Frühe Kindheitstraumata, sex. Missbrauch, Vernachlässigung

Werbung
SS 2015 - Vorlesungsreihe Basiswissen Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Entwicklungspsychopathologie
Frühe Kindheitstraumata, sex. Missbrauch,
Vernachlässigung, Misshandlung und ihre Folgen
28.5.2015
Prof. Jörg M. Fegert
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
Was ist ein Trauma?
Traumatisches Lebensereignis
Extreme physiologische
Erregung
Flucht
Freeze
Fight
Traumasymptome
| 3
Reaktionen auf traumatischen Stress
LeDoux, Scientific American,
1994
Bei einer Traumatisierung laufen parallel zwei
unterschiedliche physiologische Prozesse ab
• Übererregungs-Kontinuum
• Dissoziatives-Kontinuum
•
•
•
Fight oder Flight
Alarmszustand Wachsamkeit
Angst/Schrecken
Adrenalin System wird aktiviert
– Erregung
• Serotonerge System verändert
sich – Impulsivität, Affektivität,
Aggressivität
Freeze – ohnmächtige / passive
Reaktion
• Gefühlslosigkeit / Nachgiebigkeit
• Dissoziation
• Opioid System wird Aktiviert
Euphorie, Betäubung
• Veränderung der Sinnes-,,Körperwahrnehmung (Ort, Zeit, etc.)
Physiologisch
• Blutdruck (Pulsrate )
• Atmung • Muskeltonus • Schmerzwahrnehmung Physiologisch
• Pulsrate Blutdruck • Atmung • Muskeltonus • Schmerzwahrnehmung Akute psychische Reaktionen
auf traumatischen Stress
•
Akute Belastungsreaktion („Psychischer Schock“)
– außergewöhnliche psychische oder physische Belastung
– Beginn innerhalb von Minuten, meist innerhalb von Stunden/2-3 Tagen
abklingend, nicht länger als 4 Wochen
– initial „Betäubung“: Bewusstseinseinengung, reduzierte Aufmerksamkeit,
Unfähigkeit zur Reizverarbeitung, Desorientiertheit
– dann soz. Rückzug (z.T. Regungslosigkeit) oder Unruhe/Agitiertheit (bis hin zu
Flucht, Umherirren)
– meist vegetative Paniksymptome (Herzrasen, Schwitzen, Erröten)
– z.T. Erinnerungslücken
•
Akute Belastungssymptome sind eine normale Reaktion!
Resilienz und Traumafolgestörungen
Psychotrauma
Resilienz oder akute
Belastungsreaktion
Anpassungsstörungen
Posttraumatische
Belastungsstörung
Komplexe Störungen
Traumatypen nach Terr (1991)
Typ - I - Trauma
•
•
Einzelnes, unerwartetes
•
traumatisches Erlebnis von kurzer
Dauer
z.B. Verkehrsunfälle, Opfer/Zeuge •
von Gewalttaten, Vergewaltigung
im Erwachsenenalter,
Naturkatastrophen
•
Serie miteinander verknüpfter Ereignisse
oder lang andauernde, sich
wiederholende traumatische Erlebnisse
z.B. körperliche sexuelle
Misshandlungen in der Kindheit,
überdauernde zwischenmenschliche
Gewalterfahrungen
Symptome:
• nur diffuse Wiedererinnerungen,
meist klare, sehr lebendige
konfluierende Erinnerungen,
Wiedererinnerungen
Schilderung typischer Abläufe,
Vollbild der PTSD
starke Dissoziationstendenz,
Symptome:
•
Typ - II - Trauma
Bindungsstörungen
eher gute Behandlungsprognose
•
•
schwerer zu behandeln
erhöhte Entwicklungsrisiken
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
Diagnosekriterien PTSD (ICD-10)
A. Die Betroffenen sind einem kurz oder lang dauernden Ereignis
oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder
mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei
jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde.
B.
Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der
Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen
(Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume
oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln
oder mit ihr in Zusammenhang stehen.
C.
Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang
stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses
Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.
