DEUTSCHLANDFUNK Feature Redaktion: Karin Beindorff Sendung: Dienstag, 03.04.2007 19.15 - 20.00 Uhr Dschingis Khans Erben vor dem Aus? Mit Nomaden durch die Mongolei Co-Produktion DLF/WDR/SWR/hr Von Achim Nuhr DLF-Fassung URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - ATMO: reitende Gruppe, Stimmen, Reiter singt, Pferd schnaubt Autor: Eine Gruppe Mongolen mit einer Kuhherde taucht plötzlich vor uns in der Steppe auf: Ein Mann mit rotem Mantel und Cowboyhut singt, zwei weitere Männer und eine alte Frau hören zu. Ein Bild, wie aus den Zeiten des Dschingis Khan. Seit Jahrhunderten ziehen hier die Nomaden auf ihren kleinen, stämmigen Pferden 2 über das weite Grasland. Die Männer grüßen uns kurz und reiten weiter. Die alte Frau zieht die Zügel an, bleibt stehen und lächelt uns an. Dann gleitet sie von ihrem Pferd, zieht eine Kuh am Ohr herbei, melkt sie und bietet uns die Milch an. Sie trägt ein grünes Gewand, das an einen Bademantel erinnert und ein groß geblümtes Kopftuch. ATMO: Kühe, muhen, melken, Milch in Eimer O-TON: mongolisch Sprecherin 1: Im Sommer und Herbst fressen unsere Kühe reichlich Gras und wir können viel Milch melken. Aber im Winter ist das Gras von Schnee und Eis bedeckt und die Milch wird knapp, weil die Kühe hungern müssen. Geht das den Nomaden in Deutschland genau so? Stimmt es, dass dort die Kühe in Häusern leben? Musik Ansage: Dschingis Khans Erben Mit Nomaden durch die Mongolei Ein Feature von Achim Nuhr Autor: Von Düsseldorf bin ich nach Ulan Bator geflogen, der Hauptstadt der Mongolei. Ich möchte in der mongolischen Provinz Khentii - nordöstlich von Ulan Bator herausfinden, wie die Nomaden der Mongolei im 21. Jahrhundert leben. Während in den meisten Regionen der Erde Nomaden längst sesshaft geworden sind, gibt es in der Mongolei heute mehr Nomaden als je zuvor: Sie machen rund 40 Prozent der 2,6 Millionen Einwohner aus. Bei uns gilt ihr Leben als romantisch: Man schlägt einfach irgendwo in endlosen Steppen das Zelt auf, dort, wo das Vieh gerade Weiden findet und zieht weiter, wenn das Futter knapp wird. Als berühmtester Nomade gilt Dschingis Khan, der im 13. Jahrhundert die mongolischen Stämme einte und damals mit seinen Reiterhorden ein riesiges Reich eroberte. 3 Musik ATMO: Jeep befährt Piste, "patriotische" Musik aus dem Auto-Recorder Autor: Seit vier Stunden fahre ich in einem Jeep quer über grüne Wiesen: neben mir der Fahrer Bilgee und die Dolmetscherin Odnoo. Wir kommen von Anfang an prächtig miteinander aus. Das ist wichtig, denn die Reise wird lang: Die Mongolei ist fast viereinhalb mal so groß wie Deutschland und hat die niedrigste Bevölkerungsdichte der Welt. Die Steppe gleicht einem riesigen grünen Meer mit Wellenbergen und -tälern. Gras, so weit das Auge reicht. Vor uns zeichnen sich zwei schmale Linien ab: alte Reifenspuren, die sich in der Ferne verlieren, wo sie vielleicht ein paar Hundert Kilometer später einmal andere Spuren kreuzen werden. Von Bilgee, Odnoo und der Gastfreundschaft der Nomaden werde ich in den nächsten Wochen abhängig sein: Ohne sie würde ich orientierungslos über eine gigantische, fast menschenleere Wiese irren. Einen halben Tag sind wir schon unterwegs, bevor wir endlich Menschen begegnen: der Gruppe mit dem singenden Mann und der alten Frau, die uns Milch anbietet. Die Frau heißt Odjargal - wie fast alle Mongolen trägt sie nur einen Namen. Die Männer sind ihre Schwiegersöhne, erklärt sie, und dann zeigt sie auf einen einsamen weißen Punkt in ein paar Hundert Metern Entfernung: ihre Familienjurte. Dorthin lädt sie uns ein. ATMO: Tür geht auf und zu, Kocharbeiten, Gespräche