Vorkurs Mathematik Universität Konstanz Fachbereich Mathematik und Statistik D. K. Huynh September 2013 Inhaltsverzeichnis 1 Einführung 4 1.1 Praktisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Philosophisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Ein Intelligenztest – oder wie werden die Folgen fortgesetzt? . . . 5 1.4 Beweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Natürliche Zahlen, Summen und Summenformeln 2.1 10 Die natürlichen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.1 Bubble Sort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.2 Das Summenzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.3 Ganze Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3 Teilbarkeitslehre und Restklassenarithmetik 16 3.1 Gruppentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.2 Teilbarkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.3 Restklassenarithmetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.4 Modulo Notation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4 Zahlenbereiche 4.1 23 Rationale Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.1.1 Addition von Brüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.1.2 Multiplikation von Brüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 4.2 Dezimalzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.3 Reelle Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4.4 Einschub: Aussagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 5 Polynomiale Gleichungen 5.1 28 Lineare Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 28 5.2 Quadratische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 5.3 Polynomgleichungen höheren Grades . . . . . . . . . . . . . . . . 30 5.3.1 Auflösbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale . 30 5.3.2 Lemma von Gauß 30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Lineare Gleichungssysteme 33 6.1 Gaußsches Eliminationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6.2 Matrizenmultiplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 7 Determinanten und Ungleichungen 39 7.1 Determinante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 7.2 Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 7.2.1 Anordnungsaxiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 7.2.2 Absolutbetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 7.2.3 Die Dreiecksungleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 8 Das Beweisverfahren der vollständigen Induktion 46 8.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 8.2 Illustration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 8.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 9 Komplexe Zahlen 50 9.1 Algebraische Form einer komplexen Zahl . . . . . . . . . . . . . . 51 9.2 Polarkoordinaten einer komplexen Zahl 52 . . . . . . . . . . . . . . 10 Folgen und Konvergenz von Folgen 10.1 Der Grenzbegriff für Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Reihen, Funktionen 55 55 59 11.1 Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 11.1.1 Geometrische Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 11.1.2 Die harmonische Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 11.2 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 12 Funktionen und Mächtigkeiten 67 12.1 Etwas Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 12.2 Injektive, surjektive und bijektive Funktionen . . . . . . . . . . . 67 2 13 Stetige Funktionen, Binomischer Lehrsatz 75 13.1 Funktionenfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 13.2 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 13.3 Etwas Kombinatorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 13.4 Der Binomische Lehrsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 14 Differentialrechnung 81 14.1 Geradengleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 14.2 Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 14.3 Ableitungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 15 Integralrechnung 87 15.1 Supremum und Infimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 15.2 Flächeninhalt und Integral einfacher Funktionen . . . . . . . . . 88 15.3 Integral gutartiger Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 15.4 Integral von Treppenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 15.5 Das Riemann-Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 16 Infinitesimalrechnung, Mengenlehre und logische Verknüpfungen 95 16.1 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung . . . . . . . . . 95 16.2 Partielle Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 16.3 Substitutionsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 16.4 Exponential- und Logarithmusfunktion . . . . . . . . . . . . . . . 98 16.5 Mengenlehre und logische Verknüpfungen . . . . . . . . . . . . . 100 3 Vorlesung 1 Einführung 1.1 Praktisches Zeiten: 10:00-12:00 12:00-13:00 13:00-14:30 14:30-16:00 Uhr Uhr Uhr Uhr Vorlesung Mittagspause Präsenzübung Übungsgruppen Material: ∙ Papier und Stift ∙ wacher Verstand ∙ kein Taschenrechner 1.2 Philosophisches ∙ Was ist Mathematik? Eine Strukturwissenschaft, eine Geisteswissenschaft, aber keine Naturwissenschaft. ∙ Was machen Mathematiker? Mathematiker erforschen und analysieren Strukturen und führen Beweise. Ziel ist es meist, Dinge möglichst gut zu abstrahieren. Es gibt sozusagen zwei Lager“ der Mathematiker: Die Theoriebauer“ und die Pro” ” ” blemlöser“. ∙ Wo wird Mathematik eingesetzt? Was sind Anwendungen von Mathematik? Beispielsweise in der Verschlüsselung (Kryptographie), für MP3s,... 4 ∙ Ist alles in der Mathematik bereits erforscht? Nein! Zum Beispiel gibt es die sogenannten die Millenium-Prize-Probleme, die das Clay Mathematics Institute im Jahr 2000 auslobte. Für die Lösung jedes dieser Probleme kann man eine Million US-Dollar gewinnen. Eines davon ist das 𝑃 versus 𝑁 𝑃 -problem“: ” 𝑃 bezeichnet die Klasse derjenigen Fragestellungen, die in polynomialer Zeit beantwortet werden können, d.h. es gibt einen Algorithmus, der in polynomialer Zeit die Frage beantwortet. Die Frage kann also schnell beantwortet werden. Es gibt aber Fragen, für die es keinen Algorithmus gibt. Wenn aber eine Antwort existiert, so kann diese schnell überprüft werden. Diese Klasse, für die man Antworten in polynomialer Zeit überprüfen kann, wird mit 𝑁 𝑃 bezeichnet. Offenbar gilt 𝑃 ⊂ 𝑁 𝑃 . Beispiel: Teilsummenproblem (subset sum problem) 𝐼 = {−2, −3, 15, 14, 7, −10} Gibt es eine nicht-leere Teilmenge von 𝐼, sodass deren Elemente sich zu 0 aufaddieren? Die Antwort ist ja“, denn ” (−2) + (−3) + (−10) + 15 = 0. Dies können wir sofort (in polynomialer Zeit (linear)) überprüfen. Es ist aber kein Algorithmus bekannt, mit dem man diese Frage in polynomialer Zeit beantworten könnte (es gibt aber einen in exponentieller Zeit). Es gilt: 𝑁 𝑃 schnell überprüfbar“ ” 𝑃 schnell lösbar“ ” Es ist offenbar 𝑃 ⊂ 𝑁 𝑃 . Die wichtige Frage ist also: Gilt 𝑁 𝑃 ⊂ 𝑃 und somit 𝑁 𝑃 = 𝑃 ? Viele glauben, dass die Gleichheit nicht gilt. Wer die Frage eindeutig beantworten kann, erhält vom Clay Mathematics Institute 1 Mio. US-Dollar. 1.3 Ein Intelligenztest – oder wie werden die Folgen fortgesetzt? a) 2, 4, 6, 8, ... b) 3, 5, 7, ... c) −1, 2, −4, 8, −16, ... Mögliche Antworten sind a) Es kann als die Folge der geraden Zahlen fortgesetzt werden. Man könnte die Folge aber auch so fortsetzen: 2, 4, 6, 8, 2, 4, 6, 8, ... 5 b) Es kann als die Folge der ungeraden Zahlen ≥ 3 fortgesetzt werden. Ebenso könnte man die Folge auch als die der Primzahlen sehen. Eine Primzahl ist eine natürliche Zahl mit genau zwei Teilern (1 ist keine Primzahl). c) Die Zahlen werden verdoppelt mit wechselndem Vorzeichen. Letztendlich könnte man die Folge aber auch beliebig fortsetzen, beispielsweise mit −1, 2, −4, 8, −16, 100, 101, 𝜋, 𝑒, ... Um eine Folge eindeutig festzulegen, bedarf es einer expliziten Darstellung, etwa: a) 𝑎𝑛 = 2𝑛, 𝑛 ∈ ℕ wobei ℕ die Menge der natürlichen Zahlen bezeichnet, also ℕ = {0, 1, 2, ...}. Ob die Zahl 0 zu den natürlichen Zahlen gehört, ist unter Mathematikern strittig. In dieser Veranstaltung legen wir fest, dass 0 ∈ ℕ ist. b) 𝑏𝑛 = 2𝑛 − 1, 𝑛 ∈ ℕ, 𝑛 ≥ 1 Dann ist 𝑏𝑛 die Folge der ungeraden Zahlen ≥ 3. c) Wie lautet die explizite Darstellung von −1, 2, −4, 8, −16, ...? Antwort: 𝑐𝑛 = (−1)(𝑛+1) 2𝑛 , 𝑛 ∈ ℕ. Beachte: Für 𝑎 > 0 gilt 𝑎0 = 1 (Begründung später.) Bemerkung. Die Essenz dieses Abschnitts ist folgende Feststellung: Die mathematische Sprache erlaubt es uns, in kurzer und prägnanter Form eine unendliche Folge exakt zu beschreiben. Einschub: Die Binomischen Formeln Für 𝑎, 𝑏 ∈ ℝ gilt: (𝑎 + 𝑏)2 = 𝑎2 + 2𝑎𝑏 + 𝑏2 (𝑎 − 𝑏)2 = 𝑎2 − 2𝑎𝑏 + 𝑏2 (𝑎 + 𝑏)(𝑎 − 𝑏) = 𝑎2 − 𝑏2 Hier bezeichnet ℝ die Menge der reellen Zahlen. ℝ werden wir später noch ausführlicher besprechen. Wir betrachten die Folge 1, 4, 9, 16, 25, 36, ... Um welche Folge handelt es sich hier? Was fällt auf? Es ist die Folge der Quadratzahlen: 1 4 9 16 25 ∥ ∥ ∥ ∥ ∥ 12 22 32 42 52 |{z} +3 |{z} +5 |{z} +7 |{z} +9 6 36 ⋅ ⋅ ⋅ ∥ 62 |{z} +11 ⋅⋅⋅ Wir beobachten: Die Differenz zweier aufeinander folgender Quadratzahlen ist eine ungerade Zahl. Wie können wir eine solche Aussage beweisen? Manchmal hilft eine Veranschaulichung: Zur 𝑛-ten Quadratzahl addieren wir 2𝑛 + 1 und erhalten die nächste Quadratzahl, also: 𝑛2 + 2𝑛 + 1 = (𝑛 + 1)2 und das ist genau die erste Binomische Formel. 𝑛2 ist die 𝑛-te Quadratzahl und (𝑛 + 1)2 ist die (𝑛 + 1)-te Quadratzahl. Ihre Differenz ist (𝑛 + 1)2 − 𝑛2 = 2𝑛 + 1. Wir haben soeben einen mathematischen Beweis erbracht. 1.4 Beweisen Wie ist ein mathematischer Beweis aufgebaut? Formal besteht ein Beweis aus: ∙ Behauptung: Voraussetzungen und eigentliche Behauptung ∙ Beweis: Aus den Voraussetzungen wird mittels einer Kette von logischen Schritten die Behauptung hergeleitet. Welche Sätze kennen Sie aus der Schule? Wahrscheinlich unter anderem den Satz des Pythagoras. Im Folgenden werden wir diesen beweisen. Voraussetzung: Das Dreieck ist rechtwinklig. Behauptung: In einem rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten gleich dem Flächeninhalt des Quadrats über der Hypotenuse. Beweis. Wir erstellen ein Quadrat mit Kantenlänge 𝑐 c² und errichten über jeder Seite des Quadrates das Dreieck 𝐴𝐵𝐶: 7 a C b a b A c c² B Dann gilt für den Flächeninhalt 𝐴1 des neu entstandenen großen Quadrates mit der Seitenlänge 𝑎 + 𝑏: 𝐴1 = (𝑎 + 𝑏)2 . Andererseits gilt: 𝐴1 = 4𝐴Δ + 𝑐2 wobei 𝐴Δ der Flächeninhalt des Dreiecks 𝐴𝐵𝐶 ist. Wir haben 𝐴Δ = 12 𝑎𝑏. Somit gilt 𝐴1 = 4𝐴Δ + 𝑐2 = 4 ⋅ 12 𝑎𝑏 + 𝑐2 = 2𝑎𝑏 + 𝑐2 . Ferner haben wir 𝐴1 = (𝑎 + 𝑏)2 = 𝑎2 + 2𝑎𝑏 + 𝑏2 . Daraus folgt 𝑎2 + 2𝑎𝑏 + 𝑏2 = 2𝑎𝑏 + 𝑐2 und damit 𝑎 2 + 𝑏2 = 𝑐 2 . An welcher Stelle haben wir ausgenutzt, dass das Dreieck 𝐴𝐵𝐶 rechtwinklig ist? Antwort: An der Stelle wir errichten über jeder Seite des Quadrates mit Kan” tenlänge 𝑐. . .“. Das so erhaltene Polygon (Vieleck) ist genau dann ein Quadrat, wenn 𝐴𝐵𝐶 rechtwinklig ist! Bemerkung. 𝑎2 + 𝑏2 = 𝑐2 mit 𝑎, 𝑏, 𝑐, ∈ ℚ ist eine Diophantische Gleichung, dabei interessieren wir uns nur für rationale Lösungen 𝑎, 𝑏 und 𝑐. Diophantische Gleichungen sind ein Teilgebiet der Zahlentheorie – auch bekannt als Königin ” der Mathematik“. Die Gleichung 𝑎 2 + 𝑏2 = 𝑐 2 besitzt unendlich viele rationale Lösungen – ein solches Lösungstripel (𝑎, 𝑏, 𝑐) wird pythagoräisches Tripel genannt. Wir können allgemein fragen: Gibt es Lösungen mit 𝑎, 𝑏, 𝑐 ∈ ℚ für 𝑎𝑛 + 𝑏𝑛 = 𝑐𝑛 mit 𝑛 ≥ 3? Die Antwort ist Nein“ und ist Gegenstand von Fermats letzten Satz. Die Be” hauptung stand über 350 Jahre im Raum und wurde schließlich von Andrew Wiles in siebenjähriger Arbeit 1995 bewiesen. An dieser Stelle eine Literaturempfehlung: Simon Singh – Fermats letzter Satz. Aus dem Satz des Pythagoras folgt: Satz 1.4.1. (Möndchen des Hippokrates) Die Summe 𝐴1 und 𝐴2 der Flächeninhalte der Halbkreise über den Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks 𝐴𝐵𝐶 ist gleich dem Flächeninhalt 𝐴3 des Halbkreises über der Hypotenuse. 8 A1 A2 A3 Beweis. Übungsaufgabe 4 von Blatt 1. Eine Verallgemeinerung von Pythagoras ist folgender Satz 1.4.2. Errichtet man über den Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks 𝐴𝐵𝐶 ähnliche Polygone, so gilt: Die Summe der Flächeninhalte 𝐴1 und 𝐴2 der Polygone über den Katheten ist gleich dem Flächeninhalt 𝐴3 des Polygons über der Hypotenuse. A1 A2 A3 Zur Erinnerung: Zwei Polygone heißen ähnlich, wenn ihre Winkel übereinstimmen und alle ihre Begrenzungslinien jeweils im gleichen Verhältnis zueinander stehen. In der allgemeinen Form lautet der Satz des Pythagoras Satz 1.4.3. Errichtet man über den Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks 𝐴𝐵𝐶 ähnliche Figuren, so gilt: Die Summe der Flächeninhalte der Figuren über den Katheten ist gleich dem Flächeninhalt der Figur über der Hypotenuse. 9 Vorlesung 2 Natürliche Zahlen, Summen und Summenformeln 2.1 Die natürlichen Zahlen Die natürlichen Zahlen sind diejenigen Zahlen mit denen wir zählen 0, 1, 2, 3, . . . Es gibt unendlich viele und wir schreiben kurz ℕ = {0, 1, 2, 3, . . .} Wir wissen, wie wir natürliche Zahlen addieren und multiplizieren. Wir kennen auch die folgenden Gesetze für diese Verknüpfungen: Addition Multiplikation Gesetz 𝑚+𝑛=𝑛+𝑚 𝑚⋅𝑛=𝑛⋅𝑚 Kommutativität 𝑘 + (𝑚 + 𝑛) = (𝑘 + 𝑚) + 𝑛 𝑘 ⋅ (𝑚 ⋅ 𝑛) = (𝑘 ⋅ 𝑚) ⋅ 𝑛 Assoziativität Darüber hinaus gilt die Distributivität, d.h. 𝑘 ⋅ (𝑚 + 𝑛) = 𝑘 ⋅ 𝑚 + 𝑘 ⋅ 𝑛. Wir setzen stillschweigend voraus: Es gilt Punkt- vor Strichrechnung. Bemerkung. Aus der Distributivität ergibt sich z.B. (10 + 𝑎) ⋅ (10 + 𝑏) = 10 ⋅ (10 + 𝑏) + 𝑎 ⋅ (10 + 𝑏) = 100 + 10𝑏 + 10𝑎 + 𝑎𝑏 = 100 + 10(𝑎 + 𝑏) + 𝑎𝑏. Und damit eine Rechenhilfe für das Große Einmaleins (wenn 𝑎, 𝑏 ∈ {0, 1, 2, . . . , 9}) aus dem kleinen Einmaleins – wir müssen lediglich die Einerstellen (𝑎 und 𝑏) 10 addieren, anschließend mit 10 multiplizieren. Das Resultat addieren wir zum Produkt der Einerstellen und 100. Hierzu müssen wir nur das kleine Einmaleins kennen. Beispiel. 17 + 15 = 100 + 10 ⋅ (7 + 5) + 7 ⋅ 5 = 100 + 120 + 35 = 255. Die Zahlen 0 und 1 spielen für die Addition bzw. Multiplikation eine Sonderrolle. Sei 𝑛 ∈ ℕ. Dann gilt: 0+𝑛=𝑛 1⋅𝑛=𝑛 Wir nennen 0 ein neutrales Element für die Addition und 1 ein neutrales Element für die Multiplikation. Für natürliche Zahlen 𝑎, 𝑏 gelten: 𝑎 + 𝑏 = 0 ⇒ 𝑎 = 𝑏 = 0. (Das gilt nicht für ganze Zahlen!) Und ferner: 𝑎 ⋅ 𝑏 = 0 ⇒ 𝑎 = 0 oder 𝑏 = 0. Wir können natürliche Zahlen der Größe nach vergleichen: Wir schreiben 𝑚 ≤ 𝑛, wenn es eine natürliche Zahl 𝑘 mit 𝑚 + 𝑘 = 𝑛 gibt. In diesem Fall sagen wir: 𝑚 ist kleiner oder gleich 𝑛. Beachten Sie: Dieses “oder” ist kein ausschließliches oder im Sinne von “entweder oder”. Dazu später mehr. Die Relation ’≤’ genügt den folgenden Gesetzen: ∙ Transitivität, d.h. 