Höhere Mathematik 2 Bernd Thaller Institut f. Mathematik und Wissenschaftliches Rechnen http://math.uni-graz.at/thaller/lehre/hm/ pdf-Download: http://www.uni-graz.at/imawww/thaller/lehre/hm/hm2/hm2.pdf 5. Juli 2012 Inhaltsverzeichnis 1 Komplexe Zahlen 1.1 Die Menge der komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Definition der imaginären Einheit . . . . . . . . . 1.2 Definition der komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Grundrechenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Gleichheit von komplexen Zahlen . . . . . . . . . 1.3.2 Addition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Subtraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Multiplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5 Division . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.7 Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Visualisierung komplexer Zahlen . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Rechenregeln für den Absolutbetrag . . . . . . . . 1.4.2 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Eine abstraktere Definition der komplexen Zahlen . . . . 1.6 Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1 Betrag und Argument . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Berechnung des Arguments einer komplexen Zahl 1.7 Grundrechenarten in Polarform . . . . . . . . . . . . . . 1.7.1 Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.2 Division . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.3 Formel von Moivre . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Eulersche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Die n-ten Wurzeln aus einer komplexen Zahl . . . . . . . 1.9.1 Nichteindeutigkeit des Arguments . . . . . . . . . 1.9.2 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9.3 Bestimmung der Lösungen . . . . . . . . . . . . . 1.9.4 Zusammenfassung: n-te Wurzeln . . . . . . . . . . 1.9.5 Einheitswurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4 4 5 5 5 6 6 6 6 6 7 7 8 8 9 9 10 11 11 12 14 14 15 15 16 18 18 18 19 19 20 1.9.6 Der Fundamentalsatz der Algebra . . . . . . . . . . . . 1.10 Elementare komplexe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10.1 Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10.2 Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10.3 Wurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10.4 Trigonometrische Funktionen und Hyperbelfunktionen 1.10.5 Visualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.11 Differentiation im Komplexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Folgen 2.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Konvergente Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Konvergenz und Divergenz . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Konvergenz direkt nachprüfen . . . . . . . 2.2.3 Cauchyfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Beschränkte monotone Folgen sind konvergent 2.2.5 Sandwichsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Limiten von Folgen und Funktionen . . . . . . . . . . 2.3.1 Folgen von Funktionswerten . . . . . . . . . . 2.3.2 Regel von de l’Hopital . . . . . . . . . . . . . 3 Unendliche Reihen 3.1 Reihen und Partialsummen . . . . . . . . . . . 3.1.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Divergente Reihen . . . . . . . . . . . 3.2 Einige Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Teleskopreihen . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Eine geometrische Reihe . . . . . . . . 3.2.3 Die harmonische Reihe . . . . . . . . . 3.3 Rechenregeln für unendliche Reihen . . . . . . 3.4 Reihen und Integrale . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Alternierende Reihen . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Absolute und bedingte Konvergenz . . . . . . 3.7 Quotienten- und Wurzelkriterium . . . . . . . 3.8 Taylorpolynome . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.1 Lineare Approximation . . . . . . . . . 3.8.2 Quadratische Approximation . . . . . . 3.8.3 Approximation durch Taylorpolynome 3.9 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10 Gliedweise Operationen mit Potenzreihen . . . 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 21 21 22 24 25 25 27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 28 29 29 30 31 32 33 33 33 34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 35 35 35 36 36 37 38 39 40 42 44 45 46 46 47 48 50 53 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Vektorwertige Funktionen 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Funktionsgraph . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Parameteränderung . . . . . . . . . . . . 4.2 Limes und Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Grenzwert und Stetigkeit . . . . . . . . . 4.2.2 Differenzieren vektorwertiger Funktionen 4.2.3 Integrieren vektorwertiger Funktionen . . 4.3 Kinematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung . . 4.3.2 Geschwindigkeit als Tangentenvektor . . 4.3.3 Bogenlänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 55 56 58 58 59 59 60 61 62 62 63 64 5 Funktionen mehrerer Variabler 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Partielle Differentiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 66 67 69 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1 Komplexe Zahlen Die komplexen Zahlen — auf den ersten Blick eine rechentechnische Komplikation — bieten unter anderem sehr praktische Vereinfachungen bei der mathematischen Berechnung harmonischer Vorgänge (Sinusschwingungen). Das macht man sich z.B. in der komplexen Wechselstromrechnung zu Nutze. 1.1 1.1.1 Die Menge der komplexen Zahlen Definition der imaginären Einheit Um zu den komplexen Zahlen zu gelangen, fügt man den reellen Zahlen ein Objekt mit der Bezeichnung “i” hinzu, das man “imaginäre Einheit” nennt. Es ist durch folgende Eigenschaft definiert: Definition 1.1 Die imaginäre Einheit i ist eine Rechengröße mit der Eigenschaft i2 = −1 . Man schreibt daher i= (1.1) √ −1. Bezeichnung: In der Elektrotechnik verwendet man den Buchstaben j um die imaginäre Einheit zu bezeichnen. Achtung: Für Zahlen, die i enthalten, wird die Operation Wurzelziehen“ erst ” später definiert. Allerdings wollen wir gleich hier die Warnung aussprechen, dass die Rechenregel √ √ √ a b = ab, für a ≥ 0, b ≥ 0, die wir für nichtnegative Zahlen a und b kennen, im Allgemeinen nicht gelten wird. Die oben definierte Wurzel aus −1 liefert nämlich bereits ein Gegenbeispiel: p √ √ √ −1 −1 = i2 = −1 6= (−1)(−1) = 1 = 1. 4 Allerdings ist für a ≥ 0 folgendes noch immer richtig: p √ √ √ √ −a = (−1) a = −1 a = i a für a ≥ 0 Rechenregeln: Um zu einer Definition komplexer Zahlen zu kommen, verlangen wir, dass man i mit einer reellen Zahl multiplizieren kann (z.B 3i) und zu einer reellen Zahl hinzuaddieren kann (z.B. 3 + i). Für diese Operationen sollen die üblichen Rechenregeln gelten (Kommutativgesetz, Assoziativgesetz, Distributivgesetz). Die folgenden Beispiele sollen zeigen, wie wir das meinen: Beispiel 1.1 i(3i + 2) = i 3i + i 2 = 3i2 + 2i = −3 + 2i. Beispiel 1.2 In der Menge der reellen Zahlen hat die Gleichung x2 = −1 keine Lösung. Hat man jedoch die imaginäre Einheit zur Verfügung, hat die Gleichung die beiden Lösungen x1 = i, x2 = −i. Denn x21 = i i = i2 = −1 und x22 = (−i)(−i) = (−1)2 i2 = (+1)(−1) = −1. 1.2 1.2.1 Definition der komplexen Zahlen Definition Einen Ausdruck von der Form x + i y, wobei x und y reelle Zahlen sind, nennt man komplexe Zahl. Die Menge aller komplexer Zahlen bezeichnen wir mit C. C = {x + iy | x ∈ R und y ∈ R}. (Hier bezeichnet R die Menge der reellen Zahlen). Es gilt also z ∈ C genau dann, wenn z = x + iy 1.2.2 mit x ∈ R und y ∈ R. Bezeichnung Die reelle Zahl x wird als Realteil von z bezeichnet, y heisst Imaginärteil von z. x = Re(z), y = Im(z). Komplexe Zahlen der Form iy mit y ∈ R nennt man imaginäre Zahlen. Natürlich ist i selbst eine komplexe Zahl (mit x = 0 und y = 1). Jede reelle Zahl kann auch als komplexe Zahl angesehen werden, denn x = x + i0. Die Menge der reellen Zahlen kann also eine Teilmenge der Menge der komplexen Zahlen aufgefasst werden. R⊂C 5 1.3 Grundrechenarten In diesem Kapitel werden wir nachprüfen, dass man durch Addition, Subtraktion, Multiplikation komplexer Zahlen wieder eine komplexe Zahl erhält, also einen Ausdruck der Form Realteil plus i mal Imaginärteil“. Ebenso ist das Resultat ” einer Division mit einer komplexen Zahl ungleich 0 wieder eine komplexe Zahl. Bei Anwendung “normaler” Rechenregeln (unter Berücksichtigung von i2 = −1), wird die Menge der komplexen Zahlen nicht verlassen. Das heisst, man kann das Rechenergebnis immer wieder in die Form x + iy bringen. Wir zeigen das jetzt der Reihe nach für alle Grundrechenarten. Im folgenden betrachten wir zwei beliebige komplexe Zahlen, x + iy und u + iv (hier sind x, y, u, v reelle Zahlen). 1.3.1 Gleichheit von komplexen Zahlen Zwei komplexe Zahlen sind genau dann gleich, wenn die Realteile gleich sind und die Imaginärteile gleich sind: x + iy = u + iv 1.3.2 genau dann, wenn x = u und y = v Addition (x + iy) + (u + iv) = (x + u) + i(y + v) . Man addiert zwei komplexe Zahlen, indem man ihre Real- und Imaginärteile addiert. 1.3.3 Subtraktion (x + iy) − (u + iv) = (x − u) + i(y − v) . Man subtrahiert zwei komplexe Zahlen, indem man ihre Real- und Imaginärteile subtrahiert. 1.3.4 Multiplikation (x + iy)(u + iv) = xu + xiv + iyu + i2 yv = (xu − yv) + i(xv + yu) Beachte, dass (x + iy)(x − iy) = x2 + y 2 eine reelle Zahl ergibt. 6 1.3.5 Division x + iy x + iy u − iv = · u + iv u + iv u − iv (xu + yv) + i(yu − xv) = u2 + v 2 xu + yv yu − xv = 2 + i u + v2 u2 + v 2 Definition 1.2 Für eine komplexe Zahl z = x + i y heißt z = x − iy die zu z konjugiert komplexe Zahl. Komplexe Brüche werden also berechnet, indem man zuerst mit dem konjugiert komplexen Nenner erweitert. 1.3.6 Zusammenfassung Beim Rechnen mit komplexen Zahlen geht man also genauso vor wie bei reellen Zahlen. Nur dann, wenn der Ausdruck i2 auftaucht, ersetzt man ihn durch −1. Beispiel 1.3 x(iy) = i(xy) = (ix)y, i(x + y) = ix + iy, (ix)2 = ixix = i2 x2 = −x2 , (x + i y)(x − i y) = x2 − i2 y 2 = x2 + y 2 . Beispiel 1.4 Gesucht sind alle komplexen Zahlen z = x + iy, die die Gleichung z 2 = 2i erfüllen. Diese Gleichung kann man in die Gleichung x2 + 2ixy − y 2 = 2i umschreiben. Aus der Gleichheitsbedingung (siehe Abschnitt 1.3.1) erhält man zwei reelle Gleichungen: Realteil: x2 − y 2 = 0 , Imaginärteil: xy = 1 . Dieses Gleichungspaar hat zwei Lösungen: (x, y) = (1, 1) und (x, y) = (−1, −1). Die Gleichung z 2 = 2i hat also zwei Lösungen: z1 = 1 + i und z2 = −1 − i. Wir werden später aber eine bessere Methode kennenlernen, eine Gleichung der Art z 2 = 2i nach z aufzulösen. 7 1.3.7 Übung Berechne oder vereinfache die folgenden Ausdrücke. i + i + i =? i(3i + 2i) =? (5i)2 =? i(−i) =? √ −16 =? √ − −9 =? i3 =? (1 + i)(1 − i) =? (2 + 3i)2 =? 2+i √ =? 3−i 1.4 Visualisierung komplexer Zahlen Eine komplexe Zahl z ∈ C wird also durch zwei reelle Zahlen x und y definiert. Man kann eine komplexe Zahl als ein geordnetes Paar von reellen Zahlen auffassen, d.h. als einen Punkt des zweidimensionalen Raumes (= xy-Ebene). In diesem Zusammenhang nennt man die xy-Ebene die komplexe Zahlenebene“. ” Eine komplexe Zahl wird daher als ein Punkt der komplexen Ebene visualisiert. Der Punkt mit den Koordinaten (x, y) stellt die komplexe Zahl z = x + i y auf eindeutige Weise dar. Siehe Abbildung 1.1. In der komplexen Ebene heißt die x-Achse die reelle Achse, denn auf ihr befinden sich die Zahlen der Form x+i0, die den reellen Zahlen x ∈ R entsprechen. Die y-Achse heißt dann die imaginäre Achse. Definition 1.3 Für eine komplexe Zahl z = x + i y heißt p |z| = x2 + y 2 der Absolutbetrag von z (oder auch einfach der Betrag von z). In der komplexen Zahlenebene kann der Absolutbetrag als euklidischer Abstand des Punktes z = x + iy vom Koordinatenursprung 0 + i0 interpretiert werden. Beachte: (x + i y)(x − i y) = x2 + y 2 , also: zz = |z|2 . √ Beispiel 1.5 |i| = 1 , |4 + 3i| = 16 + 9 = 5 . 