mongolisch, Pferd wiehert O-TON: mongolisch Sprecherin 1: Sind Sie aus Ulan Bator? Wollen Sie Fleisch von Kühen, Schafen oder Ziegen kaufen? Ich kann auch Sahne und Leder und Schafwolle anbieten. Letzte Woche ist schon mal ein Auto hier vorbeigekommen. Sie kaufen alle gerne bei uns. 4 Autor: Zum ersten Mal stehe ich in einer Jurte. Sie ist kreisrund und hat senkrechte, gut zwei Meter hohe Wände aus ineinander gesteckten Holzgittern. Die Jurtenwände aus Filz oder Wolle werden über die Holzgitter gespannt. Wenn eine Familie mehr Platz braucht, wird einfach ein weiteres Holzgitter hinzugefügt. Frau Odjargals Jurte hat einen Durchmesser von ungefähr acht Metern. Sie ist die Großmutter. Ihr Mann und ihr Sohn sind unterwegs, Schwiegertochter und Enkel sitzen jetzt mit im Zelt. Noch zwei Wochen wird die Familie hier bleiben und dann weiterziehen. O-TON: mongolisch Sprecherin 1: Wir ziehen meist dreimal im Jahr in eine andere Gegend um - so wie alle Nomaden hier. Im Winter leben wir am Fuß der Berge, weil das Wetter in den Tälern milder ist als in der offenen Steppe. Im Frühling ziehen wir in eine Gegend, wo wir nach dem großen Tauwetter wieder gutes Gras für unsere Tiere finden. Im Sommer streifen wir dann quer durch fettes Grasland, bis die sich Tiere ein Polster angefressen haben für den nächsten Winter. Für einen Umzug brauchen wir meist nur einen Tag, bei hohem Schnee vielleicht zwei Tage: Dann falten wir unsere Jurte zusammen, schnallen sie auf ein Kamel und los geht's wie mit einem Auto. ATMO: Hunde bellen, Baby brüllt Autor: In der Mongolei wird eine Jurte als "Ger" bezeichnet. Das runde, windschlüpfrige Design bewährt sich seit über 2000 Jahren: Die Eingangstür zeigt nach Süden, weil die eisigen Winde meist aus anderen Richtungen kommen. Gegenüber der Tür steht im Innern der Hausaltar mit Buddha-Figuren, schamanistischen Devotionalien und Dschingis Khan-Gemälden. In der Mitte brennt Feuer in einem kleinen Metallofen. Und an den Zeltwänden stehen eiserne Betten, Holztruhen, Regale und Eimer. 5 Kühe, Ziegen und Schafe liefern den Nomaden alle Lebensmittel. Pferde und Kamele helfen bei der Arbeit. Mein Reiseziel Khentii ist das Kernland der Mongolen. Seit mehr als 1200 Jahren ziehen sie hier umher. Die einzelnen Stämme bekämpften sich ständig, bis Dschingis Khan ihnen eine eiserne Ordnung aufzwang. Der Großkhan aus dem 13. Jahrhundert gilt hier deshalb noch heute als Held. ATMO: Zelt aufbauen, Stimmen, lachen, Ratschläge, Regen Autor: Am Abend bauen wir nahe von Frau Odjargals Ger unsere Campingzelte auf. Das Klima im Nordosten gilt als mild - nach mongolischem Maßstab. Denn im Süden der Mongolei, vor allem in der Wüste Gobi, wird es noch viel kälter. Hier in Khentii herrscht zu Beginn meiner Reise - im Spätsommer - noch eine angenehme Temperatur, und als angenehm gilt schon, wenn es nachts nicht friert. Musik Autor: Nach einer ruhigen Nacht brechen wir unsere drei Zelte ab und reisen weiter nach Norden in Richtung russische Grenze. In dieser Gegend verließen vor etwa 1200 Jahren die mongolischen Stämme die Wälder der Taiga. Wenn das mongolische Grasland fruchtbar genug gewesen wäre für Ackerwirtschaft, hätten sie vielleicht gleich hier in Khentii als Bauern sesshaft werden können. Doch das Grasland eignet sich seit jeher nur für die Viehwirtschaft - Anbaupflanzen wie Reis oder Weizen wachsen hier nicht. Wirtlichere Regionen waren für die meisten Mongolen damals nicht erreichbar, denn die Steppe ist im Westen und im Osten von hohen Bergen begrenzt, im Süden von der Wüste Gobi und im Norden von dichten Wäldern. So spezialisierten sich die Mongolen auf