𝑘≤𝑚 und ∙ Reflexivität, d.h. 𝑚 ≤ 𝑛 ⇒ 𝑘 ≤ 𝑛. 𝑛 ≤ 𝑛. ∙ Antisymmetrie, d.h. 𝑚 ≤ 𝑛 und ∙ Totalität, d.h. 𝑚≤𝑛 𝑛 ≤ 𝑚 ⇒ 𝑚 = 𝑛. oder 𝑛 ≤ 𝑚. Darüber hinaus ist 0 ≤ 𝑛 für alle 𝑛 ∈ ℕ. Bezüglich der Addition und Multiplikation gilt für ≤: 𝑚≤𝑛 𝑚≤𝑛 ⇒𝑘+𝑚≤𝑘+𝑛 ⇒ 𝑘 ⋅ 𝑚 ≤ 𝑘 ⋅ 𝑛. 11 2.1.1 Bubble Sort In der Informatik (und immer da, wo wir es mit großen Datenmengen zu tun haben) kommt es vor, dass wir eine ungeordnete Liste etwa nach Größe sortieren müssen. Ein Beispiel für einen Sortieralgorithmus ist bubble sort. Gegeben sei eine nicht notwendigerweise sortierte Liste, etwa 6, 5, 3, 1, 4. Im bubble sort Algorithmus durchlaufen wir die Liste von links nach rechts und vergleichen das jeweils aktuelle Element mit seinem rechten Nachbar. Falls die beiden das Sortierkriterium (z.B. 𝑎 < 𝑏) verletzen werden sie getauscht. Die bubble-Phase“ wird solange wiederholt bis die Eingabeliste vollständig sortiert ” ist. Dabei wandert das jeweils größte Element wie eine Blase“ nach oben, ” 6, 5, 3, 1, 4 → 5, 6, 3, 1, 4 → 5, 3, 6, 1, 4 → 5, 3, 1, 6, 4 → 5, 3, 1, 4, 6 → 3, 5, 1, 4, 6 → 3, 1, 5, 4, 6 → 3, 1, 4, 5, 6 → 1, 3, 4, 5, 6. Frage: Wieviele Operationen werden im best case“ bzw. im worst case“ bei ” ” einer Liste von 10 Elementen benötigt? ∙ Im best case haben wir eine bereits sortierte Liste, etwa: 1, 2, 3, . . . , 10 Benötigt werden also 0 Operationen. ∙ Im worst case ist die Liste in umgekehrter Reihenfolge: 10, 9, 8, . . . , 1 Hier werden 9+8+7 . . .+1 Operationen benötigt, um die Liste zu sortieren. 2.2 Das Summenzeichen Es stellt sich hier die Frage: Was ist 1 + 2 + 3 . . . + 9? Oder was ist z. B. 1 + 2 + 3 + 4 . . . + 100? Oder allgemein, was ist die Summe der ersten 𝑛 Zahlen? Was ist 1 + 2 + 3 + . . . + 𝑛? Um den Schreibaufwand zu reduzieren und aus Gründen der Übersichtlichkeit, führen wir nun die in der Mathematik übliche Schreibweise für Summen ein. Zum Beispiel haben wir 10 ∑ 𝑗 = 1 + 2 + . . . + 10. 𝑗=1 ∑ Dabei bezeichnet der griechische Groß-Buchstabe Sigma das Summenzeichen. 𝑗 ∈ ℤ ist der Laufindex, wobei hier 𝑗 = 1 der Startindex und 𝑗 = 10 der Endindex ist. Hierbei durchläuft 𝑗 die Werte von 1 bis 10 und erhöht seinen Wert bei jedem Durchlauf um 1, bis 10 erreicht ist. Allgemein: 12 Es sei 𝑓 : ℕ → ℝ eine Funktion. Dann haben wir mit dem Summenzeichen für 𝑚 ≤ 𝑛 folgende Identitäten 𝑛 ∑ 𝑓 (𝑗) = 𝑓 (1) + 𝑓 (2) + 𝑓 (3) + . . . + 𝑓 (𝑛) 𝑗=1 𝑛 ∑ 𝑓 (𝑗) = 𝑓 (𝑚) + 𝑓 (𝑚 + 1) + . . . + 𝑓 (𝑛). 𝑗=𝑚 Gilt 𝑚 > 𝑛, so haben wir die leere Summe, diese ist 0. Beispiele ∙ Für 𝑓 (𝑥) = 𝑥3 erhalten wir 4 ∑ 𝑓 (𝑗) = 𝑓 (1) + 𝑓 (2) + 𝑓 (3) + 𝑓 (4) = 13 + 23 + 33 + 43 . 𝑗=1 ∙ Wir haben 12 ∑ √ 𝑗= √ 9+ √ 10 + √ 11 + √ 12, 𝑗=9 hier ist 𝑓 (𝑗) = √ 𝑗. ∙ Wir haben 1 ∑ 𝑗 = 0. 𝑗=3 ∙ Wir haben 2 ∑ 𝑗 = (−3) + (−2) + (−1) + 0 + 1 + 2. 𝑗=−3 Was ist nun 𝑛 ∑ 𝑗=1 𝑗 = 1 + 2 + 3 + . . . + (𝑛 − 1) + 𝑛? Die Folge der Summe der ersten 𝑛 Zahlen 1, 3, 6, 10, . . . lässt sich durch Dreiecke darstellen; daher werden sie auch Dreieckszahlen genannt: 1 1+2=3 1+2+3=6 1 + 2 + 3 + 4 = 10 Die Gesamtanzahl der Punkte eines Dreiecks lässt sich nun leicht berechnen, indem wir die Dreiecke spiegeln. Dann erhalten wir Rechtecke deren lange Seite gerade eine Einheit länger ist als die kurze Seite: 13 11=1 23=6 3 4 = 12 4 5 = 20 Somit ist 𝑛 ⋅ (𝑛 + 1) die Anzahl der Punkte des 𝑛-ten Rechtecks. Teilen wir anschließend durch 2, so erhalten wir die Anzahl der Punkte des 𝑛-ten Dreiecks; diese entspricht der Summe der ersten 𝑛 Zahlen. Mithin haben wir folgende Summenformel 𝑛 ∑ 𝑛(𝑛 + 1) 𝑗= . 2 𝑗=1 Dies formulieren wir als Satz: Satz 2.2.1 (Gaußsche Summenformel). Für die Summe der ersten 𝑛 Zahlen gilt 𝑛 ∑ 𝑛(𝑛 + 1) 𝑗= . 2 𝑗=1 Alternativ können wir die Summenformel wie folgt beweisen: Wir schreiben die Zahlen von 1 bis 𝑛 von links nach rechts in einer Zeile auf und direkt darunter von rechts nach links und erhalten 1 2 3 ... 𝑛 (𝑛 − 1) (𝑛 − 2) ... (𝑛 − 1) 2 𝑛 1 Wir beobachten, dass die Summe von jeder Spalte 𝑛 + 1 ist. Es gibt 𝑛 Spalten. Also ist 𝑛 ⋅ (𝑛 + 1) die zweifache Summe der ersten 𝑛 Zahlen. Somit gilt für die Summe der ersten 𝑛 Zahlen: 𝑛 ∑ 𝑛(𝑛 + 1) . 𝑗= 2 𝑗=1 Der Anekdote nach kam der berühmte Carl Friedrich Gauß auf diesen Ansatz als Sechsjähriger. Einen weiteren Beweis werden wir sehen, wenn wir das Beweisfahren der vollständigen Induktion (Vorlesung 8) behandeln. Unter Anwendung der Gaußschen Summenformel erhalten wir: bubble sort benötigt also im worst case bei einer Liste mit 𝑛 Elementen insgesamt 𝑛−1 ∑ 𝑗=1 𝑗= 𝑛 ⋅ (𝑛 − 1) 2 Operationen, um die Liste zu sortieren. 2.3 Ganze Zahlen Im Bereich ℕ der natürlichen Zahlen können wir bekanntlich eine Gleichung 𝑎+𝑥=𝑏 14 nur dann in 𝑥 lösen, wenn 𝑎 ≤ 𝑏. So können wir etwa 7+𝑥=5 mit 𝑥 ∈ ℕ nicht lösen. Hierzu benötigen wir die negativen Zahlen. Die ganzen Zahlen sind . . . , −2, −1, 0, 1, 2, . . . Wir bezeichnen sie mit ℤ = {. . . , −2, −1, 0, 1, 2, . . .}. Im Bereich der ganzen Zahlen gilt folgende Existenzaussage, die in ℕ noch falsch ist: Zu jedem 𝑛 ∈ ℤ gibt es ein 𝑛′ mit 𝑛 + 𝑛′ = 0. Wir nennen 𝑛′ ein Inverses von 𝑛 bezüglich der Addition. 15 Vorlesung 3 Teilbarkeitslehre und Restklassenarithmetik 3.1 Gruppentheorie Wie wir in Vorlesung 2 gesehen haben, hat die Menge ℤ mit der Addition gewisse Eigenschaften. Wir fassen nun bestimmte Eigenschaften zusammen und führen den fundamentalen Begriff einer Gruppe ein. Definition 3.1.1. Ein Paar (𝐺, ∗) bestehend aus einer Menge 𝐺 und einer Verknüpfung ∗: 𝐺×𝐺→𝐺 (𝑎, 𝑏) 7→ 𝑎 ∗ 𝑏 heißt Gruppe, wenn folgendes gilt: (G1) Für alle 𝑎, 𝑏, 𝑐 ∈ 𝐺 gilt (𝑎 ∗ 𝑏) ∗ 𝑐 = 𝑎 ∗ (𝑏 ∗ 𝑐) (Assoziativität). (G2) Es existiert ein neutrales Element 𝑒 ∈ 𝐺, so dass für alle 𝑎 ∈ 𝐺 gilt 𝑎 ∗ 𝑒 = 𝑎. (G3) Für jedes 𝑎 ∈ 𝐺 existiert ein inverses Element 𝑎−1 ∈ 𝐺, so dass 𝑎 ∗ 𝑎−1 = 𝑒 gilt. Hierbei bezeichnet 𝐺 × 𝐺 das kartesische Produkt mit sich selbst: Definition 3.1.2. Seien 𝐴 und 𝐵 Mengen. Dann definieren wir das kartesische Produkt von 𝐴 mit 𝐵 durch 𝐴 × 𝐵 := {(𝑎, 𝑏)∣𝑎 ∈ 𝐴, 𝑏 ∈ 𝐵}. 16 Das kartesische Produkt 𝐴 × 𝐵 ist also die Menge aller Tupel (𝑎, 𝑏) mit 𝑎 ∈ 𝐴 und 𝑏 ∈ 𝐵. Die Gruppe heißt abelsch bzw. kommutativ, falls gilt 𝑎 ∗ 𝑏 = 𝑏 ∗ 𝑎. Anstatt (𝐺, ∗) schreiben wir kurz 𝐺, wenn klar ist, welche Gruppe und welche Verknüpfung gemeint ist. Definition 3.1.3. (𝐻, ∗) heißt Halbgruppe, wenn die Verknüpfung ∗ assoziativ ist. Eine Halbgruppe ist eine Verallgemeinerung einer Gruppe. Bei einer Halbgruppe fordern wir nicht die Existenz eines neutralen Elements oder die Existenz von Inversen. Eine Gruppe ist stets eine Halbgruppe, umgekehrt gilt das natürlich nicht. Beispiele. ∙ Mit diesen Definitionen können wir sagen, dass (ℤ, +), d.h. die Menge der ganzen Zahlen mit der gewöhnlichen Addition + als Verknüfung, eine kommutative Gruppe ist: Die Addition ist assoziativ (G1): (𝑎 + 𝑏) + 𝑐 = 𝑎 + (𝑏 + 𝑐). Es gibt ein neutrales Element (G2), nämlich 0, so dass 𝑎 + 0 = 𝑎. Zu jedem 𝑛 ∈ ℤ gibt es ein 𝑛′ ∈ ℤ (G3) mit 𝑛 + 𝑛′ = 0 (nämlich 𝑛′ = −𝑛). Überdies gilt 𝑎 + 𝑏 = 𝑏 + 𝑎. ∙ Frage: Ist (ℕ, +) ist eine Gruppe? Nein! Das neutrale Element ist ebenfalls die 0. Aber zum Beispiel hat das Element 2 ∈ ℕ kein Inverses: Es gibt kein 𝑛 ∈ ℕ mit 2 + 𝑛 = 0. (ℕ, +) ist eine Halbgruppe. ∙ Frage: Ist (ℤ, ⋅) mit der gewöhnlichen Multiplikation eine Gruppe? Nein! Das neutrale Element bezüglich der Multiplikation ist 1. Aber beispielsweise hat 2 ∈ ℤ kein multiplikatives Inverses. (ℤ, ⋅) ist eine Halbgruppe. 3.2 Teilbarkeitslehre Es seien 𝑚, 𝑛 ∈ ℤ. Wir sagen 𝑚 ist durch 𝑛 teilbar, wenn es ein 𝑘 ∈ ℤ gibt mit 𝑚 = 𝑘 ⋅ 𝑛. 17 Anders formuliert: 𝑛 teilt 𝑚. Hierfür schreiben wir kurz 𝑛∣𝑚. Wir bemerken: 0 ∈ ℤ ist durch jede Zahl 𝑛 ∈ ℤ teilbar, denn es gilt 0=0⋅𝑛 (wir wählen 𝑘 = 0). Welche Teilbarkeitsregeln kennen Sie? ∙ Jede Zahl 𝑛 ∈ ℤ ist durch 1 teilbar. Es gilt 𝑛 = 𝑛 ⋅ 1. ∙ Eine Zahl 𝑛 ∈ ℤ ist genau dann durch 2 teilbar, wenn sie gerade ist, d.h. ihre letzte Ziffer ist 0, 2, 4, 6 oder 8. ∙ 100 ist durch 4 teilbar. Somit ist auch jedes Vielfache von 100 durch 4 teilbar. Damit ist eine entsprechend große Zahl genau dann durch 4 teilbar, wenn ihre beiden letzten Ziffern als Zahl aufgefasst durch 4 teilbar ist. ∙ Eine Zahl ist genau dann durch 5 teilbar, wenn ihre letzte Ziffer 0 oder 5 ist. ∙ 8∣1000 ⇒ 8∣1000𝑘, 𝑘 ∈ ℤ. Somit ist eine entsprechend große Zahl genau dann durchh 8 teilbar, wenn ihre letzten 3 Ziffern als Zahl aufgefasst durch 8 teilbar ist. ∙ Für die Teilbarkeit durch 3 oder 9 gilt die Quersummenregel, siehe unten. ∙ Eine Zahl ist genau dann durch 6 teilbar, wenn sie durch 2 und 3 teilbar ist. ∙ Für die Teilbarkeit durch 7 gibt es keine bekannte Regel. Definition 3.2.1. Es sei 𝑛 ∈ ℕ eine (𝑚 + 1)-stellige Zahl, d.h. wir haben 𝑛= 𝑚 ∑ 𝑘=0 𝑎𝑘 ⋅ 10𝑘 mit 𝑎𝑗 ∈ {0, 1, . . . , 9}, 𝑗 = 0, . . . , 𝑚. Die Quersumme von 𝑛 ist dann definiert durch 𝑄(𝑛) = 𝑚 ∑ 𝑎𝑘 . 𝑘=0 Die alternierende Quersumme von 𝑛 ist definiert durch 𝑄∗ (𝑛) = 𝑚 ∑ (−1)𝑘 𝑎𝑘 . 𝑘=0 18 Beispiel. Wir haben 2792 = 2 ⋅ 103 + 7 ⋅ 102 + 9 ⋅ 101 + 2 ⋅ 100 . Es gilt 𝑄(2792) = 2 + 7 + 9 + 2 = 20, und 𝑄∗ (2792) = −2 + 7 − 9 + 2 = −2. Satz 3.2.2 (Quersummenregel). Eine Zahl ist genau dann durch 3 teilbar, wenn ihre Quersumme durch 3 teilbar ist. Eine Zahl ist genau dann durch 9 teilbar, wenn ihre Quersumme durch 9 teilbar ist. Wir werden diese Quersummenregeln nun beweisen. Dazu bedarf es etwas Theorie und wir führen in die Restklassenarithmetik ein. 3.3 Restklassenarithmetik Sei 𝑛 ∈ ℤ. Bei Division durch 3 gibt es drei mögliche Reste, nämlich 0,1 oder 2. Der Rest 3 entspricht dem Rest 0, usw. Wir bezeichnen die Teilmenge der ganzen Zahlen, die bei Division durch 3 den Rest 0 lassen, als Restklasse [0]3 . Entsprechend bezeichnen die Restklassen [1]3 und [2]3 die Teilmengen der ganzen Zahlen, die den Rest 1 bzw. 2 bei Division durch 3 lassen. Wenn klar ist, welche Restklassen wir betrachten, so können wir den Index und die eckigen Klammern weglassen. Im folgenden lassen wir den Index weg, behalten aber die eckigen Klammern bei. Unter den Restklassen können wir nun eine Addition einführen, z. B. gilt [0] + [2] = [2] oder [2] + [2] = [1], denn seien 𝑚, 𝑛 ∈ [2], dann gilt 𝑚 = 3𝑘 + 2, 𝑘 ∈ ℤ 𝑛 = 3𝑙 + 2, 𝑘 ∈ ℤ. Somit gilt 𝑚 + 𝑛 = 3𝑘 + 3𝑙 + 2 + 2 = 3𝑘 + 3𝑘 + 3 + 1 = 3(𝑘 + 𝑙 + 1) + 1 ∈ [1]. Bemerkung. Die Menge aller Restklassen bei der Division durch 3 bezeichnen wir mit ℤ3 , d.h. ℤ3 := {[0], [1], [2]} = {0, 1, 2}. Bemerkung. (ℤ3 , +) ist eine kommutative Gruppe. Das neutrale Element ist [0]. Zu jedem Element gibt es ein Inverses: Das Inverse zu [1] ist [2] und das Inverse zu [0] ist [0], wie wir der folgenden Additionstabelle entnehmen können: 19 + [0] [1] [2] [0] [0] [1] [2] [1] [1] [2] [0] [2] [2] [0] [1] Die Assoziativität und Kommutativität ergeben sich aus der gewöhnlichen Addition in ℤ. Wie sieht es mit der Multiplikation in ℤ3 aus? Was ist z.B. [0] ⋅ [1]? Antwort: Wir haben [0] ⋅ [1] = [0], denn die Multiplikation einer durch 3 teilbaren Zahl ergibt eine Zahl, die durch 3 teilbar ist. Wir haben [1] ⋅ [1] = [1], denn (3𝑘 + 1)(3𝑚 + 1) = 9𝑘𝑚 + 3 + 3𝑚 + 1 = 3 (𝑘𝑚 + 1 + 𝑚) +1. {z } | ∈ℤ Ebenso haben wir [2] ⋅ [2] = [1], denn (3𝑘 + 2)(3𝑚 + 2) = 9𝑘𝑚 + 6𝑘 + 6𝑚 + 4 = 3 (3𝑘𝑚 + 2𝑘 + 2𝑚 + 1) +1. | {z } ∈ℤ Das neutrale Element bezüglich der Multiplikation in ℤ3 ist [1]. Somit ist [1] zu sich selbst invers, ebenso ist [2] zu sich selbst invers. (ℤ3 , ⋅) ist jedoch keine Gruppe, denn die [0] hat kein multiplikatives Inverses. Bemerkung. Das neutrale Element 0 der Addition kann kein multiplikatives Inverses haben. Gäbe es ein multiplikatives Inverses 𝑛, so erhielten wir 0 ⋅ 𝑛 = 1. Wir betrachten daher ℤ3 ohne das Element [0] und setzen ℤ∗3 := ℤ3 ∖{0}. Dann ist (ℤ∗3 , ⋅) eine abelsche Gruppe. Wir kombinieren nun die zwei Verknüpfungen der Addition und Multiplikation und führen den wichtigen Begriff eines Ringes ein. Definition 3.3.1. Sei 𝑅 eine Menge mit zwei Verknüpfungen +:𝑅×𝑅→𝑅 ⋅ : 𝑅 × 𝑅 → 𝑅. 𝑅 = (𝑅, +, ⋅) heißt Ring, wenn (R1) (𝑅, +) ist eine abelsche Gruppe. (R2) (𝑅, ⋅) ist eine Halbgruppe. (R3) Es gelten die Distributivgesetze, d.h. 𝑎 ⋅ (𝑏 + 𝑐) = 𝑎 ⋅ 𝑏 + 𝑎 ⋅ 𝑐 und (𝑎 + 𝑏) ⋅ 𝑐 = 𝑎 ⋅ 𝑐 + 𝑏 ⋅ 𝑐 für alle 𝑎, 𝑏, 𝑐 ∈ 𝑅. 20 Somit ist (ℤ3 , +, ⋅) ein Ring. Er heißt Restklassenring (modulo 3). Wir beweisen nun die Quersummenregel (Satz 3.2.2): Eine Zahl ist genau dann durch 3 teilbar, wenn ihre Quersumme durch 3 teilbar ist. Beweis. Es bezeichne [𝑎] die Restklasse von 𝑎 bei Division durch 3. Es gilt [10] = [1]. Damit ist jede Zehnerpotenz in der Restklasse [1], d.h. [10𝑘 ] = [1] für alle 𝑘 ∈ ℕ. Es sei 𝑎= 𝑁 ∑ 𝑘=0 (3.1) 𝑎𝑘 ⋅ 10𝑘 , 𝑎𝑘 ∈ {0, 1, . . . , 9} eine (𝑁 + 1)-stellige natürliche Zahl, 𝑁 ∈ ℕ. Wir haben zu zeigen, dass 𝑎 ist durch 3 teilbar ⇔ 𝑄(𝑎) = 𝑁 ∑ 𝑎𝑘 ist durch 3 teilbar. 𝑘=0 In der Folge benutzen wir [𝑚 + 𝑛] = [𝑚] + [𝑛], (3.2) [𝑚 ⋅ 𝑛] = [𝑚] ⋅ [𝑛], (3.3) und welche leicht zu verifizieren sind. Wir haben dann [𝑁 ] 𝑁 𝑁 ∑ (3.3) ∑ (3.2) ∑ [𝑎] = 𝑎𝑘 ⋅ 10𝑘 = [𝑎𝑘 ] ⋅ [10𝑘 ] [𝑎𝑘 ⋅ 10𝑘 ] = 𝑘=0 𝑘=0 𝑘=0 ] [𝑁 𝑁 (3.2) ∑ (3.1) ∑ [𝑎𝑘 ] = = 𝑎𝑘 = [𝑄(𝑎)] . 𝑘=0 𝑘=0 Mithin liegen 𝑎 und 𝑄(𝑎) bezüglich der Division durch 3 stets in derselben Restklasse. Daraus folgt sofort die Behauptung. Bemerkung. Der Beweis für die Quersummenregel bei Division durch 9 läuft analog. Es gilt ferner: Eine Zahl ist genau dann durch 11 teilbar, wenn ihre alternierende Quersumme durch 11 teilbar ist. Beweis als Übungsaufgabe unter Ausnutzung, dass [10]11 = [−1]11 gilt. 3.4 Modulo Notation Wir führen noch eine übliche Notation in der Restklassenarithmetik ein. Für 𝑚, 𝑛, 𝑝 ∈ ℤ schreiben wir 𝑚 ≡ 𝑛 (mod) 𝑝, 21 wenn 𝑚 und 𝑛 bei Division durch 𝑝 in der gleichen Restklasse liegen bzw. den gleichen Rest lassen. Lies 𝑚 ist kongruent 𝑛 modulo 𝑝“, so gilt z. B. ” 8≡1 (mod) 7. Beispiel. In der Aufgabe 2 vom Blatt 1 haben wir: Finden Sie 𝑚, 𝑛 ∈ ℤ mit 𝑚 𝑛 1 + = . 3 5 15 Mit der modulo Schreibweise bestimmen wir nun alle Lösungen. Wir haben 1 3𝑚 + 5𝑛 = . 15 15 Das impliziert 3𝑚 = 1 − 5𝑛 ⇒ 𝑚 = 1 − 5𝑛 . 3 Es muss gelten 1 − 5𝑛 ≡ 0 (mod) 3 ⇒ 1 ≡ 5𝑛 (mod) 3. Es gilt 5≡2 (mod) 3. 1 ≡ 2𝑛 (mod) 3. Also folgt Damit folgt 𝑛 ≡ 2 (mod) 3. Wir können also schreiben 𝑛 = 3𝑘 + 2, 𝑘 ∈ ℤ. Somit 𝑚= 1 − 10 − 15𝑘 −9 − 15𝑘 1 − 5(3𝑘 + 2) = = = −3 − 5𝑘. 3 3 3 Ergo: Alle Lösungen sind gegeben durch 𝑛 = 3𝑘 + 2 und 𝑚 = −3 − 5𝑘 mit 𝑘 ∈ ℤ. 22 Vorlesung 4 Zahlenbereiche 4.1 Rationale Zahlen Wir haben gesehen, dass nicht jedes Element aus ℤ ein multiplikatives Inverses besitzt. Dies führt zur Einführung der rationalen Zahlen ℚ, wobei der Buchstabe Q für Quotient“ steht. Eine rationale Zahl 𝑚 𝑛 ist ein Quotient ganzer Zahlen ” 𝑚, 𝑛 ∈ ℤ und 𝑛 ∕= 0. Dabei heißt 𝑚 Zähler und 𝑛 Nenner. Wegen 𝑚 1 = 𝑚 ist ℤ eine Teilmenge von ℚ. Zwei Brüche sind gleich: 𝑎 𝑎′ = ′ 𝑏 𝑏 :⇐⇒ 𝑎𝑏′ = 𝑎′ 𝑏 Wir können Brüche erweitern: 𝑎𝑐 𝑎 = 𝑏 𝑏𝑐 mit 𝑐 ∈ ℤ ∖ {0}. Wir können Brüche kürzen: 𝑎 𝑎𝑐 = 𝑏𝑐 𝑏 mit 𝑐 ∈ ℤ ∖ {0}. 