphael | Polizist Lustenwyler | Gott: Boglárka Horváth
Erzählerin | Pretánder: Birgit Bücker
Erzählerin | Moses Melker | Oscar von Kücksen | Polizist Stucki: Diana Dengler
Erzähler | Ottilie | Lehrerin: Kay Kysela
Elsi: Marcus Schäfer
Erzähler | Cäcilie | Regierungspräsidentin | Marihuana-Joe: Christian Hettkamp
Erzähler | Emilie | Raphael | Witwe Hungerbühler: Oliver Losehand
Zum Stück
Es geht nicht mit rechten Dingen zu im Durcheinandertal: ein Kurhaus, in dem sommers Millionäre einer
‹Theologie der Armut› nachgehen, wird winters zur Zuflucht für Mafiakiller und andere Kriminelle. Ein
Theologe namens Moses Melker, der selbst zwei seiner Ehefrauen auf dem Gewissen hat. Und ein Gott,
der vor den Bittbriefen der Menschen flüchtet. Mittendrin: ein kalbgrosser Hund, ein Polizist, der lieber
kocht als zu arbeiten, und die Tochter des Gemeindepräsidenten, die allen schweren Jungs überlegen ist.
In seinem letzten Roman kehrt Dürrenmatt noch einmal unten nach oben und oben nach unten. Die Süddeutsche Zeitung schrieb bei seinem Erscheinen 1989: ‹Dieser Roman wird als Gesellschaftssatire voller
Ironie, als eine Groteske mit holzschnittartigen Elementen der Räuberpistole in die Literaturgeschichte
eingehen.›
«Ich bin fasziniert von Ihrem Gesicht. Es ist wundervoll pervers.»
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Theater St.Gallen
Durcheinandertal
Ein Anti-Märchen nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt
von Armin Breidenbach
Was trennt uns? Die Kurgäste im fiktiven Durcheinandertal unterscheidet ihr riesiger Reichtum vom Rest
der Welt. Sie verbringen den Sommer in selbstgewählter Armut. Der Grund: Moses Melkers «Theologie
der Reichtums», die eine Theologie der Armut ist. Währenddessen werden ihre Villen ausgeräumt. Warum auch nicht – Besitz belastet ja nur.
In seinem letzten Roman zeigt sich Dürrenmatt noch einmal als Meister der Groteske. Ein gefundenes
Fressen für das Theater St.Gallen, das sich die Rechte an der Uraufführung gesichert hat.
Ein letztes Mal hat Friedrich Dürrenmatt aus dem Vollen geschöpft und eine Mixtur angerührt, die durch
ihre Saftigkeit besticht und seine Meisterschaft in der Fabulierlust beweist. Auf den ersten Blick verwirrend zu lesen und scheinbar eine Bestätigung des Titels, kombiniert Durcheinandertal Dürrenmatts Lebensthemen: die Unsicherheit und Unbestimmbarkeit der Existenz, die Groteske und sein Denken der
Welt als Labyrinth. Er erfindet noch einmal ein Personal, das seinesgleichen sucht. Allen voran die zentrale
Figur Moses Melker: zerfressen von einem Minderwertigkeitsgefühl, weil er buchstäblich von ganz unten
kommt; ausnehmend hässlich und von einer schier unersättlichen sexuellen Lust erfüllt; gläubig und der
Mörder zweier seiner Ehefrauen; und zu allem Überfluss steinreich, er, der eine «Theologie des Reichtums» verfasst hat, in der er Armut predigt; und nicht zuletzt in seinem Gottesbegriff hoffnungslos unmodern.
«Das Wissen über den Zustand der Welt
ist ja auch schwer zu ertragen.
Darum glauben sie lieber: die einen an dieses, die anderen an jenes.»
(Friedrich Dürrenmatt, Bild: Dürrenmatt, 1989)
Melker, Sohn einer evangelischen Magd und eines katholischen
Knechts und insofern ein Produkt der Ökumene, ist Autor mehrerer
Bücher, kann sich aber den christlichen Gott nur als einen alttestamentarischen Vatergott mit schlohweissem Bart vorstellen, den Dürrenmatt
denn auch ganz treffend «Gott mit Bart» nennt. Der Bart nämlich ist
das Merkmal, das ihn trennscharf von einem anderen Gott unterscheidet, dem «Gott ohne Bart». Verwirrend? Überkomplex? Ein Durcheinander? Ja und nein.