die Tierzucht und zogen umher - stets auf der Suche nach frischem Gras für ihre Tiere. ATMO: Pferde stapfen durch Wasser 6 Autor: Nach vier Tagen im Jeep komme ich auf schwer passierbarem Gelände nur noch mit dem Pferd weiter. Bilgee muss nun große Umwege fahren, um mit unserer Ausrüstung nachzukommen. Odnoo und ich leihen alle paar Tage neue Pferde bei Nomaden, denen wir zufällig begegnen: Die sind froh über ein kleines Zusatzgeschäft und finden immer in Minutenschnelle Pferde für uns - plus einen Verwandten, der uns eine Weile begleitet und die Pferde dann wieder mit zurücknimmt. Das ist hier so normal wie bei uns das Leihen eines Mietwagens. Manchmal dauert es Stunden, bis ein Ger in der Landschaft auftaucht. Tagelang bekommen wir keine festen Gebäude zu sehen, nicht einmal Blockhütten. Wir reiten an den letzten Telegrafenmasten vorbei. Handys empfangen nicht mehr. Strom und Wasserleitungen verschwinden, schließlich auch Handpumpen und Donnerbalken. 1990, als der reale Sozialismus auch in der Mongolei implodierte, begann die ohnehin bescheidene Infrastruktur für Landbewohner zusammenzubrechen. Bei meinen Reisevorbereitungen hatte ich nur eine einzige Quelle gefunden, die diesen Niedergang systematisch analysiert: einen Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. Da ist zu lesen, dass nur noch ein Drittel der Landbewohner sauberes Wasser trinken kann. Tendenz: weiter sinkend. Praktisch nirgendwo in der Steppe gibt es Wassertoiletten, Heizungen oder Duschen. Außer mir hat hier wohl niemand einen hochwertigen Wasserfilter oder gute Medikamente für Notfälle dabei. ATMO: durch Wasser waten Autor: Einheimische schöpfen das Trinkwasser aus einem eiskalten Fluss mit Namen Khurkh. Drei Winter hintereinander hat es hier seit 1999 ungewöhnlich früh und lange geschneit. Das Gras war tiefgefroren und unter der Schneedecke für die Tiere nicht mehr erreichbar. Eine Katastrophe: Etwa ein Drittel der Nutztiere verendete, über 11 Millionen. Wenig glaubwürdige Statistiken behaupten, es seien in diesen Jahren nur einige Dutzend Menschen gestorben. 7 Nach einem sechsstündigen, pausenlosen Ritt über fast 50 Kilometer erreichen Odnoo und ich endlich ein einzelnes Ger. ATMO: Holztüre klappert Autor: Drinnen sitzt eine alte Frau mit ihrer Tochter. Wie es die Sitte hier verlangt, beantwortet die Ältere meine Fragen. O-TON: mongolisch Sprecherin 1: Ja, die Winter nach 1999 waren sehr schwierig. Wir haben uns damals zum Glück gleich dafür entschieden, aus dem Süden hierher zu wandern. Uns ist hier bisher kein einziges Tier wegen des Wetters gestorben. Wir haben Glück gehabt. Aber aus unserer alten Region haben wir von so vielen Familien gehört, die unzählige Tiere verloren haben. Da haben nun manche nicht mehr genug zu essen. ATMO: Geräusche, Gespräche mongolisch, Essgeräusche Autor: Frau Doltschings Familie geht es offensichtlich besser: Quer durch das Ger ist eine Wäscheleine gespannt, auf der gehäutete Fleischstücke zum Trocknen hängen. Unter der Leine hängen auf Stoff gemalte Tierbilder für den Enkel. Auch wärmende Steppdecken und ein Fußball-Trikot von Juventus Turin, das Frau Doltschings Tochter trägt, lassen auf bescheidenen Wohlstand schließen. Wir erfahren, dass die Familie mehr als 200 Schafe, 100 Ziegen, 50 Pferde, 70 Kühe und zwei Kamele besitzt. Unsere Gastgeberin ist trotz ihres bescheidenen Wohlstandes nicht zufrieden. O-TON: mongolisch Sprecherin 1: Wenn ich die heutige Zeit mit dem Sozialismus vergleiche: Früher haben alle hart gearbeitet. Heute sind einige Mongolen faul, vor allem junge Leute. Und für 8 andere gibt es nicht genügend Arbeitsplätze. Zum