4.1.1 Addition von Brüchen Wenn zwei Brüche den gleichen Nenner haben, so ist die Addition einfach: 𝑚 + 𝑚′ 𝑚 𝑚′ + := 𝑛 𝑛 𝑛 Falls zwei Brüche keinen gleichen Nenner besitzen, dann können wir die Brüche so weit erweitern, bis sie denselben Nenner haben: 𝑎 𝑏 𝑎𝑛 + 𝑏𝑚 + = 𝑚 𝑛 𝑚𝑛 Es bietet sich an, das kleinste gemeinsame Vielfache (kgV) von 𝑚 und 𝑛 als gemeinsamen Nenner zu wählen. Derart bleiben Zähler und Nenner kleinstmöglich. 23 0 , 𝑚 ∕= 0 ein neutrales Element bezüglich der Addition. Zu Offenbar ist 0 = 𝑚 gibt es ein additives Inverses, nämlich −𝑚 𝑛 . Denn: 𝑚 𝑛 𝑚 −𝑚 𝑚−𝑚 0 + = = =0 𝑛 𝑛 𝑛 𝑛 Somit können wir Vorsicht: Es gilt nicht 1 𝑎+𝑏 = Ebenso gilt nicht: 4.1.2 −𝑚 𝑛 𝑎 𝑏 1 𝑎 = −𝑚 𝑛 schreiben. Damit ist (ℚ, +) eine abelsche Gruppe. + + 1 𝑏 𝑎 𝑏′ (siehe auch Übungsaufgabe 17 auf Blatt 4). = 𝑎 𝑏+𝑏′ . Dies folgt sofort aus Obigem. Multiplikation von Brüchen Dies ist einfach 𝑎 𝑐 𝑎⋅𝑐 ⋅ := 𝑏 𝑑 𝑏⋅𝑑 mit 𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑 ∈ ℤ, 𝑏, 𝑑 ∈ ℤ ∖ {0} Die Addition von Brüchen ist komplizierter als ihre Multiplikation. (ℚ∖{0}, ⋅) ist eine abelsche Gruppe. Das neutrale Element ist 1. Für einen Bruch 𝑚 𝑛 𝑛 ∕= 0 ist das multiplikative Inverse gegeben durch 𝑚 . Somit ist (ℚ, +, ⋅) ein Ring. ℚ ist sogar ein Körper, aber dazu später mehr. Für 𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑 ∈ ℤ+ (ℤ+ enthält nur die positiven ganzen Zahlen) gilt immer: 𝑐 𝑎+𝑐 𝑎 + > , 𝑏 𝑑 𝑏+𝑑 also 𝑎 𝑐 𝑎+𝑐 + ∕= . 𝑏 𝑑 𝑏+𝑑 Diese Ungleichung ist leicht einzusehen, denn: 𝑎 𝑎 > , 𝑏 𝑏+𝑑 =⇒ und 𝑐 𝑐 > . 𝑑 𝑏+𝑑 𝑐 𝑎 𝑐 𝑎+𝑐 𝑎 + > + = 𝑏 𝑑 𝑏+𝑑 𝑏+𝑑 𝑏+𝑑 Definition 4.1.1. Sei 𝐾 eine Menge mit zwei Verknüpfungen + : 𝐾 × 𝐾 −→ 𝐾 ⋅ : 𝐾 × 𝐾 −→ 𝐾. (𝐾, +, ⋅) heißt Körper, wenn (K1) (𝐾, +) ist eine abelsche Gruppe. (K2) (𝐾 ∖ {0}, ⋅) ist eine abelsche Gruppe. (K3) Es gelten die Distributivgesetze, d.h. 𝑎(𝑏+𝑐) = 𝑎𝑏+𝑎𝑐 und (𝑎+𝑏)𝑐 = 𝑎𝑐+𝑏𝑐 für alle 𝑎, 𝑏, 𝑐 ∈ 𝐾. 24 Die Division zweier rationaler Zahlen ist definiert als 𝑎 𝑑 𝑎 𝑐 : := ⋅ , 𝑏 𝑑 𝑏 𝑐 also die Multiplikation von 𝑎 𝑏 mit dem multiplikativen Inversen von 𝑑𝑐 . Vorsicht: Mit der Bezeichnung 2 𝑎𝑏 ist im folgenden mischter Bruch (vgl. 2 12 = 2 + 12 ). 4.2 2⋅𝑎 𝑏 gemeint und kein ge- Dezimalzahlen Jede rationale Zahl lässt sich als Bruch schreiben. Diese lässt sich in eine Dezimalzahl umwandeln, letztere ist entweder endlich oder periodisch. Genauer: Satz 4.2.1. Die rationale Zahl 𝑛𝑧 mit 𝑧, 𝑛 ∈ ℤ in ihrer Darstellung als Dezimalzahl ist entweder abbrechend oder periodisch. Die Periode ist höchstens von der Länge 𝑛 − 1. Vor dem Beweis erinnern wir noch einmal an das schriftliche Dividieren; wir betrachten 121 dividiert durch 7. 1 2 1 : 7 = 17,285714 −7 51 −4 9 20 −1 4 60 −5 6 40 −3 5 50 −4 9 10 −7 30 −2 8 2 Beweis. Es gibt bezüglich der Division durch 𝑛 insgesamt 𝑛 Restklassen. Beim Verfahren des schriftlichen Dividierens kommen wir zum Abschluss, falls die Restklasse 0 auftritt. Andernfalls können höchstens 𝑛 − 1 Restklassen auftreten. Satz 4.2.2. Jede abbrechende oder periodische Dezimalzahl lässt sich als gewöhnlicher Bruch darstellen, ist also eine rationale Zahl. Aus den Sätzen 4.2.1 und 4.2.2 folgt 25 Satz 4.2.3. Die rationalen Zahlen sind genau die abbrechenden oder periodischen Dezimalzahlen. Die Umwandlung einer abbrechenden Dezimalzahl in einen Bruch ist einfach. Für die Umformung von einer periodischen Dezimalzahl in einen Bruch benutzen wir die folgenden Beziehungen: 0,1 = 1 , 9 0,01 = 1 , 99 0,001 = 1 999 Durch Multiplikation und Addition erhalten wir hieraus für alle periodischen Dezimalzahlen die entsprechende Bruchdarstellung, z.B. 0, 2: 0,1 = 1 9 Insbesondere gilt: 1= ⋅2 =⇒ 0,2 = 2 9 9 = 0,9. 9 Die Beziehungen ergeben sich aus 10 ≡ 1 mod 9, 100 ≡ 1 mod 99, 1000 ≡ 1 mod 999, usw. Allgemein gilt: Es sei 𝑚 eine 𝑘-stellige Zahl deren Ziffern alle 9 seien. Im Divisionsverfahren von 1 durch 𝑚 bedarf es nun 𝑘 Schritte, um 10𝑘 zu erreichen. 4.3 Reelle Zahlen Nach Einführung der rationalen Zahlen könnte man meinen, diese füllten die ganze Zahlengerade aus. In beliebiger Nähe einer rationalen Zahl liegen unendlich viele weitere rationale Zahlen. Anders formuliert: zwischen zwei beliebigen rationalen Zahlen findet man immer eine weitere rationale Zahl. Daher gibt es auch (anders als bei den ganzen Zahlen) zu den rationalen Zahlen keine nächstkleinere oder nächstgrößere Zahl. Trotz der unendlich vielen rationalen Zahlen gibt es kein 𝑥 mit 𝑥2 = 2 und 𝑥 ∈ ℚ. Dies wollen wir nun beweisen – und zwar mittels eines Beweises durch Widerspruch. 4.4 Einschub: Aussagenlogik (Mehr davon später) direkte Schlussfolgerung: 𝐴 ⇒ 𝐵 26 aus der Aussage 𝐴 folgt die Aussage 𝐵. Zuweilen ist ein direkter Beweis nicht einfach. Dann kann ein Beweis durch Widerspruch gelingen. Eine Aussage ist entweder wahr (w) oder falsch (f). Mit 𝐴𝑐 wird das Komplement von 𝐴 bezeichnet: die komplementäre Aussage. Beispiel: 𝐴 ≡ Die Sonne scheint. 𝐴𝑐 ≡ Die Sonne scheint nicht. Falls 𝐴 wahr ist, dann ist 𝐴𝑐 falsch. Falls 𝐴 falsch ist, dann ist 𝐴𝑐 wahr. (𝐴 ⇒ 𝐵) ⇔ (𝐵 𝑐 ⇒ 𝐴𝑐 ) Idee: 𝐴 ist wahr, 𝐴 ⇒ 𝐵 ist schwer zu zeigen. Wenn 𝐴 wahr ist, dann ist 𝐴𝑐 falsch. Angenommen, 𝐵 ist falsch, dann ist 𝐵 𝑐 wahr. Falls aus 𝐵 𝑐 wahr die Aussage 𝐴𝑐 wahr folgt, dann haben wir einen Widerspruch, denn 𝐴𝑐 ist falsch! Als Beispiel dient der Beweis von folgendem Lemma: Lemma 4.4.1. 𝑥 = √ 2 ist keine rationale Zahl. Beweis. Angenommen, 𝑥 ist eine rationale Zahl. Dann haben wir 𝑥 = 𝑚 𝑛 mit ggT(𝑚, 𝑛) = 1 (d.h. die Bruchdarstellung von 𝑥 kann nicht weiter gekürzt werden). Daraus folgt: 𝑚2 =2 𝑛2 2 ⇒ 𝑚 = 2𝑛2 𝑥2 = 2𝑛2 ist gerade, daraus folgt, dass auch 𝑚2 gerade sein muss. 𝑚2 kann nur gerade sein, wenn 𝑚 gerade ist, daher 𝑚 = 2𝑘 für ein 𝑘 ∈ ℤ. Daraus folgt: (2𝑘)2 = 4𝑘 2 = 2𝑛2 ⇒ 2𝑘 2 = 𝑛2 Somit ist auch 𝑛2 eine gerade Zahl, √ damit ist 𝑛 gerade. Hieraus folgt: ggT(𝑚, 𝑛) ≥ 2 ∕= 1. Widerspruch! Also ist 2 nicht rational. √ 2 ist irrational. Da die rationalen Zahlen genau die Zahlen sind, die eine abbrechende oder periodische Darstellung als Dezimalzahl haben, sind die irrationalen Zahlen diejenigen, deren Dezimaldarstellung unendlich und nicht periodisch ist. Definition 4.4.2. Die Menge der reellen Zahlen ℝ ist die Vereinigung der rationalen Zahlen mit den irrationalen Zahlen. Bemerkung. (ℝ, +, ⋅) ist ein Körper. 27 Vorlesung 5 Polynomiale Gleichungen Definition 5.0.3. Ein Polynom 𝑝(𝑥) in der Variablen 𝑥 ∈ ℝ ist eine endliche Summe von Potenzen von 𝑥, die Exponenten sind hierbei natürliche Zahlen. Wir haben die Darstellung 𝑝(𝑥) = 𝑛 ∑ 𝑎𝑘 𝑥𝑘 = 𝑎𝑛 𝑥𝑛 + 𝑎𝑛−1 𝑥𝑛−1 + . . . + 𝑎1 𝑥 + 𝑎0 𝑘=0 mit 𝑎𝑗 ∈ ℝ, 𝑗 = 0, . . . , 𝑛. Falls 𝑎𝑛 ∕= 0, so ist 𝑝(𝑥) ein Polynom von Grad 𝑛. Der Koeffizient 𝑎𝑛 ∕= 0 heißt Leitkoeffizient und 𝑎0 heißt Absolutglied. Wir bezeichnen 𝑎1 𝑥 als lineares Glied, 𝑎2 𝑥2 als quadratisches Glied und 𝑎3 𝑥3 als kubisches Glied. Falls die Koeffizienten 𝑎𝑗 , 𝑗 = 0, 1, . . . , 𝑛, und 𝑎𝑛 ∕= 0, von 𝑝(𝑥) alle rational sind, so sagen wir, dass 𝑝(𝑥) ein ganzrationales Polynom von Grad 𝑛 ist. 5.1 Lineare Gleichungen Für 𝑛 = 1 haben wir ein lineares Polynom 𝑝(𝑥) = 𝑎𝑥 + 𝑏, 𝑎 ∕= 0. Wir können die Frage stellen, wann dieses Polynom verschwindet. Anders ausgedrückt: Für welche Werte von 𝑥 nimmt 𝑝(𝑥) den Wert 0 an? Alternativ gefragt: Was sind die Nullstellen von 𝑝(𝑥)? Hierzu setzen wir 𝑏 𝑝(𝑥) = 0 ⇔ 𝑎𝑥 + 𝑏 = 0 ⇔ 𝑥 = − . 𝑎 Somit hat 𝑝(𝑥) als einzige Nullstelle 𝑥 = − 𝑎𝑏 . 28 5.2 Quadratische Gleichungen Für 𝑛 = 2 haben wir ein quadratisches Polynom 𝑝(𝑥) = 𝑎𝑥2 + 𝑏𝑥 + 𝑐 mit 𝑎 ∕= 0. Auch hier können wir nach Nullstellen von 𝑝(𝑥) fragen. Für welche 𝑥 gilt 𝑎𝑥2 + 𝑏𝑥 + 𝑐 = 0? Zunächst können wir durch 𝑎 ∕= 0 dividieren, und erhalten 𝑥2 + 𝑎𝑏 𝑥 + 𝑎𝑐 = 0. Da wir stets durch den Leitkoeffizienten (dieser ist ungleich 0 vorausgesetzt) dividieren können, können wir uns auf Polynome mit Leitkoeffizient 1 beschränken. Es gilt nun 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 = 0 zu lösen (𝑝 = 𝑎𝑏 , 𝑞 = 𝑎𝑐 ). Dazu wenden wir quadratische Ergänzung an. Wir wollen 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 überführen in die Form 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 = (𝑥 + 𝑡)2 + 𝑚. Wir beachten, dass gilt (𝑥 + 𝑡)2 = 𝑥2 + 2𝑡𝑥 + 𝑡2 . Ein Koeffizientenvergleich mit ( )2 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 liefert 2𝑡 = 𝑝, d.h. 𝑡 = 𝑝2 und damit 𝑡2 = 𝑝2 . Somit gilt ( 𝑝 )2 ( 𝑝 )2 ( 𝑝 ) 2 ( 𝑝 )2 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 = 𝑥2 + 𝑝𝑥 + − +𝑞 = 𝑥+ − + 𝑞. 2 2 2 2 ( )2 Die quadratische Ergänzung von 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 ist also 𝑝2 , d.h. wir lesen den Koeffizienten des linearen Terms ab, halbieren und quadrieren anschliessend. ( )2 Wir addieren zur Gleichung 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 = 0 also auf beiden Seiten 𝑝2 − 𝑞 hinzu, ( 𝑝 ) 2 ( 𝑝 )2 𝑥2 + 𝑝𝑥 + = − 𝑞. 2 2 Nun wenden wir auf der linken Seite die erste binomische Formel an, ( 𝑝 )2 ( 𝑝 )2 𝑥+ = − 𝑞. 2 2 Lösen wir nun nach 𝑥 auf, so erhalten wir √( ) 𝑝 2 𝑝 𝑥=± −𝑞− . 2 2 Die quadratische Ergänzung führt also zur sogenannten 𝑝, 𝑞−Formel bzw. Mitternachtsformel. Bemerkung. Vermeiden Sie nach Möglichkeit die Benutzung der Mitternachtsformel, sondern benutzen Sie als Mittel der Wahl die quadratische Ergänzung. ( )2 Wir setzen 𝐷 := 𝑝2 − 𝑞 und nennen den Ausdruck die Diskriminante der quadratischen Gleichung 𝑥2 + 𝑝𝑥 + 𝑞 = 0. Offenbar hat die quadratische Gleichung ∙ genau zwei reellwertige Lösungen, wenn 𝐷 > 0. ∙ genau eine reellwertige Lösung, wenn 𝐷 = 0. ∙ keine reellwertige Lösung, wenn 𝐷 < 0. 29 5.3 Polynomgleichungen höheren Grades Bevor wir uns Polynomgleichungen höheren Grades widmen, können wir die Frage stellen, wieviele Nullstellen ein Polynom 𝑛-ten Grades hat. Eine erschöpfende Antwort gibt darauf der Satz 5.3.1 (Fundamentalsatz der Algebra). Jedes Polynom 𝑛-ten Grades hat genau 𝑛 komplexwertige Nullstellen (mit Vielfachheiten gezählt). Dabei sind die komplexen Zahlen eine Erweiterung der reellen Zahlen. Aus dem Fundamentalsatz der Algebra folgt: Ein Polynom 𝑛-ten Grades hat maximal 𝑛 reellwertige Nullstellen (mit Vielfachheiten gezählt). Definition 5.3.2. Eine Nullstelle 𝑎 eines Polynoms 𝑝(𝑥) von Grad 𝑛 hat die Vielfachheit 𝑘 (𝑘 ≤ 𝑛) falls sich 𝑝(𝑥) schreiben lässt als 𝑝(𝑥) = (𝑥 − 𝑎)𝑘 ⋅ 𝑔(𝑥), wobei 𝑔(𝑥) ein Polynom vom Grad 𝑛 − 𝑘 ist mit 𝑔(𝑎) ∕= 0. Beispiel: Wir betrachten 𝑝(𝑥) = 𝑥3 = (𝑥−0)3 ⋅1. Hier ist 𝑔(𝑥) = 1 ein Polynom vom Grad 0, und damit 𝑥 = 0 eine Nullstelle von der Vielfachheit 3. 5.3.1 Auflösbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale Zur Lösung einer algebraischen Gleichung, wie sie ganzrationale Polynome definieren, benötigen wir die bekannten Operationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und das Wurzelziehen. Es stellt sich die Frage, ob es stets möglich ist, durch wiederholte Anwendung dieser Operationen, die Lösungen aus den Koeffizienten des Polynoms zu gewinnen. Das ist die berühmte Frage nach der Auflösbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale. Für 𝑛 = 1 und 𝑛 = 2 haben wir gesehen, dass Lösungsformeln existieren und die Auflösbarkeit durch Radikale gegeben ist. Existieren Lösungsformeln für Polynomgleichungen mit Grad 𝑛 ≥ 3? Diese Frage konnte der französische Mathematiker Galois im 19. Jahrhundert vollständig beantworten. Eine Schlussfolgerung der Galois-Theorie ist: Für eine Polynomgleichung vom Grad 𝑛 ≥ 5 existieren im Allgemeinen keine Lösungsformeln in Form von Radikalen. Für 𝑛 = 3 und 𝑛 = 4 existieren Lösungsformeln. Diese sind aber recht kompliziert, so dass wir nun alternative Ansätze für bestimmte Gleichungen besprechen. Ausgangspunkt ist das Lemma von Gauß. 5.3.2 Lemma von Gauß Satz 5.3.3 (Lemma von Gauß). Vorgelegt sei die Polynomgleichung 𝑎𝑛 𝑥𝑛 + 𝑎𝑛−1 𝑥𝑛−1 + . . . + 𝑎0 = 0 30 mit 𝑎𝑗 ∈ ℤ, 𝑗 = 0, . . . , 𝑛. Ferner gelte 𝑎𝑛 ∕= 0 und 𝑎0 ∕= 0. Falls 𝑥 = 𝑝𝑞 mit 𝑝, 𝑞 ∈ ℤ und (𝑝, 𝑞) = 1 eine rationale Lösung der Polynomgleichung ist, so gilt: (i) 𝑝 ist ein Teiler des Absolutglieds 𝑎0 . (ii) 𝑞 ist ein Teiler des Leitkoeffizienten 𝑎𝑛 . Beispiel zur Anwendung: Wir betrachten die Gleichung 𝑥3 + 15𝑥2 + 23𝑥 − 231 = 0. Wir setzen 𝑝(𝑥) := 𝑥3 + 15𝑥2 + 23𝑥 − 231. Der Leitkoeffizient von 𝑝(𝑥) ist 1, das Absolutglied ist −231. Nach dem Lemma von Gauß können als ganzzahlige Nullstellen von 𝑝(𝑥) nur die Teiler von 231 in Frage kommen. Die Primfaktorzerlegung von 231 ist 231 = 3 ⋅ 7 ⋅ 11. Somit sind die Teiler von 231 gerade die in 𝑇231 = {1, 3, 7, 11, 21, 33, 77, 231} enthaltenen Elemente. Wir raten, dass 𝑥 = 3 eine Nullstelle ist und finden 𝑝(3) = 33 + 15 ⋅ 32 + 23 ⋅ 3 − 231 = 0, dass 𝑥 = 3 tatsächlich eine Nullstelle ist. Damit lässt sich 𝑝(𝑥) schreiben als 𝑝(𝑥) = (𝑥 − 3)𝑔(𝑥), wobei 𝑔(𝑥) ein Polynom von Grad 2 ist. Die Nullstellen von 𝑔(𝑥) sind auch Nullstellen von 𝑝(𝑥). Da 𝑔(𝑥) der Quotient von 𝑝(𝑥) und (𝑥 − 3) ist, können wir 𝑔(𝑥) wie folgt durch Polynomdivision bestimmen: 𝑔(𝑥) = 𝑝(𝑥) : (𝑥 − 3) = (𝑥3 + 15𝑥2 + 23𝑥 − 231) : (𝑥 − 3) = 𝑥2 + 18𝑥 + 77. Für 𝑔(𝑥), als Polynom von Grad 2, wissen wir, wie wir die Nullstellen bestimmen. Die Strategie zur Lösung von Polynomgleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten ist zum Beispiel so vorzugehen: ∙ Mit dem Lemma von Gauß bestimmen wir mögliche rationale Lösungen. ∙ Liegen tatsächlich rationale Lösungen vor, so können wir Polynomdivision durchführen und reduzieren so den Grad des Polynoms. Wir führen diesen Vorgang solange fort, bis wir einen Grad erreicht haben, von dem wir wissen, wie wir die Nullstellen analytisch bestimmen können. Wir beweisen nun das Lemma von Gauß. Beweis. Sei 𝑥 = 𝑝𝑞 mit 𝑝, 𝑞 ∈ ℤ und (𝑝, 𝑞) = 1 eine rationale Lösung der Polynomgleichung, also ( )𝑛−1 ( ) ( )𝑛 𝑝 𝑝 𝑝 + 𝑎0 = 0. + 𝑎𝑛−1 + . . . + 𝑎1 𝑎𝑛 𝑞 𝑞 𝑞 Dann ist 𝑎𝑛 ( )𝑛 ( )𝑛−1 ( ) 𝑝 𝑝 𝑝 = −𝑎0 . + 𝑎𝑛−1 + . . . + 𝑎1 𝑞 𝑞 𝑞 31 Multiplizieren mit 𝑞 𝑛 liefert 𝑎𝑛 𝑝𝑛 + 𝑎𝑛−1 𝑝𝑛−1 𝑞 + . . . + 𝑎1 𝑝𝑞 𝑛−1 = −𝑎0 𝑞 𝑛 . Ausklammern von 𝑝 auf der linken Seite ergibt 𝑝(𝑎𝑛 𝑝𝑛−1 + 𝑎𝑛−1 𝑝𝑛−2 𝑞 + . . . + 𝑎1 𝑞 𝑛−1 ) = −𝑎0 𝑞 𝑛 . {z } | ∈ℤ Daraus folgt: 𝑝 ist ein Teiler von 𝑎0 𝑞 𝑛 . Da 𝑝 und 𝑞 teilerfremd sind, sind auch 𝑝 und 𝑞 𝑛 teilerfremd. Mithin muss 𝑝 ein Teiler von 𝑎0 sein. Analog können wir die Polynomgleichung wie folgt umstellen: 𝑞(𝑎𝑛−1 𝑝𝑛−1 + 𝑎𝑛−2 𝑝𝑛−2 𝑞 + . . . + 𝑎0 𝑞 𝑛−1 ) = −𝑎𝑛 𝑝𝑛 . | {z } ∈ℤ Daraus folgt: 𝑞 ist ein Teiler von 𝑎𝑛 𝑝𝑛 . Da 𝑝 und 𝑞 teilerfremd sind, ist 𝑞 also ein Teiler von 𝑎𝑛 . 