8 (1.2) imaginäre Achse i = 0 + i1 z = x + iy = ( x, y) reelle Achse |z | y = Im z x = Re z –z = –x – iy 1 = 1 + i0 z = x – iy Abbildung 1.1: Komplexe Zahlenebene. Die Menge der komplexen Zahlen entspricht der zweidimensionalen reellen Ebene, C = ˆ R2 . Jede komplexe Zahl x+iy ∈ 2 C entspricht dem Punkt (x, y) ∈ R . Die Abbildung zeigt eine komplexe Zahl z = x + iy, die dazu konjugiert komplexe Zahl z (sie wird erhalten durch Spiegelung an der reellen Achse) und die Zahl −z (das Negative einer komplexen Zahl wird durch Spiegelung am Koordinatenursprung erhalten). 1.4.1 Rechenregeln für den Absolutbetrag Für den Absolutbetrag komplexer Zahlen z1 und z2 gelten folgende Rechenregeln: z1 |z1 | = |z1 z2 | = |z1 ||z2 | , z2 |z2 | , (z2 6= 0) , |z1 + z2 | ≤ |z1 | + |z2 | , |z1 + z2 | ≥ |z1 | − |z2 | . Diese Regeln sind dieselben wie beim Rechnen mit Absolutbeträgen von reellen Zahlen. 1.4.2 Übungen √ 1. Zeichnen Sie folgende komplexe Zahlen: 1 + i, − 3 + i. 2. Berechnen und zeichnen Sie: 1 , 1 , 1+i 1−i 3. Berechnen Sie den Betrag von 1/z 2 für z = 2 − 3i. 5−2i , 3i√ , 5+2i i− 3 z/z, (1 + 2i)3 . 4. Lösen Sie für die reellen Zahlen x und y die Gleichungen x + iy = y + ix, (x + iy)2 = 2ix 9 1.5 Eine abstraktere Definition der komplexen Zahlen In der Mathematik bevorzugt man es, die komplexen Zahlen als eine Menge von Elementen einzuführen, für die gewisse Operationen ( Verknüpfungen“) definiert ” sind. So vermeidet man, von zunächst schlecht definierten und schwer vorstellbaren imaginären Größen“ zu reden. Dieser Zugang sei hier zumindest angedeutet. ” Wir erinnern zunächst daran, dass die Menge der geordneten Zahlenpaare z = (x, y) (mit x ∈ R und y ∈ R) einen zweidimensionalen, reellen Vektorraum bildet, den wir mit R2 bezeichnen. In einem Vektorraum ist die Addition und die Multiplikation mit einem Skalar definiert. Insbesondere gelten für alle (x, y) ∈ R2 und alle (u, v) ∈ R2 die Regeln (x, y) + (u, v) = (x + y, u + v), (1.3) und für alle a ∈ R, (x, y) ∈ R2 ist a(x, y) = (ax, ay) (1.4) Definition 1.4 Im Vektorraum R2 definieren wir eine zusätzliche Verknüpfung ∗ durch (x, y) ∗ (u, v) = (xu − yv, xv + yu) (1.5) Theorem 1.1 Die Menge R2 mit der Addition + und der Multiplikation ∗ bildet einen kommutativen Körper mit Einselement (1, 0). Insbesondere hat jedes Element z = (x, y) 6= (0, 0) ein multiplikativ inverses Element, nämlich x −y , (1.6) z −1 = x2 + y 2 x2 + y 2 Beweis erfolgt durch Nachprüfen der Körperaxiome (siehe lineare Algebra). Definition 1.5 Ein Element des Körpers C = (R2 , +, ∗) nennt man eine komplexe Zahl. Dementsprechend heisst C Körper der komplexen Zahlen. Bezeichnungen: 1. Für das Einselement (1, 0) ∈ C schreibt man einfach 1. Es ist z ∗ 1 = z für alle z ∈ C. Für (x, 0) = x(1, 0) schreibt man einfach x. 2. Für das Element (0, 1) ∈ C schreibt man i und nennt es die imaginäre Einheit. Es ist i ∗ i = −1 und (0, y) = y i. 10 3. Das Symbol ∗ lässt man in der Folge weg und schreibt einfach z1 z2 anstelle von z1 ∗ z2 für die Multiplikation zweier komplexer Zahlen z1 und z2 und entsprechend z ∗ z = z 2 , etc. Verbindung mit der Standard-Schreibweise: Für jede komplexe Zahl gilt: z = (x, y) = (x, 0) + (0, y) = x 1 + y i = x + iy. (1.7) Man nennt x den Realteil und y den Imaginärteil von z und schreibt x = Re(x), y = Im(z). (1.8) Theorem 1.2 Die Abbildung R → C, die die reelle Zahl x auf die komplexe Zahl (x, 0) = x abbildet, ist eine Körpereinbettung. Es gilt daher x + u ∈ R wird abgebildet auf (x + u, 0) = x + u ∈ C und xu ∈ R wird abgebildet auf (xu, 0) = xu ∈ C 1.6 1.6.1 Polarkoordinaten Betrag und Argument In der Abbildung 1.2 sehen wir einen Punkt (x, y) der komplexen Ebene, der die Zahl z = x + iy repräsentiert. Wir zeichnen die Verbindungstrecke vom Koordinatenursprung (=die komplexe Zahl 0 = 0 + i0), zum Punkt z. Für die Länge r dieser Strecke und für den Winkel ϕ, den diese Verbindungslinie mit der (positiven) x-Achse einschließt, gelten folgende Beziehungen: x = r cos ϕ , y = r sin ϕ , z = x + i y = r (cos ϕ + i sin ϕ) , p r = x2 + y 2 = |z| . Definition 1.6 Die Zahlen (r, ϕ) heißen die Polarkoordinaten der komplexen Zahl z = x + iy. Die Darstellung z = r (cos ϕ + i sin ϕ) heißt Polarform der komplexen Zahl z. Den Winkel ϕ bezeichnet man als das Argument der komplexen Zahl, ϕ = arg z . 11 i z Im z Re z z| | r=ϕ 1 Abbildung 1.2: Graphische Darstellung einer komplexen Zahl z in kartesischen und in polaren Koordinaten. In Anlehnung an die Elektrotechnik nennt man das Argument ϕ auch die Phase der komplexen Zahl z. Da die Funktionen cos und sin für alle reellen Zahlen definiert sind, kann man auch zu jedem Paar (r, φ) ∈ R2 eine eindeutige komplexe Zahl z = r (cos ϕ + i sin ϕ), (r ∈ R, ϕ ∈ R) definieren. Es ist jedoch klar, dass dieser Zusammenhang (r, ϕ) → z nicht umkehrbar eindeutig (bijektiv) ist. Zum Beispiel beschreiben (r, ϕ), (−r, ϕ + π) und (r, ϕ ± 2π) diesselbe komplexe Zahl. Will man einen umkehrbar eindeutigen Zusammenhang zwischen komplexen Zahlen z und Zahlenpaaren (r, ϕ) herstellen, muss man die Bereiche von r und ϕ einschränken. Da r einen Abstand vom Koordinatenursprung darstellen soll, wählt man immer r ≥ 0. Ferner könnte man ϕ auf das Intervall (−π, π] einschränken (oder auf ein anderes Intervall der Länge 2π). Wir untersuchen dies im nächsten Kapitel. 1.6.2 Berechnung des Arguments einer komplexen Zahl Aus einer gegebenen Zahl z = x + i y berechnet man Argument bzw. Phase ϕ am besten aus der Formel y tan ϕ = . x 12 In der rechten Halbebene, also für −π/2 ≤ ϕ ≤ π/2 ergibt sich zum Beispiel ϕ = arctan(y/x). In den anderen Quadranten der komplexen Ebene muß man allerdings mit der Definition der Umkehrfunktion arctan aufpassen und den Winkel ϕ anders definieren. Die folgende Definition erlaubt die Berechnung von ϕ für alle Punkte der komplexen Ebene mit Ausnahme des Koordinatenursprungs: Definition 1.7 Der Hauptargumentwinkel wird wie folgt definiert: −π + arctan xy , π − 2 , ϕ(x, y) = arctan xy , π , 2 π + arctan y , x ϕ einer komplexen Zahl z = x + iy für für für für für x < 0 und x = 0 und x > 0, x = 0 und x < 0 und y < 0, y < 0, y > 0, y ≥ 0. Diese Funktion wird manchmal auch als atan2(x, y) oder arctan2(x, y) bezeichnet. Für (x, y) = (0, 0), also für die komplexe Zahl z = 0 ist der (Haupt-) Argumentwinkel unbestimmt. Die verschiedenen in dieser Definition vorkommenden Bereiche sind in der Abbildung 2.1 dargestellt. Der Hauptargumentwinkel ϕ = arctan2(x, y) ist eine Funktion der Koordinaten x und y. Der Wertebereich dieses Hauptargumentwinkels ist das Intervall (−π, π]. Die Funktion benimmt sich allerdings bei Überquerung der negativen reellen Achse unstetig: Der Funktionswert springt von π auf −π, wenn der Punkt (x, y) die negative Halbachse von oben nach unten überquert. Zusammenfassung. Komplexe Zahlen und Polarkoordinaten: Die Abbildung ( R2 → C (r, ϕ) 7→ z = r(cos ϕ + i sin ϕ) wird bijektiv, wenn man den Definitionsbereich auf (0, ∞) × (−π, π] und den Wertebereich auf C\{0} einschränkt. Die Umkehrabbildung ist für z = x+iy ∈ C, z 6= 0 gegeben durch p ϕ = arctan2(x, y) r = x2 + y 2 , Oft ist es praktisch, als mögliche Argumente für komplexe Zahlen nicht nur die Zahlen in (−π, π] zuzulassen, sondern alle reellen Zahlen. Dann ist das Argument durch die komplexe Zahl x + iy allerdings nicht eindeutig bestimmt. Die Winkel ϕ und ϕ + 2kπ mit beliebigen ganzen Zahlen k ∈ Z führen nämlich auf dieselbe 13 φ = π/2 z = x + iy i π/2 < φ < π (2. Quadrant) 0 < φ < π/2 (1. Quadrant) φ=π φ= arctan y/x 1 φ=0 –π < φ < –π/2 (3. Quadrant) –π/2 < φ < 0 (4. Quadrant) φ = –π/2 Abbildung 1.3: Mögliche Werte des Hauptargumentwinkels in verschiedenen Bereichen der komplexen Ebene. komplexe Zahl. Die Formel, mit der z durch Betrag und Argument ausgedrückt wird, hat ebenfalls diese Eigenschaft: z = r (cos ϕ + i sin ϕ) für alle ϕ ∈ R. Addiert man ein ganzzahliges Vielfaches von 2π zu ϕ, ändert sich z nicht. 1.7 Grundrechenarten in Polarform Unter Benützung der Polarform kann man Produkt und Division komplexer Zahlen besonders einfach beschreiben: 1.7.1 Produkt Gegeben seien zwei komplexe Zahlen, z1 = r1 (cos ϕ1 + i sin ϕ1 ) , z2 = r2 (cos ϕ2 + i sin ϕ2 ) . 14 (1.9) Dann gilt (mit Hilfe der Summenregeln für sin und cos) z1 z2 = r1 r2 (cos ϕ1 + i sin ϕ1 ) (cos ϕ2 + i sin ϕ2 ) = r1 r2 (cos ϕ1 cos ϕ2 − sin ϕ1 sin ϕ2 ) + i (sin ϕ1 cos ϕ2 + cos ϕ1 sin ϕ2 ) = r1 r2 cos(ϕ1 + ϕ2 ) + i sin(ϕ1 + ϕ2 ) . Merkregel: Bildet man das Produkt zweier komplexer Zahlen, so werden die Beträge multipliziert und die Argumente addiert. 1.7.2 Division z1 r1 (cos ϕ1 + i sin ϕ1 ) (cos ϕ2 − i sin ϕ2 ) = z2 r2 (cos ϕ2 + i sin ϕ2 ) (cos ϕ2 − i sin ϕ2 ) r1 (cos ϕ1 cos ϕ2 + sin ϕ1 sin ϕ2 ) + i (sin ϕ1 cos ϕ2 − cos ϕ1 sin ϕ2 ) = r2 cos2 ϕ2 + sin2 ϕ2 r1 = cos(ϕ1 − ϕ2 ) + i sin(ϕ1 − ϕ2 ) . r2 Merkregel: Zwei komplexe Zahlen werden dividiert, indem man die Beträge dividiert, und die Differenz der Argumente bildet. Wenn man die Merkregeln für Produkt und Division und die Darstellung z = r(cos ϕ + i sin ϕ) kennt, kann man umgekehrt leicht die Summenregeln für Sinus und Kosinus ableiten, wenn man einmal die Formelsammlung vergessen hat. 1.7.3 Formel von Moivre Sei z eine komplexe Zahl mit Argument ϕ. Die Zahl z 2 = z z hat dann das Argument 2ϕ und z 3 = z 2 z hat das Argument 3ϕ. Wenn also z = r (cos ϕ + i sin ϕ) ist, dann ist z 3 = r3 (cos 3ϕ + i sin 3ϕ). Wenn man eine komplexe Zahl n mal mit sich selbst multipliziert, erhalten wir so die Formel von Moivre: z n = rn cos(nϕ) + i sin(nϕ) . 15 1.8 Eulersche Formel Jedem Winkel ϕ (im Bogenmaß) ordnen wir die komplexe Zahl E(ϕ) = cos ϕ + i sin ϕ (1.10) zu. E(ϕ) hat immer den Absolutbetrag 1. Die Menge der komplexen Zahlen mit Betrag 1 bilden in der komplexen Ebene den sogenannten “Einheitskreis”. E ist also eine Abbildung aus den reellen Zahlen auf den Einheitskreis der komplexen Ebene. Bemerkung: Eine Vergrößerung des Winkels ϕ um 2π kann man als eine volle Umkreisung des Koodinatenursprungs deuten. Natürlich kommt man dabei wieder an denselben Punkt zurück. Es ist also E(ϕ + 2π) = E(ϕ) oder allgemein E(ϕ + 2kπ) = E(ϕ), für alle k ∈ Z. Offensichtlich gilt (wegen cos 0 = 1, sin 0 = 0) E(0) = 1 . Für das Produkt von Zahlen auf dem Einheitskreis liefern die Betrachtungen des vorigen Abschnitts die Formeln: E(ϕ1 ) E(ϕ2 ) = E(ϕ1 + ϕ2 ) , und n E(ϕ) = E(nϕ) , (Formel von Moivre). Diese Formeln legen einen Vergleich der Funktion E(ϕ) mit der Exponentialfunktion nahe. Schreiben wir A(ϕ) = aϕ = (eln a )ϕ = ekϕ , (wobei k = ln a), so gelten ja ebenfalls die Formeln A(0) = e0 = 1 , A(ϕ1 ) A(ϕ2 ) = ekϕ1 ekϕ2 = ek(ϕ1 +ϕ2 ) = A(ϕ1 + ϕ2 ) , n A(ϕ) = (ekϕ )n = ekϕn = A(nϕ) . Die Funktion A(ϕ) hat also dieselben Eigenschaften wie die Funktion E(ϕ). Bilden wir nun die Ableitung von E(ϕ) nach ϕ, wobei wir die naturgemäß die imaginäre Einheit als Konstante auffassen (sie hängt ja nicht von ϕ ab): d E(ϕ) = − sin ϕ + i cos ϕ = i (cos ϕ + i sin ϕ) = iE(ϕ) . dϕ 16 Andererseits gilt mit der Kettenregel: d A(ϕ) = k ekϕ = kA(ϕ) . dϕ Perfekte formale Übereinstimmung zwischen den Funktionen A und E besteht also, wenn k = i gesetzt wird. Wir benützen diese Übereinstimmung als Motivation für die Definition der komplexen Exponentialfunktion eiϕ = E(φ). Definition 1.8 Als komplexe Exponentialfunktion bezeichnet man den Ausdruck eiϕ = cos ϕ + i sin ϕ Die in dieser Definition verwendete Formel ist die berühmte Eulersche Formel. Sie dient uns zur Definition der Exponentialfunktion für komplexe Argumente. (Die Eulersche Formel ist so ziemlich die wichtigste Formel in diesem Kapitel. Eine andere Herleitung dieser Formel erfolgt durch Vergleich der Potenzreihenentwicklungen von ex , cos x und sin x, deren Betrachtung aber noch außerhalb unserer Reichweite ist.) Die Polarform einer komplexen Zahl z = x + iy lautet nun ganz einfach z = r eiϕ Es gilt: e−iϕ = cos(−ϕ) + i sin(−ϕ) = cos ϕ − i sin ϕ und daher z = r e−iϕ . Wir können nun auch trigonometrische Funktionen durch Exponentialfunktionen ausdrücken, denn eiϕ + e−iϕ = 2 cos ϕ, eiϕ − e−iϕ = 2i sin ϕ . Daraus erhält man sofort die Formeln: Trigonometrische Funktionen: eiϕ + e−iϕ , 2 eiϕ − e−iϕ sin ϕ = . 