ICD 10 Kriterien PTSD
D. Entweder 1. oder 2.
Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige
wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten
psychischen Sensitivität und Erregung (nicht
1.
vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:
a.
b.
c.
d.
e.
Ein- und Durchschlafstörungen
Reizbarkeit oder Wutausbrüche
Konzentrationsschwierigkeiten
Hypervigilanz
erhöhte Schreckhaftigkeit
E. Die Kriterien B, C und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach
dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode
auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn
berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben
werden).
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der
Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und
Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
Schmid, Fegert, Petermann 2010
Schmid, Petermann, Fegert 2013
Dissoziative und Somatoforme
Störungen
TraumaEntwicklungsheterotopie
Bipolare
Störungen im
Kindesalter
Substanz
missbrauch
Affektive Störungen
Störung des
Sozialverhaltens
Emotionale
Störungen
Störungen der
Persönlichkeits
-entwicklung
Selbstverletzung
Suizidalität
ADHS
Oppositionelles
Verhalten
Bindungsstörungen
Regulationsstörungen
Geburt
Vorschulalter
 Traumafolgestörungen + biologische Faktoren
Schulalter
Pubertät
Adoleszenz
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
Ferguson et al. (1996a und b)
Neuseeländische Geburtskohorte
17,3 % Mädchen 3,4% Jungen bis 16. LJ
missbraucht
mit Penetration 5,6 % vs. 1,4 %
OR 3,6 (5,4) für Depression
OR 2,7 (6,6) für Alkoholabhängigkeit und
anderer Substanzabusus
OR 5 Suizidversuche
OR 3 Angsterkrankungen
OR 12 Verhaltensauffälligkeiten
allgemein
zeitgleiche DSM IV Diag.
Traumafolgestörungen
KindheitsTraumata
akute
Belastungsstörung
PTBS
Bindungsstörungen
Normale
Entwicklung
(Resilienz)
Depression
Suizidalität
+ Risikoverhalten
Substanzmissbrauch
Körperl. Erkrankungen
Fergusson et al. 1996, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry.35:1365-74
Felitti et al. 1998, Am J Prev Med. 14:245-258
Houck et al. 2010, J Ped. Psychol, 35:473-483
Irish, Kobayashi & Delahanty 2010, J Ped Psychol 35:450-461
Oswald, Heil, & Goldbeck, J Ped Psychol. 2010, 35:462-72
Pears & Capaldi 2001, Child Abuse and Neglect 25:1439-61
u.v.m.
(Adipositas, Herz-Kreislauf,…)
Transgenerationale
Weitergabe (Opfer => Täter)
Strukturelle und funktionelle
Gehirnveränderungen
• Strukturelle und funktionelle Gehirnveränderungen:
• Hippocampus: Volumenreduktion (Dendritenverlust:
Gukokortikoide)
• Amygdala: Hyperresponsivität
• mPFC: Volumenverringerung (verantwortlich f. Inhibition,
Hyporesponisivität b. PTSD f. Trigger)
• dACC: Hyperresponsivität
• Weitere Veränderungen:
•
OFC
•
DLPFC
•
Corpus callosum
•
Cerebellum
Sherin & Nemeroff, 2011; Hart & Rubia, 2012, Pechtel & Pizzagalli, 2011; Pitman et al., 2012
Misshandlung/ Missbrauch im Kindesalter:
fMRT
• Kortikale Dicke↓ - CTQ Total score
• v.a. linke Hemisphäre:
• lateraler somatosensorischer Cortex
• ACC (u.a. Emotionsregulation)
• Precuneus (u.a. Selbstwahrnehmung)
• Gyrus parahippocampalis (u.a. Gedächtnis: Encodierung)
Heim et al., 2013
Misshandlung/ Missbrauch im Kindesalter:
fMRT