32 Vorlesung 6 Lineare Gleichungssysteme Gegeben sei eine lineare Gleichung über ℝ 5𝑥 + 2 = 0. Diese Gleichung ist eine Beschreibung des Elements 𝑥 = − 25 , denn genau dieses erfüllt die Gleichung. Offenbar ist eine lineare Gleichung in einer Variablen 𝑥 𝑎𝑥 + 𝑏 = 𝑒, 𝑎 ∕= 0 immer lösbar mit 𝑥= 6.1 𝑒−𝑏 . 𝑎 Gaußsches Eliminationsverfahren In der Folge betrachten wir lineare Gleichungssysteme mit 𝑚 Gleichungen und 𝑛 Variablen: 𝑎11 𝑥1 + 𝑎12 𝑥2 + ... + 𝑎1𝑛 𝑥𝑛 = 𝑏1 𝑎12 𝑥1 + 𝑎22 𝑥2 + ... + 𝑎2𝑛 𝑥𝑛 = 𝑏2 .. .. . . 𝑎𝑚1 𝑥1 + 𝑎𝑚2 𝑥2 + . . . + 𝑎𝑚𝑛 𝑥𝑛 = 𝑏𝑚 Hierbei sind die Koeffizienten durch 𝑎𝑖𝑗 mit 𝑖 = 1, 2, ..., 𝑚; 𝑗 = 1, 2, ..., 𝑛, sowie 𝑏𝑘 mit 𝑘 = 1, 2, ..., 𝑚 gegeben. Jedes 𝑛-Tupel 𝑥 = (𝑥1 , ..., 𝑥𝑛 ), welches dem linearen Gleichungssystem genügt, heißt Lösung des LGS. Zur Bestimmung von 𝑥 benutzen wir das Gaußsche Eliminationsverfahren. Dabei führen wir wiederholt elementare Zeilenumformungen durch, die das Gleichungssystem in die sogenannte Zeilenstufenform überführen (Erklärung dazu später). Die elementaren Umformungen verändern die Lösungemenge nicht. In 33 der Zeilenstufenform lässt sich eine mögliche Lösung schnell ablesen. Elementare Zeilenoperationen sind: ∙ das Addieren von Vielfachen einer Zeile zu einer Zeile ∙ Vertauschen von zwei Zeilen Wir illustrieren das Gaußsche Eliminationsverfahren an einem Beispiel: Vorgelegt sei das folgende LGS mit zwei Variablen 𝑥, 𝑦 ∈ ℝ und zwei Gleichungen (D.h. 𝑚 = 𝑛 = 2): (I) (II) 3𝑥 + 4𝑦 = 12 9𝑥 + 2𝑦 = −14. Wir ersetzen die (II). Zeile durch 3(I)−(II) und erhalten als neues LGS (I) (II) 3𝑥 + 4𝑦 = 12 0𝑥 + 10𝑦 = 50. Damit haben wir bereits die sogenannte Zeilenstufenform erreicht. Ein LGS ist in Zeilenstufenform, wenn jede Zeile mindestens eine Variable weniger hat als die vorangegangene Zeile. Aus Zeile (II) lesen wir ab: 10𝑦 = 50 ⇒ 𝑦 = 5. Einsetzen von 𝑦 = 5 in (I) liefert: 8 3𝑥 + 4 ⋅ 5 = 12 ⇒ 3𝑥 = −8 ⇒ 𝑥 = − . 3 Damit ist 𝑥 = − 38 und 𝑦 = 5 Lösung des LGS. Um den Schreibaufwand gering zu halten, ordnen wir die Koeffizienten in der Form ( ) 3 4 . 9 2 Dies ist die Koeffizientenmatrix des LGS. Die erweiterte Koeffizientenmatrix enthält darüber hinaus in der letzten Spalte die Werte der rechten Seite der Gleichungen ( ) 3 4 12 9 2 −14 Die durchgeführten elementaren Zeilenoperationen werden dokumentiert: ) ) ( ( (II)→ 51 (II) 3 4 12 3 4 12 (II)→3(I)−(II) . ⇝ ⇝ 0 10 50 0 1 5 34 Zurück zu einem beliebigen LGS mit 𝑚 Gleichungen und 𝑛 Variablen: 𝑎11 𝑥1 + 𝑎12 𝑥2 + . . . + 𝑎1𝑛 𝑥𝑛 = 𝑏1 𝑎12 𝑥1 + 𝑎22 𝑥2 + . . . + 𝑎2𝑛 𝑥𝑛 = 𝑏2 .. . (6.1) 𝑎𝑚1 𝑥1 + 𝑎𝑚2 𝑥2 + . . . + 𝑎𝑚𝑛 𝑥𝑛 = 𝑏𝑚 Die Koeffizienten 𝑎𝑖𝑗 mit 𝑖 = 1, 2, ..., 𝑚 und 𝑗 in der Form ⎛ 𝑎11 𝑎12 . . . ⎜ ⎜ 𝑎21 𝑎22 . . . ⎜ ⎜ . ⎜ .. ⎝ 𝑎𝑚1 𝑎𝑚2 . . . = 1, 2, ..., 𝑛 ordnen wir zweckmäßig ⎞ 𝑎1𝑛 ⎟ 𝑎2𝑛 ⎟ ⎟ . .. ⎟ . ⎟ ⎠ 𝑎𝑚𝑛 Ein solches Schema bezeichnen wir als Matrix. Genauer: (𝑚 × 𝑛)-Matrix bestehend aus 𝑚 Zeilen und 𝑛 Spalten. Wir betrachten die Spalten dieser Matrix ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 𝑎11 𝑎12 𝑎1𝑛 ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ 𝑎21 ⎟ ⎜ 𝑎22 ⎟ ⎜ 𝑎2𝑛 ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ 𝑣1 = ⎜ . ⎟ , 𝑣2 = ⎜ . ⎟ , . . . , 𝑣𝑛 = ⎜ . ⎟ . ⎜ .. ⎟ ⎜ .. ⎟ ⎜ .. ⎟ ⎝ ⎠ ⎝ ⎠ ⎝ ⎠ 𝑎𝑚1 𝑎𝑚2 𝑎𝑚𝑛 Diese Spalten können wir als (𝑚 × 1)-Matrizen auffassen, kurz auch 𝑚-Tupel von Zahlen genannt. Die Addition von 𝑚-Tupeln kann auf nahliegende Weise definiert werden: ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 𝑐 1 + 𝑑1 𝑑1 𝑐1 ⎜ ⎟ ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ .. ⎟, ⎜ . ⎟ + ⎜ . ⎟ := ⎜ . ⎝ ⎠ ⎝ . ⎠ ⎝ . ⎠ 𝑐 𝑚 + 𝑑𝑚 𝑑𝑚 𝑐𝑚 ebenso die Multiplikation eines 𝑚-Tupels mit einer reellen Zahl 𝑎 ∈ ℝ: ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 𝑐1 𝑎 ⋅ 𝑐1 ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ . ⎟ ⎜ . ⎟ 𝑎⋅⎜ ⎝ . ⎠ = ⎝ . ⎠. 𝑐𝑚 𝑎 ⋅ 𝑐𝑚 ⎛ ⎞ 𝑏1 ⎜ . ⎟ . ⎟ Für das 𝑚-Tupel ⎜ ⎝ . ⎠ schreiben wir kurz 𝑏. Das LGS (6.1) lässt sich kurz 𝑏𝑚 schreiben als 𝑥1 𝑣1 + 𝑥2 𝑣2 + ... + 𝑥𝑛 𝑣𝑛 = 𝑏. 35 (6.2) Prägnante Redeweise: Wir nennen ein 𝑛-Tupel ⎛ ⎞ 𝑥1 ⎜ . ⎟ . ⎟ 𝑥=⎜ ⎝ . ⎠ 𝑥𝑛 für welches (6.1) oder (6.2) gilt, eine Lösung des LGS. 6.2 Matrizenmultiplikation Das LGS lässt sich noch kürzer schreiben. Dazu bedarf es der Einführung der Matrizenmultiplikation. Sei 𝐴 eine (𝑚 × 𝑛)-Matrix, 𝐵 eine (𝑛 × 𝑙)-Matrix: 𝐴 = (𝑎𝑖𝑗 )1≤𝑖≤𝑚,1≤𝑗≤𝑛 , 𝐵 = (𝑏𝑗𝑘 )1≤𝑗≤𝑛,1≤𝑘≤𝑙 Die Anzahl der Spalten von 𝐴 entspricht der Anzahl der Zeilen von 𝐵. Es bezeichne 𝑀𝑚×𝑛 = (𝑀𝑚×𝑛 , ℝ) die Menge der (𝑚 × 𝑛)-Matrizen mit reellen Einträgen. Definition 6.2.1 (Matrizenmultiplikation). Wir definieren eine Verknüpfung ⋅ : 𝑀𝑚×𝑛 × 𝑀𝑛×𝑙 → 𝑀𝑚×𝑙 (𝐴, 𝐵) 7→ 𝐶 = 𝐴 ⋅ 𝐵 durch 𝑐𝑖𝑘 := 𝑛 ∑ 𝑗=1 𝑎𝑖𝑗 ⋅ 𝑏𝑗𝑘 . Wir erhalten also 𝑐𝑖𝑘 durch komponentenweise Multiplikation der 𝑖-ten Zeile von 𝐴 mit der 𝑘-ten Spalte von 𝐵. Beispiel: ⎛ 7 ⎜ ⎜2 𝐴=⎜ ⎜6 ⎝ 9 ⎞ 3 ( ⎟ 5⎟ ⎟, 𝐵 = 7 4 8⎟ 8 1 ⎠ 0 ) 9 5 𝐴 ist eine (4 × 2)-Matrix und 𝐵 eine (2 × 3)-Matrix. Das Produkt von 𝐴 und 𝐵 ist eine (4 × 3)-Matrix 𝐶. In diesem Beispiel ist die Multiplikation von 𝐵 und 𝐴 nicht definiert, denn die Spaltenanzahl von 𝐵 stimmt nicht mit der Zeilenanzahl 36 von 𝐴 überein. ⎛ 7 ⎜ ⎜2 𝐴⋅𝐵 =⎜ ⎜6 ⎝ 9 Wir haben ⎛ ⎞ 3 7⋅7+3⋅8 7⋅4+3⋅1 ) ( ⎜ ⎟ ⎜ 5⎟ ⎟ ⋅ 7 4 9 = ⎜2 ⋅ 7 + 5 ⋅ 8 2 ⋅ 4 + 5 ⋅ 1 ⎜6 ⋅ 7 + 8 ⋅ 8 6 ⋅ 4 + 8 ⋅ 1 ⎟ 8⎠ 8 1 5 ⎝ 0 9⋅7+0⋅8 9⋅4+0⋅1 ⎛ ⎞ 73 31 78 ⎜ ⎟ ⎜ 54 13 43⎟ ⎟ =⎜ ⎜106 32 94⎟ . ⎝ ⎠ 63 36 81 {z } | 7⋅9+3⋅5 ⎞ ⎟ 2 ⋅ 9 + 5 ⋅ 5⎟ ⎟ 6 ⋅ 9 + 8 ⋅ 5⎟ ⎠ 9⋅9+0⋅5 =𝐶 Beispiel: Sei ⎛ 𝑎11 𝑎12 ... 𝑎1𝑛 ⎞ ⎜ ⎟ ⎜ 𝑎21 𝑎22 . . . 𝑎2𝑛 ⎟ ⎜ ⎟ 𝐴=⎜ . .. ⎟ ... ⎜ .. ⎟ . ⎝ ⎠ 𝑎𝑚1 𝑎𝑚2 . . . 𝑎𝑚𝑛 ⎛ ⎞ 𝑥1 ⎜ . ⎟ . ⎟ eine (𝑚 × 𝑛)-Matrix, sei 𝑥 = ⎜ ⎝ . ⎠ eine (𝑛 × 1)-Matrix (also ist 𝑥 ein 𝑛-Tupel) 𝑥𝑛 ⎛ ⎞ 𝑏1 ⎜ . ⎟ . ⎟ und sei 𝑏 = ⎜ ⎝ . ⎠. Wir definieren 𝑏𝑚 𝑏𝑗 := 𝑛 ∑ 𝑎𝑗𝑘 𝑥𝑘 . 𝑘=1 Also ist 𝑏 = 𝐴𝑥, denn ⎛ 𝑎11 𝑎12 ... 𝑎1𝑛 ⎞ ⎛ ⎞ ⎟ ⎜ 𝑥 ⎜ 𝑎21 𝑎22 . . . 𝑎2𝑛 ⎟ ⎜ 1 ⎟ ⎟ ⎜ .. ⎟ ⎜ ⋅⎝ . ⎠ 𝐴𝑥 = ⎜ . .. .. ⎟ ⎜ .. . . ⎟ ⎠ ⎝ 𝑥𝑛 𝑎𝑚1 𝑎𝑚2 . . . 𝑎𝑚𝑛 ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 𝑎11 𝑥1 + 𝑎12 𝑥2 + ... + 𝑎1𝑛 𝑥𝑛 𝑏1 ⎜ ⎟ ⎜ . ⎟ . ⎟ = ⎜ . ⎟. .. =⎜ ⎝ ⎠ ⎝ . ⎠ 𝑎𝑚1 𝑥1 + 𝑎𝑚2 𝑥2 + ... + 𝑎𝑚𝑛 𝑥𝑛 𝑏𝑚 37 Mit der Matrizenmultiplikation lässt sich das LGS (6.1) also kompakt schreiben als 𝐴 ⋅ 𝑥 = 𝑏. 38 Vorlesung 7 Determinanten und Ungleichungen 7.1 Determinante Mit der Matrizenmultiplikation (siehe Vorlesung 6) lässt sich das LGS (6.1) kompakt schreiben als 𝐴𝑥 = 𝑏. 𝐴 und 𝑏 sind gegeben und wir interessieren uns für die Lösung 𝑥. Es sind zentrale Themen der linearen Algebra folgende Fragen zu beantworten: ∙ Unter welchen Bedingungen hat das LGS 𝐴𝑥 = 𝑏 Lösungen? ∙ Wann gibt es eine eindeutige Lösung? ∙ Wann keine bzw. unendlich viele Lösungen? Diese Fragen beantworten wir nun zur Illustration für Gleichungssysteme mit 2 Gleichungen und 2 Variablen. Den allgemeinen Fall behandeln Sie in der B1Vorlesung (Lineare Algebra I). Wir betrachten das Gleichungssystem: (I) 𝑎𝑥 + 𝑏𝑦 (II) 𝑐𝑥 + 𝑑𝑦 = = 𝑒 𝑓 Was sind die Bedingungen an die Koeffizienten 𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑, damit es eine Lösung gibt? Keine Lösung? Mehrere Lösungen? Sei einer der Koeffizienten ungleich 0, etwa 𝑎 ∕= 0. Wir führen die Zeilenoperation (II) → (II) − 𝑎𝑐 (I) durch: (II) (I) 𝑎𝑥 + 𝑏𝑦 ( 𝑐) 0+ 𝑑−𝑏 𝑦 𝑎 39 = 𝑒 = 𝑓− 𝑐 𝑒 𝑎 Also gilt: ( 𝑑−𝑏 Multiplikation mit 𝑎 liefert 𝑐 𝑐) 𝑦 = 𝑓 − 𝑒. 𝑎 𝑎 (𝑎𝑑 − 𝑏𝑐) 𝑦 = 𝑎𝑓 − 𝑐𝑒. Es ist entscheidend, ob die Zahl 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑) = 𝑎𝑑 − 𝑏𝑐 verschieden von Null ist. Fall A: 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑) ∕= 0 Dann ist 𝑦= 𝑎𝑓 − 𝑒𝑐 𝛿(𝑎, 𝑒, 𝑐, 𝑓 ) 𝑎𝑓 − 𝑒𝑐 = = . 𝑎𝑑 − 𝑏𝑐 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑) 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑) Eine leichte Rechnung zeigt: 𝑥= 𝑒𝑑 − 𝑏𝑓 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑓, 𝑑) = . 𝑎𝑑 − 𝑏𝑐 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑) In diessem Fall A ist das LGS also eindeutig lösbar. Fall B: 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑) = 0 Dann ist (𝑎𝑑 − 𝑏𝑐) 𝑦 = 𝑎𝑓 − 𝑐𝑒 nicht immer lösbar. Denn falls die rechte Seite der Gleichung 𝑎𝑓 − 𝑐𝑒 ∕= 0, z.B. 𝑎 = 𝑐 = 𝑓 = 1, 𝑒 = 0, dann ist das LGS nicht lösbar. Falls die rechte Seite der Gleichung 𝑎𝑓 − 𝑐𝑒 = 0, dann können wir für 𝑦 jede beliebige Zahl einsetzen. Das LGS ist dann lösbar, aber nicht eindeutig. Für die (2 × 2)-Matrix ( ) 𝑎 𝑏 𝑀= 𝑐 𝑑 heißt 𝛿(𝑎, 𝑏, 𝑐, 𝑑) Determinante von M. Die Determinante ist entscheidend, ob das von 𝑀 definierte LGS eindeutig lösbar ist, oder nicht. Jede quadratische (𝑛×𝑛)-Matrix 𝑀 hat ihre Determinante det(𝑀 ). Diese ist eine Funktion: det: 𝑀𝑛×𝑛 → ℝ mit 𝑀 7→ det(𝑀 ). Falls det(𝑀 )∕= 0, so ist das durch 𝑀 definierte LGS eindeutig lösbar. Falls det(𝑀 ) = 0, so ist das durch 𝑀 definierte LGS nicht lösbar oder nicht eindeutig lösbar. Für 𝑛 = 1 entspricht det(𝑀 ) der Matrix 𝑀 . Beispielsweise ist 3𝑥 = 𝑏 40 eindeutig lösbar, hier ist 𝑀 = det(𝑀 ) = 3 ∕= 0 und wir erhalten als einzige Lösung 𝑥 = 3𝑏 . Auf der anderen Seite ist 0⋅𝑥=𝑏 mit 𝑀 = det(𝑀 ) = 0 nicht lösbar, wenn 𝑏 ∕= 0 gilt und hat unendlich viele Lösungen, wenn 𝑏 = 0 gilt. ( ) 𝑎 𝑏 Für 𝑛 = 2, also 𝑀 = , ist det(𝑀 )= 𝑎𝑑 − 𝑏𝑐, wie oben gesehen. Wie 𝑐 𝑑 man det(𝑀 ) für allgemeines 𝑛 ∈ ℕ bestimmt, lernen Sie in der B1-Vorlesung (Lineare Algebra I). 7.2 Ungleichungen Der Umgang mit Ungleichungen ist ebenso wichtig wie der Umgang mit Gleichungen. Ähnlich wie bei Gleichungen werden Ungleichungen durch Äquivalenzumformungen gelöst. In der Regel geht es darum eine eher unübersichtliche Ungleichung so zu vereinfachen, dass die Lösungsmenge leicht abzulesen, bzw. leicht zu veranschaulichen ist. Beispiel. 𝑥 − 2 > 2𝑥 − 1 ⇔0>𝑥+1 ⇔ −1 > 𝑥. Die Lösungsmenge sind alle 𝑥 ∈ ℝ mit 𝑥 < −1. Die durchgeführten Umformungen im Beispiel sowie allgemein das Rechnen mit Ungleichungen beruhen auf den sogenannten Anordnungsaxiomen in ℝ. Dabei lässt sich alles auf den Begriff des positiven Elements zurückzuführen. In ℝ sind gewisse Elemente als positiv ausgezeichnet (Schreibweise: 𝑥 > 0), so dass folgende Anordnungsaxiome erfüllt sind: 7.2.1 Anordnungsaxiome (A1) Für jedes 𝑥 ∈ ℝ gilt genau eine der Beziehungen: 𝑥 > 0, 𝑥 = 0, 𝑥 < 0. (A2) Sind 𝑥 > 0 und 𝑦 > 0, so folgt 𝑥 + 𝑦 > 0. (A3) Sind 𝑥 > 0 und 𝑦 > 0, so folgt 𝑥𝑦 > 0. Definition 7.2.1. Wir setzen 𝑥 > 𝑦, falls 𝑥 − 𝑦 > 0 gilt. Statt 𝑥 > 𝑦 schreiben wir auch 𝑦 < 𝑥. 𝑥 ≥ 𝑦 bedeutet 𝑥 > 𝑦 oder 𝑥 = 𝑦. 41 Definition 7.2.2. Ein Körper, in dem gewisse Elemente als positiv ausgezeichnet sind, so dass die Anordnungsaxiome (A1), (A2) und (A3) gelten, heißt angeordneter Körper. Beispielsweise sind ℝ und ℚ angeordnete Körper. (ℤ2 , +, ⋅) ist kein angeordneter Körper, weil (A2) nicht erfüllt ist. Denn 1 > 0 und 1 + 1 = 0. Aus den Anordnungsaxiomen ergeben sich die folgenden Aussagen (i) – (xi), die von der Schule her bekannt sind. Wir beweisen die Aussagen (i), (ii) und (iii); die Beweise der restlichen Aussagen können als Übungsaufgaben angesehen werden. Wir haben also (i) 𝑥 < 0 ⇔ −𝑥 > 0. Beweis. 𝑥 < 0 bedeutet nach Definition 0 > 𝑥. Das ist gleichbedeutend mit 0 − 𝑥 > 0, d.h. −𝑥 > 0. (ii) Aus 𝑥 < 𝑦 und 𝑦 < 𝑧 folgt 𝑥 < 𝑧. (Transitivität) Beweis. Nach Definition gilt 𝑥 < 𝑦 ⇔ 𝑦 − 𝑥 > 0 und 𝑦 < 𝑧 ⇔ 𝑧 − 𝑦 > 0. Mit (A2) folgt dann (𝑦 − 𝑥) + (𝑧 − 𝑦) > 0. Daraus folgt 𝑧 − 𝑥 > 0 ⇔ 𝑧 > 𝑥, d.h. 𝑥 < 𝑧. (iii) Aus 𝑥 < 𝑦 und 𝑎 ∈ ℝ folgt: 𝑎 + 𝑥 < 𝑎 + 𝑦. Beweis. Nach Voraussetzung ist (𝑎 + 𝑦) − (𝑎 + 𝑥) − 𝑦 − 𝑥 > 0. Daher ist nach Definition 𝑎 + 𝑥 < 𝑎 + 𝑦. (iv) Aus 𝑥 < 𝑦 und 𝑥′ < 𝑦 ′ folgt 𝑥 + 𝑥′ < 𝑦 + 𝑦 ′ . (v) Aus 𝑥 < 𝑦 und 𝑎 > 0 folgt 𝑎𝑥 < 𝑎𝑦. (vi) Aus 0 ≤ 𝑥 < 𝑦 und 0 ≤ 𝑎 < 𝑏 folgt 𝑎𝑥 < 𝑏𝑦. (vii) Aus 𝑥 < 𝑦 und 𝑎 < 0 folgt 𝑎𝑥 > 𝑎𝑦. (viii) Für jede reelle Zahl 𝑥 ∕= 0 gilt 𝑥2 > 0. (ix) Falls 𝑥 ≷ 0, so auch 𝑥−1 ≷ 0. (x) Aus 0 < 𝑥 < 𝑦 folgt 𝑥−1 > 𝑦 −1 . (xi) Es gilt 1 > 0. Mit diesen Aussagen können wir Ungleichungen lösen. 42 7.2.2 Absolutbetrag Zuweilen interessieren wir uns für den Abstand einer reellen Zahl 𝑥 ∈ ℝ zur 0. Dieser Abstand wird durch den Absolutbetrag von 𝑥 bemessen. Definition 7.2.3. Gegeben sei die Abbildung ∣ ⋅ ∣ : ℝ → ℝ+ 0 𝑥 7→ ∣𝑥∣ mit ∣𝑥∣ = { 𝑥, −𝑥, falls 𝑥 ≥ 0 falls 𝑥 ≤ 0. Diese Abbildung heißt Betragsfunktion und ordnet jedem Element seinen Absolutbetrag zu. Wir erhalten den Absolutbetrag einer reellen Zahl durch das Weglassen des Vorzeichens. In Abbildung 7.1 ist der Graph der Betragsfunktion dargestellt. Betragsfunktion im Intervall [−10,10] 9 7 y 5 4 3 2 0 −2 0 2 4 6 8 1 x Abbildung 7.1: Betragsfunktion 𝑦 = ∣𝑥∣ mit 𝑥 ∈ [−10, 10]. Der Absolutbetrag hat folgende Eigenschaften: ∙ Offenbar gilt stets ∣𝑥∣ ≥ 0 und ∣𝑥∣ = 0 genau dann, wenn 𝑥 = 0. ∙ Wir haben ∣ − 𝑥∣ = ∣𝑥∣ für alle 𝑥 ∈ ℝ. Beweis. 1. Fall: 𝑥 ≥ 0. Dann gilt ∣𝑥∣ = 𝑥. Ferner ∣ − 𝑥∣ = −(−𝑥) = 𝑥. Also ∣𝑥∣ = ∣ − 𝑥∣. 2. Fall: 𝑥 < 0. Dann gilt ∣𝑥∣ = −𝑥. Da 𝑥 < 0 ist −𝑥 > 0. Somit ∣ − 𝑥∣ = −𝑥. Also ∣𝑥∣ = ∣ − 𝑥∣. ∙ Wir haben ∣𝑥𝑦∣ = ∣𝑥∣∣𝑦∣, für alle 𝑥, 𝑦 ∈ ℝ. 43 Beweis. Wir verifizieren diese Identität durch Überprüfung aller vier Möglichkeiten. 1. Fall: 𝑥 ≥ 0, 𝑦 ≥ 0. ⇒ 𝑥𝑦 ≥ 0 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = 𝑥𝑦. Nach Definition der Betragsfunktion gilt aber auch: ∣𝑥∣∣𝑦∣ = 𝑥𝑦 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = ∣𝑥∣∣𝑦∣. 2. Fall: 𝑥 < 0, 𝑦 ≥ 0. ⇒ 𝑥𝑦 ≤ 0 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = −𝑥𝑦. Nach Definition der Betragsfunktion gilt aber auch: ∣𝑥∣∣𝑦∣ = 𝑥(−𝑦) = −𝑥𝑦 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = ∣𝑥∣∣𝑦∣. 3. Fall: 𝑥 < 0, 𝑦 ≥ 0. ⇒ ∣𝑥𝑦∣ ≥ 0 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = −𝑥𝑦. Nach Definition der Betragsfunktion gilt aber auch: ∣𝑥∣∣𝑦∣ = −𝑥𝑦 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = ∣𝑥∣∣𝑦∣. 4. Fall: 𝑥 < 0, 𝑦 < 0. ⇒ ∣𝑥𝑦∣ ≥ 0 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = 𝑥𝑦. Nach Definition der Betragsfunktion gilt aber auch: ∣𝑥∣∣𝑦∣ = −𝑥(−𝑦) = 𝑥𝑦 ⇒ ∣𝑥𝑦∣ = ∣𝑥∣∣𝑦∣. ∙ Wir haben 𝑥𝑦 = ∣𝑥∣ ∣𝑦∣ , für alle 𝑥, 𝑦 ∈ ℝ, 𝑦 ∕= 0. Beweis. Es gilt 𝑥 = 𝑥𝑦 𝑦 und somit ⇒ ∣𝑥∣ = 𝑥𝑦 ∣𝑦∣. 𝑥 ⇔ ∣𝑥∣ ∣𝑦∣ = 𝑦 . 7.2.3 Die Dreiecksungleichung Einer der wichtigsten Ungleichungen der Mathematik ist die Dreiecksungleichung. Sie besagt Satz 7.2.4 (Dreiecksungleichung). Für alle 𝑥, 𝑦 ∈ ℝ gilt: ∣𝑥 + 𝑦∣ ≤ ∣𝑥∣ + ∣𝑦∣. C B A Anschaulich am Dreieck 𝐴𝐵𝐶: Der direkte Weg von 𝐴 nach 𝐶 ist immer kürzer als der Umweg über einen weiteren Punkt 𝐵 nach 𝐶. Die Länge der Strecke des direkten Weges ist ∣𝐴𝐶∣. Dieser ist stets kürzer als die Länge des Umwegs ∣𝐴𝐵∣ + ∣𝐵𝐶∣. Beweis der Dreiecksungleichung. Es gilt: { 𝑥 + 𝑦, ∣𝑥 + 𝑦∣ = −(𝑥 + 𝑦), falls 𝑥 + 𝑦 ≥ 0 falls 𝑥 + 𝑦 < 0 Wir müssen zeigen, dass 𝑥 + 𝑦 ≤ ∣𝑥∣ + ∣𝑦∣ und −(𝑥 + 𝑦) ≤ ∣𝑥∣ + ∣𝑦∣ gilt. 44 Da 𝑥 ≤ ∣𝑥∣ und 𝑦 ≤ ∣𝑦∣ folgt 𝑥 + 𝑦 ≤ ∣𝑥∣ + ∣𝑦∣. Überdies gilt: −𝑥 ≤ ∣𝑥∣ und −𝑦 ≤ ∣𝑦∣. Somit haben wir −(𝑥 + 𝑦) = −𝑥 − 𝑦 ≤ ∣𝑥∣ + ∣𝑦∣. 