2i cos ϕ = 17 Vergleiche diese Ausdrücke mit der Definition der Hyberbelfunktionen sinh und cosh. Auch die Formeln für Produkt und Division zweier komplexer Zahlen lassen sich nun einfach darstellen: Sei z1 = r1 exp(iϕ1 ) und z2 = r2 exp(iϕ2 ), dann ist z1 z2 = r1 r2 ei (ϕ1 +ϕ2 ) , 1.9 1.9.1 z1 r1 = ei (ϕ1 −ϕ2 ) . z2 r2 (1.11) Die n-ten Wurzeln aus einer komplexen Zahl Nichteindeutigkeit des Arguments Da es für das Verständnis des Folgenden besonders wichtig ist, wiederholen wir noch einmal folgende Tatsachen: Zwei komplexe Zahlen, deren Absolutbeträge gleich sind, deren Argumente sich aber um 2π (also 360◦ ) unterscheiden, sind gleich. Die Winkel ϕ und ϕ + 2πk beschreiben dieselbe Richtung in der komplexen Ebene (wobei k eine beliebige ganze Zahl ist). Es gilt also r eiϕ = r ei(ϕ+2kπ) Die Zuordnung zwischen einer komplexen Zahl z und dem Argument ϕ ist nicht eins-zu-eins. Die Argumentwinkel ϕ ∈ R und ϕ + 2kπ (mit k ∈ Z) (1.12) führen (bei gegebenem Betrag) beide auf dieselbe komplexe Zahl z. Es ist somit zwar die Zuordnung (r, ϕ) 7→ z eine Funktion, aber die umgekehrte Zuordnung von z zu Polarkoordinaten (r, ϕ) ist keine Funktion, da ϕ nicht eindeutig ist — außer, man schränkt ϕ auf ein Intervall der Länge 2π ein, indem man z.B. nur den Hauptargumentwinkel betrachtet. 1.9.2 Problemstellung Wir wollen die Gleichung zn = a + i b (1.13) lösen. Dabei ist die komplexe Zahl a + i b gegeben. Gesucht sind alle komplexen Zahlen, deren n-faches Produkt mit sich selbst die Zahl a + i b ergibt. Für unsere Lösungsmethode schreiben wir die Angabe z n = a + i b in der Polarform: a + i b = R eiα 18 √ a2 + b2 und α = arg(a + i b). Und ebenso schreiben wir Dabei ist R = |a + i b| = z = r eiϕ , daher: z n = rn einϕ . In Polarform lautet die Gleichung (1.13) also rn einϕ = R eiα . (1.14) R und α sind gegeben, r und ϕ sind gesucht. 1.9.3 Bestimmung der Lösungen Damit (1.14) gilt, müssen die Beträge rechts und links gleich sein, die Argumente können sich aber um ganzzahlige Vielfache von 2π unterscheiden: rn = R , nϕ = α + 2kπ , k = 0, ±1, ±2, . . . Daraus kann man nun ganz leicht den Betrag und die in Frage kommenden Argumente bestimmen: r = |z| = R1/n positive n-te Wurzel α k + 2 π , k = 0, ±1, ±2, . . . n n Verschiedene Lösungen erhält man allerdings nur für k = 0, 1, 2, . . . , n − 1. Die Lösung für k = n ist nämlich wieder genau dieselbe wie für k = 0, denn die Argumente ϕ = α/n + 2π und ϕ = α/n beschreiben dieselbe komplexe Zahl. ϕ= 1.9.4 Zusammenfassung: n-te Wurzeln Die Gleichung z n = R ei α hat n verschiedene Lösungen z0 , z1 , . . . , zn−1 , die man aus der Formel 1 zk = R n eiϕk (1.15) mit α 2π +k n n bestimmt, indem man k = 0, 1, 2, . . . , n − 1 setzt. ϕk = 19 (1.16) 1.9.5 Einheitswurzeln Besonders wichtig ist die Gleichung zn = 1 . (1.17) Ihre Lösungen werden n-te Einheitswurzeln genannt. Sie liegen alle auf dem Einheitskreis in der komplexen Ebene. In Polarform lauten die Einheitswurzeln gemäß (1.15) und (1.16) zk = e2ikπ/n , k = 0, 1, 2, . . . , n − 1 . (1.18) Da die Argumente von zk und zk−1 sich immer um denselben Betrag 2π/n unterscheiden, bilden die n-ten Einheitswurzeln die Eckpunkte eines regelmäßigen n-Ecks. Einer der Eckpunkte ist z = 1. 1.9.6 Der Fundamentalsatz der Algebra Die zuvor betrachteten Gleichungen z n = w sind ein Spezialfall des folgenden Problems: Finde alle (komplexen) Lösungen der Gleichung z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = 0. (Wobei a0 , a1 , . . . , an−1 beliebige komplexe Zahlen sind). Es geht hier offenbar darum, alle Nullstellen eines Polynoms n-ten Grades zu finden. Eine allgemeine Lösung dieses Problems ist für n ≥ 5 nicht möglich, aber immerhin gibt es eine Existenzaussage: Theorem 1.3 Fundamentalsatz der Algebra: In der Menge der komplexen Zahlen kann jedes Polynom vom Grad n ≥ 1 als ein Produkt von n linearen Faktoren dargestellt werden: Das heißt, es gibt komplexe Zahlen z1 , . . . zn , sodass z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = (z − z1 )(z − z2 ) . . . (z − zn ). Offenbar sind die Zahlen zk (k = 1, . . . n) die Nullstellen des Polynoms. Selbstvertändlich müssen sie nicht alle voneinander verschieden sein. Im Raum der komplexen Zahlen hat ein Polynom n-ten Grades also immer n (nicht unbedingt voneinander verschiedene) Nullstellen. Dieser Satz ist, wie wir wissen, falsch innerhalb der reellen Zahlen. Bereits das Polynom z 2 + 1 hat in den reellen Zahlen keine einzige Nullstelle. 20 1.10 Elementare komplexe Funktionen 1.10.1 Exponentialfunktion Die Funktion ( R → z ∈ C |z| = 1 u: x 7→ u(x) = eix bildet die reellen Zahlen auf den Einheitskreis in der komplexen Ebene ab. Wenn x die reellen Zahlen durchläuft, dann läuft die Zahl eix auf dem Einheitskreis herum. Diese Funktion ist periodisch: u(x + 2kπ) = u(x), für alle x ∈ R und k ∈ Z. Wir können ez aber auch für eine beliebige komplexe Zahl z = x+i y definieren. Es ist aufgrund der Rechenregeln für Potenzen ez = ex+i y = ex ei y (1.19) eine komplexe Zahl mit Absolutbetrag ex und Argument y. Die Zuordnungsvorschrift ( C→C exp z 7→ exp(z) = ez ist die komplexe Exponentialfunktion. Für reelle z = x + i0 reduziert sich ez auf die normale reelle Exponentialfunktion ex , für imaginäre z = iy auf die oben definierte Funktion u(y). In der komplexen Ebene steigt die Exponentialfunktion z → ez in der xRichtung dem Betrag nach exponentiell an: |ez | = |ex | und ist in der y-Richtung 2π-periodisch: ez = ez+2kπi , für alle z ∈ C und alle k ∈ Z. (1.20) Wegen der Periodizität in y-Richtung genügt es, die Werte von exp(z) für z zum Beispiel in der Menge D = z = x + iy ∈ C −π < y ≤ π (1.21) zu kennen. Dieser Bereich ist ein Streifen der Breite 2π parallel zur x-Achse in der komplexen Zahlenebene. Die Werte von exp(z) für z außerhalb dieses Bereichs erhält man mit der Formel (1.20). 21 Theorem 1.4 (Exponentialfunktion mit eingeschränktem Definitionsbereich): Die Funktion ( z Im z ∈ (−π, π] → C \ {0} exp : (1.22) z = x + i y 7→ exp(z) = ex eiy ist bijektiv. Beweis: Sei w1 = ex1 +iy1 und w2 = ex2 +iy2 , mit y-Werten aus dem angegebenen Bereich. Aus w1 = w2 folgt die Gleichheit der Beträge. Somit ist ex1 = |w1 | = |w2 | = ex2 und daher x1 = x2 , denn die reelle Exponentialfunktion ist injektiv. Ausserdem folgt aus w1 = w2 die Gleichheit der Hauptargumentwinkel und daher y1 = y2 . Daher ist x1 + iy1 = x2 + iy2 . Daher ist x + iy → ex+iy für y ∈ (−π, π]. Das ist die Injektivität. Für die Surjektivität müssen wir zeigen, dass zu jedem w ∈ C \ {0} ein z ∈ D gefunden werden kann, sodass ez = w. Jedes w 6= 0 kann eindeutig in der Form w = R eiα geschrieben werden, wobei R > 0 der Betrag und α der Hauptargumentwinkel ist (−π < α ≤ π), siehe Abschnitt 1.6.2. Wählen wir z = x + iy mit x = ln R und y = α. Dann ist ez = ex ei y = eln R ei y = R ei α = w. Damit ist die Surjektivität gezeigt. Da exp : D → C\{0} also injektiv und surjektiv ist, ist exp dort auch bijektiv. 1.10.2 Logarithmus Den komplexen Logarithmus werden wir als Umkehrfunktion der komplexen Exponentialfunktion definieren. Dazu müssen wir zunächst ihren Definitionsbereich einschränken. Wenn man nun eine Umkehrfunktion zur komplexen Exponentialfunktion definieren will, muss man diese zuerst auf einen Definitionsbereich einschränken, auf dem sie injektiv ist. Wir wählen den Bereich D aus Gleichung 1.21. Dort definiert man als Umkehrfunktion die folgende Funktion: ( C \ {0} → z Im z ∈ (−π, π] ln : (1.23) w = R eiα 7→ z = ln w = ln R + iα Dabei ist R der Betrag und α der Hauptargumentwinkel von w. Man prüft leicht nach, dass exp(ln w) = eln R+iα = eln R eiα = R eiα = w 22 und (da die komplexe Zahl ez für z in obigem Streifen den Betrag ex und den Hauptargumentwinkel y hat) ln exp(z) = ln(ex eiy ) = ln(ex ) + iy = x + iy = z Die Funktion w 7→ ln w heißt Hauptzweig des Logarithmus. Die Funktion ln hat entlang der negativen reellen Achse einen Sprung“. Über” quert man die negative reelle Achse, indem man bei x < 0 den Imaginärteil y von kleinen positiven zu kleinen negativen Werten gehen lässt, so muss w = ln(x + iy) von ln R + π plötzlich auf ln R − π springen (da der Hauptargumentwinkel von z = x + iy von π auf −π springt. Gleichungen mit ez : Sei w eine gegebene komplexe Zahl. Wir suchen alle Lösungen z ∈ C der Gleichung w = ez . Da die Abbildung z → ez nicht injektiv ist, lässt sich diese Beziehung nicht eindeutig nach z auflösen. Wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben, ist z = ln w eine Lösung. Allerdings hat diese Gleichung unendlich viele weitere Lösungen, da die komplexe Exponentialfunktion periodisch vom Im z abhängt. Schreiben wir w = R ei α und z = x + iy, so gilt ja folgendes: R ei α = ex eiy , (1.24) Gleichheit gilt, wenn erstens die Beträge gleich sind, also R = ex bzw. x = ln R, und wenn zweitens die Argumente bis auf Vielfache von 2π übereinstimmen: α + 2kπ = y (1.25) Die Lösungen zk von w = ez sind also: zk = ln R + i (α + 2kπ) , k = 0, ±1, ±2, . . . . Wenn α der Hauptargumentwinkel von w ist, können wir das so schreiben: zk = ln w + 2i kπ, k ∈ Z, wobei ln der Hauptzweig des Logarithmus ist. Bemerkung: Schränkt man bei Definition der Exponentialfunktion z 7→ ez auf einen anderen Streifen der Breite 2π ein, z.B., auf das Intervall 0 ≤ ϕ < 2π, so erhält man wieder eine bijektive Funktion, die man invertieren kann. In diesem Fall wäre die Umkehrfunktion durch Ln w = ln(R ei α ) = ln r + iα, 23 0 ≤ α < 2π (1.26) gegeben. Das ist derselbe Ausdruck wie vorher, allerdings ist α jetzt nicht der Hauptargumentwinkel von w und die Funktion Ln unterscheidet sich für w in der unteren komplexen Halbebene von ln. Die Funktion Ln hat dann eine Unstetigkeit entlang der positiven reellen Achse, wo bei Überquerung von unten her der Hauptargumentwinkel der komplexen Zahl z von 2π auf 0 springen muss. 1.10.3 Wurzel Ein ähnliches Problem ergibt sich bei der Definition der Wurzel. Da die Gleichung z 2 = w für w 6= 0 zwei Lösungen hat, nämlich p p z1 = |w| ei(arg w)/2 und z2 = |w| ei(arg w)/2+iπ = −z1 , (1.27) sieht man, dass die Funktion z → w = z 2 nicht injektiv ist. Daher kann man z als Funktion von w nicht eindeutig angeben. Wir können aber den Definitionsbereich der Quadratfunktion einschränken, damit sie injektiv wird: Wählen wir zum Beispiel D+ = {z | arg z ∈ (−π/2, π/2]} (Dieser Bereich ist die rechte Halbebene“ {z | Re z > 0} vereinigt mit der ” nichtnegativen imaginären Achse {z = iy | y ≥ 0}). Die Gleichung z 2 = w hat für alle w ∈ C genau eine Lösung D+ . Die Funktion z → z 2 ist bijektiv von D+ nach C. Wir definieren die Umkehrfunktion wie folgt. Sei w ∈ C beliebig. Schreibe w = R eiα in Polarform mit dem Hauptargumentwinkel (−π < α ≤ π) und setze √ √ w = R eiα/2 . (1.28) √ √ Das Argument von w liegt offensichtlich im Bereich√ (−π/2, π/2], daher liegt w in D+ . Für reelle und positive z ist der Hauptzweig z gerade die positive reelle Wurzel. Die Lösungen der Gleichung z 2 = w lassen sich mit dieser Definition √ √ immer als z1 = w und z2 = − w schreiben. Die Wurzel ist unstetig entlang der negativen reellen Achse. Wenn arg w = α gegen π strebt strebt von oben p gegen die negative reelle Achse), dann √ (d.h., z p iπ/2 konvergiert w gegen |w| e = i |w|. Wenn hingegen α gegen √ −π strebt (d.h. strebt von p w−iπ/2 punten gegen die negative reelle Achse), dann geht w gegen |w| e = −i √|w|. Bei der Überquerung der negativen reellen Achse wechselt also die Funktion w ihr Vorzeichen. Eine beliebige komplexe Potenz z α , wobei α eine komplexe Zahl sein darf, definiert man mit Hilfe der Formel z α = eα ln z . (1.29) Auch solche Ausdrücke sind im allgemeinen mehrwertig und werden erst bei Einschränkung der Argumente von z zu Funktionen im eigentlichen Sinn. 24 1.10.4 Trigonometrische Funktionen und Hyperbelfunktionen Mit Hilfe der Exponentialfunktion kann man komplexe Varianten aller elementarer Funktionen definieren. Sinus und Cosinus für imaginäre Zahlen haben wir schon definiert. Analog schreibt man: sin z = ei z − e−i z , 2i Nun definiert man z.B. tan z = cos z = ei z + e−i z . 