CTQ: sexual abuse score - Kortikale Dicke↓
Somatosensorischer Cortex (l): Klitoris und umgebende genitale
Bereiche
Gyrus parahippocampalis
Heim et al., 2013
CANMANAGE: Missbrauchstypen
0
10
20
körperliche Misshandlung
N = 145
häusliche Gewalt
N = 136
Vernachlässigung
N = 120
emotionale Misshandlung
N = 101
sexueller Missbrauch
Prozent
30
40
50
60
N = 69
mehrere Formen von Missbrauch bei N = 175 (87%)
70
80
CANMANAGE: Missbrauchsfolgen II
0
5
Prozent
15
20
25
10
30
35
Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)
N=45
N=35
Hyperkinetsche Störungen (F90 inkl. F90.1)
N=33
Ausscheidungsstörungen (F98)
Störung des Sozialverhaltens (F91)
N=30
N=17
Angst (F40, F93)
Affektive Störungen (F32, F34)
N=12
sonstige emotionale Störungen (F93.8)
N=10
Anpassungsstörungen (F43.2)
N=7
Tic (F95)
N=7
Zwang (F42)
Bindungsstörungen (F94)
40
N=2
N=1
komorbide Störung bei N = 50 (37,9%)
CANMANAGE: Missbrauchsfolgen I
34%
66%
etwa 1 Drittel bleibt resilient (N=69)
Resilient
mit psychischen
Auffälligkeiten
Jährliche gesamtwirtschaftliche
Traumafolgekosten - Kosten
•
Tangible Kosten der Traumatisierung:
Gesundheitskosten, Kosten der Kinder- und Jugendhilfe,
Ausbildungsförderung, Wertschöpfungsverlust etc.:
335.421€
•
Bei 1,6 Mio. Betroffenen: 6.708€ Traumafolgekosten pro Fall
und Jahr
Jährliche Kosten für die deutsche Gesellschaft
durch Folgen von Kindesmisshandlung/missbrauch und Vernachlässigung
11 Mrd. €
oder
134,54€ trägt jeder Bundesbürger jährlich.
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
Primat des Kinderschutzes
Eine Retraumatisierung muss ausgeschlossen werden!
• anhaltende Misshandlung, Vernachlässigung oder sex. Missbrauch
• vermeidbare Exposition mit Schlüsselreizen (z.B. Bedrohungen
durch den Täter)
Problembereiche: Loyalitätskonflikt & Umgangsrecht
⇒ Sicherheit vor Psychotherapie!
Primat der Stabilität
Umfeld und Lebenssituation müssen stabil sein
•
Keine andauernden Beziehungswechsel, keine Unsicherheiten in
grundlegender Lebensgestaltung (Wohnen,..),
•
Erst nach erfolgtem Bindungsaufbau, Eingewöhnung an
Lebenssituation und Umgangsbesuche,.. (nicht „schnell noch zur
Vorbereitung..“)
Kind oder Jugendlicher muss ausreichend stabil sein
•
Keine akute Suizidalität, kein ausgeprägter Substanzkonsum,..
⇒ Stabilität vor Psychotherapie!
TF-KVT: Ziele der Therapie
Der Trauma-Verhaltenstherapeut hilft dem Patienten dabei
• traumatische Erinnerungen mit weniger Angst zu erleben,
• irrtümliche und belastende Gedanken zu verändern (wie z.B. die
Überschätzung aktueller oder künftiger Gefahren, Schuld),
• Stress zu bewältigen.
TF-KVT: Grundzüge
•Komponenten-basiert
•anpassbar und flexibel
•therapeutische Beziehung ist zentral
•Selbstwirksamkeit wird betont
• familienorientiert
•kindzentrierte Elternsitzungen parallel zu Kindersitzungen
durch gleichen Therapeuten
•Achtung für kulturelle Werte
TF-KVT: Komponenten
Wöchentlich eine Doppelstunde unter Einbezug einer nicht
misshandelnden, vertrauensvollen Bezugsperson
Komponenten:
1.
Psychoedukation & Elternfertigkeiten
2.
Entspannung
3.
Ausdruck und Modulation von Affekten
4.
Kognitive Verarbeitung und Bewältigung
5.
Trauma Narrativ
6.
Kognitive Verarbeitung und Bewältigung II
7.
In vivo Bewältigung von traumatischen Erinnerungen
8.