45 Vorlesung 8 Das Beweisverfahren der vollständigen Induktion 8.1 Motivation Treffen wir eine Aussage über endlich viele Elemente einer Menge, so können wir die Gültigkeit der Aussage für jedes Element per Hand verifizieren (oder widerlegen). Bei unendlich vielen Elementen ist dieses Vorgehen nicht möglich – wir können nicht von Hand die Gültigkeit für jedes Element verifizieren. Das Prinzip der vollständigen Induktion erlaubt es uns, die Gültigkeit einer Aussage über die natürlichen Zahlen zu verifizieren. Es besagt: Angenommen, von der Behauptung 𝐴(𝑛) über beliebige natürliche Zahlen 𝑛 ∈ ℕ ist Folgendes bekannt: (IA) Die Behauptung 𝐴(𝑛) gilt für ein 𝑛0 . (IS) 𝐴(𝑛) ⇒ 𝐴(𝑛 + 1). Dann gilt die Behauptung 𝐴(𝑛) für alle 𝑛 ∈ ℕ mit 𝑛 ≥ 𝑛0 . Bemerkung. (IA) nennen wir Induktionsanfang. (IS) nennen wir Induktionsschluss (oder Induktionsschritt). Es ist sehr wichtig, darauf zu achten, dass für das Beweisverfahren der vollständigen Induktion stets Induktionsanfang und Induktionsschluss benötigt werden. 8.2 Illustration Wir machen eine Aussage 𝐴 über die natürlichen Zahlen. Je nach Gültigkeit der Aussage, die wahr oder falsch sein kann, setzt ein Männchen eine Reihe von unendlich vielen Dominosteinen 46 0 1 2 3 4 5 6 7 ... Wenn die Aussage 𝐴 für ein 𝑘 richtig ist, so können wir den 𝑘-ten Stein umwerfen. Wenn die Aussage falsch ist, dann nicht (Stein ist zu schwer). Angenommen, eine Aussage 𝐵 gilt für alle natürlichen Zahlen. Dann können wir den nullten Stein umwerfen (Induktionsanfang). Die Dominosteine stehen so dicht beieinander, dass, wenn der 𝑛-te Stein fällt, auch der (𝑛 + 1)-te Stein fällt (Induktionsschluss). Angenommen, eine Aussage 𝐶 gilt nur für alle 𝑛 ≥ 3. Dann können wir nullten, ersten und zweiten Stein nicht umwerfen (direkte Überprüfung). Den dritten Stein aber schon (Induktionsanfang) und wieder stehen die Steine dicht genug beieinander (Induktionsschluss). Angenommen, eine Aussage 𝐷 gilt nur für 𝑛 = 10 und ist falsch für alle 𝑛 ∕= 10. Dann können wir den zehnten Stein umwerfen. Es wird uns aber (in der Regel) nicht gelingen, nachzuweisen, dass die Steine dicht genug beieinander stehen. 8.3 Beispiele (i) Behauptung: Für alle 𝑛 ∈ ℕ+ gilt 𝑛 ∑ 𝑘= 𝑘=1 𝑛(𝑛 + 1) . 2 Beweis: Wir führen vollständige Induktion durch. Induktionsanfang mit 𝑛 = 1. Für die linke Seite gilt 1 ∑ 𝑘 = 1. 𝑘=1 Für die rechte Seite gilt 1(1 + 1) = 1. 2 Die linke Seite stimmt mit der rechten Seite überein, also ist die Behauptung wahr für 𝑛 = 1. Induktionsvoraussetzung: Wir nehmen an, die Behauptung gelte für 𝑛, also 𝑛 ∑ 𝐴(𝑛) : 𝑘= 𝑘=1 Zu zeigen ist dann: 𝐴(𝑛 + 1) : 𝑛+1 ∑ 𝑘= 𝑘=1 47 𝑛(𝑛 + 1) . 2 (𝑛 + 1)[(𝑛 + 1) + 1] . 2 Induktionsschluss: 𝑛+1 ∑ 𝑛 ∑ 𝑘= 𝑘 + (𝑛 + 1) 𝑘=1 𝑘=1 𝑛(𝑛 + 1) + (𝑛 + 1) 2 𝑛(𝑛 + 1) 2(𝑛 + 1) = + 2 2 (𝑛 + 2)(𝑛 + 1) = . 2 IV = Nach dem Prinzip der vollständigen Induktion gilt die Behauptung für alle 𝑛 ∈ ℕ+ . (ii) Behauptung: Für die Summe der ersten 𝑛 ungeraden Zahlen gilt 𝑛 ∑ (2𝑘 − 1) = 𝑛2 . 𝑘=1 Beweis: Induktionsanfang mit 𝑛 = 1: Für die linke Seite gilt 1 ∑ (2𝑘 − 1) = 2 ⋅ 1 − 1 = 1. 𝑘=1 Für die rechte Seite gilt 12 = 1. Linke und rechte Seite stimmen überein, also gilt die Behauptung für 𝑛 = 1. Induktionsschluss: Es gelte die Behauptung für 𝑛. Wir haben 𝑛+1 ∑ 𝑘=1 (2𝑘 − 1) = IV 𝑛 ∑ (2𝑘 − 1) + (2(𝑛 + 1) − 1) 𝑘=1 = 𝑛2 + 2(𝑛 + 1) − 1 = 𝑛2 + 2𝑛 + 2 − 1 = 𝑛2 + 2𝑛 + 1 = (𝑛 + 1)2 . (iii) Ein Beispiel dafür, dass der Induktionsanfang wichtig ist. Behauptung: (2𝑛 + 1) ist eine gerade Zahl für alle 𝑛 ∈ ℕ. Induktionsschluss: Es gelte die Behauptung für ein 𝑛, d.h. (2𝑛 + 1) sei gerade. Dann ist nach Induktionsvoraussetzung auch 2(𝑛 + 1) + 1 = (2𝑛 + 1) + 2 48 gerade. Hier gelingt der Induktionsschluss, aber die Behauptung ist offenbar falsch! (2𝑛 + 1) ist stets eine ungerade Zahl. Zum Beweisverfahren der vollständigen Induktion gehören stets Induktionsanfang und Induktionsschluss. (iv) Behauptung: 𝑛5 − 𝑛 ist für alle 𝑛 ∈ ℕ durch 5 teilbar. Beweis: Induktionsanfang mit 𝑛 = 0. Offenbar ist 05 − 0 = 0 durch 5 teilbar. (𝑛 ∣ 𝑚, 𝑛 teilt 𝑚“, genau dann, wenn 𝑚 bei Division durch 𝑛 den ” Rest 0 lässt.) Induktionsschluss: Es gelte die Aussage für 𝑘, d.h. 𝑘 5 − 𝑘 sei durch 5 teilbar. Wir müssen zeigen, dass (𝑘 + 1)5 − (𝑘 + 1) durch 5 teilbar ist (Induktionsbehauptung). Es gilt: (𝑘 + 1)5 − (𝑘 + 1) = k 5 + 5𝑘 4 + 10𝑘 3 + 10𝑘 2 + 5𝑘 + 1−(k + 1) (𝑘 5 − 𝑘) | {z } = durch 5 teilbar nach IV (v) Behauptung: + 5(𝑘 4 + 2𝑘 3 + 2𝑘 2 + 𝑘) | {z } offenbar durch 5 teilbar (∀𝑛 ∈ ℕ)[(𝑛 ≥ 10) ⇒ (2𝑛 < 𝑛3 )]. Beweis: Induktionsanfang mit 𝑛 = 10. Es gilt 210 = 1024 > 1000 = 103 . Also gilt die Behauptung für 𝑛 = 10. Angenommen, die Aussage gilt für ein 𝑘 ≥ 10, das heißt es ist 2𝑘 > 𝑘 3 . Wir müssen zeigen, dass 2𝑘+1 > (𝑘 + 1)3 . Nach IV gilt 2𝑘+1 = 2 ⋅ 2𝑘 > 2𝑘 3 . Es reicht daher zu zeigen, dass 2𝑘 3 > (𝑘 + 1)3 ist. Dies ist äquivalent zu 𝑘 3 − 3𝑘 2 − 3𝑘 − 1 > 0. Da 𝑘 ≥ 10 haben wir 𝑘 − 3 ≥ 7 und 𝑘 2 ≥ 100. Somit haben wir 𝑘 3 − 3𝑘 2 − 3𝑘 − 1 = (𝑘 − 3)(𝑘 2 − 3) − 10 > 0. Daraus folgt die Behauptung. 49 Vorlesung 9 Komplexe Zahlen Die Gleichung 𝑥2 = −1 ist in ℝ nicht lösbar, weil es keine Zahl gibt, deren Quadratwurzel eine negative Zahl ist. Die Mathematiker erfanden“ zu den reellen Zahlen eine neue Zahl 𝑖“, ” ” die die Eigenschaft hat, dass 𝑖2 = −1. Der Buchstabe 𝑖 wurde gewählt, weil wir es mit einer Zahl zu tun haben, die zunächst nur in unserer Vorstellung existiert und sozusagen imaginär“ ist. 𝑖 ” heißt imaginäre Einheit. Die Menge bestehend alleine aus ℝ und der Zahl 𝑖 hat noch keine wohldefinierte algebraische Struktur. Dazu müssen wir ℝ und 𝑖 in eine größere Menge einbetten. Es stellt sich heraus, dass diese größere Menge gerade die Menge der komplexen Zahlen ist. Definition 9.0.1. Eine komplexe Zahl 𝑧 ist ein geordnetes Tupel (𝑥, 𝑦) ∈ ℝ2 . 𝑥 heißt Realteil von 𝑧 und wird mit Re(𝑧) bezeichnet (wir schreiben 𝑥 = Re(𝑧)). 𝑦 = Im(𝑧) heißt Imaginärteil von 𝑧. Die Menge der komplexen Zahlen wird mit ℂ bezeichnet. Wir erklären nun, wie wir komplexe Zahlen addieren und multiplizieren. Definition 9.0.2. Es seien 𝑧 = (𝑥, 𝑦) und 𝑤 = (𝑢, 𝑣) komplexe Zahlen. Wir setzen 𝑧 + 𝑤 := (𝑥 + 𝑢, 𝑦 + 𝑣) 𝑧 ⋅ 𝑤 := (𝑥𝑢 − 𝑦𝑣, 𝑥𝑣 + 𝑦𝑢). Bemerkung. ∙ Die Addition ist einfach; wir addieren komponentenweise. ∙ Später werden wir sehen, dass wir die Multiplikation mit Hilfe der imaginären Einheit herleiten“ können. ” ∙ Insbesondere gilt (0, 1) ⋅ (0, 1) = (0 − 1, 0 ⋅ 1 + 1 ⋅ 0) = (−1, 0). 50 Lemma 9.0.3. Die Addition und die Multiplikation komplexer Zahlen sind kommutativ und assoziativ. Das neutrale Element bzgl. der Addition ist (0, 0) und das der Multiplikation ist (1, 0). Überdies gelten die Distributivgesetze. Wir machen folgende grundlegende Beobachtung für zwei komplexe Zahlen, deren Imaginärteil gleich Null ist: Lemma 9.0.4. Es gilt: (𝑥, 0) + (𝑦, 0) = (𝑥 + 𝑦, 0) und (𝑥, 0) ⋅ (𝑦, 0) = (𝑥 ⋅ 𝑦 − 0 ⋅ 0, 𝑥 ⋅ 0 + 0 ⋅ 𝑦) = (𝑥 ⋅ 𝑦, 0). Das bedeutet: Komplexe Zahlen, deren zweite Komponente Null ist, verhalten sich wie reelle Zahlen. Z.B. gilt 7 + 11 = 18 und (7, 0) + (11, 0) = (18, 0). Für eine komplexe Zahl (𝑥, 0) können wir kurz 𝑥 schreiben, d.h. jede reelle Zahl lässt sich als komplexe Zahl interpretieren. Definition 9.0.5. Die komplexe Zahl (0, 1) nennen wir imaginäre Einheit 𝑖, also 𝑖 = (0, 1). Wie oben festgestellt, gilt 𝑖2 = 𝑖 ⋅ 𝑖 = (0, 1) ⋅ (0, 1) = (−1, 0) = −1 ∈ ℝ. 9.1 Algebraische Form einer komplexen Zahl Mit der imaginären Einheit können wir eine neue Schreibweise für die komplexen Zahlen einführen: Wir haben 𝑧 = (𝑥, 𝑦) = = = (𝑥, 0) + (𝑦, 0) (𝑥, 0) + (0, 1) ⋅ (𝑦, 0) 𝑥 + 𝑖𝑦, 𝑥 ∈ ℝ. Anders formuliert, anstatt der Tupelschreibweise (𝑥, 𝑦) für die komplexe Zahl 𝑧 können wir die algebraische Form 𝑧 = 𝑥 + 𝑖𝑦, 𝑥, 𝑦 ∈ ℝ verwenden. In dieser Darstellung können wir die Multiplikation leichter“ ausführen. ” Es seien 𝑧 = 𝑥 + 𝑖𝑦 und 𝑤 = 𝑢 + 𝑖𝑣 komplexe Zahlen. Wir haben: 𝑧⋅𝑤 = = (𝑥 + 𝑖𝑦)(𝑢 + 𝑖𝑣) 𝑥𝑢 + 𝑖𝑥𝑣 + 𝑖𝑢𝑦 + 𝑖2 𝑦𝑣 = 𝑥𝑢 − 𝑦𝑣 + 𝑖(𝑥𝑣 + 𝑦𝑢) Die Addition ist einfach 𝑧 + 𝑤 = (𝑥, 𝑦) + (𝑢, 𝑣) = (𝑥 + 𝑢, 𝑦 + 𝑣) Folgende Begriffe sind wichtig: Definition 9.1.1. Es sei 𝑧 = (𝑥, 𝑦) ∈ ℂ. Die Zahl 𝑧 := (𝑥, −𝑦) = 𝑥 − 𝑖𝑦 heißt komplex konjugierte Zahl zu 𝑧. Definition 9.1.2. Der Betrag ∣𝑧∣ einer komplexen Zahl ist ihr Abstand zum Nullpunkt. In Einklang mit Pythagoras setzen wir √ √ √ ∣𝑧∣ := 𝑥2 + 𝑦 2 = (𝑥 + 𝑖𝑦)(𝑥 − 𝑖𝑦) = 𝑧 ⋅ 𝑧. 51 Eine reelle Zahl liegt auf der reellen Zahlengerade. Eine komplexe Zahl liegt in der komplexen Zahlenebene (Gaußsche Zahlenebene). 9.2 Polarkoordinaten einer komplexen Zahl Eine weitere wichtige Repräsentation einer komplexen Zahl ist ihre Darstellung in Form von Polarkoordinaten. Hierzu wiederholen wir kurz die Sinus- und Kosinusfunktion elementargeometrisch am rechtwinkligen Dreieck. Sinus: 𝑎 𝑐 cos(𝛼) = 𝑐𝑏 tan(𝛼) = 𝑎𝑏 sin(𝛼) = Gegenkathete durch Hypothenuse“ ” Ankathete durch Hypothenuse“ Kosinus: ” sin(𝛼) Tangens: = cos(𝛼) Gegenkathete durch Ankathete“ ” Bemerkung. In der Hochschulmathematik werden Sinus- und Kosinusfunktion über unendliche Summen (Reihen) definiert, s. A1-Vorlesung. Üblicherweise verwenden wir als Argumente in den trigonometrischen Funktionen keine Winkel, sondern die zu ihnen korrespondierenden Bogenmaße. Konkret bedeutet dies: ∙ 0∘ = ˆ 0, ∙ 𝑘∘ = ˆ 360∘ = ˆ 2𝜋 ∘ 𝑘 360∘ 2𝜋 (volle Umdrehung) (z.B. 180∘ = ˆ 180∘ 360∘ 2𝜋 = 𝜋). 52 Im rechtwinkligen Dreieck habe die Hypotenuse nun die Länge 1, d.h. 𝑐 = 1. Dann gilt cos(𝛼) = 𝑏 und sin(𝛼) = 𝑎. Wir betrachten Punkte auf dem Einheitskreis. Offenbar haben wir 𝑥 = cos(𝜑) und 𝑦 = sin(𝜑). Eine komplexe Zahl 𝑧 = (𝑥, 𝑦) auf dem Einheitkreis hat ebenso die Darstellung 𝑧 = (cos(𝜑), sin(𝜑)) = cos(𝜑) + 𝑖 sin(𝜑) mit −𝜋 < 𝜑 ≤ 𝜋. Eine beliebige komplexe Zahl 𝑧 = (𝑥, 𝑦) mit Betrag 𝑟 ≥ 0 lässt sich daher schreiben als 𝑧 = (𝑟 cos(𝜑), 𝑟 sin(𝜑)) mit 𝑟 = ∣𝑧∣ und 𝜑 = arg(𝑧). 𝜑 wird auch Argument von 𝑧 genannt. 𝑟 = ∣𝑧∣ und 𝜑 = arg(𝑧) sind die Polarkoordinaten von 𝑧. Die Angabe der Polarkoordinaten legt einen Punkt in der komplexen Zahlenebene eindeutig fest. Ausgehend vom Punkt (1, 0) wird festgelegt, wie dieser um den Pol“ (Nullpunkt) mit Bogen” maß 𝜑 gedreht und anschließend mit der Länge 𝑟 gestreckt werden muss: 53 Mit den Reihendarstellungen der Sinus-, Kosinus- und Exponentialfunktion ergibt sich die Eulersche Formel: 𝑒𝑖𝜑 = cos(𝜑) + 𝑖 sin(𝜑). Eine komplexe Zahl 𝑧 hat damit die Darstellungen ∙ als Tupel 𝑧 = (𝑥, 𝑦) ∙ in algebraischer Form 𝑥 + 𝑖𝑦 ∙ in Form von Polarkoordinaten 𝑧 = (𝑟 cos(𝜑), 𝑟 sin(𝜑)) = 𝑟(cos(𝜑) + 𝑖 sin(𝜑)) = 𝑟 ⋅ 𝑒𝑖𝜑 mit −𝜋 < 𝜑 ≤ 𝜋. Alle Darstellungen lassen sich jeweils in eine andere überführen. Beispiel. Es sei 𝑧 = (1, 1). Dann ist 𝑧 = 1 + 1 ⋅ 𝑖. Es gilt ∣𝑧∣ = und 𝜑 = arctan( 11 ), wobei ( 𝜋 𝜋) arctan : ℝ → − , 2 2 √ √ 12 + 12 = 2 die Umkehrfunktion der Tangens-Funktion bezeichnet. Es gilt arctan(1) = 𝜋4 , denn das vorliegende rechtwinklige Dreieck ist gleichschenklig. Somit hat 𝑧 die folgende Polarkoordinatendarstellung (𝜋) ( 𝜋 )) √ 𝜋 √ ( 𝑧 = 2 cos + 𝑖 sin = 2𝑒𝑖 4 . 4 4 54 Vorlesung 10 Folgen und Konvergenz von Folgen 10.1 Der Grenzbegriff für Folgen Definition 10.1.1. Eine Folge reeller Zahlen ist eine Abbildung 𝑎:ℕ −→ 𝑛 7−→ ℝ 𝑎𝑛 Wir schreiben kurz (𝑎𝑛 )𝑛≥1 oder oft auch (𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ . Beispiele. Folgenglieder explizite Darstellung implizite/rekursive Darstellung 𝑎, 𝑎, 𝑎, 𝑎, 𝑎, ... (𝑎 ∈ ℝ) 𝑎𝑛 = 𝑎 𝑥, 𝑥 , 𝑥 , 𝑥 , 𝑥 , ... 𝑎𝑛 = 𝑥 1, 1 1 1 1 2 , 3 , 4 , 5 , ... 1 2 3 4 𝑎𝑛 = 𝑎𝑛+1 = 𝑎𝑛 = 2 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, ... 𝑎𝑛 = 𝑎𝑛 1+𝑎𝑛 𝑎𝑛+1 = 𝑎𝑛 ⋅ 𝑥 𝑛 1, 2, 4, 8, 16, ... Fibonacci-Folge 𝑎𝑛+1 = 𝑎𝑛 1 𝑛 𝑛 √ √1 [( 1+ 5 )𝑛 2 5 √ − ( 1−2 5 )𝑛 ] 𝑎𝑛+1 = 𝑎𝑛 ⋅ 2 𝑎0 = 0, 𝑎1 = 1, 𝑎𝑛+1 = 𝑎𝑛 + 𝑎𝑛−1 Folgender Begriff ist von zentraler Bedeutung: Definition 10.1.2. Sei(𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ eine Folge. Sie konvergiert gegen ein 𝑎 ∈ ℝ, lim 𝑎𝑛 = 𝑎 𝑛→∞ falls es zu jedem 𝜀 > 0 ein 𝑁 (𝜀) ∈ ℕ gibt, derart, dass gilt ∣𝑎𝑛 − 𝑎∣ < 𝜀, für alle 𝑛 ≥ 𝑁 (𝜀). 55 Bemerkung. 𝑁 (𝜀) hängt von 𝜀 ab. Definition 10.1.3. Für 𝑎 ∈ ℝ und 𝜀 > 0 definieren wir als 𝜀-Umgebung 𝑈𝜀 (𝑎) = (𝑎 − 𝜀, 𝑎 + 𝜀) Sprechweise: Fast alle“ bedeutet alle bis auf endlich viele Ausnahmen“. ” ” Lemma 10.1.4. Eine Folge (𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ konvergiert gegen 𝑎 genau dann, wenn für jedes 𝜀 > 0 fast alle Elemente der Folge in der 𝜀-Umgebung von 𝑎 liegen. Andere Formulierung: Wir sagen eine Folge hat den Grenzwert 𝑎, wenn gilt: Zu jedem 𝜀 > 0 (dieser Wert legt die Umgebung von 𝑎 fest) gibt es ein 𝑁 , so dass alle Folgenglieder, die einen höheren Folgenindex als 𝑁 haben, in der 𝜀-Umgebung von 𝑎 liegen. Somit haben wir lim 𝑎𝑛 = 𝑎 𝑛→∞ ⇔ ⇔ ∀𝜀 > 0∃𝑁 ∈ ℕ : ∀𝜀 > 0∃𝑁 ∈ ℕ : ∣𝑎𝑛 − 𝑎∣ < 𝜀 ∀𝑛 ≥ 𝑁 ∀𝑛 ≥ 𝑁 ⇒ ∣𝑎𝑛 − 𝑎∣ < 𝜀. Beispiele. ∙ Die konstante Folge 𝑎𝑛 = 𝑎 hat den Grenzwert 𝑎. Beweis. Sei 𝜀 > 0 beliebig aber fest vorgegeben. Wir setzen 𝑁 (𝜀) = 1. Dann gilt ∣𝑎𝑛 − 𝑎∣ < 𝜀 | {z } ∀𝑛 ≥ 𝑁 = 1 ∣𝑎−𝑎∣=0<𝜀 Bemerkung. In diesem Beispiel können wir auch 𝑁 = 2 oder 𝑁 = 2013 wählen. 𝑛 ∙ Wir betrachten die Folge 𝑎𝑛 = 𝑛+1 . Wir raten und nehmen an der Grenzwert ist 1, also lim𝑛→∞ 𝑎𝑛 = 1. Beweis. Um zu 𝜀 > 0 ein 𝑁 (𝜀) zu finden, rechnet man oft versuchsweise rückwärts: 𝑛 ∣𝑎𝑛 − 𝑎∣ = ∣ 𝑛+1 − 1∣ < 𝜀 𝑛 ∣ 𝑛+1 − ⇔ 1 𝑛+1 ⇔ ⇔ Zu 𝜀 > 0 wählen wir 𝑁 (𝜀) mit 𝑁 (𝜀) > 𝑛 > 𝑁 (𝜀) ⇒ 𝑛 > 𝑛 𝑛→∞ 𝑛+1 Das beweist lim = 1. <𝜀 <𝜀⇔𝑛+1> 𝑛> 1 𝜀 𝑛+1 𝑛+1 ∣ 1 𝜀 1 𝜀 −1 − 1. Dann gilt: 1 1 1 −1⇒𝑛+1> ⇒ <𝜀 𝜀 𝑛 + 1 𝜀 𝑛 ⇒ − 1 < 𝜀. 𝑛+1 56 1 . Dann gilt für 𝑁 > 1𝜀 − 1 = Hierzu ein Zahlenbeispiel: Wähle 𝜀 = 10 10 − 1 = 9: 𝑛 > 9 ⇒ ∣𝑎𝑛 − 1∣ < 𝜀. So gilt z.B. für 𝑎10 , dass ∣𝑎10 − 1∣ = 1 1 ∣ 10 11 − 1∣ = ∣ 11 ∣ < 10 . 1 𝑛→∞ 𝑛 ∙ Es gilt lim = 0. Beweis. Rückwärts rechnen liefert: 1 − 0 < 𝜀 ⇔ 1 < 𝜀 ⇔ 𝑛 > 1 𝑛 𝑛 𝜀 Sei nun 𝜀 > 0 beliebig aber fest vorgegeben. Dann wählen wir 𝑁 > Somit gilt: 1 1 𝑛 > 𝑁 = ⇒ − 0 < 𝜀 𝜀 𝑛 ∙ Wir wollen zeigen, dass gilt: lim𝑛→∞ 𝑛 2𝑛 1 𝜀. = 0. Beweis. Wir beweisen zunächst induktiv für 𝑛 > 4 die Behauptung I: 𝑛2 ≤ 2𝑛 ⇔ 2𝑛𝑛 ≤ 𝑛1 (Übung). Mit Behauptung I gilt für 𝑛 ≥ 4: 𝑛 𝑛 1 𝑛 − 0 = 𝑛 ≤ 2 2 𝑛 Wähle 𝑁 (𝜀) = 1𝜀 . Dann gilt: 𝑛 > 𝑁 (𝜀) ⇒ 𝑛 > 𝑛 1 1 ⇒ < 𝜀 ⇒ 𝑛 − 0 < 𝜀 𝜀 𝑛 2 ∙ Wir betrachten die Folge 𝑎𝑛 = (−1)𝑛 und wollen zeigen, dass (𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ nicht konvergiert. Wir führen einen Widerspruchsbeweis. Beweis. Angenommen die Folge konvergiert gegen einen Grenzwert 𝑎 ∈ ℝ. Dann gilt lim𝑛→∞ (−1)𝑛 = 𝑎. Also gibt es zu 𝜀 = 12 ein 𝑁 (𝜀) mit 𝑛 ≥ 𝑁 ( 21 ) ⇒ ∣(−1)𝑛 − 𝑎∣ < 21 . Also gilt für 𝑛 ≥ 𝑁 ( 12 ): 2 = ∣(−1)𝑛 − (1)𝑛+1 ∣ = ∣(−1)𝑛 − 𝑎 + 𝑎 − (−1)𝑛+1 ∣ △−𝑈 𝑛𝑔𝑙. ≤ ∣(−1)𝑛 − 𝑎∣ + ∣(−1)𝑛+1 − 𝑎∣ 1 1 ≤ + = 1 Widerspruch! 2 2 Satz 10.1.5 (Grenzwerte und algebraische Operationen, Grenzwertsätze“). ” Seien (𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ und (𝑏𝑛 )𝑛∈ℕ konvergente Folgen mit Grenzwerten 𝑎 = lim𝑛→∞ 𝑎𝑛 und 𝑏 = lim𝑛→∞ 𝑏𝑛 . 