Der «Gott mit Bart» ist für das Seelenheil der Menschen zuständig, kann sich vor Bittbriefen kaum retten
und dämmert darum auch lieber am Strand, als sich zu sehr zu kümmern. Der andere hingegen, der ohne
Bart, ist ein waschechter Pate. Er ist das Oberhaupt eines weltweit operierenden Verbrechernetzwerkes,
das ausnehmend geschickt vorgeht, keine Spuren hinterlässt und darum nicht greifbar ist. So handelt in
seinem Auftrag beispielsweise eine Anwaltskanzlei, die ihren Sitz in Zürich hat – jedoch überhaupt nicht
existiert. – Wem fallen da nicht die Briefkastenfirmen in Panama und anderswo ein, über die globale Finanztransaktionen abgewickelt werden und die keiner genauer unter die Lupe genommen hat bis zu dem
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Theater St.Gallen
«Panama Papers»-Leak im Frühjahr 2016. Nicht nur der isländische Premierminister ist darüber gestolpert. – Doch die Fäden, die dieser «Gott» spinnt, wickeln tatsächlich die ganze Welt ein.
Er hat das Durcheinandertal auserkoren für seinen neuesten Coup. Ins Kurhaus, das bislang ein geruhsames Dasein fristete, soll neues Leben einziehen. Aber diese Belebung durch die die Einfachheit und die
Askese suchenden Reiche gedenkt er gleich doppelt auszunutzen. Nicht nur, dass er dem Theologen Melker, der ihn um Unterstützung gebeten hatte, damit einen langgehegten Wunsch erfüllt – er verschafft
seiner Mafia auch die Möglichkeit auf einen winterlichen Hideout für weltweit gesuchte Verbrecher. Damit nicht genug: Ausgefuchst wie sie ist, lässt die Mafia per plastischer Chirurgie jeweils zweien dieser
Halunken das gleiche Gesicht verpassen. So kann immer einer dem anderen ein Alibi verschaffen! – Vorausgesetzt, es hat nicht einer einen Bart und der andere nicht ...
Inmitten dieser satirischen Räuberpistole findet sich ausserdem Elsi, die minderjährige Tochter des Gemeindepräsidenten Pretánder, die für die im Winter im Kurhaus eingeschlossenen Gangster der einzige
weibliche Sozialkontakt ist. Eine fatale Kombination. Ihr Vater und sein Hund, der übergrosse Mani, kommen mit dem Gesetz in Konflikt, so sehr, dass am Ende sogar die Armee ins Durcheinandertal einrückt.
Damit nicht genug – einer der Verbrecher stammt sogar von dort und sinnt auf Rache ...
[…]
Zusammenfassung (kompakt)
Moses Melker, ein steinreicher Emmentaler und Frauenmörder, entwickelt eine bizarre Theologie der
Armut, die Reiche von der Last ihres Reichtums befreien soll. Ein Gangstersyndikat, das unter dem sinnigen Namen «Swiss Society for Morality» firmiert, formt daraus ein lukratives Geschäftsmodell. Im Durcheinandertal, einer tiefen Schlucht, von einem Wildbach in den Berg gefressen und auf beiden Seiten durch
steile Felsen begrenzt, erwirbt das Syndikat ein Hotel und baut es zum «Haus der Armut» um. Es ermöglicht den Reichsten der Reichen, wie die Ärmsten der Armen zu leben. Sie nächtigen auf kargen Pritschen,
die «von jeder Menschenrechtskommission mit Entrüstung für unzumutbar erklärt worden wären», erfreuen sich an jämmerlich schlechtem Essen und arbeiten eine Saison lang gratis für Betrieb und Unterhalt
des Hotels – während das Syndikat ihre verwaisten Villen plündert.