Gemeinsame Eltern-Kind Sitzungen
9.
Förderung künftiger Sicherheit und Entwicklung
Color your body
Erstellen des Trauma-Narrativs
Überschrift
1. Kapitel: Steckbrief des Kindes
2. Kapitel: „Vorher“, wie war die Beziehung zum Täter, bevor das Trauma
begann; oder wie das Leben vor dem traumatischen Ereignis verlief
3. Kapitel: Traumabezogenes Narrativ: „erzählen was passiert ist“
Erstellen des Trauma-Narrativs
In folgenden Sitzungen die Erzählung des Kindes erneut durchgehen und
schrittweise ergänzen:
Details anreichern, konkretisieren
traumabezogene Gedanken und Gefühle integrieren
das Kind desensibilisieren über das Geschehene zu reden
„hot spots“ oder „schlimmste Momente“ identifizieren
Belastung vor, während und nachher einschätzen
Erstellen des Trauma-Narrativs
4. Kapitel: worst memory – was das Kind niemandem erzählen wollte,
die schlimmste Erinnerung
5. Kapitel: „Was ist nun anders und was habe ich gelernt?“
Was würdest Du anderen Kindern sagen oder raten, die das Gleiche
erlebt haben?
Wie hast Du Dich verändert, seit x passiert ist, seit Du die
Behandlung begonnen hast?
„…Jetzt gibt es bei uns keine
Gewalt mehr ...
Ich habe noch ein bisschen
Angst, dass es wieder passiert.
Aber gegen die Angst helfen mir
die Entspannungsübungen, und
dass ich an etwas Schönes
denke oder daran, dass uns die
Polizei hilft.
…
Ich wünsche mir, dass ich auch
mal Polizist werde und dass ich
nicht so Alkohol trinke wie mein
Vater und nicht rauche. „
AWMF LL
Bei Patienten mit Traumata in der Kindheit wiederum
scheinen SSRIs – anders als bei Patienten mit Traumata
im Erwachsenenalter - hingegen zur einer mäßigen
Symptomerleichterung zu führen und werden deshalb
auch empfohlen
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
Flüchtlingskinder: Problemstellung
– Komplexität der Belastung
Trauma in der Vergangenheit –
hohe Belastung in der Gegenwart –
ungewisse Zukunft
Gastland:
Flucht:
Ursprungsland:
Traumatisierung
Beziehungsabbrüche ,
Verlust des
biographischen
Kontinuums,
Traumatisierung
Irritation durch fremde
Kultur, Wechsel des
Aufenthaltsortes und
Beziehungsabbrüche,
Spracherwerb, Schule/
Ausbildung,
Diskriminierung, unklarer
Aufenthaltsstatus, Sorge
um Familie, materielle
Sorgen
Zukunft
Beispiel Flüchtlingskinder
Vorstellung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
in der KJP-PIA Ulm von 2012-2014
12
10
8
6
Anzahl
Neuvorstellungen
4
2
0
2012
2013
2014
Mündliche Auskunft der Jugendämter
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der KJ-PIA
Vgl. Oppedal 2015, Vervliet 2014, Majumder 2014, Völkl-Kernstock 2014
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der KJ-PIA
Herkunftsland der Jugendlichen
1
1
2
9
1
1
2
1
4
Afghanistan
Iran
Irak
Pakistan
Somalia
Erithrea
Äthiopien
Senegal
Benin
2 Jugendliche flüchteten mit ihren Eltern aus Afghanistan in den Iran und verbrachten dort
mehrere Jahre,
1 Jugendlicher flüchtete mit seinen Eltern von Senegal nach Libyen und verlor sie dort nach
mehreren Jahren,
3 Mädchen flüchteten mit ihrer Mutter aus dem Iran nach Zypern und flüchteten von dort nach
mehreren Jahren.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der KJ-PIA
Fluchtwege:
Die meisten Jugendliche kamen auf großen Umwegen über den Landweg
und passierten dabei auch mehrere europäische Länder (z.B. Türkei,
Griechenland, Bulgarien,..)