57 (i) Seien 𝜆, 𝜇 ∈ ℝ. Dann konvergiert die Folge (𝜆𝑎𝑛 + 𝜇𝑏𝑛 )𝑛∈ℕ und es gilt: lim 𝜆𝑎𝑛 + 𝜇𝑏𝑛 = 𝜆𝑎 + 𝜇𝑏 𝑛→∞ (ii) Die Folge (𝑎𝑛 ⋅ 𝑏𝑛 )𝑛∈ℕ konvergiert und es gilt: lim 𝑎𝑛 ⋅ 𝑏𝑛 = 𝑎 ⋅ 𝑏 𝑛→∞ (iii) Sei 𝑏 ∕= 0. Dann gibts es 𝑛0 mit 𝑛 ≥ 𝑛0 ⇒ 𝑏𝑛 ∕= 0. Dann konvergiert ( 𝑎𝑏𝑛𝑛 )𝑛≥𝑛0 und es gilt: lim 𝑛→∞ 𝑎𝑛 𝑎 = 𝑏𝑛 𝑏 Beispiele. Wir wenden Satz 10.1.5 auf die Folge 𝑎𝑛 = 𝑛2 +4𝑛+5 𝑛2 +𝑛+1 = 4 1+ 𝑛 + 𝑛52 1 + 𝑛12 1+ 𝑛 . Wir dürfen nun den Grenzwert jedes Summanden des Nenners und des Zählers einzeln bestimmen. Wir haben bereits gezeigt, dass lim𝑛→∞ 𝑛1 = 0. Daraus folgt: lim 4 𝑛→∞ 𝑛 lim 12 𝑛→∞ 𝑛 = lim 4 ⋅ 𝑛→∞ lim 1 𝑛→∞ 𝑛 = lim 52 𝑛→∞ 𝑛 = lim 5 ⋅ 𝑛→∞ ⋅ 1 𝑛 1 𝑛 10.1.5 1 𝑛 10.1.5 ⋅ = = 1 𝑛 10.1.5 = 4⋅0=0 0⋅0=0 5⋅0⋅0=0 Daher gilt für den Nenner bzw. den Zähler der Folge 𝑎𝑛 : 5 10.1.5 4 + 2 = 1+0+0=1 𝑛 𝑛 1 1 10.1.5 lim 1 + + 2 = 1 + 0 + 0 = 1. 𝑛→∞ 𝑛 𝑛 lim 1 + 𝑛→∞ Daraus folgt nun lim𝑛→∞ 𝑎𝑛 = 1 1 = 1. Satz 10.1.6. (Sandwich-Lemma) Falls 𝑎𝑛 ≤ 𝑏𝑛 ≤ 𝑐𝑛 für fast alle 𝑛 ∈ ℕ gilt und lim𝑛→∞ 𝑎𝑛 = lim𝑛→∞ 𝑐𝑛 ist, so folgt lim𝑛→∞ 𝑏𝑛 = lim𝑛→∞ 𝑎𝑛 = lim𝑛→∞ 𝑐𝑛 . 1 Beispiele. Betrachte die Folge 𝑏𝑛 = 𝑛! . Wir schätzen diese Folge nach unten hin mit der konstanten Folge 𝑎𝑛 = 0 und nach oben hin mit der Folge 𝑐𝑛 = 𝑛1 ab. Dann gilt für alle 𝑛 ∈ ℕ: 𝑎𝑛 ≤ 𝑏𝑛 ≤ 𝑐𝑛 ⇐⇒ 0 ≤ 1 1 ≤ 𝑛! 𝑛 Zudem wissen wir schon: lim 𝑎𝑛 = lim 𝑐𝑛 ⇐⇒ 0 = lim 0 = lim 𝑛→∞ 𝑛→∞ 𝑛→∞ Es folgt also mit Satz 10.1.6, dass lim 𝑏𝑛 = 0. 𝑛→∞ 58 𝑛→∞ 1 =0 𝑛 Vorlesung 11 Reihen, Funktionen 11.1 Reihen Gegeben sei eine Folge (𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ . Aus ihr können wir eine neue Folge konstruieren durch 𝑠𝑛 := 𝑎0 + 𝑎1 + ⋅ ⋅ ⋅ + 𝑎𝑛 = 𝑠𝑛 ist die 𝑛-te Partialsumme von 𝑎𝑛 . 𝑛 ∑ 𝑎𝑘 . 𝑘=0 Definition 11.1.1. Die Folge 𝑠𝑛 der 𝑛-ten Partialsumme heißt Reihe. Konvergiert 𝑠𝑛 , so nennen wir lim 𝑠𝑛 = lim 𝑛→∞ 𝑛→∞ den Wert der Reihe. 𝑛 ∑ 𝑘=0 𝑎𝑘 = ∞ ∑ 𝑎𝑘 𝑘=0 Es ist zentrales Thema der Analysis zu untersuchen, ob eine Reihe konvergiert oder nicht. 11.1.1 Geometrische Reihen Für 𝑥 ∈ ℝ ist eine geometrische Reihe von der Form ∞ ∑ 𝑥𝑘 . 𝑘=0 Wir haben gezeigt (Blatt 2, Aufgabe 9): 𝑛 ∑ 𝑘=0 𝑥𝑘 = 1 − 𝑥𝑛+1 für 𝑥 ∕= 1 (geometrische Summe). 1−𝑥 59 Mit ∣𝑥∣ < 1 folgt ∞ ∑ 𝑥𝑘 = 𝑘=0 1 . 1−𝑥 An dieser Stelle haben wir benutzt, dass lim 𝑞 𝑛 = 0 falls ∣𝑞∣ < 1; einen Beweis 𝑛→∞ hierfür wird in der A1-Vorlesung behandelt. 11.1.2 Die harmonische Reihe Die harmonische Reihe ist ∞ ∑ 1 . 𝑘 𝑘=1 Diese divergiert! Das ist auf dem ersten Blick nicht so offensichtlich, denn wir summieren über eine Nullfolge. Die Divergenz sehen wir so ( ∞ ∑ 1 1 1 =1+ + 𝑘 2 3 𝑘=1 ( 1 1 >1+ + 2 4 1 =1+ + 2 = ∞. 1 + 4 + 1 2 1 4 ) ) + + + ( ( 1 1 1 1 + + + 5 6 7 8 1 1 1 1 + + + 8 8 8 8 1 2 ) ) + + + ( ( 1 1 + ... + 9 16 ) + ... ) 1 1 + ... + ... + 16 16 1 + ... 2 Wir haben in dieser Abschätzung also benutzt, dass für alle 𝑘 ∈ ℕ gilt: 𝑘 2 ∑ 𝑘 1 ≥1+ . 𝑛 2 𝑛=1 Bemerkung. Geometrische Reihen und die harmonische Reihe gehören zu den wichtigsten Reihen der Analysis. Die Summation bei einer geometrischen Reihe beginnt bei 𝑘 = 0 und bei der harmonischen Reihe bei 𝑘 = 1. Beispiel: Es gilt ∞ ∑ 𝑘=1 Beweis. Wir haben 1 = 1. 𝑘(𝑘 + 1) (11.1) 1 1 1 = − , 𝑘(𝑘 + 1) 𝑘 𝑘+1 denn 1 𝑎 𝑏 𝑎(𝑘 + 1) + 𝑏𝑘 𝑎𝑘 + 𝑎 + 𝑏𝑘 𝑘(𝑎 + 𝑏) + 𝑎 = + = = = 𝑘(𝑘 + 1) 𝑘 𝑘+1 𝑘(𝑘 + 1) 𝑘(𝑘 + 1) 𝑘(𝑘 + 1) ⇒ 1 = (𝑎 + 𝑏)𝑘 + 𝑎. Mit Koeffizientenvergleich folgt 𝑎 + 𝑏 = 0, das heißt 𝑎 = 1 und 𝑏 = −1. 60 Somit gilt 𝑛 𝑛 ∑ 𝑛 ∑1 ∑ 1 1 = − 𝑠𝑛 = 𝑘(𝑘 + 1) 𝑘 𝑘+1 𝑘=1 𝑘=1 𝑘=1 ) ( ) ( 1 1 1 1 1 1 1 − + + ⋅⋅⋅ + + = 1 + + + ⋅⋅⋅ + 2 3 𝑛 2 3 𝑛 𝑛+1 1 =1− → 1 für 𝑛 → ∞, 𝑛+1 also ∞ ∑ 𝑘=1 1 = 1. 𝑘(𝑘 + 1) Zuweilen können wir die Berechnung eines Wertes einer Reihe auf bekannte Reihen zurückführen: Dafür haben wir folgenden Satz 11.1.2. (Reihen und algebraische Operationen) ∞ ∞ ∑ ∑ 𝑏𝑘 zwei konvergente Reihen mit Grenzwerten 𝑎 und 𝑏. Seien 𝑎𝑘 und Seien 𝑘=1 𝑘=1 𝜆, 𝜇 ∈ ℝ. Dann konvertiert die Reihe ∞ ∑ (𝜆𝑎𝑘 + 𝜇𝑏𝑘 ) und zwar gegen 𝜆𝑎 + 𝜇𝑏. 𝑘=1 Beispiel. ( ( ) ) ∞ 𝑘 ∑ 1 4 3 =3⋅ + 2 (𝑘 + 1)(𝑘 + 2) ∞ ( )𝑘 ∑ 1 𝑘=0 2 𝑘=0 | {z } + 4⋅ ∞ ∑ 𝑘=0 1 (𝑘 + 1)(𝑘 + 2) =2 (geom. Reihe) =3⋅2+4⋅ ∞ ∑ 1 𝑘(𝑘 + 1) 𝑘=1 | {z } =1 vgl.(11.1) = 6 + 4 ⋅ 1 = 10. Vorsicht: Zu beachten ist: ∞ ∑ 𝑘=1 𝑎𝑘 𝑏𝑘 ∕= ∞ ∑ 𝑘=1 𝑎𝑘 ⋅ ∞ ∑ 𝑏𝑘 . 𝑘=1 Hilfreich ist das Nullfolgenkriterium: ∞ ∑ 𝑎𝑘 konvergiert, so ist 𝑎𝑘 notwendigerweise eine Nullfolge. Satz 11.1.3. Falls 𝑘=0 Beispiel: Die Reihe ∞ √ ∑ 𝑛 divergiert. 𝑛=1 √ Beweis. 𝑎𝑛 := 𝑛 ist keine Nullfolge. Nach dem Nullfolgenkriterium divergiert ∞ √ ∑ 𝑛. 𝑛=1 Für weitere Konvergenzkriterien: siehe A1-Vorlesung. 61 11.2 Funktionen Definition 11.2.1. Es seien 𝑋 und 𝑌 Mengen. Eine Funktion 𝑓 von 𝑋 nach 𝑌 ordnet jedem Element 𝑥 ∈ 𝑋 in eindeutiger Weise ein 𝑦 ∈ 𝑌 zu. Wir verwenden die Bezeichnungen 𝑓: 𝑋 → 𝑥 7→ 𝑌 𝑓 (𝑥) = 𝑦 Die Menge 𝑋 heißt Definitionsbereich. Die Menge 𝑓 (𝑋) := {𝑓 (𝑥) ∈ 𝑌 ∣ 𝑥 ∈ 𝑋} heißt Wertebereich von 𝑓 oder auch das Bild von 𝑋 unter 𝑓 . Bemerkung. Nicht jedem Element 𝑦 ∈ 𝑌 muss ein 𝑥 ∈ 𝑋 zugeordnet worden sein! Definition 11.2.2. Unter dem Graphen von 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 verstehen wir die Menge 𝐺𝑟𝑎𝑝ℎ(𝑓 ) = {(𝑥, 𝑓 (𝑥))∣ 𝑥 ∈ 𝑋} ⊂ 𝑋 × 𝑌. Im Folgenden beschäftigen wir uns zunächst mit reellwertigen Funktionen, das heißt 𝑓 : 𝑋 → ℝ. Beispiele: ∙ Konstante Funktionen f(x) = c 𝑓: ℝ → 𝑥 7→ ℝ 𝑓 (𝑥) = 𝑐, 𝑐 ∈ ℝ. ∙ Identische Abbildung f(x) = x idℝ : ℝ → 𝑥 7→ ℝ 𝑥. 62 ∙ Absolutbetrag ∣ ∣: ℝ → 𝑥 7→ ℝ ∣𝑥∣ f(x) = |x| (oder alternativ: abs : ℝ → ℝ) ∙ Ganzzahlfunktion, auch Gauß-Klammer genannt [ ]: ℝ → ℝ (oder alternativ: entier : ℝ → ℝ) Für 𝑥 ∈ ℝ bezeichnen wir mit [𝑥] die größte ganze Zahl ≤ 𝑥. Das heißt [𝑥] ist diejenige ganze Zahl mit 𝑥−1 < [𝑥] ≤ 𝑥. Der Wertebereich von [ ] ist ℤ. Beispiel: [1,5]=1. 63 ∙ Quadratwurzel → sqrt : ℝ+ 0 𝑥 7→ ℝ √ 𝑥 ∙ Exponentialfunktion exp : ℝ 𝑥 → 7→ ℝ exp (𝑥) (= 𝑒𝑥 ) ∙ Polynomfunktionen 𝑝: ℝ → 𝑥 7→ ℝ 𝑝(𝑥) = 𝑎𝑛 𝑥𝑛 + ⋅ ⋅ ⋅ + 𝑎1 𝑥 + 𝑎0 64 mit 𝑎𝑗 ∈ ℝ, 𝑗 = 0, 1, . . . 𝑛 ∙ Treppenfunktion Seien 𝑎 < 𝑏 reelle Zahlen. Eine Funktion 𝜑 : [𝑎, 𝑏] → ℝ heißt Treppenfunktion, wenn es eine Unterteilung 𝑎 = 𝑡0 < 𝑡1 < . . . < 𝑡𝑛−1 < 𝑡𝑛 = 𝑏 des Intervalls (𝑎, 𝑏) und Konstanten 𝑐1 , 𝑐2 , . . . , 𝑐𝑛 ∈ ℝ, so dass 𝜑(𝑥) = 𝑐𝑘 für alle 𝑥 ∈ (𝑡𝑘−1 , 𝑡𝑘 ), 1 ≤ 𝑘 ≤ 𝑛. Die Funktionswerte 𝜑(𝑡𝑘 ) in den Teilpunkten sind beliebig. ∙ Beispiel für eine Funktion, deren Graphen wir nicht zeichnen können: Dirichletsche Sprungfunktion { 0, falls 𝑥 ∈ ℚ 𝑓 (𝑥) = 1, falls 𝑥 ∈ ℝ ∖ ℚ. Wir können durch algebraische Operatoren aus Funktionen neue Funktionen konstruieren. Definition 11.2.3. Seien 𝑓, 𝑔 : 𝑋 → ℝ Funktionen und 𝜆 ∈ ℝ. Dann sind die Funktionen 𝑓 + 𝑔: 𝑋 → ℝ 𝜆𝑓 : 𝑋 → ℝ 𝑓 ⋅ 𝑔: 𝑋 → ℝ definiert durch (𝑓 + 𝑔)(𝑥) := 𝑓 (𝑥) + 𝑔(𝑥) (𝜆 ⋅ 𝑓 )(𝑥) (𝑓 ⋅ 𝑔) (𝑥) := := 𝜆 ⋅ 𝑓 (𝑥) 𝑓 (𝑥) ⋅ 𝑔(𝑥). Sei 𝑋 ′ = {𝑥 ∈ 𝑋∣ 𝑔(𝑥) ∕= 0}. Dann ist die Funktion 𝑓 : 𝑋′ → ℝ 𝑔 definiert durch ( ) 𝑓 (𝑥) 𝑓 (𝑥) := . 𝑔 𝑔(𝑥) 65 Bemerkung. Durch wiederholte Anwendung algebraischer Operationen entstehen aus idℝ und der konstanten Funktion 1 alle rationalen Funktionen. Eine weitere wichtige Konstruktionsmöglichkeit neuer Funktionen gibt die folgende Definition: Definition 11.2.4. (Komposition von Funktionen) Es seien 𝑓 : 𝑋 → ℝ und 𝑔 : 𝑌 → ℝ Funktionen mit 𝑓 (𝑋) ⊂ 𝑌 . Dann ist die Funktion 𝑔 ∘ 𝑓 : 𝑋 → ℝ (Komposition von 𝑓 mit 𝑔) definiert durch (𝑔 ∘ 𝑓 )(𝑥) := 𝑔(𝑓 (𝑥)) 𝑓 𝑋 für 𝑥 ∈ 𝑋. 𝑔 −−→ 𝑌 −→ 𝑓 ∘𝑔 ℝ −−−−−−→ Dabei lesen wir von rechts nach links (von innen nach außen). Beispiel: Sei 𝑔 : ℝ → ℝ mit 𝑔(𝑥) = 𝑥2 . Dann lässt sich abs : ℝ → ℝ schreiben als abs = sqrt ∘ 𝑔, denn für 𝑥 ∈ ℝ gilt sqrt ∘ 𝑔(𝑥) = sqrt(𝑔(𝑥)) = sqrt(𝑥2 ) = ∣𝑥∣ = abs(𝑥). 66 Vorlesung 12 Funktionen und Mächtigkeiten 12.1 Etwas Mengenlehre In der Folge arbeiten wir intuitiv mit Mengen. Eine Menge ist eine Zusammenfassung von Elementen. Zum Beispiel ist 𝐴 = {1, 2, 3, 4, 5} eine endliche Menge mit 5 Elementen. Die Menge ℕ der natürlichen Zahlen hat unendlich viele Elemente. Die Menge ℝ auch. Es stellt sich heraus, dass ℝ mächtiger“ als ℕ ” ist. Definition 12.1.1. Bei einer endlichen Menge 𝐴 bezeichnet ihre Mächtigkeit die Anzahl der Elemente von 𝐴. Wir schreiben hierfür ∣𝐴∣ oder auch #𝐴. Beispiel. Für 𝐴 = {1, 2, 3, 4, 5} gilt ∣𝐴∣ = 5. Um die Mächtigkeit für unendliche Mengen zu erklären, benötigen wir gewisse Klassen von Funktionen. 12.2 Injektive, surjektive und bijektive Funktionen Definition 12.2.1. Es seien 𝑋 und 𝑌 Mengen und 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 eine Funktion. 𝑓 ist injektiv, wenn gilt: ∀𝑥1 , 𝑥2 ∈ 𝑋 : 𝑓 (𝑥1 ) = 𝑓 (𝑥2 ) ⇒ 𝑥1 = 𝑥2 . Äquivalente Formulierungen sind ∙ ∀𝑥1 , 𝑥2 ∈ 𝑋 : 𝑥1 ∕= 𝑥2 ⇒ 𝑓 (𝑥1 ) ∕= 𝑓 (𝑥2 ) ∙ Jedes 𝑦 ∈ 𝑌 tritt höchstens einmal als Bild (Funktionswert) unter 𝑓 auf ∙ Stimmen zwei Bilder überein, so müssen schon die Urbilder übereinstimmen. 67 Vorsicht: Injektivität bedeutet nicht ∀𝑥1 , 𝑥2 ∈ 𝑋 : 𝑥1 = 𝑥2 ⇒ 𝑓 (𝑥1 ) = 𝑓 (𝑥2 ) Diese Implikation gilt für alle Funktionen und ist damit keine Charakterisierung von Injektivität. Bemerkung. Eine injektive Funktion 𝑓 heißt Injektion. Wir injizieren“ bzw. ” betten die Menge 𝑋 in 𝑌 ein. Beispiele. ∙ In Abbildung 12.1 ist die Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 injektiv, da jedes 𝑦 ∈ 𝑌 höchstens einmal als Bild auftritt. a 1 b c 2 d 4 e X Y Abbildung 12.1: Injektive Funktion 𝑓 ∙ In Abbildung 12.2 ist die Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 nicht injektiv, da das Element 𝑎 ∈ 𝑌 zweimal getroffen wird. a 1 b c 2 3 4 X Y Abbildung 12.2: Nicht injektive Funktion 𝑓 Es seien 𝑋 und 𝑌 endliche Mengen. Damit eine injektive Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 existieren kann, darf 𝑋 höchstens so viele Elemente haben wir 𝑌 , d.h. ∣𝑋∣ ≤ ∣𝑌 ∣. Würde ∣𝑋∣ > ∣𝑌 ∣ gelten, so hätten mindestens zwei Elemente 𝑥1 , 𝑥2 ∈ 𝑋 und 𝑥1 ∕= 𝑥2 das gleiche Bild, d.h. 𝑓 (𝑥1 ) = 𝑓 (𝑥2 ). 68 Weitere Beispiele. (i) 𝑓 :ℤ→ℤ 𝑛 7→ 2𝑛 ist injektiv, denn 𝑓 (𝑛1 ) = 𝑓 (𝑛2 ) ⇒ 2𝑛1 = 2𝑛2 ⇒ 𝑛1 = 𝑛2 . (ii) Die Funktion 𝑓 :ℝ→ℝ 𝑥 7→ 𝑥2 ist nicht injektiv, denn 𝑓 (2) = 𝑓 (−2), aber 2 ∕= −2 (siehe Abbildung 12.3). 8 6 4 2 -3 -2 -1 1 2 3 Abbildung 12.3: Normalparabel Definition 12.2.2. Es seien 𝑋, 𝑌 Mengen und 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 eine Funktion. 𝑓 heißt surjektiv, wenn gilt: ∀𝑦 ∈ 𝑌 ∃𝑥 ∈ 𝑋 : 𝑓 (𝑥) = 𝑦. Äquivalente Formulierung: 𝑓 ist surjektiv, wenn jedes Element 𝑦 ∈ 𝑌 unter der Abbildung 𝑓 mindestens einmal getroffen wird. Beispiele. ∙ In Abbildung 12.4 ist die Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 surjektiv, da jedes 𝑦 ∈ 𝑌 mindestens einmal getroffen wird. 69 a 1 b c 2 3 4 d 5 X Y Abbildung 12.4: Surjektive Funktion 𝑓 ∙ In Abbildung 12.4 ist die Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 nicht surjektiv, da das Element 𝑐 ∈ 𝑌 nicht im Bild von 𝑓 ist. a 1 b c 2 3 4 d 5 X Y Abbildung 12.5: Nicht surjektive Funktion 𝑓 Es seien 𝑋, 𝑌 Mengen. Damit eine surjektive Abbildung 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 existieren kann, muss 𝑋 mindestens genauso viele Elemente haben wir 𝑌 , d.h. ∣𝑋∣ ≥ ∣𝑌 ∣. Würde ∣𝑋∣ < ∣𝑌 ∣ gelten, so gibt es ein 𝑦 ∈ 𝑌 , das nicht als Bild unter 𝑓 auftritt. Beispiele. (i) Die Funktion 𝑓 :ℕ→ℕ 𝑛 7→ 2𝑛 ist injektiv. 𝑓 ist nicht surjektiv, denn für 𝑦 = 3 ∈ ℕ existiert kein 𝑛 ∈ ℕ, so dass 𝑓 (𝑛) = 3. (ii) Die Funktion 𝑓 :ℝ→ℝ 𝑥 7→ 2𝑥 + 1 ist surjektiv (siehe Abbildung 12.6). Sei 𝑦 ∈ 𝑌 vorgegeben. Gesucht ist 𝑥 ∈ 𝑋, so dass 𝑓 (𝑥) = 𝑦. Nebenrechnung: Wir haben 2𝑥 + 1 = 𝑦 ⇒ 𝑦−1 2𝑥 = 𝑦 − 1 ⇒ 𝑥 = 𝑦−1 2 . Sei 𝑦 ∈ 𝑌 . Wir setzen 𝑥 := 2 . Dann gilt 70 3 2 1 - 2.0 - 1.5 - 1.0 - 0.5 0.5 1.0 -1 -2 -3 Abbildung 12.6: Gerade 𝑓 (𝑥) = 2𝑥 + 1 𝑦−1 𝑓 (𝑥) = 𝑓 ( 𝑦−1 2 ) = 2( 2 ) + 1 = 𝑦. Somit gibt es zu jedem 𝑦 ∈ 𝑌 ein 𝑥 ∈ 𝑋 mit 𝑓 (𝑥) = 𝑦. Definition 12.2.3. Es seien 𝑋 und 𝑌 Mengen. Eine Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 ist bijektiv, wenn sie injektiv und surjektiv ist. D.h. für jedes 𝑦 ∈ 𝑌 gibt es genau ein 𝑥 ∈ 𝑋 mit 𝑓 (𝑥) = 𝑦. Beispiel. In Abbildung 12.7 ist die Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 bijektiv. a 1 b c 2 3 4 d X Y Abbildung 12.7: Bijektive Funktion 𝑓 Beispiel. Die Funktion 𝑓 :ℝ→ℝ 𝑥 7→ 𝑥 + 1 ist injektiv: Es gelte 𝑓 (𝑥1 ) = 𝑓 (𝑥2 ) ⇒ 𝑥1 + 1 = 𝑥2 + 1 ⇒ 𝑥1 = 𝑥2 𝑓 ist surjektiv: Für 𝑦 ∈ 𝑌 wählen wir 𝑥 = 𝑦 − 1. Dann gilt 𝑓 (𝑥) = 𝑓 (𝑦 − 1) = (𝑦 − 1) + 1 = 𝑦. Also ist 𝑓 bijektiv. Bemerkung. Bei den Begriffen Injektivität, Surjektivität und Bijektivität einer Funktion 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 kommt es entscheidend auf den Definitionsbereich 𝑋 und die Zielmenge 𝑌 an. Beispiel. (i) Die Funktion 𝑓1 : ℝ → ℝ 𝑥 7→ 𝑥2 71 ist nicht injektiv (siehe Abbildung 12.8), zum Beispiel gilt 𝑓1 (2) = 𝑓1 (−2) aber 2 ∕= −2. 𝑓1 ist nicht surjektiv, denn es gibt kein 𝑥 mit 𝑓1 (𝑥) = −1 ∈ ℝ. 4 3 2 1 -2 -1 1 2 -1 -2 Abbildung 12.8: Funktion 𝑓1 : ℝ → ℝ mit 𝑥 7→ 𝑥2 (ii) Die Funktion 𝑓2 :ℝ+ 0 →ℝ 𝑥 7→ 𝑥2 ist injektiv (im Vergleich zu 𝑓1 ist der Definitionsbereich eingeschränkt), denn 𝑓2 (𝑥1 ) = 𝑓2 (𝑥2 ) ⇒ 𝑥1 = 𝑥2 (siehe Abbildung 12.9). 𝑓2 ist nicht surjektiv, wieder gibt es kein 𝑥 ∈ ℝ+ 0 mit 𝑓2 (𝑥) = −1. 4 3 2 1 0.5 1.0 1.5 2.0 -1 -2 2 Abbildung 12.9: Funktion 𝑓2 : ℝ+ 0 → ℝ mit 𝑥 7→ 𝑥 (iii) Die Funktion 𝑓3 :ℝ → ℝ+ 0 𝑥 7→ 𝑥2 ist nicht injektiv (siehe Abbildung 12.10). 𝑓3 ist surjektiv, denn für alle 𝑦 ∈ ℝ+ 0 gibt es ein 𝑥 ∈ ℝ mit 𝑓3 (𝑥) = 𝑦. 72 8 6 4 2 -3 -2 -1 0 1 2 3 2 Abbildung 12.10: Funktion 𝑓3 : ℝ → ℝ+ 0 mit 𝑥 7→ 𝑥 (iv) Die Funktion + 𝑓4 :ℝ+ 0 → ℝ0 𝑥 7→ 𝑥2 ist injektiv und surjektiv, und damit bijektiv (siehe Abbildung 12.11). 4 3 2 1 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 + 2 Abbildung 12.11: Funktion 𝑓4 : ℝ+ 0 → ℝ0 mit 𝑥 7→ 𝑥 Es seien 𝑋 und 𝑌 endliche Mengen. Wir haben gesehen: ∙ ∣𝑋∣ ≤ ∣𝑌 ∣ ⇐⇒ Es existiert eine injektive Abbildung 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 . 𝑋 ist weniger mächtig als 𝑌 oder gleichmächtig zu 𝑌 .“ ” ∙ ∣𝑋∣ ≥ ∣𝑌 ∣ ⇐⇒ Es existiert eine surjektive Abbildung 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 . 𝑋 ist mächtiger als 𝑌 oder gleichmächtig zu 𝑌 .“ ” ∙ ∣𝑋∣ = ∣𝑌 ∣ ⇐⇒ Es existiert eine bijektive Abbildung 𝑓 : 𝑋 → 𝑌 . 𝑋 ist genauso mächtig wie 𝑌 .“ ” Wir können diese Sprechweise übertragen auf die unendliche Menge ℕ. Definition 12.2.4. Eine Menge 𝑀 heißt gleichmächtig zu ℕ, wenn es eine Bijektion 𝑓 : ℕ → 𝑀 gibt. 𝑀 heißt dann abzählbar (unendlich). Zum Beispiel ist die Menge 𝑀 = {0, 2, 4, 6, 8, 10, ...} der geraden Zahlen gleichmächtig zu ℕ. Obwohl 𝑀 eine echte Teilmenge von ℕ ist, haben beide gleich ” 73 viele“ Elemente. Dies ist bei endlichen Mengen nicht möglich! Eine echte Teilmenge kann nicht gleichmächtig (d.h. genauso viele Elemente haben) wie ihre Obermenge. Wir weisen nun nach, dass ∣𝑀 ∣ = ∣ℕ∣. Wir definieren 𝑓 :ℕ→𝑀 𝑛 7→ 2𝑛. Dann ist 𝑓 bijektiv, denn 𝑓 ist injektiv: 𝑓 (𝑛1 ) = 𝑓 (𝑛2 ) ⇒ 2𝑛1 = 2𝑛2 ⇒ 𝑛1 = 𝑛2 . 