Die Einheimischen des Durcheinandertals, ungefähr 80 Familien an der Zahl, holt das Chaos ein. Lebten sie
früher vom Tourismus und bildeten dank des Kurhotels eine ökonomische Einheit, sehen sie sich wegen
der reichen Selbstversorger in ihrem Dorf plötzlich mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Das florierende Geschäft mit der Armut, gepredigt wie eine Religion, bringt das Durcheinandertal aus dem Gleichgewicht
und stürzt es ins Chaos. Als Elsi, die 14jährige Tochter des Gemeindepräsidenten, in einer Milchlache von
Marihuana-Joe vergewaltigt wird, verteidigt nur von Mani, dem Hund ihres Vaters, bricht die Apokalypse
in die einst friedliche Talschaft ein. Es folgt ein Armeeeinsatz gegen den Hund und schliesslich eine infernale Feuersbrunst, die von der heilen Welt nur Asche übrig lässt.
Aus: Christoph Moser: Von Durcheinander und Chaos
www.schweizermonat.ch/artikel/von-durcheinander-und-chaos
Anhang: Rezension zu Dürrenmatts Durcheinandertal, Der Hund, Dürrenmatt über Durcheinandertal
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Theater St.Gallen
Groteske, Wimmelbild, Gangsterballade
Regisseur Martin Pfaff über die Uraufführung von Durcheinandertal
Regisseur Martin Pfaff, der auch für die Theaterfassung verantwortlich
zeichnet, nimmt Stellung zu Fragen des Produktionsdramaturgen Armin
Breidenbach.
Was macht einen Roman von Dürrenmatt heute eigentlich so wertvoll?
Martin Pfaff: Durcheinandertal ist eine berührende, tragikomische Geschichte. Und zwar von ganz unterschiedlichen Menschen, die alle versuchen, ihr Leben zu schaffen im beutelnden Orkan einer Welt aus entgrenztem Kapital, Einzelkämpfertum, Erlösungssehnsucht, Religionsfanatismus und der Angst vor Unbekanntem. Und das alles kommt spielerisch daher wie in einem grossen Wimmelbild oder Tafelbild. Theatralisch kann man dabei als Regisseur
auch alle möglichen Register ziehen. Das bringt natürlich viel Spass. Ich bin aber auch regelrecht dankbar
für diesen grossen Zeitspiegel, weil ich ihn in dieser schönen augenzwinkernden und zugleich mutig zupackenden Form in der zeitgenössischen Dramatik vermisse.
Du sprichst von einem «Wimmelbild». Welche Figuren sehen wir denn darin?
Das ist eine, wie so oft bei Dürrenmatt, kontrastfreudige Mischung von Personen und Gestalten. Wir sehen u.a. Gott und Teufel, lebende und tote Witwen, einen Milchbauern und dessen eigensinnige Tochter
Elsi, korrupte Anwälte und Verwalter eines Verbrecherbosses, Polizisten, Killer und eine überforderte
Regierungspräsidentin, einen fanatischen Befreiungstheologen, eine verzweifelte Lehrerin und nicht zu
vergessen den unheimlichen, mephistophelischen Hund Mani. – In dem Zusammenhang muss ich erwähnen, dass das tolle Ensemble hier in St.Gallen diese Arbeit sehr befruchtet. Nicht nur weil die Kolleg(inn)en per se so wundervoll unterschiedlich und individuell sind, sondern vor allem, weil sie durch die
Bank sehr mutige Spielernaturen sind mit grosser Fantasie und Interesse für dieses groteske Typenkabinett.
Mittendrin befindet sich ein fanatischer Theologe mit dem schönen, sprechenden Namen Moses Melker.
Was ist das für eine Befreiungstheologie, die ihn beseelt? Von was muss sich der gegenwärtige Mensch
denn befreien?
Moses Melker glaubt, eine völlig neue Wahrheit zu den Menschen zu bringen. Er will die Abschaffung des
Geldes, des abstrakten Zahlungsmittels, das alles und jeden in Wertigkeit oder Nutzlosigkeit einteilt. Diese
Okkupation des Geistes mit dem Wert des Geldes definiert Melker als die Sackgasse der Zivilisation. Natürlich führt diese abrupte Umwälzung der Dinge zum wirtschaftlichen Kollaps im Durcheinandertal und
zur Verelendung der Menschen. Diese gute Idee scheitert, wie so oft im Leben, an der Unfähigkeit des
Menschen, umschauend oder weitsichtig zu handeln. Sehr schnell drängt sich der Verdacht auf, dass es
Melker hauptsächlich nur um seinen Selbstwertrausch als Intellektueller geht. Ein rührender, verzweifelter Halunke ist er.