2 ei z − e−i z . i (ei z + e−i z ) Diese Funktionen haben analoge Eigenschaften wie ihre reellen Vorbilder: sin2 z + cos2 z = 1 , sin(−z) = − sin z , cos(−z) = cos z , ebenso gelten die Summensätze unverändert. Erweitert man auch die Definition der Hyperbelfunktionen auf komplexe Argumente, ergibt sich der Zusammenhang sin(iz) = i sinh z , 1.10.5 cos(iz) = cosh z . Visualisierung Zur Visualisierung von komplexen Funktionen kann man sich die komplexe Zahlenebene eingefärbt denken, so daß jede komplexe Zahl eine eindeutige Farbe bekommt. Ein Beispiel zeigt die Abbildung 1.4. Der hier gezeigte Farbcode hat den Farbton rot für die positiv-reellen Zahlen. Dann folgen (jeweils im Argumentwinkelabstand π/3) die Regenbogenfarben gelb, grün, cyan (blaugrün), blau, magenta (rot-violett). Dabei entspricht dem negativen einer jeden komplexen Zahl die sogenannte Komplementärfarbe (Komplementärfarbenpaare sind rot-cyan, gelb-blau, grün-magenta). Die Helligkeit der Farbe symbolisiert den Absolutbetrag. Die komplexe 0 wird schwarz, Zahlen mit großem Betrag werden annähernd weiß dargestellt. Bei dieser Farbabbildung kann die Addition zweier komplexer Zahlen als Farbmischung interpretiert werden (rot+grün = gelb, blau + grün = cyan, etc.) Eine komplexe Funktion bildet nun die komplexe Ebene wieder in die komplexe Ebene ab. Um die komplexen Abbildung f zu visualisieren, plottet man an jeder Stelle z der komplexen Zahlenebene die Farbe des Bildpunktes w = f (z). Als Beispiel zeigen wir hier eine Visualisierung der Sinusfunktion (siehe Abbildung 1.5) Eine große Anzahl solcher Visualisierungen findet man auf der Web-Seite: http://math.uni-graz.at/vqm/pages/complex/index.html 25 Abbildung 1.4: Farbcode für komplexe Zahlen, bei dem der Farbton das Argument, die Helligkeit den Absolutbetrag kodiert. Die negative komplexe Zahl entspricht der Komplementärfarbe. 2 1 0 -1 -2 -Π 0 Π Abbildung 1.5: Die komplexe Sinusfunktion. Auf der reellen Achse wechseln sich positive (rot) und negative Werte (blaugrün) periodisch ab (reelle Sinusfunktion). Auf der imaginären Achse ist auch der Sinus imaginär (gelbgrün, bzw. violett) und wächst im Betrag exponentiell an. 26 1.11 Differentiation im Komplexen Die Verallgemeinerung der Differential- und Integralrechnung auf komplexe Funktionen ist ein großes und wichtiges Gebiet der Mathematik, das Funktionentheorie genannt wird. Zunächst definiert man Grenzwert und Stetigkeit für komplexe Funktionen f : D ⊂ C → C genauso wie für reelle Funktionen: Die Funktion f hat einen Grenzwert für z → z0 , lim f (z) = ω z→z0 genau dann, wenn folgende Aussage gilt: ∀(ε > 0) ∃(δ > 0) ∀(z ∈ D) : |z − z0 | < δ =⇒ |f (z) − ω| < ε Diese Definition ist identisch mit der Definition des Grenzwertes bei reellen Funktionen. Der einzige Unterschied ist, dass die Größen komplex sind und die Betragsstriche somit den Absolutbetrag komplexer Zahlen bedeuten. Eine Funktion heißt stetig an der Stelle z0 , wenn z0 im Definitionsbereich ist und lim f (z) = f (z0 ) z→z0 gilt. Übung 1 Zeige, dass nach dieser Definition die Funktion ( 0, z=0 f (z) = z/z, z 6= 0 an der Stelle z0 unstetig ist. Es ist auch nicht möglich den Wert bei 0 so abzuändern, dass die Funktion stetig wird. Eine komplexe Funktion f : C → C heisst nun differenzierbar an der Stelle z ∈ C, wenn der Differenzialquotient f (z + h) − f (z) h einen Limes h → 0 (in der Menge der komplexen Zahlen, also im oben definierten Sinn) hat. Man bezeichnet den Grenzwert dann wieder als Ableitung von f an der Stelle z: f (z + h) − f (z) f 0 (z) = lim . h→0 h Übung 2 Zeige, dass die Funktion f (z) = z an keiner Stelle z ∈ C differenzierbar ist. 27 Kapitel 2 Folgen 2.1 Definitionen Eine Folge ist eine Abbildung a, deren Definitionsbereich die natürlichen Zahlen N = {1, 2, 3, 4, . . .} sind. Wir schreiben an , n = 1, 2, 3, . . . für die Bildelemente. 1 2 3 4 ··· ↓ ↓ ↓ ↓ a1 a2 a3 a4 · · · Wir werden hier nur Folgen betrachten, deren Werte in den reellen oder komplexen Zahlen liegen. Es sind aber auch Folgen von Vektoren, oder Folgen von Funktionen von Bedeutung. Notation: Wir fassen die Bildelemente zu einem “∞-Tupel” zusammen: a = (an ) = (a1 , a2 , a3 , a4 , . . .). Ob der erste vorkommende Index 1 oder 0 oder auch eine andere (ganze) Zahl ist, ist eigentlich egal. Wenn man den Indexbereich angeben will, schreibt man auch a = (an )∞ n=1 . Beispiele: 1) a = (1, 1, 1, 1, . . .) - eine konstante Folge 2) a = (1, 2, 3, 4, . . .) - Folge der natürlichen Zahlen 3) a = (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, . . .) - erkennen Sie das Bildungsgesetz dieser Folge? 4) a = (1, 21 , 13 , 14 , 15 , . . .) 5) a = (1, − 21 , 13 , − 41 , 15 , − 16 . . .) 28 6) an = 1 + (−2)n 7) an = in Folgen sind sowas wie unendlichdimensionale Vektoren. Tatsächlich kann man zwei Folgen a und b addieren und mit einem Skalar λ multiplizieren, indem man diese Operationen “elementweise” definiert: a + b = (a1 + b1 , a2 + b2 , a3 + b3 , . . .) λ a = (λa1 , λa2 , λa3 , . . .) Die Menge aller Folgen bildet auf diese Weise einen sogenannten Vektorraum“. ” Hier sind noch ein paar naheliegende Definitionen: Definition 2.1 (Monotonie) Eine Folge reeller Zahlen (an ) ist a) monoton nichtwachsend, falls an+1 ≤ an für alle n b) (streng) monoton fallend, falls an+1 < an für alle n c) monoton nichtfallend, falls an+1 ≥ an für alle n c) (streng) monoton wachsend, falls an+1 > an für alle n Definition 2.2 (Beschränktheit) Eine Folge reeller oder komplexer Zahlen (an ) ist beschränkt, falls es ein M ∈ R gibt, sodass |an | ≤ M für alle n. Eine Folge reeller Zahlen (an ) ist von oben beschränkt, falls es ein M ∈ R gibt, sodass an ≤ M für alle n. (Die Zahl M heißt dann obere Schranke“ der ” Folge). Eine Folge reeller Zahlen (an ) ist von unten beschränkt, falls es ein M ∈ R gibt, sodass an ≥ M für alle n. (Die Zahl M heißt dann untere Schranke“ der ” Folge). 2.2 2.2.1 Konvergente Folgen Konvergenz und Divergenz Definition 2.3 Eine Folge heißt konvergent mit Limes L, falls es für alle ε > 0 einen Folgenindex N gibt, sodass |an − L| < ε für alle n > N gilt: ∀ (ε > 0) ∃ (N ∈ N) ∀ (n > N ) : |an − L| < ε Bei einer konvergenten Folge kann man also zu jedem beliebig kleinen ε einen Folgenindex N finden, ab dem sich alle weiteren Folgenglieder näher als im Abstand ε bei L befinden. In der Regel gilt dabei, dass N umso größer gewählt werden muss, je kleiner ε vorgegeben wird. Im Falle der Konvergenz schreibt man lim an = L. n→∞ 29 a1 ε L a3 a2 1 2 3 4 5 6 7 8 ... Abbildung 2.1: Konvergenz einer reellen Zahlenfolge: Bei einer konvergenten Folge gibt es zu jedem ε > 0 einen Folgenindex (hier N = 6), sodass alle Folgenglieder mit Index n > N in einem < ε-Band“ um L liegen. ” Folgen, die nicht konvergieren, nennt man divergent. Beispiele: Von den Beispielen im vorherigen Abschnitt sind die Folgen 1), 4), und 5) konvergent, die anderen Folgen divergieren. Einige Methoden, solche Aussagen zu begründen, werden wir noch kennenlernen. Für das Rechnen mit Folgenlimiten ist der folgende Satz nützlich: Theorem 2.1 Seien a und b konvergente Folgen. Dann gilt lim (an ± bn ) = lim an ± lim bn n→∞ n→∞ n→∞ lim an bn = ( lim an ) ( lim bn ) n→∞ lim n→∞ n→∞ n→∞ limn→∞ an an = , falls bn 6= 0 und lim bn 6= 0. bn limn→∞ bn lim acn = ( lim an )c n→∞ n→∞ Daraus folgt insbesondere, dass die Summe zweier konvergenter Folgen wieder konvergent ist, ebenso das skalare Vielfache einer Folge. Die Menge der konvergenten Folgen bildet aus diesem Grund ebenfalls einen Vektorraum. 2.2.2 Die Konvergenz direkt nachprüfen Wir betrachten als Beispiel die Folge, die durch n2 + 2n an = 2 , n +5 30 n = 1, 2, 3, . . . definiert ist. Dividiert man Zähler und Nenner durch n2 , sieht man, dass 1 + n2 1 an = = 1 für große n 5 ≈ 1 1 + n2 ist. Wir vermuten also, dass der Limes L = 1 sein wird. Um diese Vermutung anhand der Definition der Folgen-Konvergenz zu beweisen gehen wir wie folgt vor: Wir vereinfachen zunächst die in der Definition der Konvergenz vorkommende Ungleichung, indem wir den Ausdruck |an − L| nach oben großzügig abschätzen: 2 2n − 5 n + 2n ≤ 2n + 5 − 1 = 2 |an − L| = 2 n +5 n + 5 n2 + 5 n2 + 5 wobei wir die Dreiecksungleichung benützt haben. Da 5 < 2n für n ≥ 3 gilt, können wir weiter abschätzen: 2n 5 2n 2n 4n 4n 4 + 2 ≤ 2 + 2 ≤ 2 < 2 = +5 n +5 n +5 n +5 n +5 n n n2 Die Ungleichung |an − L| < ε folgt also, wenn 4 n (für n ≥ 3). < ε bzw.: 4 <n ε Wenn wir also N als natürliche Zahl > 4ε (und auch ≥ 3) wählen, gilt für alle n > N , dass 4 |an − L| < < ε für alle n > N . n 2.2.3 Cauchyfolgen Eine Folge (an ) nennt man eine Cauchyfolge, falls sie folgende Eigenschaft hat. ∀( > 0) ∃(N ∈ N) ∀(m, n ≥ N ) : |an − am | < Anschaulich bedeutet das, dass sich ab einem gewissen Index N alle weiteren Folgenglieder nahe beieinander befinden. Jede konvergente Folge ist auch eine Cauchyfolge. (Beweis als Übung). Die umgekehrte Aussage, nämlich dass jede Cauchyfolge konvergiert, ist eine wichtige Eigenschaft der zugrundeliegenden Zahlenmenge. Definition 2.4 Eine Zahlenmenge M heißt vollständig, wenn jede Cauchyfolge (an ) mit an ∈ M einen Grenzwert in M besitzt. 