𝑓 ist surjektiv: Sei 𝑦 = 2𝑛. Wähle 𝑥 = 𝑛. Dann gilt 𝑓 (𝑛) = 2𝑛 = 𝑦. Illustration (siehe Abbildung 12.12): Die natürlichen Zahlen haben einen Bezeichner. Mit der Bijektion 𝑓 kleben“ wir andere Bezeichnungen auf, so wird ” aus 0“ eine neue 0“, aus 1“ wird 2“, aus 2“ wird 4“, usw. ” ” ” ” ” ” die natürlichen Zahlen 0 1 2 3 die geraden Zahlen 0 2 4 6 Abbildung 12.12: Bijektion zwischen ℕ und 𝑀 74 Vorlesung 13 Stetige Funktionen, Binomischer Lehrsatz 13.1 Funktionenfolgen Wir verbinden nun den Grenzwertbegriff mit dem Funktionsbegriff. Es seien (𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ eine reelle Folge und 𝑓 : ℝ → ℝ eine Funktion. Zur Erinnerung: 𝑎𝑛 ist nichts anderes als eine Abbildung 𝑎 von den natürlichen in die reellen Zahlen 𝑎 : ℕ → ℝ mit 𝑎𝑛 := 𝑎(𝑛). Somit können wir die Funktionenfolge 𝑓 ∘ 𝑎𝑛 : ℕ →ℝ→ℝ 𝑛 7→ 𝑎𝑛 → 𝑓 (𝑎𝑛 ) betrachten. Beispiel. Es seien 𝑓: 𝑎𝑛 ℝ→ℝ 𝑥 7→ 𝑥2 = 1 𝑛, 𝑛 >0 Dann ist die Funktionenfolge 𝑔𝑛 = 𝑓 (𝑎𝑛 ) = 𝑔1 = 1, 𝑔2 = 1 𝑛2 , 𝑛 >0 1 1 , 𝑔3 = , ... 4 9 Definition 13.1.1. Sei 𝐷 ⊂ ℝ und 𝑓 : 𝐷 → ℝ eine Funktion und 𝑎 ∈ ℝ derart, dass es mindestens eine Folge (𝑎𝑛 )𝑛∈ℕ , 𝑎𝑛 ∈ 𝐷, gibt mit lim 𝑎𝑛 = 𝑎. 𝑛→∞ 75 Wir schreiben lim 𝑓 (𝑥) = 𝑐 𝑥→𝑎 falls für jede Folge (𝑥𝑛 )𝑛∈ℕ ∈ 𝐷 mit lim 𝑥𝑛 = 𝑎 gilt: lim 𝑓 (𝑥𝑛 ) = 𝑐 𝑛→∞ 𝑛→∞ Sprechweise: Der Grenzwert der Funktionswerte 𝑓 (𝑥) für 𝑥 → 𝑎 ist 𝑐. Definition 13.1.2. Voraussetzungen wie oben. Falls für jede Folge (𝑥𝑛 )𝑛∈ℕ mit 𝑥𝑛 ∈ 𝐷 und 𝑥𝑛 > 𝑎 und lim 𝑥𝑛 = 𝑎 gilt: 𝑛→∞ lim (𝑥𝑛 ) = 𝑐, 𝑛→∞ so schreiben wir lim 𝑓 (𝑥) = 𝑐 𝑥→𝑎+ oder 𝑥→𝑎 lim 𝑓 (𝑥) = 𝑐 𝑥>𝑎 lim = 𝑐 ist der rechtsseitige GW von 𝑓 (𝑥) für 𝑥 → 𝑎. 𝑛→𝑎+ Falls für jede Folge (𝑥𝑛 ) mit 𝑥𝑛 ∈ 𝐷 mit 𝑥𝑛 < 𝑎 und lim 𝑓 (𝑥𝑛 ) = 𝑎 gilt 𝑛→∞ lim 𝑓 (𝑥𝑛 ) = 𝑐, 𝑛→∞ so schreiben wir lim 𝑓 (𝑥) = 𝑐 𝑥→𝑎− oder 𝑥→𝑎 lim 𝑓 (𝑥) = 𝑐 𝑥<𝑎 lim = 𝑐 ist der linksseitige GW von 𝑓 (𝑥) für 𝑥 → 𝑎. 𝑛→𝑎− Bemerkung. lim 𝑓 (𝑥) existiert genau dann, wenn der linksseitige und der 𝑥→𝑎 rechtsseitige GW existieren und übereinstimmen, d.h. lim 𝑓 (𝑥) = lim− 𝑓 (𝑥) = lim 𝑓 (𝑥) 𝑥→𝑎+ 𝑥→𝑎 𝑥→𝑎 Beispiel: Wir betrachten die Ganzzahlfunktion entier : ℝ → ℝ ∙ Es gilt lim entier(𝑥) = 1 und lim entier(𝑥) = 0. Also existiert 𝑥→1+ 𝑥→1− lim entier(𝑥) nicht. 𝑥→1 ∙ Es gilt lim+ entier(𝑥) = 0 und lim− entier(𝑥) = 0. Also existiert 𝑥→ 12 𝑥→ 21 lim entier(𝑥) und ist gleich 0. 𝑥→ 21 13.2 Stetigkeit Wir kommen zu einem fundamentalen Begriff. Definition 13.2.1. Sei 𝑓 : 𝐷 → ℝ eine Funktion und 𝑎 ∈ 𝐷. Die Funktion 𝑓 heißt im Punkt 𝑎 stetig, falls gilt lim 𝑓 (𝑥) = 𝑓 (𝑎). 𝑥→𝑎 𝑓 heißt stetig in 𝐷, wenn 𝑓 in jedem Punkt von 𝐷 stetig ist. 76 Stetigkeit von 𝑓 in 𝑎 bedeutet also: Für 𝑥 → 𝑎 konvergieren die Bilder 𝑓 (𝑥) gegen das Bild 𝑓 (𝑎). Intuitiv bedeutet Stetigkeit: ∙ 𝑓 (𝑥) ändert sich wenig, wenn 𝑥 sich wenig ändert. ∙ Eine Funktion ist stetig, wenn ihr Graph keine Sprünge macht. ∙ Eine Funktion ist zu 99% stetig, wenn man ihren Graphen ohne Absetzen zeichnen kann. Bemerkung. Stetigkeit einer Funktion ist eine schöne“ Eigenschaft, da sich ” stetige Funktionen in vielerlei Hinsicht gutartig verhalten. Angenommen, wir haben eine Messreihe mit endlich vielen Messwerten (siehe Abbildung 13.1). m(x4) m(x5) m(x3) m(x2) m(x6) m(x1) m(x7) x1 x2 x3 x4 x5 x6 x 7 Abbildung 13.1: Messreihe mit endlich vielen Messwerten Unterstellen wir eine stetige Funktion, die die gegebenen Punkte beschreibt, dann können wir auch etwas über Punkte sagen, für die keine Messwerte vorliegen (siehe Abbildung 13.2). m(x4) m(x5) m(x3) m(x2) m(x6) m(x1) m(x7) x1 x2 x3 x4 x5 x6 x 7 Abbildung 13.2: Stetige Funktion, die die Messwerte beschreibt 77 Beispiele. ∙ Die identische Abbildung id : ℝ → ℝ, 𝑥 7→ 𝑥 ist stetig. Beweis. Sei 𝑎 ∈ ℝ. Sei (𝑥𝑛 )𝑛∈ℕ eine Folge mit lim 𝑥𝑛 = 𝑎. 𝑛→∞ Es gilt id(𝑥𝑛 ) = 𝑥𝑛 . Daher lim (𝑥𝑛 ) = lim 𝑥𝑛 = 𝑎 = id(𝑎) 𝑛→∞ 𝑛→∞ Damit ist die identische Abbildung in jedem Punkt stetig. ∙ Die konstanten Funktionen sind stetig. Beweis. Klar. Satz 13.2.2. Es seien 𝑓, 𝑔 : 𝐷 → ℝ Funktionen in 𝑎 ∈ 𝐷 stetig. Sei 𝜆 ∈ ℝ. Dann sind die Funktionen 𝑓 +𝑔 : 𝜆𝑓 : 𝑓𝑔 : 𝑓 : 𝑔 𝐷→ℝ 𝐷→ℝ 𝐷→ℝ 𝐷′ → ℝ mit 𝐷′ = {𝑥 ∈ 𝐷 : 𝑦(𝑥) ∕= 0} in 𝑎 ∈ 𝐷 stetig. Aus dem Satz folgt: Jede Polynomfunktion ist stetig. Beispiel. Wir betrachten die Funktion { 0 für 𝑥 < 0 𝑓 (𝑥) = 1 für 𝑥 ≥ 0. Offenbar ist 𝑓 (𝑥) für 𝑥 ∕= 0 stetig. Zu untersuchen ist 𝑥 = 0. Behauptung: 𝑓 ist nicht stetig in 𝑥 = 0. Beweis. Es gilt lim 𝑓 (𝑥) = 1 und lim 𝑓 (𝑥) = 0. 𝑥→0+ 𝑥→0− Damit existiert lim 𝑓 (𝑥) nicht und 𝑓 (𝑥) ist nicht ste𝑥→0 tig in 𝑥 = 0. 78 13.3 Etwas Kombinatorik Zur Erinnerung: Für 𝑛 ∈ ℕ setzen wir 𝑛! := 1 ⋅ 2 ⋅ 2 ⋅ 3 ⋅ . . . ⋅ 𝑛 und 0! = 1 Zu 𝑛! sagen wir 𝑛-Fakultät. Wir haben die Rekursion 𝑛! = (𝑛 − 1)!𝑛. Satz 13.3.1. Die Anzahl aller Anordnungen 𝑛 verschiedener Elemente ist 𝑛!. Beweis. Gegeben seien 𝑛 Elemente und 𝑛 Felder. Wir besetzen die Felder mit den Elementen. Für das 1. Feld stehen 𝑛 Elemente zur Auswahl. Für das 2. Feld entsprechend (𝑛 − 1), usw. Demnach gibt es 𝑛 ⋅ (𝑛 − 1) ⋅ . . . ⋅ 3 ⋅ 2 ⋅ 1 = 𝑛! Möglichkeiten 𝑛 Elemente anzuordnen. Satz 13.3.2 (Satz und Definition). Die Anzahl der 𝑘-elementigen Teilmengen einer nicht-leeren Menge mit 𝑛 Elementen ist im Fall 0 < 𝑘 ≤ 𝑛 : ( ) 𝑛 𝑛(𝑛 − 1) ⋅ . . . ⋅ (𝑛 − 𝑘 + 1) =: 𝑘! 𝑘 und im Fall 𝑘 = 0 : Die Zahlen (𝑛) 𝑘 ( ) 𝑛 1 := 0 heißen Binomialkoeffizienten. Lies 𝑛 über 𝑘“. ” Beweis. Sei zunächst 𝑘 ∕= 0. Zur Bildung 𝑘-elementiger Teilmengen stehen für ein erstes Element einer Teilmenge alle 𝑛 Elemente der gegebenen Menge zur Auswahl, usw. Insgesamt gibt es also 𝑛(𝑛 − 1) ⋅ . . . ⋅ (𝑛 − 𝑘 + 1) Möglichkeiten, 𝑘-elementige Teilmengen herzustellen. Unter diesen Möglichkeiten sind auch 𝑘-elementige Teilmengen, die sich nur in der Reihenfolge der Elemente unterscheiden. Es gibt genau 𝑘! verschiedene Anordnungen einer 𝑘-elementigen Menge. Durch diese Anzahl müssen wir dividieren; demnach gibt 𝑛(𝑛−1)⋅...⋅(𝑛−𝑘+1) die Anzahl der 𝑘! 𝑘-elementigen Teilmengen eine 𝑛-elementigen Menge an. Für 𝑘 = 0 : Die leere Menge ist die einzige 0-elementige Teilmenge. Damit ist die gesuchte Zahl 1. Bemerkung. Es gilt ( ) ( ) 𝑛 𝑛! 𝑛 = = 𝑘!(𝑛 − 𝑘)! 𝑛−𝑘 𝑘 Beweis. Einfaches Nachrechnen! Beispiel. 6 aus 49“. Aus einer Menge mit 49 Elementen können wir ” ( ) 49 ⋅ 48 ⋅ ⋅47 ⋅ 46 ⋅ 45 ⋅ 44 49 = 13.983.816 = 1⋅2⋅3⋅4⋅5⋅6 6 6-elementige Teilmengen bilden. Die Wahrscheinlichkeit beim Lotto 6 aus 49“ die ” richtigen 6 Zahlen zu raten, ist also ungefähr 1:14 Millionen. 79 13.4 Der Binomische Lehrsatz Es gilt der Satz 13.4.1 (Binomischer Lehrsatz). Für 𝑥, 𝑦 ∈ ℝ und 𝑛 ∈ ℕ gilt: 𝑛 ( ) ∑ 𝑛 𝑛−𝑘 𝑘 𝑛 𝑥 𝑦 (𝑥 + 𝑦) = 𝑘 𝑘=0 ( ) ( ) ( ) 𝑛 𝑛−1 𝑛 𝑛−2 2 𝑛 = 𝑥𝑛 + 𝑥 𝑦+ 𝑥 𝑦 + ... + 𝑥𝑦 𝑛−1 + 𝑦 𝑛 . 1 2 𝑛−1 ( ) Beweis. Es gibt 𝑛𝑘 Möglichkeiten, 𝑘 Faktoren (𝑥 + 𝑦) aus (𝑥 + 𝑦)𝑛 auszuwählen. Eine solche Auswahl ist zum Beispiel (𝑥 + 𝑦)𝑛 = (𝑥 + 𝑦) ⋅ . . . ⋅ (𝑥 + 𝑦) ⋅(𝑥 + 𝑦) ⋅ . . . ⋅ (𝑥 + 𝑦) . {z }| {z } | 𝑘−𝑚𝑎𝑙 (𝑛−𝑘)−𝑚𝑎𝑙 Für jede Auswahl erhalten wir nach Ausmultiplizieren von (𝑥 + 𝑦)𝑘 je einmal als (𝑛) 𝑘 höchste Potenz von 𝑥 genau 𝑥( .)Es gibt 𝑘 solche Auswahlmöglichkeiten, also tritt die Potenz 𝑥𝑘 insgesamt 𝑛𝑘 -mal auf. Jeder Faktor (𝑥 + 𝑦)𝑘 korrespondiert 𝑛−𝑘 zu einem Faktor (𝑥 + 𝑦)𝑛−𝑘 . Im letzteren ist die . (𝑛)höchste Potenz 𝑦 genau 𝑦 𝑘 𝑛−𝑘 Demnach tritt der Faktor 𝑥 𝑦 insgesamt 𝑘 auf. Daraus ergibt sich der Binomische Lehrsatz. Bemerkung. Der Binomische Lehrsatz lässt sich auch mittels vollständiger Induktion beweisen. Für die ersten 𝑛 erhalten wir für den Binomischen Lehrsatz (𝑥 + 𝑦)0 = 1 (𝑥 + 𝑦) = 𝑥 + 𝑦 (𝑥 + 𝑦)2 = 𝑥2 + 2𝑥 + 𝑦 2 (𝑥 + 𝑦)3 = 𝑥3 + 3𝑥2 𝑦 + 3𝑥𝑦 2 + 𝑦 3 (𝑥 + 𝑦)4 = 𝑥4 + 4𝑥3 𝑦 + 6𝑥2 𝑦 2 + 4𝑥𝑦 3 + 𝑦 4 Die Koeffizienten können im Pascalschen Dreieck angeordnet werden. 1 1 1 1 1 1 2 3 4 5 1 1 3 6 10 1 4 10 1 5 1 Aufgrund der Beziehung ( ) ( ) ( ) 𝑛 𝑛−1 𝑛−1 = + 𝑘 𝑘−1 𝑘 (siehe Übungsaufgabe 63, Blatt 13) ist jede Zahl im Innern des Dreiecks die Summe der beiden unmittelbar über ihr stehenden. 80 Vorlesung 14 Differentialrechnung Ein immer wiederkehrendes Konzept in der Mathematik ist die Zurückführung auf Bekanntes, beziehungsweise auf besonders einfache“ Fälle. Besonders ein” ” fach“ sind lineare Funktionen in der Analysis. In der Differentialrechung führen wir Linearisierungen durch, das heißt nichtlineare Funktionen werden durch lineare Funktionen approximiert. 14.1 Geradengleichung Gegeben seien zwei Punkte 𝐴(𝑥𝑎 ∣𝑦𝑎 ) und 𝐵(𝑥𝑏 ∣𝑦𝑏 ). Diese legen eine Gerade 𝑔 = 𝑔𝐴𝐵 eindeutig fest. yb y=yb-ya ya x=x -xa c xa 0 g xb Abbildung 14.1: Geradensteigung und Differenzenquotient Die allgemeine Geradengleichung lautet: 𝑔: 𝑦 = 𝑚𝑥 + 𝑐 Δ𝑦 Dabei bezeichnet 𝑚 = Δ𝑥 die Steigung und 𝑐 den 𝑦−Achsenabschnitt. Die Steigung (siehe Abbildung 14.1) 𝑚= 𝑦𝑏 − 𝑦𝑎 𝑦𝑎 − 𝑦𝑏 Δ𝑦 = = Δ𝑥 𝑥𝑏 − 𝑥𝑎 𝑥𝑎 − 𝑥𝑏 wird auch Differenzenquotient genannt. Dabei steht Δ für Differenz“. Fassen ” 81 wir 𝑓 (𝑥) als eine Funktion der Zeit 𝑥 auf, so ist 𝑓 (𝑥2 ) − 𝑓 (𝑥1 ) Δ𝑦 = Δ𝑥 𝑥2 − 𝑥1 die mittlere Änderungsrate ( Durchschnittsgeschwindigkeit“) der zeitabhängi” gen Funktionswerte zwischen zwei Zeitpunkten 𝑥1 und 𝑥2 (siehe Abbildung 14.2). f f(x1) f(x2) x2 x1 Abbildung 14.2: Mittlere Änderungsrate der Funktion 𝑓 Was passiert nun, für Δ𝑥 → 0? Anders formuliert, wie ist die Änderungsrate wenn 𝑥2 mit 𝑥1 zusammenfällt? Wir sprechen in diesem Fall von der momentanen Änderungsrate ( Momentan” geschwindigkeit“) im Punkt 𝑥1 , wenn 𝑓 (𝑥1 + ℎ) − 𝑓 (𝑥1 ) 𝑓 (𝑥2 ) − 𝑓 (𝑥1 ) 𝑓 (𝑥2 ) − 𝑓 (𝑥1 ) = lim = lim 𝑥2 →𝑥1 Δ𝑥→0 ℎ→0 Δ𝑥 𝑥2 − 𝑥1 ℎ lim existiert. Die momentane Änderungsrate im Punkt 𝐴(𝑎∣𝑓 (𝑎)) entspricht genau der Tangentensteigung der Tangente am Punkt 𝐴. f m f(a+h) B A t f(a) a a+h Abbildung 14.3: Die mittlere Änderungsrate 𝑚 der Funktion 𝑓 wird zur Tangente 𝑡 für ℎ → 0 Für ℎ → 0 wandert der Punkt 𝐵(𝑎 + ℎ∣𝑓 (𝑎 + ℎ)) auf den Punkt 𝐴(𝑎∣𝑓 (𝑎)) zu (vgl. Abbildung 14.3). 82 14.2 Differenzierbarkeit Definition 14.2.1. Eine Funktion 𝑓 : 𝐷 → ℝ heißt differenzierbar in 𝑎 ∈ 𝐷, falls 𝑓 (𝑎 + ℎ) − 𝑓 (𝑎) lim ℎ→0 ℎ existiert. Dieser Grenzwert wird Differentialquotient genannt. Wir setzen dann 𝑓 (𝑎 + ℎ) − 𝑓 (𝑎) ℎ→0 ℎ 𝑓 ′ (𝑎) := lim und nennen 𝑓 ′ (𝑎) die erste Ableitung von 𝑓 im Punkt 𝑎. Wir sagen 𝑓 ist differenzierbar, wenn sie für jeden Punkt des Definitionsbereiches differenzierbar ist. Die Funktion 𝑓 ′ : 𝑥 7→ 𝑓 ′ (𝑥) heißt Ableitungsfunktion bzw. erste Ableitung von 𝑓. Beispiele ∙ 𝑓 : 𝐷 → ℝ, 𝑓 (𝑥) = 𝑥. Die Funktion 𝑓 (𝑥) = 𝑥 ist differenzierbar und es gilt 𝑓 ′ (𝑥) = 1. Beweis. Sei 𝑥 ∈ 𝐷. Es gilt 𝑓 (𝑥 + ℎ) − 𝑓 (𝑥) 𝑓 (𝑥 + ℎ) − 𝑓 (𝑥) (𝑥 + ℎ) − 𝑥 ℎ = = = =1 (𝑥 + ℎ) − 𝑥 ℎ ℎ ℎ Daraus folgt nun 𝑓 (𝑥 + ℎ) − 𝑓 (𝑥) = lim 1 = 1 = 𝑓 ′ (𝑥). ℎ→0 ℎ→0 ℎ lim ∙ 𝑔 : 𝐷 → ℝ, 𝑔(𝑥) = 𝑥2 . Die Funktion 𝑔 ist differenzierbar und es gilt 𝑔 ′ (𝑥) = 2𝑥. Beweis. Sei 𝑥 ∈ 𝐷. Es gilt 𝑔(𝑥 + ℎ) − 𝑔(𝑥) (𝑥 + ℎ)2 − 𝑥2 = (𝑥 + ℎ) − 𝑥 ℎ 2 𝑥 + 2ℎ𝑥 + ℎ2 − 𝑥2 2ℎ𝑥 + ℎ2 = = = 2𝑥 + ℎ. ℎ ℎ Damit folgt: lim ℎ→0 𝑔(𝑥 + ℎ) − 𝑔(𝑥) = lim (2𝑥 + ℎ) = 2𝑥 = 𝑔 ′ (𝑥). ℎ→0 ℎ ∙ 𝑓 : ℝ → ℝ, 𝑓 (𝑥) = 𝑥𝑛 , 𝑛 ∈ ℕ. Die Funktion 𝑓 ist differenzierbar mit 𝑓 ′ (𝑥) = 𝑛𝑥𝑛−1 . 83 (𝑥) Beweis. Es gilt 𝑓 (𝑥+ℎ)−𝑓 = ℎ satz (vgl. Vorlesung 13) gilt: 𝑛 (𝑥 + ℎ) = 𝑛 ( ) ∑ 𝑛 𝑘=0 𝑘 (𝑥+ℎ)𝑛 −𝑥𝑛 . ℎ Nach dem Binomischen Lehr- 𝑥𝑛−𝑘 ℎ𝑘 ( ) ( ) 𝑛 ( ) 𝑛 𝑛 0 𝑛 𝑛−1 1 ∑ 𝑛 𝑛−𝑘 𝑘 𝑥 ℎ + 𝑥 ℎ + 𝑥 ℎ 0 1 𝑘 𝑘=2 𝑛 ( ) ∑ 𝑛 𝑛−𝑘 𝑘 𝑛 𝑛−1 𝑥 ℎ = 𝑥 + 𝑛𝑥 ℎ+ 𝑘 = 𝑘=2 Daher haben wir ∑𝑛 ( ) 𝑥𝑛 + 𝑛𝑥𝑛−1 ℎ + 𝑘=2 𝑛𝑘 𝑥𝑛−𝑘 ℎ𝑘 − 𝑥𝑛 (𝑥 + ℎ)𝑛 − 𝑥𝑛 = ℎ ℎ 𝑛 ( ) ∑ 𝑛 𝑥𝑛−𝑘 ℎ𝑘−1 = 𝑛𝑥𝑛−1 + 𝑘 𝑘=2 −→ 𝑛𝑥𝑛−1 (für ℎ → 0). Also gilt 𝑓 ′ (𝑥) = 𝑛𝑥𝑛−1 . Bemerkung. Für 𝑥 > 0 und 𝑎 ∈ ℝ gilt für 𝑓 (𝑥) = 𝑥𝑎 , dass 𝑓 ′ (𝑥) = 𝑎𝑥𝑎−1 . Einen Beweis sehen Sie in der A1-Vorlesung. Im obigen Beispiel ist 𝑎 ∈ ℕ. Satz 14.2.2. Die Funktion 𝑓 : 𝐷 → ℝ ist genau dann in 𝑎 ∈ 𝐷 differenzierbar, wenn gilt lim ℎ→0, ℎ>0 𝑓 (𝑎 + ℎ) − 𝑓 (𝑎) 𝑓 (𝑎 + ℎ) − 𝑓 (𝑎) = lim . ℎ→0, ℎ<0 𝑎+ℎ−𝑎 𝑎+ℎ−𝑎 Beispiel. Die Betragsfunktion 𝑓 (𝑥) = ∣𝑥∣ ist differenzierbar für alle 𝑥 ∈ ℝ ∖ {0} und nicht differenzierbar an der Stelle 𝑥 = 0. Es gilt: { −𝑥 für 𝑥 < 0 𝑓 (𝑥) = ∣𝑥∣ = 𝑥 für 𝑥 ≥ 0. Für 𝑥 ∕= 0 ist klar, dass 𝑓 differenzierbar ist. Wir haben ℎ 𝑓 (0 + ℎ) − 𝑓 (0) = lim =1 ℎ→0, ℎ>0 ℎ 0+ℎ−0 𝑓 (0 + ℎ) − 𝑓 (0) −ℎ lim = lim = −1 ℎ→0, ℎ<0 ℎ→0, ℎ<0 ℎ 0+ℎ−0 lim ℎ→0, ℎ>0 Also folgt die Behauptung, da 𝑓 (0 + ℎ) − 𝑓 (0) 𝑓 (0 + ℎ) − 𝑓 (0) ∕= lim . ℎ→0, ℎ>0 ℎ→0, ℎ<0 0+ℎ−0 0+ℎ−0 lim 84 14.3 Ableitungsregeln Satz 14.3.1. Es seien 𝑓, 𝑔 : 𝐷 → ℝ in 𝑥 ∈ 𝐷 differenzierbar und 𝜆 ∈ ℝ. Dann sind 𝑓 + 𝑔, 𝑓 ⋅ 𝑔, 𝜆𝑓 und im Falle 𝑔(𝑥) ∕= 0 auch 𝑓𝑔 differenzierbar und es gilt: (𝑓 + 𝑔)′ (𝑥) = 𝑓 ′ (𝑥) + 𝑔 ′ (𝑥) (𝑓 𝑔)′ (𝑥) = 𝑓 ′ (𝑥)𝑔(𝑥) + 𝑓 (𝑥)𝑔 ′ (𝑥) (𝜆𝑓 )′ (𝑥) = 𝜆𝑓 ′ (𝑥) ( )′ 𝑓 𝑓 ′ (𝑥)𝑔(𝑥) − 𝑓 (𝑥)𝑔 ′ (𝑥) (𝑥) = 𝑔 𝑔 2 (𝑥) (Summenregel) (Produktregel) (Quotientenregel). Darüberhinaus gilt: (𝑓 (𝑔(𝑥))′ = 𝑓 ′ (𝑔(𝑥)) ⋅ 𝑔 ′ (𝑥) (Kettenregel) wobei 𝑓 : 𝐷 → ℝ, 𝑔 : 𝐸 → ℝ mit 𝑔(𝐸) ⊂ 𝐷. Beweis. (Summenregel) Nach Definition des Differentialquotienten gilt (𝑓 + 𝑔)(𝑥 + ℎ) − (𝑓 + 𝑔)(𝑥) ℎ (𝑓 )(𝑥 + ℎ) − (𝑓 )(𝑥) (𝑔)(𝑥 + ℎ) − (𝑔)(𝑥) 𝐺𝑊 𝑆 = lim + lim ℎ→0 ℎ→0 ℎ ℎ = 𝑓 ′ (𝑥) + 𝑔 ′ (𝑥) (𝑓 + 𝑔)′ (𝑥) = lim ℎ→0 GWS bezeichnet an dieser Stelle die Grenzwertsätze (Satz 10.1.5). Die restlichen Ableitungsregeln können als Übung bewiesen werden (siehe z.B. Übungsaufgabe 67, Blatt 14). Beispiele. (i) 𝑓 (𝑥) = 𝑥3 − 2𝑥2 + 2𝑥 + 1, dann ist die Ableitung 𝑓 ′ (𝑥) = 3𝑥2 − 4𝑥 + 2 √ (ii) 𝑓 (𝑥) = 𝑥, 𝑔(𝑥) = 𝑥2 + 1. √ 1 ∙ ℎ(𝑥) = 𝑓 (𝑔(𝑥)) = 𝑥2 + 1 = (𝑥2 + 1) 2 . Nach der Kettenregel ergibt 1 sich für die Ableitung von ℎ: ℎ′ (𝑥) = 𝑓 ′ (𝑔(𝑥))⋅𝑔 ′ (𝑥) = 21 (𝑥2 +1) 2 ⋅2𝑥. √ 2 ∙ Definiere nun 𝑘(𝑥) = 𝑔(𝑓 (𝑥)) = ( 𝑥) +1 = 𝑥+1. Daraus folgt sofort 𝑘 ′ (𝑥) = 1. Zur Übung wenden wir die Kettenregel an und erhalten natürlich das gleiche Resultat – wir haben 𝑘 ′ (𝑥) = 𝑔 ′ (𝑓 (𝑥)) ⋅ 𝑓 ′ (𝑥) = √ 1 2 𝑥 ⋅ 12 𝑥− 2 = 1. Definition 14.3.2. Sei 𝑓 : (𝑎, 𝑏) → ℝ eine Funktion. Wir sagen, 𝑓 hat in 𝑥 ∈ (𝑎, 𝑏) ein lokales Maximum (Minimum), wenn es eine Umgebung 𝑈𝜀 (𝑥) gibt, mit 𝑓 (𝑥) ≥ 𝑓 (𝜉) für alle 𝜉 ∈ 𝑈𝜀 (𝑥) (𝑓 (𝑥) ≤ 𝑓 (𝜉) für alle 𝜉 ∈ 𝑈𝜀 (𝑥)). Falls das Gleichheitszeichen nur für 𝑥 = 𝜉 gilt, so nennen wir 𝑥 ein isoliertes Maximum (Minimum). Der Oberbegriff für Maximum und Minimum ist Extremum. Anstelle vom lokalen Extremum sprechen wir auch vom relativen Extremum. 85 Ein notwendiges Kriterium für ein Extremum liefert der folgende Satz: Satz 14.3.3. Die Funktion 𝑓 : (𝑎, 𝑏) → ℝ besitze im Punkt 𝑥 ∈ (𝑎, 𝑏) ein lokales Extremum und sei in 𝑥 differenzierbar. Dann gilt: 𝑓 ′ (𝑥) = 0. Beweis. Siehe Übungsaufgabe 68, Blatt 14. Folgerung. Falls 𝑓 ′ (𝑎) ∕= 0 so kann 𝑎 kein Extremum sein. 86 Vorlesung 15 Integralrechnung 15.1 Supremum und Infimum Zunächst ein paar grundlegende, wichtige Definitionen. Definition 15.1.1. Eine Menge 𝑀 ⊂ ℝ heißt nach oben beschränkt, wenn es ein 𝑠 ∈ ℝ gibt, so dass 𝑥 ≤ 𝑠 für alle 𝑥 ∈ 𝑀 . 𝑀 ist nach unten beschränkt, wenn es ein 𝑠 ∈ ℝ gibt mit 𝑠 ≤ 𝑥 für alle 𝑥 ∈ 𝑀 . Definition 15.1.2 (Supremum und Infimum). 