Insgesamt 4 Mädchen kamen mit dem Flugzeug nach Deutschland.
Ein Jugendlicher flüchtete mit einem Boot übers Mittelmeer.
Die Fluchtdauer betrug zwischen 1 Tag und mehreren Jahren, einzelne
Jugendliche waren während ihrer Flucht zeitweise inhaftiert.
Viele Jugendliche konnten über die Dauer ihrer Flucht nur sehr ungefähre
Angaben machen.
Anlass der Vorstellung in der Institutsambulanz
Kopfschmerzen,
Bauchschmerzen,
Augenschmerzen,
Herzschmerzen
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der KJ-PIA–
Traumata
18
16
14
12
10
8
6
4
2
0
Behandlungsverlauf - Erstgespräch
Einbezug einer vertrauten Bezugsperson
Einbezug eines geeigneten Dolmetschers
Klärung des Gesprächscharakters zu Beginn:
therapeutisches Gespräch versus Verhör
Hinweis auf ärztliche Schweigepflicht
Hinweis auf Freiwilligkeit des Antwortens ohne Nachteil
Behandlungsverlauf – erste wichtige Maßnahmen
Etablierung einer verlässlichen Tages- und Wochenstruktur
anregen (Schule, Mahlzeiten)
Förderung positiver Aktivitäten und sozialer Bezüge
Oppedal, 2015, SJOP: The role of social support in the acculturation and
mental health of unaccompanied minor asylum seekers: Soziale Unterstützung
minimiert depressive Symptome
Unterstützung in der Selbstfürsorge
Schlafhygienische Beratung (Tag/ Nachtrhythmus)
Ggf. Medikation (Agomelatin)
Weiterer Behandlungsverlauf
Supportive Gespräche
Begleitung der Medikation
Ggf. Diagnose weiterer psychiatrischer Erkrankungen (z.B.
Anpassungsstörung, schädlicher Substanzkonsum)
Traumafokussierte kognitiv behaviorale Therapie, falls
subjektives Gefühl der Sicherheit
eine konstante Bezugsperson einbezogen werden kann
durch die Therapie bedingte emotionale Einbrüche im
Bezugssystem aufgefangen werden können
eine zumindest mittelfristig stabile Perspektive besteht
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
KINDESWOHLGEFÄHRDUNG
Definition BGH in Zivilsachen: Prognosefrage
Kindeswohlgefährdung wird definiert als …
„eine gegenwärtige, in einem solchen Maße
vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren
Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit
ziemlicher Sicherheit voraussagen lässt“
Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 14.
Juli 1956 (BGH FamRZ 1956, S. 350).
Problem: Statistische Prognose
(Riskochecklisten) vs. Individualprognose im
Einzelfall
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlungen in Kindheit und
Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
Prävalenz von Misshandlungen in Kindheit und
Jugend
Häuser, Schmutzer, Brähler & Glaesmer, 20111:
Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der
deutschen Bevölkerung
Auswertbare Daten von 2504 Personen (≥ 14 Jahre)
Demographische Angaben
Standardisierter Fragebogen (Childhood Trauma
Questionnaire)
______________________________________________________________________
Häuser W, Schmutzer G, Brähler E, Glaesmer H: Maltreatment in childhood and
adolescence - results from a survey of a representative sample of the German population.
Deutsches Ärzteblatt 2011; 108(17): 287–94.