31 Die Menge der rationalen Zahlen ist nicht vollständig. Das heißt, es gibt Cauchyfolgen rationaler Zahlen, die nicht gegen eine rationale Zahl konvergieren. Die Zahlenmengen R und C sind vollständig. Theorem 2.2 In der Menge der reellen oder komplexen Zahlen ist jede Cauchyfolge konvergent. Eine in unserem Zusammenhang wichtige Konsequenz der Vollständigkeit reeller Zahlen ist der folgende Satz: Theorem 2.3 Falls eine Folge (an ) von oben beschränkt ist, dann gibt es eine kleinste obere Schranke, d.h., es gibt ein L ∈ R mit a) an ≤ L für alle n b) Falls K < L, dann ist K nicht obere Schranke von (an ) Analog: Eine von unten beschränkte Folge hat eine größte untere Schranke. (Beweis siehe Analysis) 2.2.4 Beschränkte monotone Folgen sind konvergent Theorem 2.4 Eine reelle Zahlenfolge, die von oben beschränkt und monoton nichtfallend ist, ist auch konvergent. Ebenso ist eine reelle Zahlenfolge, die von unten beschränkt und monoton nichtwachsend ist, konvergent. Beweis: Wir nehmen an, an ist eine monoton nichtfallende Folge a1 ≤ a2 ≤ a3 ≤ . . . die von oben beschränkt ist. Wegen Theorem 2.3 gibt es eine kleinste obere Schranke L. Sei nun > 0 beliebig vorgegeben. Es ist L − < L und daher ist L − keine obere Schranke von (an ). Es gibt also mindestens ein Folgenglied das größer als L − ist: L − < aN für ein N ∈ N. Wegen der Monotonie ist natürlich an ≥ aN für alle n ≥ N , also L − < an < L für alle n ≥ N und daher ist auch |L − an | < für alle n ≥ N . Da beliebig gewählt werden konnte, haben wir damit gezeigt, dass L der Limes von (an ) ist. lim an = L n→∞ 32 2.2.5 Sandwichsatz Theorem 2.5 Es sei (cn ) eine Folge reeller Zahlen und es seien (an ) und (bn ) konvergente Folgen mit lim an = L = lim bn . n→∞ n→∞ Es existiere ein N ∈ N, sodass an ≤ c n ≤ b n für alle n > N . Dann ist auch lim cn = L n→∞ 2.3 2.3.1 Limiten von Folgen und Funktionen Folgen von Funktionswerten Theorem 2.6 Sei f eine Funktion. Die Aussage lim f (x) = L x→c ist gleichbedeutend mit der Aussage lim f (an ) = L n→∞ für alle Folgen a mit Limes c. Diese Aussage gilt auch für uneigentliche Grenzwerte (c = ±∞ oder L = ±∞). Betrachten wir also z.B. eine Funktion f : R → R, und die Folge ∞ f (n) n=1 dann gilt, falls f einen Limes für x → ∞ hat, lim f (x) = lim f (n) x→∞ n→∞ Aus dem schon bekannten asymptotischen Verhalten einiger Funktionen kann man also auf das Konvergenzverhalten einiger spezieller Folgen ableiten. Zum Beispiel: 1 1 lim = 0 impliziert lim = 0. n→∞ n x→∞ x x lim e = ∞ impliziert lim en = ∞. x→∞ n→∞ Das ist manchmal nützlich, denn das asymptotische Verhalten von Funktionen kann mit Mitteln der Differentialrechnung oft leicht bestimmt werden. Um das zu illustrieren, holen wir im nächsten Abschnitt die Regel von de l’Hopital nach. 33 2.3.2 Regel von de l’Hopital Theorem 2.7 Seien f und g differenzierbar auf einem offenen Intervall (a, b) um den Punkt c, außer eventuell am Punkt c selbst. Sei g 0 (x) 6= 0 für x 6= c, und sei lim f (x) = 0 = lim g(x) x→c Dann gilt x→c f (x) f 0 (x) = lim 0 x→c g(x) x→c g (x) lim 34 Kapitel 3 Unendliche Reihen 3.1 3.1.1 Reihen und Partialsummen Definitionen Definition 3.1 Falls (an )∞ n=0 eine Folge von (reellen oder komplexen) Zahlen ist, nennt man den Ausdruck ∞ X an = a0 + a1 + a2 + . . . + an . . . n=0 eine unendliche Reihe. Statt unendlicher Reihe“ sagt man oft auch einfach Reihe“. Oft beginnt die ” ” Summation auch bei 1 oder einem anderen Index. Die Folge (an ) nennen wir oft auch Folge der Summanden“. ” P Definition 3.2 Man nennt die Reihe an konvergent, falls die Folge der Partialsummen SN = a0 + a1 + a2 + . . . + aN P konvergiert. Der Limes der Folge (SN ) heißt Summe der Reihe an : S = lim SN = N →∞ Man nennt die Reihe 3.1.2 P ∞ X n=0 an = lim N →∞ N X an n=0 an divergent, falls die Folge (SN ) divergiert. Divergente Reihen Die Reihe mit an = 1 für alle n, ∞ X 1 = 1 + 1 + 1 + ..., n=1 35 ist offensichtlich divergent, da die Folge der Partialsummen gegen Unendlich divergiert. Hier ist ein raffinierteres Beispiel: Sei an = (−1)n . Dann ist die Reihe ∞ X (−1)n = 1 − 1 + 1 − 1 + 1 − 1 . . . n=0 divergent, denn die Folge der Partialsummen ist (SN ), mit ( 1, für N gerade, SN = 0, für N ungerade. Diese Folge ist divergent (sie hat zwei verschiedene Häufungspunkte). Man könnte sich aber andere Summationsweisen ausdenken, mit denen man der unendlichen Summe einen Sinn gibt: 1 − 1 + 1 − 1 + 1 − 1 + . . . = (1 − 1) + (1 − 1) + (1 − 1) + . . . = 0 + 0 + 0 + . . . = 0 oder 1 − 1 + 1 − 1 + 1 − 1 + . . . = 1 + (−1 + 1) + (−1 + 1) . . . = 1 + 0 + 0 + . . . = 1 Mit solchen Ausdrücken ist also besondere Vorsicht geboten. Manchmal führt man neue Summationsbegriffe ein, um einer größeren Anzahl von unendlichen Reihen einen Sinn zu geben. Dazu regularisiert“ man zunächst ” die Summe wie beim Begriff der Abel-Summierbarkeit: Definition 3.3 Eine unendliche Reihe heißt Abel-summierbar, wenn der Ausdruck ∞ X SAbel = lim an r n r→1− n=0 existiert. P n Dabei ist der Ausdruck ∞ n=0 an r sehr oft im gewöhnlichen Sinn konvergent, wenn r < 1 ist. Weitere Summationsbegriffe für unendliche Reihen sind zB. die Cesàro Summe und die Borel Summe. Je nachdem, welchen Summationsbegriff man verwendet, erhält man unterschiedliche Mengen summierbarer Folgen. 3.2 3.2.1 Einige Beispiele Teleskopreihen In der Reihe mit der Summandenfolge an := 1 1 − n n+1 36 kann man die Partialsummen überraschend leicht berechnen: N X 1 1 1 1 1 1 1 1 1 − = 1− + − + − ) + ... + − n n+1 2 2 3 3 4 N N +1 n=1 1 1 1 1 1 − )− − ) − ... − 2 2 3 3 N +1 1 =1− N +1 =1− und daher ist N ∞ X X 1 1 1 1 1 − − = lim = lim 1 − =1 N →∞ N →∞ n n+1 n n+1 N +1 n=1 n=1 Dieses Beispiel lässt sich leicht verallgemeinern. Sei (bn )∞ n=1 eine Folge. Dann ist die unendliche Reihe ∞ X bn − bn+1 n=1 genau dann konvergent, wenn die Folge (bn ) konvergiert . Es ist nämlich (wegen des Teleskopeffekts“) die N -te Partialsumme gleich ” N X bn − bn+1 = b1 − bN +1 n=1 und wenn L = lim bn n→∞ = lim bN +1 N →∞ dann ist der Limes der Partialsummen und somit der Wert der unendlichen Reihe gleich b1 − L. 3.2.2 Eine geometrische Reihe Hier ist ein Beispiel für eine konvergente Reihe: ∞ X 1 1 1 1 1 = + + + + ... n 2 2 4 8 16 n=1 Es ist dies ein Beispiel für eine sogenannte geometrische Reihe. Bei ihr entsteht jeder Summand aus dem vorhergehenden durch Multiplikation mit einer festen 37 Zahl, hier 1/2. 1 2 1 1 3 S2 = + = 2 4 4 7 1 1 1 S3 = + + = 2 4 8 8 etc. S1 = Es ist SN = 1 1 1 + 2 + ... + N 2 2 2 und 1 1 + . . . + N −1 2 2 1 1 1 1 =1+ + . . . + N −1 + N − N 2 2 2 2 1 = 1 + SN − N 2 woraus wir leicht folgendes Resultat bekommen: 2SN = 1 + SN = 1 − 1 2N − 1 = 2N 2N (Ein anderer Beweis dieser Formel funktioniert mit (a) Erraten der Formel durch Untersuchung von S1 , S2 , S3 und (b) Anwenden der Methode der vollständigen Induktion). Aufgrund dieses Ausdrucks für SN berechnen wir nun leicht 1 1 lim SN = lim 1 − N = 1 − lim N = 1 − 0 = 1 N →∞ 2 N →∞ N →∞ 2 und daher 3.2.3 ∞ X 1 =1 2n n=1 Die harmonische Reihe ∞ X 1 1 1 1 1 = 1 + + + + + ... n 2 3 4 5 n=1 Man kann sich leicht überzeugen, dass diese Reihe divergiert. In der Summe fasse den 3. und 4. Term zusammen: 1 1 1 1 2 1 + > + = = 3 4 4 4 4 2 und die darauffolgenden 4 Terme zusammen ergeben 1 1 1 1 4 1 + + + > = 5 6 7 8 8 2 38 und genauso ist die Summe der die nächsten 8 Terme > 1/2 und die Summe der darauffolgenden 16 Terme > 1/2 usw. Die unendliche Summe enthält also unendlich viele Teil-Summanden, die alle größer als 1/2 sind. Die Folge der Partialsummen wächst daher nach jeweils endlich vielen Gliedern (also insgesamt unendlich oft) um jeweils mehr als 1/2 an. Sie muss also divergieren. 3.3 Rechenregeln für unendliche Reihen Theorem 3.1 Es seien eine Zahl. Dann gilt P an und ∞ X P bn konvergente unendliche Reihen, und c c an = c n=1 ∞ X ∞ X an n=1 (an + bn ) = n=1 ∞ X an + n=1 ∞ X bn n=1 Theorem 3.2 Für eine konvergente unendliche Reihe Summanden (an ) eine Nullfolge: ∞ X an konvergent =⇒ n=1 P an ist die Folge der lim an = 0 n→∞ Daraus ergibt sich ein einfacher Test, ob eine unendliche Reihe divergiert: Wenn die Folge der Summanden keine Nullfolge ist, dann divergiert die Reihe. Theorem 3.3 Summandenvergleich: Sei 0 ≤ an ≤ bn für alle n. Dann gelten folgende Aussagen: P P a) Wenn die Reihe P bn konvergiert, dann konvergiert auch an . P b) Wenn die Reihe an divergiert, dann divergiert auch bn . P Beweis: a) ist logisch äquivalent mit b). Sei bn = L. Die Partialsummenfolge PN P an ist ebenso wie die Partialsummenfolge N bn monoton nichtfallend, da die Summanden alle nichtnegativ sind. Außerdem ist N X an ≤ N X bn ≤ L. P Da also N an monoton und beschränkt ist, ist diese Partialsummenfolge ebenfalls konvergent. P P Im Falle von a) P heißt die Reihe bn eine konvergentePMajorante“ zu an . Im ” Falle von b) ist an eine divergente Minorante“ zu bn . ” 39 Theorem 3.4 Limesvergleich: Seien an > 0 und bn > 0 und an =L<∞ n→∞ bn P P Dann sind die Reihen an und bn entweder beide konvergent, oder beide divergent: ( ( ∞ ∞ X X konvergent konvergent an ⇐⇒ bn divergent divergent n=1 n=1 lim Beweis: Es gibt einen Index N , ab dem 0≤ an ≤ L + 1, bn (n > N ) also 0 ≤ an ≤ (L + 1)bn . P Nach Theorem 3.3 impliziert die Konvergenz von P P P bn also die Konvergenz von an . Die Aussage an divergent impliziert bn divergent ist dazu logisch äquivalent. Es gilt aber auch, dass bn 1 lim = an L P und analog wie vorher schließt man, dass die Konvergenz von an die KonverP P P genz von bn impliziert. Die Aussage bn divergent impliziert an divergent ist dazu logisch äquivalent. 3.4 Reihen und Integrale Theorem 3.5 Sei f eine nichtnegative, stetige, monoton nichtwachsende Funktion auf [1, ∞) mit f (n) = an , n = 1, 2, 3, . . . . Dann gilt: ( ( Z ∞ ∞ X konvergent konvergent an ⇐⇒ f (x) dx divergent divergent 1 n=1 Die Konvergenz des uneigentlichen Integrals ist dabei als Grenzwert von Riemann Integralen definiert: Z ∞ Z R f (x) dx = lim f (x) dx. 1 R→∞ 40 1 Beweis: Die N -te Partialsumme der Reihe ist N X SN = an = n=1 N X f (n) n=1 und da an = f (n) ≥ 0 ist die Folge (SN ) monoton, SN ≥ SN −1 . Betrachte das Intervall [1, N ]. Die Partialsumme SN −1 kann hier als eine Riemann Summe betrachtet werden, die zu einer Zerlegung des Intervalls in Teilintervalle der Länge 1 gehört. Offenbar ist, wegen der Monotonie der Funktion f , N −1 X Z N f (n) ≥ f (x) dx ≥ 1 n=1 N X f (n). n=2 Es gilt N Z SN −1 ≥ f (x) dx ≥ SN − a1 . (3.1) 1 Beweis für Konvergenz ⇒ Konvergenz“ und Divergenz ⇐ Divergenz“: ” ” Die Aussage, dass aus der Konvergenz der Reihe die Konvergenz des Integrals folgt, ist äquivalent zur Aussage, dass die Divergenz des Integrals die Divergenz der Reihe impliziert ((A ⇒ B) ⇔ (¬B ⇒ ¬A)). Nehmen wir also an, das uneigentliche Integral ist divergent. Dann ist wegen der Positivität des Integranden Z N f (x) dx = +∞. lim N →∞ 1 Daher muss auch SN divergieren, denn wegen(3.1) ist lim SN −1 = ∞ N →∞ und es gilt für jede Folge, dass lim SN −1 = lim SN . N →∞ N →∞ Beweis für Divergenz ⇒ Divergenz“ und Konvergenz ⇐ Konvergenz“: Nehmen ” ” wir an, das uneigentliche Integral sei konvergent, das heißt, es existiere eine Zahl L > 0, sodass Z N Z N S N − a1 ≤ f (x) dx ≤ lim f (x) dx = L N →∞ 1 1 also SN ≤ L + a1 Die Folge der Partialsummen ist also beschränkt. Da sie auch monoton ist, ist sie konvergent. 41 Beispiel 3.1 Die Reihe ∞ X 1 np n=1 konvergiert für p > 1 und divergiert für 0 < p ≤ 1. Beweis: Dazu kann der Integraltest“ (Theorem 3.5) herangezogen werden: Die ” Funktion f (x) = 1/xp ist positiv, stetig und monoton fallend für x ≥ 1 und p > 0. Das uneigentliche Integral berechnet man mit ( Z R Z ∞ 1 1 − (p−1)R 0 < p 6= 1 1 1 p−1 , p−1 dx = lim dx = lim p p R→∞ 1 x R→∞ ln R, x p=1 1 und der Limes ist 1/(p − 1) für p > 1 und unendlich für 0 < p ≤ 1. Für p = 1 ist uns dieses Resultat schon bekannt (harmonische Reihe). Für n = 2 ist die Reihe konvergent (die Summe der inversen Quadratzahlen). Leonhard Euler hat gezeigt, dass ∞ X 1 1 1 π2 1 =1+ + + + ... = . n2 4 9 16 6 n=1 Beispiel 3.2 Die Reihe ∞ X n=1 1 n ln n divergiert. Man kann zeigen, dass die Funktion f (x) = 1/(x ln x) die Voraussetzungen von Theorem 3.5 erfüllt (Übung). Es ist Z ∞ R 1 dx = lim ln(ln R) = ∞ R→∞ x ln x 2 2 3.5 Alternierende Reihen Eine Reihe, deren Summanden abwechselndes Vorzeichen haben, heißt alternierende Reihe. Falls an > 0 für alle n, dann ist also die Reihe ∞ X (−1)n+1 an = a1 − a2 + a3 − a4 + . . . n=1 eine alternierende Reihe, ebenso wie die Reihe ∞ X (−1)n an = −a1 + a2 − a3 + a4 − . . . , n=1 die sich im Falle der Konvergenz von der ersteren nur um ein Vorzeichen unterscheidet. 