Aber Moses Melker ist selbst auch nur mehr oder weniger fähig. Zwar kann er seine Theologie unter die
Leute bringen und sogar Millionäre gern arm sein lassen – für die Umsetzung seines Planes muss er sich
jedoch mit dem Bösen einlassen.
Zumindest absurderweise mit dem Kapital, das er zur Umsetzung seines Projektes benötigt, der Anmietung eines Kurhotels, in dem die Reichen das arme Leben lernen oder üben können.
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Theater St.Gallen
Dieses Kapital ist in den Händen einer anderen nicht minder grotesken Figur: des «Gottes ohne Bart».
Was hat sich Dürrenmatt da ausgedacht? Und gibt es für diese Figur ein Vorbild in der Realität?
Der Gott ohne Bart ist der düstere Verbrecherboss, der nur ganz selten überhaupt gesehen wird. Über ihn
wird mehr spekuliert, als dass man exakte Charakteristika zusammentragen könnte. Ein Phantom, das
letztlich alle Fäden der Politik und des Kapitalmarkts in der Hand hält. Eine Figur zum Reinprojizieren. Sei
es der Pate von Francis Ford Coppola. Sei es ein Mogul der Wall Street. Sei es ein Schläfer einer grossen
Weltverschwörung.
Was denkst du: Findet das Gesamtwerk von Friedrich Dürrenmatt seinen Höhepunkt in dem nahezu vergessenen Roman Durcheinandertal?
Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich bin ja kein Literaturwissenschaftler. Ich finde aber toll, was sich
Dürrenmatt an seinem Lebensende geleistet hat. Statt weise erklärende Aufsätze über Literatur und Welt
zu hinterlassen, hat er sich mit einem spürbar grossen Spass an die Motive Vielfalt, Paralleluniversen,
Chaos, Widersprüche und Zentrifugalkräfte des Alltags herangemacht, ja, sich im Roman regelrecht in
einen geballten Themen-und Figuren-Exzess gestürzt. Nebenbei gesagt, hat er für diese literarische Frechheit danach auch einige Kritik und Irritation einstecken müssen. Und das in der Hochzeit der Postmoderne
der 80er-Jahre. Da hat er gezeigt, dass die Lust an Spiel und Kombination wohl häufig nur ein kulinarisches
Vergnügen ist, wenn es um Ästhetik geht, dass diese Lust aber zu Überforderungsempfindungen führt, sobald man sie auf Wahrnehmung von konkretem Alltag überträgt oder loslässt. (lacht) Oh Gott, jetzt spürt
man doch noch den Geisteswissenschaftler in mir bei diesem theoretischen Geschwafel.
Warum hat das eigentlich noch kein Theater in Angriff genommen?
Das weiss ich nicht. Es ist ein gefundenes Fressen für Regie und Schauspieler/innen.
[…] Der Roman hat so gut wie keine dialogischen Szenen, ist also mehr episch als schon in sich theatral.
Überraschend für den Dramatiker Dürrenmatt, der ja selbst auch Filmdrehbücher geschrieben hat, also
sehr wohl im Dialogschreiben beschlagen war. Wie findet man dafür eine adäquate Form?
Die Ausgangsbasis ist die Form des Erzähltheaters. Damit docken wir an die Erzählfreude des Romans an.
Anderen Menschen Geschichten zu erzählen (Sagen, Legenden, Märchen etc.), das ist ja an sich eine Urform des Theaters. Und damit landen wir wieder beim mythologischen Urschleim der Menschheit, in den
Dürrenmatt ja immer vernarrt war. Also Bilder, Rituale, Motive, die die Menschheit seit jeher, bis heute,
fesseln. Wie der Stein den Sisyphos. Und davon ausgehend wollen wir gleichzeitig die ganze Theatermaschine dampfen lassen. Also auch stark über Bilder gehen oder auch die suggestive Theatermusik, die
Stefan Pinkernell für uns entwickelt. Was die Textebene angeht, so haben wir auch ein paar Dialoge erfunden. Quasi frei nach Dürrenmatt. Oder wir haben die «eine» Prosa auf mehrere Spieler aufgeteilt.