1
Prävalenz von Misshandlungen in Kindheit und
Jugend
Schwere Formen von Missbrauch und Vernachlässigung in
Kindheit und Jugend
(N=2504; Mehrfachnennungen möglich):
12,0%
10,8%
10,0%
8,0%
6,6%
6,0%
4,0%
2,8%
1,9%
1,6%
2,0%
Ve
rn
ac
kö
hl
rp
äs
er
sig
lic
un
he
g
Ve
rn
ac
hl
äs
si
gu
ng
e
br
au
ch
er
e
sc
hw
sc
hw
er
e
em
er
er
s
ot
io
na
l
ex
ue
lle
rM
iss
iss
he
rM
sc
hw
ör
pe
rli
c
er
er
k
sc
hw
sc
hw
er
er
e
m
ot
io
na
le
rM
iss
br
au
ch
br
au
ch
0,0%
Umgang mit der ärztlichen Schweigepflicht
§ 203 StGB Verletzung von Privatgeheimnissen
(1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen
Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder
Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als
1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehörigen eines anderen
Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der
Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
2. Berufspsychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher
Abschlussprüfung,
3. Rechtsanwalt, Patentanwalt, Notar, Verteidiger in einem gesetzlich
geordneten Verfahren, Wirtschaftsprüfer, vereidigtem Buchprüfer,
Steuerberater, Steuerbevollmächtigten oder Organ oder Mitglied eines
Organs einer Rechtsanwalts-, Patentanwalts-, Wirtschaftsprüfungs-,
Buchprüfungs- oder Steuerberatungsgesellschaft,
4. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für
Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder
Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist,
4a.Mitglied oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den
§§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes,
5. staatlich anerkanntem Sozialarbeiter oder staatlich anerkanntem
Sozialpädagogen oder
6. Angehörigen eines Unternehmens der privaten Kranken-, Unfall- oder
Lebensversicherung oder einer privatärztlichen, steuerberaterlichen oder
anwaltlichen Verrechnungsstelle
Gliederung
• Was ist ein Trauma?
• PTSD / PTBS
• Störung der Emotionsregulation in der Entwicklung
• Traumafolgen
• Intervention und Therapie bei traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
• Exkurs: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
• Kindeswohlgefährdung, Definition
• Prävalenz von Misshandlung in Kindheit und Jugend
• Bundeskinderschutzgesetz/Schweigepflicht
anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt ein fremdes Geheimnis,
namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis
oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als
1. Amtsträger,
2. für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten,
3. Person, die Aufgaben oder Befugnisse nach dem
Personalvertretungsrecht wahrnimmt,
4. Mitglied eines für ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines
Landes tätigen Untersuchungsausschusses, sonstigen Ausschusses
oder Rates, das nicht selbst Mitglied des Gesetzgebungsorgans ist, oder
als Hilfskraft eines solchen Ausschusses oder Rates,
5. öffentlich bestelltem Sachverständigen, der auf die gewissenhafte
Erfüllung seiner Obliegenheiten auf Grund eines Gesetzes förmlich
verpflichtet worden ist, oder
6. Person, die auf die gewissenhafte Erfüllung ihrer
Geheimhaltungspflicht bei der Durchführung wissenschaftlicher
Forschungsvorhaben auf Grund eines Gesetzes förmlich verpflichtet
worden ist,
Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz
(KKG): § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen
durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung
(1)Werden
1. Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern
oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die
Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine
staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
2. Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter
wissenschaftlicher Abschlussprüfung,
3. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie
4. Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von
einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts
anerkannt ist,
5. Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den
§§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes,
6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich
anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder
7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten
Schulen
Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz
(KKG): § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen
durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung
… in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige
Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder
eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder
Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die
Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den
Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von
Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des
Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz
(KKG): § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen
durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung
(2) Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der
Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen
Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit
erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser
Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor
einer Übermittlung der Daten sind diese zu
pseudonymisieren.
Befugnisnorm in Bezug auf die Schweigepflicht im
Kinderschutzgesetz BaWü und ab 2012 Befugnisnorm im
Bundeskinderschutzgesetz (§ 4 KKG)
Abgestuftes Vorgehen im Rahmen der Güterabwägung
Bei Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung:
Stufe 3
IseF
Stufe 2
Stufe 1
Prüfung der eigenen
fachlichen Mittel zur
Gefährdungsabschätzung
und Gefährdungsabwehr
Hinwirken auf die aktive
Inanspruchnahme von
Hilfen durch die
Personensorgeberechtigten
Mitteilung an das Jugendamt
(Befugnis) wenn:
Tätigwerden dringend
erforderlich ist
Personensorgeberechtigte
nicht bereit oder nicht in
der Lage sind, an
Gefährdungseinschätzung
oder Abwendung der
Gefährdung mitzuwirken
Wenn Tätigwerden des JA zur Gefahrenabwendung erforderlich
Die Stichprobe einer Ulmer Befragung
Bundesland
Stadt
Facharzt
Häufigkeit Prozent
Ulm
Kinderheilkunde
12
30,77
Ulm
Allgemeinmedizin
27
69,23
Ulm
Ulm Gesamt
39
100,00
Neu Ulm
Kinderheilkunde
3
15,79
Neu Ulm
Allgemeinmedizin
16
84,21
Neu Ulm
Neu Ulm Gesamt
19
100
Gesamt
58
100
Wissen Sie wie die Schweigepflicht für Sie als Arzt im
Bereich Kinderschutz geregelt ist?