42 Theorem 3.6 (Leibniz-Kriterium) Die alternierende Reihe ∞ X (−1)n+1 an , (mit an > 0 für alle n) n=1 ist konvergent, falls die Folge der Summanden eine monoton nichtwachsende Nullfolge ist, also falls (1) lim an = 0, (2) an+1 ≤ an und n→∞ für alle n gilt. Falls diese Bedingungen erfüllt sind, gilt die Fehlerabschätzung |S − SN | ≤ aN +1 (dabei ist S die Summe und SN die n-te Partialsumme der alternierenden Reihe). Beweis: Die 2N -te Partialsumme kann wegen der Monotonie als Summe von N positiven Termen geschrieben werden: S2N = (a1 − a2 ) + . . . + (a2N −1 − a2N ) Daher ist die Folge (S2N )∞ N =1 monoton nichtfallend: S2(N +1) = S2N + (a2N +1 − a2(N +1) ) ≥ S2N Es ist aber auch S2N = a1 − (a2 − a3 ) − (a4 − a5 ) − . . . − (a2N −2 − a2N − ) − a2N ≤ a1 da hier von a1 lauter nichtnegative Ausdrücke abgezogen werden. Es ist also die Folge (S2N ) beschränkt und monoton. Daher ist diese Folge konvergent. Nun ist lim S2N −1 = lim S2N − (−1)2N +1 a2N = lim S2N − lim a2N = lim S2N N →∞ N →∞ N →∞ N →∞ N →∞ da (a2N ) laut Voraussetzung eine Nullfolge ist. Es konvergieren also die Folgen (S2N ) und (S2N −1 ) gegen denselben Limes. Daher konvergiert auch die Folge (SN ) gegen diesen Limes. Nach der Definition für Konvergenz von unendlichen Reihen konvergiert daher die gegebene alternierende Reihe. Für die Fehlerabschätzung betrachten wir nun ∞ N X X n+1 S − SN = (−1) an − (−1)n+1 an n=1 = (−1) n=1 N +2 aN +1 + (−1)N +3 aN +2 + . . . = (−1)N +2 aN +1 − aN +2 + aN +3 − . . . und |S − SN | = aN +1 − (aN +2 − aN +3 ) − (. . .) − . . . Das heißt, |S − SN | unterscheidet sich von aN +1 um eine konvergente unendliche Reihe mit negativen Summanden. Daher ist |S − SN | ≤ aN +1 ). 43 3.6 Absolute und bedingte Konvergenz Theorem 3.7 Sei ∞ X P an eine reelle oder komplexe unendliche Reihe. Es gilt |an | konvergent =⇒ n=1 ∞ X an konvergent n=1 Beweis: Für die Partialsummenfolge Sn der Reihe gilt (wegen der Dreiecksungleichung für Beträge: |a + b| ≤ |a| + |b|). n n X X |Sn − Sm | = ak ≤ |an | k=m+1 k=m+1 Weil die Summe der Absolutbeträge konvergiert, wird dieser Ausdruck beliebig klein (kleiner als ein vorgegebenes ), falls m und n genügend groß gewählt werden (n > m > N ). Die Folge der Partialsummen ist also eine Cauchyfolge und daher in R oder C konvergent. . P P Definition 3.4 Die Reihe an heißt absolut konvergent, falls |an | konvergiert. P P Die Reihe a heißt bedingt konvergent, falls an konvergiert, aber n P |an | divergiert. Aus der absoluten Konvergenz folgt die Konvergenz der Reihe (Theorem 3.7). Beispiel 3.3 Die Reihe ∞ X (−1)n+1 n=1 n =1− 1 1 1 1 + − + − . . . = ln 2 2 3 4 5 (3.2) ist konvergent. (Wird später gezeigt). Die Reihe der Absolutbeträge der Summanden ist aber die harmonische Reihe ∞ X 1 , n n=1 von der wir wissen, dass sie divergent ist. Daher ist die Reihe (3.2) bedingt konvergent. 44 3.7 Quotienten- und Wurzelkriterium P Theorem 3.8 (Wurzelkriterium) Sei an eine unendliche Reihe mit nichtnegativen Summanden: an ≥ 0 für alle n. Es gelte lim (an )1/n = ρ (mit ρ ∈ [0, ∞]) n→∞ Dann gilt: 1. Die Reihe konvergiert, falls ρ < 1. 2. Die Reihe divergiert, falls ρ > 1. Anmerkung 1 Falls die Zahl ρ im Wurzelkriterium gleich 1 ist, ist keine Aussage möglich. Die Reihe kann konvergent sein, kann aber auch divergent sein. Anmerkung 2 Für eine Reihe mit beliebigen (reellen oder komplexen) Summanden erhalten wir mit dem Wurzelkriterium einen Test für absolute Konvergenz: Mit 1/n lim |an | =ρ n→∞ P folgt aus ρ < 1 die absolute Konvergenz der Reihe an . P Theorem 3.9 (Quotientenkriterium) Sei an eine unendliche Reihe mit positiven Summanden: an > 0 für alle n. Es gelte an+1 =ρ n→∞ an (mit ρ ∈ [0, ∞]) lim Dann gilt: 1. Die Reihe konvergiert, falls ρ < 1. 2. Die Reihe divergiert, falls ρ > 1. Anmerkung 3 Wieder ist im Falle ρ = 1 keine Aussage möglich. Die Reihe ist dann konvergent oder divergent. Für eine beliebige Reihen testet man mit dem Quotientenkriterium auf absolute Konvergenz: P Sei an mit an ∈ C eine unendliche Reihe. Falls an+1 = ρ < 1, lim n→∞ an dann ist die Reihe absolut konvergent, sonst divergent. 45 3.8 Taylorpolynome 3.8.1 Lineare Approximation Die Approximation durch eine affine Funktion (Geradenfunktion) ist eine der Grundideen der Differentialrechnung. Man möchte eine gegebene Funktion in der Nähe eines Punktes c durch eine Funktion der Form P1 (x) = a0 + a1 x approximieren. f (x) ≈ a0 + a1 x für x nahe bei c Wie muss man a0 und a1 wählen? Eine Bedingung für diese Wahl erhält man aus der Forderung, dass an der Stelle c Funktionswert f (c) und Ableitung f 0 (c) mit Funktionswert und Ableitung von P1 (x) = a0 + a1 x übereinstimmen sollen: ! f (c) = P1 (c) = a0 + a1 c, ! f 0 (c) = P10 (c) = a1 . Aus der zweiten Gleichung erhält man a1 = f 0 (c), und damit dann aus der ersten Gleichung a0 = f (c) − f 0 (c)c. Die approximierende affine Funktion wird dann zu P1 (x) = f (c) + f 0 (c)(x − c). Man kann auch aus der Eigenschaft der Differenzierbarkeit eine Aussage über den Fehler bei dieser Approximation machen. Wir bezeichnen diesen Fehler mit R1 (x) = f (x) − P1 (x) = f (x) − f (c) − f 0 (c)(x − c). Dividieren wir das durch (x − c) und nehmen den Limes für x gegen c, erhalten wir: f (x) − f (c) R1 (x) = lim − f 0 (c) = f 0 (c) − f 0 (c) = 0. lim x→c x − c x→c x−c In Worten interpretieren wir das so: Der Fehler R1 (x) geht mit x → c schneller“ ” gegen 0 als ein Ausdruck der Form k(x − c) (also schneller als linear“). ” Theorem 3.10 Sei f differenzierbar an der Stelle c und sei R1 (x) = f (x) − f (c) − f 0 (c)(x − c), dann gilt R1 (x) = 0. x→c x − c lim 46 3.8.2 Quadratische Approximation Man kann diese Aussage am Ende des vorherigen Abschnitts noch genauer machen, wenn wir annehmen, dass f zweimal differenzierbar ist. Wir benötigen dazu den Satz von Rolle (siehe Höhere Mathematik 1). Theorem 3.11 Sei f zweimal differenzierbar auf einem Intervall I, das c enthält. Dann gibt es für jedes x ∈ I ein z ∈ (c, x) (bzw. z ∈ (x, c) falls x < c), sodass der Fehlerterm R1 (x) durch folgenden Ausdruck beschrieben wird: f 00 (z) (x − c)2 . R1 (x) = 2 Beweis: Mit R1 (x) = f (x) − f (c) − f 0 (c)(x − c) definieren wir für beliebiges x die Funktion g(t) = f (x) − f (t) − f 0 (t)(x − t) − R1 (x) (x − t)2 . (x − c)2 Dann ist g(c) = f (x) − f (c) − f 0 (c)(x − c) − R1 (x) (x − c)2 = R1 (x) − R1 (x) = 0 (x − c)2 und g(x) = f (x) − f (x) − f 0 (x)(x − x) − R1 (x) (x − x)2 = 0. (x − c)2 Nehmen wir nun an, x > c (der Beweis ist analog für x < c). Da f zweimal differenzierbar ist, ist insbesondere g differenzierbar und man berechnet leicht die Ableitung von g nach t (wobei x als Konstante betrachtet wird): g 0 (t) = −f 00 (t)(x − t) + 2R1 (x) x−t (x − c)2 Da g differenzierbar auf (c, x) und stetig auf [x, c] ist, und g(c) = g(x) = 0 gilt, erfüllt g die Voraussetzungen des Satzes von Rolle. Es existiert daher ein z ∈ (c, x) mit g 0 (z) = 0. Für dieses z gilt also, wenn wir den oben berechneten Ausdruck von g 0 verwenden, −f 00 (z)(x − z) + 2R1 (x) x−z =0 (x − c)2 Da z zwischen c und x liegt, ist insbesondere x − z 6= 0 und wir können in dieser Gleichung durch (x − z) dividieren −f 00 (z) + 2R1 (x) 47 1 =0 (x − c)2 und wenn wir das nach R1 (x) auflösen, erhalten wir, wie behauptet R1 (x) = f 00 (z) (x − c)2 . 2 Man beachte, dass die Stelle z im Ausdruck für den Fehlerterm R1 (x) von der Stelle x abhängt (z liegt zwischen x und c), aber unbekannt ist. Man kann diesen Fehlerterm aber dennoch verwenden, um den Fehler der linearen Approximation abzuschätzen. Es gilt offenbar: (x − c)2 |R1 (x)| ≤ max |f (z)| z∈I 2 3.8.3 00 für alle x ∈ I. Approximation durch Taylorpolynome Die Betrachtungen des vorangegangenen Abschnitts lassen sich ziemlich direkt auf höhere Ableitungen verallgemeinern. Hier nehmen wir zunächst einmal an, dass eine Funktion f auf einem Intervall um den Punkt c mindestens N mal differenzierbar ist. Wir wollen f in diesem Intervall durch ein Polynom PN vom Grad N so approximieren, dass an der Stelle c ∈ I das Polynom und die Funktion in Funktionswert und allen Ableitungen bis zur N -ten Ordnung übereinstimmen. Berechnen wir zunächst einmal alle Ableitungen des Polynoms bis zur N -ten Ordnung: PN (x) = a0 + a1 (x − c) + a2 (x − c)2 + . . . + aN (x − c)N , PN0 (x) = a1 + 2a2 (x − c) + 3a3 (x − c)2 + . . . + N aN (x − c)N −1 , PN00 (x) = 2a2 + 2 · 3 (x − c) + . . . + (N − 1)N (x − c)N −2 , PN000 (x) = 2 · 3a3 + . . . + (N − 2) (N − 1)N (x − c)N −3 , .. . (N ) PN (x) = 1 · 2 · 3 · · · (N − 2)(N − 1)N aN = N ! aN , (dabei meint f (N ) die N -te Ableitung von f ). Nun setzen wir die Ableitungen an der Stelle x = c gleich den entsprechenden Ableitungen der Funktion f : ! PN (c) = a0 = f (c) ! PN0 (c) = a1 = f 0 (c) ! PN00 (c) = 2 a2 = f 00 (c) ! PN000 (c) = 2 · 3 a3 = 3! a3 = f 000 (c) .. . ! (N ) PN (c) = N ! aN = f (N ) (c) 48 oder gleich allgemein geschrieben: ! (n) PN (c) = n! an = f (n) (c), n = 0, 1, 2, . . . N. Dabei ist die nullte“ Ableitung von f einfach f : f (0) (x) = f (x). Wir können nun ” die Koeffizienten des Polynoms mit Hilfe der gegebenen Funktion f berechnen: an = f (n) (c) n! n = 1, 2, . . . N. Definition 3.5 Sei f eine mindestens N mal differenzierbare Funktion in einem Intervall I um den Punkt c. Das Polynom PN (x) = N X f (n) (c) n=0 n! (x − c)n . heißt N -tes Taylorpolynom der Funktion f an der Stelle c. Wir betrachten das N -te Taylorpolynom als eine Approximation der Funktion f , die an der Stelle c in Funktionswert und allen Ableitungen bis zur N -ten Ordnung mit f übereinstimmt. Wieder stellt sich die Frage nach dem Fehler bei dieser Approximation. Wenn die Funktion f sogar N + 1 mal differenzierbar ist, können wir einen Ausdruck für den Fehler angeben. Es gilt der folgende Satz: Theorem 3.12 (Satz von Taylor): Sei f eine N +1 mal differenzierbare Funktion in einem Intervall I, das den Punkt c enthält. Dann existiert zu jedem x ∈ I ein z zwischen x und c, sodass f (x) = N X f (n) (c) n=0 n! (x − c)n + f (N +1) (z) (x − c)N +1 . (N + 1)! Das in diesem Satz vorkommende, sogenannte Lagrangesche Restglied“ ” (N +1) f (z) (x − c)N +1 , RN (x) = (N + 1)! hat die Form eines (N + 1)-sten Terms des Taylorpolynoms, abgesehen davon, dass es nicht f (N +1) (c) enthält, sondern f (N +1) (z). Anmerkung 4 Aufgrund des Satzes von Taylor ist der Fehler, den man macht, wenn man f durch sein N -tes Taylorpolynom ersetzt, wie folgt abschätzbar: |x − c|N +1 |RN (x)| ≤ max |f (N +1) (z)|. (N + 1)! z∈I 49 Anmerkung 5 Der Satz von Taylor gilt auch für N = 0. Im Taylorpolynom bleibt dann nur der nullte“ Summand übrig. Man erhält dann (mit f (0) (c) = f (c) ” und 0! = 1, etc.), f (0) (c) f 0 (z) 0 f (x) = (x − c) + (x − c)1 = f (c) + f 0 (z) (x − c) 0! 1! Dividieren wir das durch x−c sehen wir, dass sich der Satz von Taylor für N = 0 auf folgende Aussage reduziert: Es gibt ein z zwischen x und c, sodass f (x) − f (c) = f 0 (z). x−c Das ist einfach der Mittelwertsatz der Differentialrechnung. Beispiel 3.4 Berechne das N -te Taylorpolynom der Exponentialfunktion f (x) = ex an der Stelle 0. Wie groß ist höchstens der Fehler wenn man f im Intervall [−1, 1] durch das fünfte Taylorpolynom ersetzt? Da alle Ableitungen von ex wieder ex sind, ist f (n) (0) = 1 für alle n. Das N -te Taylorpolynom der Exponentialfunktion an der Stelle x = 0 ist also PN (x) = N X xn n=0 und der Fehlerterm ist RN (x) = n! ez xN +1 (N + 1)! mit einem z zwischen 0 und x. Im Intervall [−1, 1] ist ez < e und x ≤ 1, daher |RN (x)| < e (N + 1)! Für N = 5 ist also der maximale Fehler e/6! = e/720 ≈ 0,004. 