Dadurch wird das Ganze spielerisch. Und hinzu kommt noch der Spass, dass wir die meisten Rollen konträr
besetzen. Also Frauen spielen die Männer und umgekehrt. So stellen wir natürlich das Moment des Spiels
in einen besonderen Fokus.
Hätte sich das der alte Fritz gewünscht, so eine Gegenbesetzung?
Ob Dürrenmatt sich das gewünscht hätte, weiss ich nicht. Ich mache das gerne mit dieser Art der Besetzung, weil es für mich viel Sinn ergibt – im Sinne der grotesken Geschichte.
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Theater St.Gallen
Inwiefern hat der Text von Friedrich Dürrenmatt schon mit dem postfaktischen Zeitalter zu tun, in dem
wir uns angeblich befinden?
Sehr viel sogar. Zum einen sieht man sehr deutlich bei den Figuren, wie sie panisch herumtaumeln. In der
transzendentalen Obdachlosigkeit. Sowie in der Unüberblickbarkeit der unmittelbaren politischen und
sozialen Zusammenhänge und Ereignisse der Welt. (lacht) Insofern hat der Altmeister Dürrenmatt einen
grossen, mahnenden Globalisierungsstoff entworfen, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Da klammern sich alle fest, an etwas, was sie unmittelbar emotional anspricht. Sei es etwa ein Selbstfindungssektierertum oder sei es nur die Vergötterung oder Dämonisierung eines Hundes. Zum anderen
erkennt man bei letzterem Punkt, dass das sogenannte moderne Phänomen der Postfaktizität eigentlich
ein alter Hut des menschlichen Miteinanders ist. Empfinden Menschen grosse Ängste oder Unsicherheit,
so kann man sich sicher sein, dass irgendein Rattenfänger hervorgeschossen kommt, der mit Feindbildern
und Hetze das Selbstbewusstsein der unruhigen Masse aufzupäppeln verspricht.
Du hast es bereits erwähnt: Ein Merkmal des Werks von Dürrenmatt ist das Groteske in diversen Spielarten. Der Roman arbeitet mit Überzeichnungen, Übertreibungen, Verzerrungen, gleichermassen mit Komik
wie mit Grauen. Inwiefern findet sich dies in der Inszenierung wieder?
Also erst einmal natürlich durch Dürrenmatt selber. Mit dessen Denkweise und Figuren und Erzählstruktur. Ich lese das ganze zusammengefasst als ein Anti-Märchen, also eine unerbittliche und zugleich liebevolle Schilderung der Welt, die vielleicht keinen Trost, aber wenigstens Verständnis bietet. Auf das AntiMärchen reagieren wir theatralisch, indem wir, wie ich eben schon meinte, nicht vor grossen Bildern,
Mitteln und Effekten zurückschrecken. Und diese Lust am grossen Melodram oder dem grossen Witz zeigt
sich auch im Bühnenbild von Claudia Rohner, einem stilisierten Riesenhund, der mal augenzwinkernd ein
monumentales Götzenbild verkörpert und dann auf einmal feine Architektur ist, die verschiedene Assoziationen zulässt wie Berg, Haus oder Tal. Wirklich grotesk sind oftmals die Crossbesetzungen mit den gegenteiligen Geschlechtern. Durch diese Kollision von Rolle und Spieler/in entsteht eine ganz besondere Welt.
Entweder weil Figuren monströs ausgestellt werden oder weil in der Überhöhung plötzlich etwas Neues,
etwas Drittes entsteht, eine besonders gruselige Gestalt oder eine besonders verlorene. Jedenfalls etwas
sehr Spezielles, wie es in einer konventionellen harmonischen Besetzung nicht machbar gewesen wäre.
Bühnenbildmodell von Claudia Rohner
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