Häufigkeit
Prozent
ja
22
37,9
nein
31
53,4
verweigert
5
8,6
gesamt
58
100,0
Wie ist die Schweigepflicht momentan in diesem Bereich
für Sie als Arzt konkret geregelt?
−Zitat: „Weiß nicht. Ich rede mit Jugendschutz Menschen
über alles was mir am Herzen liegt. Ich fühle mich da nicht
unsicher.“
−Zitat: „Die Schweigepflicht ist immer gleich geregelt.“
Nachfrage: „Wie denn konkret?“ Antwort: „Das weiß ich
nicht. Das entscheide ich dann für mich."
ICD-10 GM Kodierung (DIMDI)
T74.-
Missbrauch von Personen
Kodiere zunächst die akute Verletzung, falls
möglich
T74.0
Vernachlässigen oder Im-Stich-Lassen
T74.1
Körperlicher Missbrauch
Ehegattenmisshandlung o.n.A.
Kindesmisshandlung o.n.A.
T74.2
Sexueller Missbrauch
T74.3
Psychischer Missbrauch
T74.8
Sonstige Formen des Missbrauchs von Personen
Mischformen
T74.9
Missbrauch von Personen, nicht näher
bezeichnet
Schäden durch Missbrauch:
- eines Erwachsenen o.n.A.
- eines Kindes o.n.A.
Achtung offizielle Klassifikation: Anwenden im Krankenhaus
war bis 2012 verboten! seit 2013 möglich!
Schweizer Gesundheitswesen definiert Abklärungsleistung
inkl. Vernetzung: „Zusammenarbeit mit externen Stellen…“
OPS 2013 :
1-945 Diagnostik bei
Verdacht auf
Gefährdung von
Kindeswohl und
Kindergesundheit
§ 294 a SGB V
Mitteilung von Krankheitsursachen und drittverursachten
Gesundheitsschäden
(1)...liegen Hinweise auf drittverursachte Gesundheitsschäden vor, sind die
an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und
Einrichtungen sowie die Krankenhäuser nach § 108 verpflichtet, die
erforderlichen Daten, einschließlich der Angaben über Ursachen und den
möglichen Verursacher, den Krankenkassen mitzuteilen. Für die
Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen, die nach § 116 des Zehnten
Buches auf die Krankenkassen übergehen, übermitteln die Kassenärztlichen
Vereinigungen den Krankenkassen die erforderlichen Angaben
versichertenbezogen.
(2) Liegen Anhaltspunkte für ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 52 Abs. 2
vor, sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und
Einrichtungen sowie die Krankenhäuser nach § 108 verpflichtet, den
Krankenkassen die erforderlichen Daten mitzuteilen. Die Versicherten sind über
den Grund der Meldung nach Satz 1 und die gemeldeten Daten zu informieren.
Com.Can
Interdisziplinäres Kompetenzzentrum
• Praxisforschung
• Aus-, Fort- und Weiterbildungszentrum
• Prävention und Intervention bei Vernachlässigung,
Misshandlung und sexuellem Missbrauch
• Frühe Hilfen
Com.can ULM
Transdisziplinäre Traumaforschung in Ulm
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie /
Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm
Steinhövelstraße 5
89075 Ulm
www.uniklinik-ulm.de/kjpp
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert
Herunterladen