3.9 Potenzreihen Definition 3.6 Sei (an ) eine Folge. Eine unendliche Reihe der Form ∞ X an (x − c)n = a0 + a1 (x − c) + a2 (x − c)2 + . . . n=0 heißt Potenzreihe um den Entwicklungspunkt x = c. 50 Ein wichtiger Spezialfall ist eine Potenzreihe um den Entwicklungspunkt 0: ∞ X an x n = a0 + a1 x + a2 x 2 + . . . n=0 Anmerkung 6 Wir verwenden dabei folgende Übereinkunft: (x − c)0 = 1 für alle x (insbesondere auch für x = c, wo der Ausdruck eigentlich unbestimmt ist). Eine Potenzreihe definiert eine Funktion p auf dem Definitionsbereich aller x, für die die Potenzreihe konvergiert. p(x) := ∞ X an (x − c)n für alle x, für die die Reihe konvergiert. n=0 Und mit der Schreibkonvention aus Anmerkung 6 ist jedenfalls x = c im Definitionsbereich, hier ist p(c) = a0 . Anmerkung 7 Die Definition der Potenzreihe ist nicht auf reelle Zahlen an , c und x beschränkt. Auch für komplexe Zahlen an ∈ C, c ∈ C definiert man ganz analog, für jene z ∈ C, für die diese Reihe konvergiert, p(z) = ∞ X an (z − c)n . n=0 Theorem 3.13 Für jede (reelle oder komplexe) Potenzreihe ∞ X an (x − c)n n=0 ist genau eine der folgenden Aussagen wahr: 1. Die Potenzreihe konvergiert nur bei x = c. 2. Es existiert eine Zahl R > 0 (der sogenannte Konvergenzradius), sodass die Potenzreihe für |x − c| < R absolut konvergiert und für |x − c| > R divergiert. 3. Die Potenzreihe konvergiert absolut für alle x. 51 Anmerkung 8 Falls Aussage 1 zutrifft, setzt man für den Konvergenzradius R = 0 und falls Aussage 3 zutrifft, setzt man R = ∞. Im Fall 1 ist der Wert der Potenzreihe an der Stelle x = c einfach a0 . Im zweiten Fall ist zu beachten, dass für |x − c| = R keine Aussage gemacht wird. Die Potenzreihe kann hier sowohl absolut konvergent, oder bedingt konvergent, oder divergent sein. Anmerkung 9 Der Bereich der komplexen Ebene, in der die Potenzreihe mit Sicherheit absolut konvergent ist, ist also die Menge aller komplexen Zahlen x mit |x − c| < R. Dieser Bereich heißt Konvergenzkreis. Auf der Kreislinie |x − c| = R kann die Potenzreihe sowohl konvergieren, als auch divergieren. Bei reellen Potenzreihen bezeichnet man den Bereich, in dem die Reihe konvergiert, genauer mit dem Wort Konvergenzintervall. Das Konvergenzintervall reeller Potenzreihen mit 0 < R < ∞ ist immer eines der folgenden Intervalle: [c − R, c + R], (c − R, c + R], [c − R, c + R), oder (c − R, c + R). Beispiel 3.5 ∞ X 3(x − 2)n . n=0 Schreiben wir x−2 = r sehen wir, dass es sich um ein geometrische Reihe handelt. ∞ X rn n=0 ist absolut konvergent für |r| < 1. Für r < 0 ist die Reihe alternierend. Sie ist divergent für |r| ≥ 1. Der Konvergenzradius der gegebenen Potenzreihe ist also R = 1. Die Potenzreihe konvergiert also absolut für |x − 2| < 1 und divergiert für |x − c| > 1. Im vorliegenden Fall divergiert sie auch für |x − c| = 1. Anmerkung 10 Oft kann man denPQuotiententest verwenden, um den Konvergenzradius zu bestimmen: Die Reihe bn konvergiert absolut, falls limn→∞ |bn+1 /bn | < 1 und divergiert, falls dieser Limes > 1 ist. Im obigen Beispiel: 3|x − 2|n+1 = |x − 2| −→ |x − 2| n→∞ 2|x − 2|n Der Quotiententest besagt hier, dass die Potenzreihe für |x − 2| < 1 absolut konvergiert und für |x − 2| > 1 divergiert. Beispiel 3.6 ∞ X xn n=0 Der Quotiententest ergibt xn+1 (n+1)! xn = n! |x|n+1 (n+1)! |x|n n! n! = 52 |x| −→ 0 n + 1 n→∞ für alle x. Daher konvergiert die Reihe überall (dh., für alle x). Der Konvergenzradius ist R = ∞ (Fall 3 im Theorem 3.13). Beispiel 3.7 ∞ X n! xn n=0 Der Quotiententest ergibt (n + 1)! xn+1 (n + 1)! |x|n+1 = = (n + 1) |x| −→ ∞ n→∞ n!xn n!|x|n für alle x. Daher konvergiert die Reihe für kein x 6= 0. Der Konvergenzradius ist R = 0 (Fall 1 im Theorem 3.13). Theorem 3.14 Es sei ∞ X an (x − c)n n=0 eine reelle oder komplexe Potenzreihe. Es gelte 1/n lim |an | = a oder n→∞ a n+1 lim = a. n→∞ an Dann gilt für den Konvergenzradius R: 1. R = 0, falls a = +∞. 2. R = 1/a, falls 0 < a < ∞. 3. R = ∞, falls a = 0. 3.10 Gliedweise Operationen mit Potenzreihen Hier sind einige naheliegende Rechenregeln für zwei (reelle oder komplexe) Potenzreihen p(x) = ∞ X n an (x − c) und q(x) = n=0 ∞ X bn (x − c)n n=0 um denselben Entwicklungspunkt c. Wir bezeichnen die entsprechenden Konvergenzradien mit Ra und Rb und setzen R = min{Ra , Rb } 53 Dann gilt: p(x) + q(x) = ∞ X (an + bn ) (x − c)n für alle x mit |x − c| < R n=0 und für eine beliebige Zahl k gilt k p(x) = ∞ X k an (x − c)n für alle x mit |x − c| < Ra n=0 Die mit k 6= 0 multiplizierte Potenzreihe hat exakt den gleichen Konvergenzradius. Die Summe oder Differenz zweier Potenzreihen kann auch einen größeren Konvergenzradius haben. Der Vollständigkeit halber erwähnen wir auch das Produkt ∞ X n X ak bn−k (x − c)n . p(x) q(x) = n=0 k=0 Diese Formel beruht auf einer analogen Formel für beliebige unendliche Reihen: ∞ X n=0 ∞ ∞ X n X X an · bn = ak bn−k . n=0 n=0 k=0 Potenzreihen können gliedweise“ differenziert oder integriert werden. Falls ” R > 0 ist, ist die Potenzreihe p(x) = ∞ X an (x − c)n n=0 auf (c − R, c + R) differenzierbar, und die Ableitung ist die Potenzreihe p0 (x) = ∞ X n an (x − c)n−1 . n=0 Eine differenzierbare Funktion ist aber auch stetig und daher integrierbar. Eine Stammfunktion von p(x) ist P (x) = ∞ X an n=0 (x − c)n+1 . n+1 Die Konvergenzradien der drei Potenzreihen p, p0 und P sind alle gleich R. Das Konvergenzverhalten für |x − c| = R kann allerdings verschieden sein. n 54 Kapitel 4 Vektorwertige Funktionen 4.1 Einleitung Seien f1 , f2 , f3 reellwertige Funktionen einer reellen Variablen t. Definitionsbereich sei ein Intervall I ⊂ R, z.B. I = [a, b], oder aber auch I = R. I → R fi : , i = 1, 2, 3. t 7→ fi (t) Aus diesen 3 Funktionen können wir für jedes t ∈ I den 3-dimensionalen Vektor 3 f1 (t) X f (t) = f2 (t) = fi ei i=1 f3 (t) formen (dabei sind ei die kanonischen Einheitsvektoren mit 1 an der i-ten Stelle und Nullen sonst. In der Regel schreiben wir Vektoren in diesem Kapitel als Spaltenvektoren). Der Vektor f (t) beschreibt einen Punkt im dreidimensionalen Raum. Wenn t das Intervall I durchläuft, wandert der Punkt f (t) durch den Raum und, Stetigkeit vorausgesetzt, beschreibt dabei eine Kurve. Die Abbildung I ⊂ R → R3 f: t 7→ f (t) bezeichnen wir allgemein als Vektorfunktion, die fi als Komponentenfunktionen. Falls alle Komponentenfunktionen stetig sind, nennen wir f eine parametrisierte Kurve oder einen Weg in R3 . Die Bildmenge einer parametrisierten Kurve f C = {f (t) ∈ R3 | t ∈ I} ⊂ R3 55 bezeichnet man oft einfach als Kurve in R3 oder auch als Spur von f . Alle diese Begriffe kann man ganz analog auf n-dimensionale Vektorfunktionen übertragen, insbesondere natürlich auch auf den Fall n = 2. In diesem Fall sprechen wir von ebenen Kurven und parametrisierten ebenen Kurven bzw. ebenen Wegen. Für n = 3 spricht man oft auch von Raumkurven. 4.1.1 Beispiele Geradlinig gleichförmige Bewegung Seien x ∈ R3 und v ∈ R3 gegebene Vektoren. f (t) = x + v t heißt parametrisierte Gerade. Wenn der Parameter t ∈ R die Bedeutung einer Zeit hat, bewegt sich der Punkt f (t) in Abhängigkeit von t entlang dieser Geraden durch den Punkt x mit konstanter Geschwindigkeit v. Man spricht dann von einer geradlinig-gleichförmigen Bewegung. Kreis Der Kreis als eine parametrisierte ebene Kurve ist gegeben durch cos t f (t) = , t ∈ [0, 2π] sin t Da der Anfangspunkt f (0) gleich dem Endpunkt f (2π) ist, spricht man von einem geschlossenen Weg. Die Kurve C = {(x, y) ∈ R2 | x2 + y 2 = 1} ist offenbar die Bildmenge des Weges f . In der gegebenen Parametrisierung bedeutet der Kurvenparamter t den Winkel mit der x-Achse, also die Bogenlänge am Einheitskreis. In diesem Beispiel ist also t die zwischen f (0) und f (t) zurückgelegte Weglänge. Schraubenlinie Sei 2 cos t f (t) = 2 sin t t/2 Die Kurve ist eine Rechtsschraube mit Radius 2 und Ganghöhe π. Die Visualisierung in Abbildung 4.1 zeigt nicht den Funktionsgraphen der Funktion f , sondern nur einen Ausschnitt der Bildmenge C = {f (t) ∈ R3 | t ∈ R} 56 2!2 1 !1 0 0 1 2 !1 !2 2 0 !2 Abbildung 4.1: Eine Schraubenlinie (Bildmenge einer parametrisierten Schraubenkurve) Kurven mit Spitzen Definition 4.1 Ein Punkt t ∈ [a, b] heißt kritischer Punkt der parametrisierten Kurve f , wenn entweder die Abbildung f an der Stelle t nicht differenzierbar ist, oder wenn f 0 (t) = 0 gilt. Ein kritischer Punkt einer differenzierbaren Kurve heißt auch singulärer Punkt. Eine parametrisierte Kurve ohne kritische Punkte heißt regulär. Die für t ∈ R definierte Vektorfunktion 3 t f (t) = 2 t besteht aus zwei stetigen Komponentenfunktionen, es handelt sich also um eine ebene Kurve in R2 . Die Komponentenfunktionen sind beide differenzierbar, das sieht man der Kurve aber nicht an, denn sie hat eine Spitze im Koordinatenursprung (siehe Abbildung 4.2). Diese Spitze markiert einen singulären Punkt, denn f 0 (0) = 0. Wenn man den Funktionsgraphen (also die Menge aller (t, f (t)) ∈ R3 ) betrachtet, sieht man, dass die Spitze der Kurve nur ein Artefakt der graphischen Darstellung der Bildmenge ist (siehe Abbildung 4.3). 57 1.4 1.2 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 -1.5 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 Abbildung 4.2: Darstellung der differenzierbaren parametrisierten Kurve t → (t3 , t2 ) 4.1.2 Funktionsgraph Sei f eine stetige Funktion I → R. Definiere die parametrisierte Kurve t f (t) = f (t) Diese ebene Kurve hat als Bildmenge den Funktionsgraphen der Funktion f . Die Kurve f ist der Funktionsgraphen von f in Parameterdarstellung, mit der unabhängigen Variablen t als Parameter. 4.1.3 Parameteränderung Eine reguläre parametrisierte Kurve f : [a, b] → R2 beschreibt eine Kurve C = {f (t) | |t ∈ [a, b]} im Rn . Eine Kurve C kann aber das Bild vieler verschiedener vektorwertiger Funktionen sein. Sei φ : [c, d] → [a, b] eine bijektive, stetige, auf (c, d) differenzierbare Funktion, die in (c, d) keine kritischen Punkte hat. Definiere g(t) := f (φ(t)), t ∈ [c, d] Dann ist g : [c, d] → Rn ebenfalls eine reguläre Kurve. Außerdem ist C = {g(t) | t ∈ [c, d]} = {f (s) | s ∈ [a, b]}. Die parametrisierten Kurven f und g haben also dieselbe Bildmenge. Den Übergang von f auf g bezeichnet man als Parametertransformation oder Reparametrisierung. Bei Reparametrisierungen mit φ0 > 0 bleibt der Durchlaufsinn erhalten. Offenbar ist dann φ(c) = a φ(d) = b 58 1 0 -1 1.0 0.5 0.0 - 1.0 t - 0.5 0.0 0.5 1.0 Abbildung 4.3: Graph der ebenen Kurve aus Abbildung 4.2. Die ebene Kurve erscheint hier als Projektion des Graphen auf die Bildebene. Eine analoge Transformation erhält man für Reparametrisierungen mit einer monoton fallenden Funktion, für die φ0 (t) < 0 für alle t vorausgesetzt wird. In diesem Fall gilt φ(c) = b und φ(d) = a und man sagt, dass dabei der Durchlaufsinn umgekehrt wird. Beispiel 4.1 Die parametrisierte Kurve cos t f (t) = , sin t t ∈ [0, 2π] stellt einen geschlossenen Kreis im R2 dar. Mit wachsendem Parameterwert t durchläuft f (t) diesen Kreis gegen den Uhrzeigersinn. Sei φ(t) = 2π − 2πt, mit t ∈ [0, 1]. Dann beschreibt g(t) = f (φ(t)) eine Kreisbewegung im Uhrzeigersinn. 4.2 Limes und Ableitung Viele Operationen mit vektorwertigen Funktionen werden “komponentenweise” angewendet und brauchen daher nicht neu erlernt zu werden. Das gilt für die Grenzwertbildung, die Ableitung und das Integral. 4.2.1 Grenzwert und Stetigkeit Der Grenzwert einer Vektorfunktion wird sinngemäß genauso wie bei skalaren Funktionen definiert. 