𝑠 ∈ ℝ heißt Supremum der Menge 𝑀 ⊂ ℝ, falls 𝑠 die kleinste obere Schranke von 𝑀 ist, d.h. (i) 𝑠 ist eine obere Schranke (ii) Ist 𝑠′ < 𝑠, so ist 𝑠′ keine obere Schranke. Es gibt höchstens ein solches 𝑠. Im Existenzfall schreiben wir 𝑠 = sup(𝑀 ) = sup 𝑀 . Analog heißt 𝑠 ∈ ℝ Infimum der Menge 𝑀 , wenn 𝑠 die größte untere Schranke ist, d.h. (i) 𝑠 ist untere Schranke von 𝑀 (ii) 𝑠′ > 𝑠 ist keine untere Schranke von 𝑀 . Im Existenzfall schreiben wir 𝑠 = inf(𝑀 ) = inf 𝑀 . Beispiel: Sei 𝑀 = (𝑎, 𝑏). Dann gilt: inf(𝑀 ) = 𝑎 und sup(𝑀 ) = 𝑏. Dabei gilt, dass sup(𝑀 ) ∈ / 𝑀 und inf(𝑀 ) ∈ / 𝑀. Bemerkung. Gilt sup(𝑀 ) ∈ 𝑀 , bzw. inf(𝑀 ) ∈ 𝑀 , dann sprechen wir vom Maximum bzw. Minimum. Wir schreiben max(𝑀 ) und min(𝑀 ). 87 Beispiele: ∙ Es sei 𝑀 = {1, 4}, dann gilt: inf(𝑀 ) = min(𝑀 ) = 1 und sup(𝑀 ) = max(𝑀 ) = 4. ∙ Es sei 𝑀 = { 𝑛1 , 𝑛 ∈ ℕ>0 } = {1, 21 , 31 , 41 , . . .}, dann gilt: sup(𝑀 ) = max(𝑀 ) = 1, und inf(𝑀 ) = 0. Das Infimum liegt nicht in der Menge, also existiert das Minimum nicht. 15.2 Flächeninhalt und Integral einfacher Funktionen Gegeben sei nun eine konstante Funktion 𝑓 : [𝑎, 𝑏] → ℝ ; 𝑥 7→ 𝑐 mit 𝑎 < 𝑏. Fassen wir 𝑓 als eine Kostenfunktion auf, so können wir nach den Gesamtkosten 𝐺[𝑎,𝑏] im Intervall [𝑎, 𝑏] fragen. Diese entsprechen gerade dem Flächeninhalt des Rechtecks 𝑅. 𝑅 = 𝐺[𝑎,𝑏] = (𝑏 − 𝑎) ⋅ 𝑐. Hier heißt (𝑏 − 𝑎) ⋅ 𝑐 =: ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 𝑎 das Integral von 𝑓 im Intervall [𝑎, 𝑏]. 15.3 Integral gutartiger Funktionen Analog können wir fragen, wie groß der Inhalt der Fläche ist, die durch den Graphen einer gutartigen“ Funktion 𝑓 im Intervall [𝑎, 𝑏] begrenzt wird. Dabei ” verstehen wir gutartig in dem Sinne, dass wir den Flächeninhalt bestimmen können. 88 Können wir diese Frage befriedigend beantworten, so können wir die Inhalte von Flächen berechnen, die krummlinig begrenzt sind, etwa die Fläche, die durch die Graphen von den gutartigen Funktionen 𝑓 und 𝑔 begrenzt wird. Es stellt sich heraus, dass zu den gutartigen Funktionen die Riemann-integrierbaren Funktionen zählen. 15.4 Integral von Treppenfunktionen Für konstante Funktionen im Intervall [𝑎, 𝑏] ist die Bestimmung des Flächeninhalts einfach. Der nächst schwierigere“ Fall ist die Bestimmung des Flächen” inhalts, bzw. die Bestimmung des Integrals einer Treppenfunktion 𝜑 : [𝑎, 𝑏] → ℝ. Zur Erinnerung (vgl. Vorlesung 11): Eine Funktion 𝜑 : [𝑎, 𝑏] → ℝ heißt Treppenfunktion, wenn es eine Unterteilung (Partition) 𝑎 = 𝑥0 < 𝑥1 < . . . < 𝑥𝑛−1 < 𝑥1 = 𝑏 89 des Intervalls [𝑎, 𝑏] und Konstante 𝑐1 , 𝑐2 , . . . , 𝑐𝑛 ∈ ℝ gibt, so dass 𝜑(𝑥) = 𝑐𝑘 mit 𝑥 ∈ (𝑥𝑘−1 , 𝑥𝑘 ) und 𝑘 = 1, . . . , 𝑛. Funktionswerte 𝜑(𝑥𝑘 ) in Teilpunkten sind beliebig. Für den Flächeninhalt 𝐴 einer Treppenfunktion 𝜑 gilt: ∫ 𝑏 𝑛 ∑ 𝜑(𝑥)𝑑𝑥. 𝑐𝑘 ⋅ (𝑥𝑘 − 𝑥𝑘−1 ) =: 𝐴= 𝑎 𝑘=1 ∫ steht für S wie Summe, 𝑑𝑥 steht für infinitesimal kleine 𝑥-Werte. Es sei 𝑓 : [𝑎, 𝑏] → ℝ eine beschränkte Funktion im Intervall [𝑎, 𝑏]. 𝑓 sei hinreichend gutartig“, so dass sich 𝑓 durch Treppenfunktionen approximieren lässt. ” Sei 𝑃 eine Partition des Intervalls [𝑎, 𝑏] gegeben: 𝑎 = 𝑥0 < 𝑥1 < . . . < 𝑥𝑛−1 < 𝑥𝑛 = 𝑏. Wir setzen als Untersumme 𝑛 ∑ (𝑥𝑘 − 𝑥𝑘−1 ) 𝑈 (𝑃 ) := 𝑘=1 inf 𝑥𝑘−1 <𝑥<𝑥𝑘 𝑓 (𝑥), 90 Abbildung 15.1: Darstellung von Obersumme und Untersumme im Intervall [𝑎, 𝑏]. Hier ist 𝑛 = 6. dabei bezeichnet inf das Infimum der Funktionswerte im Intervall (𝑥𝑘−1 , 𝑥𝑘 ); das ist die größte untere Schranke der Funktionswerte. Wir setzen als Obersumme 𝑂(𝑃 ) := 𝑛 ∑ (𝑥𝑘 − 𝑥𝑘−1 ) sup 𝑓 (𝑥), 𝑥𝑘−1 <𝑥<𝑥𝑘 𝑘=1 dabei bezeichnet sup das Supremum der Funktionswerte im Intervall (𝑥𝑘−1 , 𝑥𝑘 ); das ist die kleinste obere Schranke der Funktionswerte. Offenbar gilt: 𝑈 (𝑃 ) ≤ ∫ 𝑏 𝑎 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 ≤ 𝑂(𝑃 ). Die Partition werde nun unendlich fein und wir setzen ∫ ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 = inf 𝑂(𝑃 ) = inf{𝑂(𝑃 ) : 𝑃 ist eine Partition von [𝑎, 𝑏]} 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 = sup 𝑈 (𝑃 ) = sup{𝑈 (𝑃 ) : 𝑃 ist eine Partition von [𝑎, 𝑏]}. 𝑎 𝑃 𝑏 𝑎 𝑃 ∫𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 nennen wir Oberintegral und Offenbar gilt 𝑎 ∫ 𝑏 𝑎 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 ≤ ∫𝑏 ∫ 𝑎 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 nennen wir Unterintegral. 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥. 𝑎 91 15.5 Das Riemann-Integral Definition 15.5.1 (Riemann-Integral). Sei 𝑓 : [𝑎, 𝑏] → ℝ eine beschränkte Funktion. Falls ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 = 𝑎 ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 𝑎 gilt, so sagen wir, dass 𝑓 Riemann-integrierbar ist und wir setzen ∫ ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 := 𝑎 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 = 𝑎 ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥. 𝑎 Für jede Treppenfunktion 𝜑 : [𝑎, 𝑏] → ℝ gilt: ∫ 𝑏 𝜑(𝑥)𝑑𝑥 = 𝑎 ∫ 𝑏 𝜑(𝑥)𝑑𝑥. 𝑎 Deshalb ist jede Treppenfunktion Riemann-integrierbar. Für Riemann-integrierbar schreiben wir kurz integrierbar. Satz 15.5.2. Jede stetige Funktion 𝑓 : [𝑎, 𝑏] → ℝ ist integrierbar. Für einen Beweis siehe A1-Vorlesung. ∫1 Beispiel: Wir wollen 0 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 mit 𝑓 (𝑥) = 𝑥2 bestimmen. Hierfür benötigen wir folgende Summenformel: 𝑛 ∑ 𝑘=1 𝑘2 = 𝑛(𝑛 + 1)(2𝑛 + 1) 6 (Beweis durch vollständige Induktion). Wir wählen eine äquidistante Partition des Intervalls [0,1] mit 𝑥𝑘 = 0, 1, . . . , 𝑛). Es gilt inf 𝑓 (𝑥) = sup 𝑓 (𝑥) = 𝑥𝑘−1 <𝑥<𝑥𝑘 𝑥𝑘−1 <𝑥<𝑥𝑘 ( )2 inf 𝑓 (𝑥) 𝑘−1 𝑛 ( )2 𝑘 . 𝑛 und Für die Untersumme von 𝑃 gilt daher 𝑈 (𝑃 ) = = 𝑛 ∑ (𝑥𝑘 − 𝑥𝑘−1 ) 𝑘=1 𝑛 ∑ 𝑘=1 1 𝑛 ( 𝑘−1 𝑛 𝑥𝑘−1 <𝑥<𝑥𝑘 )2 𝑛 1 ∑ (𝑘 − 1)2 = 3 𝑛 𝑘=1 92 𝑘 𝑛 (𝑘 = 1 = 3 𝑛 ( 𝑛 ∑ 𝑘=1 2 𝑘 −2 𝑛 ∑ 𝑘+ 𝑛 ∑ 1 𝑘=1 𝑘=1 ) ( ) 1 𝑛(𝑛 + 1)(2𝑛 + 1) 𝑛(𝑛 + 1) − + 𝑛 𝑛3 6 2 ( ) 3 1 2𝑛 𝑛 = 3 + 𝑛 3 3 2 1 1 für 𝑛 → ∞ . = + 2 → 3 3𝑛 3 = Daher gilt ∫ 1 𝑥2 𝑑𝑥 = 0 1 . 3 Für die Obersumme von 𝑃 gilt analog 𝑂(𝑃 ) = = 𝑛 ∑ (𝑥𝑘 − 𝑥𝑘−1 ) 𝑘=1 𝑛 ∑ 1 𝑛 𝑘=1 = = = sup 𝑓 (𝑥) 𝑥𝑘−1 <𝑥<𝑥𝑘 ( )2 𝑘 𝑛 𝑛 1 ∑ 2 𝑘 𝑛3 𝑘=1 ) ( 𝑛2 𝑛 1 𝑛3 + + 𝑛3 3 2 6 1 2 𝑛 1 + + 2 → für 𝑛 → ∞ . 3 𝑛 6𝑛 3 Daher gilt ∫ 1 𝑥2 𝑑𝑥 = 1 . 3 𝑥2 𝑑𝑥 = ∫ 0 Insgesamt erhalten wir ∫ 1 𝑥2 𝑑𝑥 = 0 ∫ 1 0 1 𝑥2 𝑑𝑥 = 0 1 . 3 Satz 15.5.3 (Linearität des Integrals). Es sei 𝑓, 𝑔 : [𝑎, 𝑏] → ℝ integrierbare Funktionen und 𝜆 ∈ ℝ. Dann sind auf 𝑓 + 𝑔 und 𝜆𝑓 bzw. 𝜆𝑔 integrierbar und es gilt: (i) ∫ 𝑏 (𝑓 + 𝑔)(𝑥)𝑑𝑥 = 𝑎 ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 + 𝑎 ∫ 𝑏 𝑔(𝑥)𝑑𝑥 𝑎 (ii) ∫ 𝑏 (𝜆𝑓 )(𝑥)𝑑𝑥 = 𝜆 𝑎 93 ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 𝑎 (iii) Aus 𝑓 ≤ 𝑔 folgt ∫ 𝑏 𝑎 94 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 ≤ ∫ 𝑏 𝑔(𝑥)𝑑𝑥. 𝑎 Vorlesung 16 Infinitesimalrechnung, Mengenlehre und logische Verknüpfungen 16.1 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung Wir verknüpfen nun Differential- mit Integralrechnung. Definition 16.1.1. Eine differenzierbare Funktion 𝐹 : 𝐼 −→ ℝ heißt Stammfunktion einer Funktion 𝑓 : 𝐼 −→ ℝ, falls 𝐹 ′ = 𝑓 . Der folgende Satz ist grundlegend: Satz 16.1.2. (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung) Teil 1: Sei 𝑓 : 𝐼 −→ ℝ eine stetige Funktion und 𝑎 ∈ 𝐼. Dann ist für alle 𝑥 ∈ 𝐼 die Integralfunktion ∫ 𝑥 𝑓 (𝑡)𝑑𝑡 𝐹 (𝑥) := 𝑎 differenzierbar und eine Stammfunktion von 𝑓 . Teil 2: Überdies gilt für alle 𝑎, 𝑏 ∈ 𝐼: ∫ 𝑏 𝑎 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 = 𝐹 (𝑏) − 𝐹 (𝑎) Bemerkung. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (HDI) ist eines der Hauptresultate der A1-Vorlesung. Ein Beweis würde den Rahmen des Vorkurses sprengen. Teil 1 des HDI bedeutet die Existenz von Stammfunktionen und stellt den Zusammenhang zwischen Ableitung und Integral her. Teil 2 erklärt, wie Integrale berechnet werden können. 95 Beispiele. ∙ Für 𝑓 (𝑥) = 𝑥𝑛 , 𝑛 ∈ ℕ ist 𝐹 (𝑥) = denn 𝐹 ′ (𝑥) = 𝑓 (𝑥). 1 𝑛+1 𝑛+1 𝑥 eine Stammfunktion zu 𝑓 (𝑥), ∙ Für die trigometrischen Funktionen gilt sin′ (𝑥) = cos(𝑥) cos′ (𝑥) = − sin(𝑥). Demnach gilt ∫ sin(𝑥)𝑑𝑥 = − cos(𝑥) + 𝑐 ist eine Stammfunktion von sin(𝑥) und ∫ cos(𝑥)𝑑𝑥 = sin(𝑥) + 𝑐 eine Stammfunktion von cos(𝑥). Hier bezeichnet 𝑐 eine Konstante. Stammfunktionen unterscheiden sich nur in einer Konstanten. Der Beweis folgt in der A1-Vorlesung, benutzt wird dabei die Reihendarstellung der Sinus- und Kosinusfunktion. ∙ Es gilt ∫ 𝑒𝑥 𝑑𝑥 = 𝑒𝑥 + 𝑐. Bemerkung. (Notation) Es sei 𝑓 : 𝐼 −→ ℝ stetig und 𝐹 die Stammfunktion von 𝑓 . Nachdem HDI gilt ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 = 𝐹 (𝑏) − 𝐹 (𝑎). 𝑎 Wir schreiben hierfür auch ∫ 𝑏 𝑎 16.2 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 = [𝐹 (𝑥)]𝑏𝑎 = 𝐹 (𝑥) ∣𝑏𝑎 . Partielle Integration Vorsicht: ∫ 𝑏 𝑎 𝑓 (𝑥)𝑔(𝑥)𝑑𝑥 ∕= ∫ 𝑏 𝑎 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 ⋅ ∫ 𝑏 𝑔(𝑥)𝑑𝑥. 𝑎 Stattdessen gilt der folgende Satz. Satz 16.2.1. (Partielle Integration) Es seien 𝑓, 𝑔 : [𝑎, 𝑏] −→ ℝ stetig differenzierbare Funktionen. Dann gilt ∫ 𝑏 ∫ 𝑏 𝑔(𝑥) ⋅ 𝑓 ′ (𝑥)𝑑𝑥 𝑓 (𝑥) ⋅ 𝑔 ′ (𝑥)𝑑𝑥 = 𝑓 (𝑥) ⋅ 𝑔(𝑥) ∣𝑏𝑎 − 𝑎 𝑎 Kurzschreibweise: ∫ 𝑓 ⋅ 𝑑𝑔 = 𝑓 ⋅ 𝑔 − ∫ 𝑔 ⋅ 𝑑𝑓 96 Beweis. Wir setzen 𝐹 (𝑥) = 𝑓 (𝑥) ⋅ 𝑔(𝑥). Dann gilt nach der Produktregel der Differentiation 𝐹 ′ (𝑥) = 𝑓 ′ (𝑥)𝑔(𝑥) + 𝑓 (𝑥)𝑔 ′ (𝑥). Aufgrund der Linearität des Integrals gilt ∫ 𝑏 ′ 𝐹 (𝑥)𝑑𝑥 = 𝑎 ∫ 𝑏 ′ 𝑓 (𝑥)𝑔(𝑥)𝑑𝑥 + 𝑎 ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑔 ′ (𝑥)𝑑𝑥 𝑎 Nach dem HDI gilt ∫ 𝑏 𝐹 ′ (𝑥)𝑑𝑥 = 𝐹 (𝑥) ∣𝑏𝑎 = 𝑓 (𝑥)𝑔(𝑥) ∣𝑏𝑎 𝑎 Daraus folgt 𝑓 (𝑥)𝑔(𝑥) ∣𝑏𝑎 = ∫ 𝑏 ′ 𝑓 (𝑥)𝑔(𝑥)𝑑𝑥 + 𝑎 ∫ 𝑏 𝑓 (𝑥)𝑔 ′ (𝑥)𝑑𝑥 𝑎 und sofort die Behauptung. Definition 16.2.2. Eine Funktion 𝑓 : [𝑎, 𝑏] −→ ℝ heißt stetig differenzierbar, wenn sie differenzierbar ist und ihre Ableitung 𝑓 ′ stetig ist. Gesucht ist eine Stammfunktion von 𝑥 ⋅ sin(𝑥). Nach dem HDI ist ∫Beispiele. 𝑥 𝑡 ⋅ sin(𝑡)𝑑𝑡 eine Stammfunktion. Wir wenden partielle Integration an: 𝑎 ∫ ∫ 𝑓 (𝑥)𝑔 ′ (𝑥)𝑑𝑥 = 𝑓 (𝑥)𝑔(𝑥) − 𝑓 ′ (𝑥)𝑔(𝑥)𝑑𝑥 ∫ 𝑥 𝑎 partielle 𝑡 ⋅ sin(𝑡) 𝑑𝑡 |{z} | {z } =:𝑓 (𝑡) =:𝑔 ′ (𝑡) Integration = 𝑡 ⋅ (− cos(𝑡)) = −𝑡 ⋅ cos(𝑡) ∣𝑥𝑎 + ∫ ∣𝑥𝑎 − ∫ 𝑥 1(− cos(𝑡))𝑑𝑡 𝑎 𝑥 cos(𝑡)𝑑𝑡 𝑎 = −𝑥 ⋅ cos(𝑥) + 𝑎 ⋅ cos(𝑎) + sin(𝑡) ∣𝑥𝑎 = −𝑥 ⋅ cos(𝑥) + 𝑎 ⋅ cos(𝑎) + sin(𝑥) − sin(𝑎) Somit ist −𝑥 ⋅ cos(𝑥) + sin(𝑥) eine Stammfunktion von 𝑥 ⋅ sin(𝑥). 16.3 Substitutionsregel Zur Bestimmung des Integrals bzw. einer Stammfunktion von verketteten Funktionen benutzen wir den folgenden Satz. Satz 16.3.1. (Substitutionsregel) Sei 𝑓 : 𝐼 −→ ℝ eine stetige Funktion und 𝑔 : [𝑎, 𝑏] −→ ℝ eine stetig differenzierbare Funktion mit 𝑔([𝑎, 𝑏]) ⊂ 𝐼. Dann gilt ∫ 𝑏 𝑎 𝑓 (𝑔(𝑡)) ⋅ 𝑔 ′ (𝑡)𝑑𝑡 = 97 ∫ 𝑔(𝑏) 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥 𝑔(𝑎) Beweis. Sei 𝐹 : 𝐼 −→ ℝ eine Stammfunktion von 𝑓 . Für 𝐹 ∘ 𝑔 : [𝑎, 𝑏] −→ ℝ gilt nach der Kettenregel (𝐹 ∘ 𝑔)′ (𝑡) = 𝐹 ′ (𝑔(𝑡)) ⋅ 𝑔 ′ (𝑡) = 𝑓 (𝑔(𝑡)) ⋅ 𝑔 ′ (𝑡) Mit dem HDI gilt ∫ 𝑏 𝑎 𝑓 (𝑔(𝑡)) ⋅ 𝑔 ′ (𝑡)𝑑𝑡 = (𝐹 ∘ 𝑔)(𝑡) ∣𝑏𝑎 = 𝐹 (𝑔(𝑏)) − 𝐹 (𝑔(𝑎)) ∫ 𝑔(𝑏) 𝑓 (𝑥)𝑑𝑥. = 𝑔(𝑎) ∫2 Beispiel. Zu bestimmen ist 0 𝑥 ⋅ sin(𝑥2 + 1)𝑑𝑥. Wir setzen 𝑓 (𝑥) = sin(𝑥) und 𝑔(𝑥) = 𝑥2 + 1. Daraus folgt 𝑓 (𝑔(𝑥)) = sin(𝑥2 + 1) und 𝑔 ′ (𝑥) = 2𝑥. Nun gilt ∫ 16.4 2 ∫ 1 2 2𝑥 ⋅ sin(𝑥2 + 1)𝑑𝑥 𝑥 ⋅ sin(𝑥 + 1)𝑑𝑥 = 2 0 ∫ 𝑔(2) Substitution 1 = 𝑓 (𝑢)𝑑𝑢 2 𝑔(0) ∫ 2 1 2 +1 sin(𝑢)𝑑𝑢 = 2 02 +1 1 = [− cos(𝑢)]51 2 1 = (cos(1) − cos(5)). 2 2 0 Exponential- und Logarithmusfunktion 𝑥 Definition 16.4.1. Sei 1 ∕= 𝑎 > 0. Dann heißt 𝑓 : ℝ −→ ℝ+ 0 mit 𝑥 7−→ 𝑎 eine Exponentialfunktion mit Basis 𝑎. Falls 𝑎 = 𝑒, wobei 𝑒 die Eulersche Zahl bezeichnet, so sprechen wir von der Exponentialfunktion. Für 𝑒𝑥 schreiben wir auch exp(𝑥). Die Exponentialfunktion exp(𝑥) besitzt eine Reihendarstellung exp(𝑥) = ∞ ∑ 𝑥𝑘 𝑘=0 𝑘! Diese Reihe konvergiert für jedes 𝑥 ∈ ℝ. Nach einem Satz aus der Analysis dürfen wir gliedweise differenzieren, das heißt ∞ ∞ ∞ ∞ 𝑘=0 𝑘=0 𝑘=1 𝑘=1 ∑ 𝑑 𝑥𝑘 ∑ ∑ 𝑥𝑘−1 𝑑 𝑥𝑘−1 𝑑 ∑ 𝑥𝑘 (𝑘 − 1) exp(𝑥) = = = = 𝑑𝑥 𝑑𝑥 𝑘! 𝑑𝑥 𝑘! 𝑘! (𝑘 − 1)! 98 = ∞ ∑ 𝑥𝑘 𝑘=0 𝑘! = exp(𝑥). 𝑑 Dabei bedeutet 𝑑𝑥 𝑓 (𝑥) = 𝑓 ′ (𝑥). Somit gilt (exp(𝑥))′ = exp(𝑥), also ist die Exponentialfunktion ihre eigene Ableitung. Satz 16.4.2 (Funktionalgleichung der Exponentialfunktion). Es gilt exp(𝑥 + 𝑦) = exp(𝑥) ⋅ exp(𝑦) ∀𝑥, 𝑦 ∈ ℝ. Satz 16.4.3. Die Exponentialfunktion exp : ℝ −→ ℝ ist streng monoton wachsend und bildet ℝ bijektiv auf ℝ+ ab. (ℝ+ bedeutet ohne 0) Die Umkehrfunktion ln : ℝ+ −→ ℝ ist stetig und streng monoton wachsend und heißt natürlicher Logarithmus. Es gilt die Funktionalgleichung ln(𝑥 ⋅ 𝑦) = ln(𝑥) + ln(𝑦) Es gilt ∀𝑥, 𝑦 ∈ ℝ+ . 𝑑 1 ln(𝑥) = für 𝑥 ∈ ℝ+ . 𝑑𝑥 𝑥 99 16.5 Mengenlehre und logische Verknüpfungen Gegeben sei die nichtleere Menge 𝑋. Seien 𝐴, 𝐵 ⊂ 𝑋. Wir schreiben 𝐴 ∪ 𝐵 für die Vereinigung von 𝐴 und 𝐵. Falls 𝑥 ∈ 𝐴 ∪ 𝐵, so bedeutet dies 𝑥 ∈ 𝐴 oder 𝑥 ∈ 𝐵. Wir schreiben kurz 𝑥 ∈ 𝐴 ∨ 𝑥 ∈ 𝐵. Wir beachten, das oder“ kein ausschlie” ßendes Oder bedeutet. Wenn 𝑥 ∈ 𝐴 ∪ 𝐵, dann kann 𝑥 auch in 𝐴 und 𝐵 liegen. Wir schreiben 𝐴 ∩ 𝐵 für den Schnitt von 𝐴 und 𝐵. Falls 𝑥 ∈ 𝐴 ∩ 𝐵, so bedeutet dies 𝑥 ∈ 𝐴 und 𝑥 ∈ 𝐵. Wir schreiben kurz 𝑥 ∈ 𝐴 ∧ 𝑥 ∈ 𝐵. ∨ und ∧ sind logische Verknüpfungen. Wir haben folgende logische Verknüpfungen, es seien 𝐴 und 𝐵 jeweils Aussagen. logische Verknüpfung 𝐶 𝐴 oder ¬𝐴 Aussage bedeutet die Negation von 𝐴 𝐴⇒𝐵 aus 𝐴 folgt 𝐵 𝐴∨𝐵 𝐴 oder 𝐵, d.h entweder 𝐴 oder 𝐵 oder beide. 𝐴⇔𝐵 𝐴 und 𝐵 sind äquivalent 𝐴∧𝐵 sowohl 𝐴 als auch 𝐵 Die logischen Verknüpfungen von Aussagen korrespondieren zu Verknüpfungen von Mengen. Es seien 𝐴, 𝐵 ⊂ 𝑋 Mengen. Aussagenlogik Mengenoperationen 𝐴⇒𝐵 𝐴⊂𝐵 𝐴∨𝐵 𝐴∪𝐵 𝐴⇔𝐵 𝐴∧𝐵 𝐴=𝐵 𝐴∩𝐵 Beispiele. Behauptung: Es seien 𝐴 und 𝐵 zwei Aussagen, dann gilt ¬(𝐴 ∨ 𝐵) ⇔ ¬𝐴 ∧ ¬𝐵 Es gibt zwei Möglichkeiten diese Aussage zu beweisen. Mit Hilfe der Aussagenlogik und der logischen Verknüpfungen kann eine Wahrheitstabelle angelegt werden. Die andere Möglichkeit ist die Teilmengeninklusion. Wir führen den Beweis in beiden Arten durch. Zunächst mit Hilfe einer Wahrheitstabelle. 100 Beweis. 𝐴 𝐵 𝐴∨𝐵 ¬(𝐴 ∨ 𝐵) ¬𝐴 ¬𝐵 ¬𝐴 ∧ ¬𝐵 wahr wahr wahr falsch falsch falsch falsch wahr falsch falsch wahr falsch wahr wahr falsch wahr falsch wahr wahr falsch wahr falsch falsch falsch wahr wahr wahr wahr Man sieht nun anhand der Wahrheitstabelle die Äquivalenz der beiden Aussagen. Für die Teilmengeninklusion muss die Aussage zunächst in Mengenschreibweise umgeschrieben werden. Wir erhalten die Aussage (𝐴 ∩ 𝐵)𝐶 = 𝐴𝐶 ∪ 𝐵 𝐶 Illustration durch Mengen: Beweis. Wir führen eine Teilmengeninklusion durch und zeigen (i) jedes Element das in (𝐴∩𝐵)𝐶 enthalten ist, ist auch in 𝐴𝐶 ∪𝐵 𝐶 enthalten, d.h. (𝐴 ∩ 𝐵)𝐶 ⊆ 𝐴𝐶 ∪ 𝐵 𝐶 . (ii) jedes Element das in 𝐴𝐶 ∪𝐵 𝐶 enthalten ist, ist auch in (𝐴∩𝐵)𝐶 enthalten, d.h. (𝐴 ∩ 𝐵)𝐶 ⊇ 𝐴𝐶 ∪ 𝐵 𝐶 . Zu (i): Sei 𝑥 ∈ (𝐴∩𝐵)𝐶 . Dann gilt 𝑥 ∈ / 𝐴∩𝐵. Da 𝐴∩𝐵 = {𝑦 ∣ 𝑦 ∈ 𝐴 𝑢𝑛𝑑 𝑦 ∈ 𝐵} folgt 𝑥 ∈ / 𝐴 oder 𝑥 ∈ / 𝐵. Falls 𝑥 ∈ / 𝐴, so ist 𝑥 ∈ 𝐴𝐶 , und daher 𝐴𝐶 ∪ 𝐵 𝐶 . Analog 𝑥∈ / 𝐵, so ist 𝑥 ∈ 𝐵 𝐶 und daher 𝐴𝐶 ∪𝐵 𝐶 . Da 𝑥 beliebig gilt (𝐴∩𝐵)𝐶 ⊆ 𝐴𝐶 ∪𝐵 𝐶 . Zu (ii): (durch Widerspruch) Angenommen, es gibt ein 𝑥 ∈ 𝐴𝐶 ∪ 𝐵 𝐶 mit 𝑥 ∈ / (𝐴 ∩ 𝐵)𝐶 . Dann 𝑥 ∈ 𝐴 ∩ 𝐵, 𝐶 d.h. 𝑥 ∈ 𝐴 und 𝑥 ∈ 𝐵. Daraus folgt 𝑥 ∈ / 𝐴 und 𝑥 ∈ / 𝐵𝐶 . 𝐶 𝐶 Somit ist 𝑥 ∈ / 𝐴 ∪ 𝐵 . Widerspruch zur Annahme. Es folgt (𝐴 ∩ 𝐵)𝐶 ⊇ 𝐴𝐶 ∪ 𝐵 𝐶 . Insgesamt folgt nun aus (i) und (ii) die Behauptung. 101