59 Sei f : I ⊂ R → Rn eine Vektorfunktion. Ein Vektor L ∈ Rn heißt Limes von f für t → c, falls ∀(ε > 0) ∃(δ > 0) : |t − c| < δ ⇒ |f (t) − L| < ε Falls diese Aussage zutrifft, schreiben wir lim f (t) = L. t→c Die Definition ist genau gleich, wie im skalaren Fall, nur der Betrag von reellen Zahlen wird dabei durch den Betrag von Vektoren ersetzt: v u n uX |f (t) − L| = t (fi (t) − Li )2 i=1 Dieser Ausdruck geht genau dann gegen Null, wenn für alle i der Ausdruck |fi (t)− Li | gegen Null geht. Deshalb kann man die Definition ersetzen durch lim f (t) = L t→c ⇔ lim fi (t) = Li , t→c i = 1, 2, . . . , n. Eine Vektorfunktion konvergiert genau dann, wenn sie komponentenweise konvergiert. Entsprechend ist eine Vektorfunktion genau dann stetig, wenn sie komponentenweise stetig ist. Eine stetige Funktion hat an jedem Punkt ihres Definitionsbereiches einen Limes und dieser stimmt mit dem dortigen Funktionswert überein: f stetig auf I 4.2.2 ⇔ lim f (t) = f (c) für alle t ∈ I ⇔ fi stetig auf I für i = 1, 2, . . . n. t→c Differenzieren vektorwertiger Funktionen Eine Vektorfunktion ist genau dann differenzierbar, wenn jede Komponentenfunktion differenzierbar ist. Die Ableitung an einer Stelle c ∈ I bereichnet sich dann wie folgt: f10 (t) 0 f (t + h) − f (t) df (t) f2 (t) 0 ≡ f (t) = lim = .. h→0 dt h . fn0 (t) Wichtige Ableitungsregeln übertragen sich demnach “komponentenweise” von entsprechenden Aussagen über skalare Funktionen. 60 Definition 4.2 Eine parametrisierte Kurve f : I → Rn ist differenzierbar, wenn jede der Komponentenfunktionen fi differenzierbar ist. f heißt an der Stelle c ∈ I regulär, wenn die Ableitung dort ungleich dem Nullvektor ist. Falls f 0 (c) = 0, bezeichnen man c als kritischen Punkt der Kurve (manchmal auch als Singularität). Wir haben also die folgenden üblichen Eigenschaften der Ableitung: d d c f (t) = c f (t) dt dt d d d f (t) + g(t) = f (t) + g(t) dt dt dt und die Produktregel gibt es in folgenden Varianten: Bei der Multiplikation mit einer skalaren Funktion haben wir d g(t) f (t) = g 0 (t) f (t) + g(t) f 0 (t) dt und analog gilt bei der skalaren Multiplikation zweier Vektorfunktionen: d g(t) · f (t) = g0 (t) · f (t) + g(t) · f 0 (t) dt Falls n = 3, kann man noch das vektorielle Produkt bilden: d g(t) × f (t) = g0 (t) × f (t) + g(t) × f 0 (t) dt (Achtung, hier darf man die Reihenfolge der Faktoren nicht ändern). Von Bedeutung ist auch die Kettenregel, die sich wieder aus der komponentenweise Anwendung der schon bekannten skalaren Kettenregel ergibt: d df (s) dg(t) f g(t) = f 0 g(t) g 0 (t) = dt ds s=g(t) dt und wenn wir die Ableitung von s = g(t) wie oft üblich als die Kettenregel in der häufig notierten Kurzform ds dt schreiben, erscheint df df ds = . dt ds dt 4.2.3 Integrieren vektorwertiger Funktionen Ebenso, wie man komponentenweise differenziert, wird komponentenweise integriert: Sei f auf I stetig, so ist für a < b in I R b f (t) dt Z b 1 a .. f (t) dt = . Rb a f (t) dt a n 61 Die bekannten Eigenschaften des skalaren Integrals lassen sich daher auf vektorwertige Integrale übertragen. Insbsondere notieren wir die Abschätzung Z b Z b f (t) dt ≤ f (t) dt a a 4.3 4.3.1 Kinematik Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung Mit Raumkurven beschreibt man in der Physik die Bewegung von Objekten (Massenpunkten, Teilchen). Die Variable t wird dabei als Zeit interpretiert. Im folgenden bezeichnen wir die Vektorfunktion mit x, um anzudeuten, dass ein Ortsvektor als Funktion der Zeit gegeben ist. Sei also I ⊂ R → R3 x t 7→ x(t) eine zweimal differenzierbare Vektorfunktion. x(t) = Ort eines Teilchens zur Zeit t, x0 (t) = Geschwindigkeit des Teilchens zur Zeit t, x00 (t) = Beschleunigung zur Zeit t. Die Geschwindigkeit wird dabei oft als v bezeichnet, die Beschleunigung als a. Wichtig ist, dass beide Größen vektoriell sind, sie geben Betrag und Richtung an. Was man im Auto am Tachometer abliest, ist der Betrag der Geschwindigkeit |v(t)| zu jeder Zeit t. Wenn wir das sprachlich unterscheiden müssen, sagen wir “Schnelligkeit”, wenn wir nur den Betrag meinen und “Geschwindigkeit” für die vektorielle Größe. Wie wir gesehen haben, kann die Kurve C = {x(t) | t ∈ I} Ecken und Spitzen haben. So etwas passiert aber nur an einer Stelle t, wo x0 (t) = 0 ist. Wenn überall gilt x0 (t) 6= 0, dann beschreibt die Vektorfunktion x eine glatte Kurve im R3 . Beispiel 4.2 Wenn eine Bewegung mit konstantem Abstand vom Koordinatenursprung erfolgt (also auf einer Kugel), dann gilt: x0 (t) · x(t) = 0, für alle t. Das heißt, in diesem Fall ist die Geschwindigkeit immer senkrecht auf den Ortsvektor des Teilchens. Beweis: Konstanter Abstand bedeutet |x(t)| = c, also x(t) · x(t) = c2 unabhängig von t. 62 Wenn wir das differenzieren, erhalten wir mit der Produktregel d x(t) · x(t) = x0 (t) · x(t) + x(t) · x0 (t) = 2x0 (t) · x(t) = 0, dt also ist x0 (t) · x(t) = 0, wie behauptet. Beispiel 4.3 Aus einer bekannten konstanten Beschleunigung kann der Ort durch Integration bestimmt werden. Zum Beispiel erfährt jede frei fallende Masse m in der Nähe der Erdoberfläche durch die Anziehungskraft der Erde eine konstante Beschleunigung: 0 x00 (t) = g = 0 g Das gilt natürlich nur in einem Zeitintervall, sagen wir t ∈ [0, T ], solange der Körper nirgends aufprallt oder dagegenstößt. g ist die “Erdbeschleunigung” mit dem Zahlenwert 9,81. Aus diesen Angaben können wir x durch Integration bestimmen: Z t 0 x00 (τ ) dτ = g t + v0 x (t) = 0 wie man sich durch komponentenweises Integrieren überzeugt. Dabei ist v0 der Vektor, der aus den Integrationskonstanten in jeder Komponente gebildet wird. Die physikalische Bedeutung von v0 ist die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t = 0. Integriert man dieses Ergebnis noch einmal, erhält man Z t Z t 1 0 (g τ + v0 ) dτ = g t2 + v0 t + x0 . x (τ ) dτ = x(t) = 2 0 0 Wieder ist x0 der Vektor der Integrationskonstanten. Es ist x(0) = x0 . 4.3.2 Geschwindigkeit als Tangentenvektor Es ist anschaulich klar, dass der Geschwindigkeitsvektor immer in Tangentenrichtung der Bahnkurve zeigt, und zwar in die Richtung, in der der Bahnparameter t anwächst. Das ist auch aus der Definition der Ableitung klar: 1 x(t + h) − x(t) h→0 h v(t) = lim denn x(t + h) − x(t) ist der Abstandsvektor zweier benachbarter Kurvenpunkte. Beispiel 4.4 Sei x(t), t ∈ I, eine differenzierbare parametrisierte Raumkurve und sei t0 ∈ I. Dann ist die Tangente an die Kurve im Punkt x(t0 ) eine parametrisierte Gerade g, gegeben durch g(t) = x(t0 ) + t x0 (t0 ). 63 Definition 4.3 Eine Kurve x : I → R3 heißt glatt, wenn x0 stetig in t ist und für alle t ∈ I gilt: x0 (t) 6= 0. Für eine glatte Kurve ist der Tangenten-Einheitsvektor wie folgt definiert: T(t) := 4.3.3 x0 (t) |x0 (t)| Bogenlänge Sei x : [a, b] → Rn eine reguläre Kurve. Der Betrag der Geschwindigkeit ist p |v(t)| = x01 (t)2 + . . . + x0n (t)2 Wenn man die Kurve mit dem Auto entlangfährt, wird diese Größe am Tachometer angezeigt. Der in einem kurzen“ Zeitintervall dt zurückgelegte Weg ist |v(t)|dt. Im Zeit” raum von a bis b wird also insgesamt der Weg Z b L= |v(t)| dt a zurückgelegt. Man nennt L die Bogenlänge der Kurve. Beispiel 4.5 Sei die Kurve ein Funktionsgraph im R2 : t 1 0 x(t) = , x (t) = v(t) = f (t) f 0 (t). Somit ist die Bogenlänge des Funktionsgraphen zwischen a und b gegeben durch Z bp L= 1 + (f 0 (t))2 dt a Für eine beliebige reguläre Kurve x : [a, b] → Rn definiere die Bogenlängenfunktion Z t s(t) = |x0 (s)| ds a Es ist eine in t streng monoton wachsende differenzierbare Funktion mit Werten in [0, L], und s0 (t) = |x0 (t)| > 0, t ∈ (a, b) Definiere die Umkehrfunktion von s als φ(s) = t und x̃(s) = x(φ(s)) = x(t). Dann ist x̃ : [0, s] → [a, b] eine Reparametrisierung der Kurve x. Der neue Parameter s ist gerade die Bogenlänge der alten Kurve. 64 Wenn die Parametrisierung durch die Bogenlänge erfolgt, ist die Geschwindigkeit wegen der Kettenregel durch dx̃(s) dx(t) dφ(s) x0 (t) = = 0 ds dt ds |x (t)| mit t = φ(s) gegeben (die Ableitung der Umkehrfunktion φ ist ja gerade 1/s0 (t) = 1/|x0 (t)|.) Wenn eine Kurve durch ihre Bogenlänge parametrisiert ist, dann ist der Betrag der Geschwindigkeit also immer 1: dx̃(s) ds = 1 65 Kapitel 5 Funktionen mehrerer Variabler 5.1 Einleitung In diesem Kapitel betrachten wir Abbildungen, die auf einer Teilmenge von Rn definiert sind, und in die reellen Zahlen hinein abbilden. D ⊂ Rn → R f: x 7→ f (x) Die Elemente (Punkte bzw. Vektoren) in D schreiben wir meistens als Spaltenvektoren, als Argument der Funktion f schreibt man oft auch die Liste x1 , . . . , xn : x1 .. x = . , f (x) ≡ f (x1 , . . . xn ). xn Wir wiederholen auch gleich noch einmal die Grundbegriffe: Das Bild (oder die Bildmenge) der Funktion ist f (D) = {f (x) ∈ R | x ∈ D}. Die Menge G= x, f (x x ∈ D ist der Graph der Funktion f . Der Graph ist eine Teilmenge von Rn+1 . Damit ist der Graph für n ≥ 3 bereits ein zu hochdimensionales Objekt, um für Visualisierungen nützlich zu sein. Wenn aber n = 2, dann ist der Graph eine Fläche im dreidimensionalen Raum, die man in einer Schrägansicht darstellen kann. (Siehe Abbildung 5.1). Andere Darstellungsmöglichkeiten sind Dichte- und Kontourgraphiken. Bei Dichtegraphiken wird der Funktionswert durch einen Grauwert symbolisiert, bei Kontourgraphiken werden Niveaulinien gezeichnet ( Höhenschichtenlinien“, Iso” ” linien“). 66 Abbildung 5.1: 3D-Plot ( Schrägansicht“) des Funktionsgraphen von f (x, y) = ” sin(xy). An jeder Stelle (x, y) wird als z-Wert der Funktionswert geplottet. 5.2 Stetigkeit Die Definition des Grenzwerts ist für Funktionen mehrerer Variabler völlig analog zur Definition, die wir bei den Funktionen einer Variablen kennengelernt haben: Definition 5.1 Sei f : D ⊂ Rn → R gegeben. Eine Zahl L ∈ R heißt Grenzwert von f für x → c ∈ Rn , falls ∀(ε > 0) ∃(δ > 0) ∀(x ∈ D) : |x − c| < δ ⇒ |f (x) − L| < ε Wenn das der Fall ist, schreiben wir lim f (x) = L. x→c Der einzige Unterschied zu früher ist die Bedeutung von |x−c| als euklidischer Abstand zweier Punkte: p |x − x0 | = (x1 − c1 )2 + (x2 − c2 )2 + (x3 − c3 )2 . Definition 5.2 Eine Funktion f : D ⊂ Rn → R heißt stetig auf D, falls für alle c ∈ D gilt: lim f (x) = f (c). x→c 67 Beispiel 5.1 f (x) = 2x1 − 6x2 + 7 Zu zeigen ist: lim f (x) = 7. x→0 Wir müssen also zeigen, dass folgender Ausdruck kleiner als ε gemacht werden kann: √ 2 · x ≤ 40|x| |f (x) − 7| = |2x1 − 6x2 | = 6 (Im letzten Schritt haben wir die Cauchy-Schwarz Ungleichung verwendet: Für das Skalarprodukt zweier beliebiger Vektoren gilt: |a · b| ≤ |a||b|). Wenn wir also zu einem beliebigen vorgegebenen ε > 0 ε |x − 0| = |x| = √ 40 wählen, folgt aus |x| < δ, dass |f (x) − 7| < ε|. Das bedeutet, dass der Limes existiert. Beispiel 5.2 Die Funktion f : R3 \ {0} → R, gegeben durch sin(|x|) |x| f (x) = hat den Limes 1 für x → 0. Der Grenzwert existiert zum Beispiel dann nicht, wenn die Funktion f dort 1 eine Singularität hat. Ein einfaches Beispiel ist die Funktion f (x) = |x| bei x = 0. Raffiniertere Beispiel mit nicht-existierenden Grenzwerten für x → 0 sind die folgenden: Beispiel 5.3 f (x) = x21 − x22 x21 + x22 2 , auf D = R2 \ {0}. Der Graph dieser Funktion ist in Abbildung 5.2. Die Unstetigkeit kann man in diesem Fall am einfachsten so zeigen, dass man zwei Folgen xn → 0 und x̃n → 0 angibt, für die die Funktionswerte unterschiedliche Limiten haben. Man wähle zum Beispiel 1/n 1/n xn = und x̃n = 0 1/n Dann ist lim f (xn ) = 1 n→∞ und 68 lim f (x̃n ) = 0. n→∞ Abbildung 5.2: Funktionsgraphen der an der Stelle x = 0 unstetigen Funktion aus Beispiel 5.3. Beispiel 5.4 f (x) = x21 − x2 x21 + x2 2 , auf D = R2 \ {0}. Der Graph dieser Funktion ist in Abbildung 5.3. Die Folgen 1/n (α) xn = α/n2 sind (für alle α ∈ R) Nullfolgen. Sie ergeben (für α 6= −1) die (konstanten) Bildfolgen 2 1−α (α) f (xn ) = 1+α wobei natürlich diese Konstante auch der Grenzwert für n → ∞ ist. Da dieser Grenzwert von α abhängt, hat die Funktion f keinen Grenzwert für x → 0. 5.3 Partielle Differentiation 69 Abbildung 5.3: Funktionsgraph der Funktion aus Beispiel 5.4. Die Funktion is singulär entlang der Parabel x2 = −x21 . 70