Teil liegt das an der Regierung, zum Teil an den Menschen selbst. Die Regierung hat nicht mehr genügend Möglichkeiten und Geld, um Arbeitsplätze zu schaffen. Früher habe ich als Angestellte für die Revolutionäre Volkspartei gearbeitet - und zwar so verantwortungsbewusst wie möglich. Autor: In diesem Zelt mitten in der Steppe, fernab von jeder menschlichen Ansiedlung, fällt es schwer, mir die alte Frau als Angestellte einer Kommunistischen Partei vorzustellen. Ich habe hier in weitem Umkreis nichts bemerken können, was auf irgendwelche öffentlichen Institutionen schließen ließe. Der kommunistische Staat muss seine Schwierigkeiten gehabt haben, über dieses riesige Land zu herrschen. Anfang der 20er Jahre hatten mongolische Nationalisten die russischen Bolschewiki als Helfer gegen chinesische Besatzer ins Land geholt. 1924 wurde die Mongolei zur Volksrepublik erklärt. Wenige Jahre später wurde auch der mongolische Sozialismus stalinisiert; Zehntausende Menschen starben während Terrorwellen in den 30er Jahren. Mindestens ein Viertel der Mongolen widerstand dem staatlichen Druck und lebte auch weiterhin als Nomaden. Die anderen Landbewohner wurden in Hunderten von Genossenschaften organisiert: Sie erhielten ein festes Einkommen und soziale Leistungen. Eine Infrastruktur wurde geschaffen, Winterställe und Wasserbrunnen wurden gebaut. O-TON: mongolisch Sprecherin 1 Vor 1990 waren alle Tiere Staatseigentum. Deshalb hat der Staat viel getan für die Tiere. Es gab Tierärzte, Vorsorgeuntersuchungen und ein Umweltministerium, das den Nomaden sehr geholfen hat. Wenn es mal heftig geschneit hatte, kamen die Mitarbeiter gleich vorbeigeeilt. Da blieb niemand am Schreibtisch sitzen, auch die Direktoren nicht. Sie gingen hinaus aufs Land bis in die letzten Ecken und halfen den Menschen. 9 Autor: Frau Doltsching begann Anfang der 60er Jahre in der Kommunistischen Partei zu arbeiten und wurde zur Buchhalterin ausgebildet. Damals musste ihr Land eine grundlegende politische Entscheidung treffen: Die Mongolei - geographisch die "Äußere" Mongolei - liegt zwischen China im Süden und der früheren Sowjetunion im Norden. Diese beiden großen Volksrepubliken waren verfeindet und standen seinerzeit mehrfach am Rande eines Krieges. Die Mongolei schlug sich auf die Seite der Sowjetunion und konnte damit wenigstens formal ihre Selbstständigkeit als Staat bewahren - anders als die "Innere" Mongolei, die südöstlich an die Äußere Mongolei grenzt und bis heute zur Volksrepublik China gehört. 1990 wurde auch in der sowjetisch orientierten Mongolei die Wende eingeleitet: Nach Demonstrationen wurde erstmals frei gewählt und danach das Genossenschaftssystem aufgelöst. O-TON: mongolisch Sprecherin 1: 1990 wurden auch alle Tiere privatisiert: Alle - die Melker, die Buchhalter, die Sekretärinnen - bekamen Tiere zugeteilt. Seitdem ist jede Familie auf sich allein gestellt. Solange die Tiere genügend Gras finden, geht alles gut. Dann kann man möglicherweise sogar besser leben als früher. Aber privatisieren heißt: Für jeden einzelnen muss es gut laufen. Wenn die Tiere nicht genügend fressen können, passiert was Schlimmes. Denn heute schaut niemand mehr bei den Nomaden vorbei und hilft. ATMO: reiten, Pferde schnauben, Musik Autor: Sieben Tage sind wir schon im Tal des Flusses Khurkh unterwegs. Erste Baumgruppen tauchen auf: Vorläufer der Taigawälder weiter im Norden. Immer wieder müssen wir den Strom überqueren, um Sumpfgebieten auszuweichen. Doch jetzt ist er zu tief geworden für die Pferde. Am Ufer wartet ein Floß aus schiefen Holzplanken. Eine geflickte Eisenkette ist über den Fluss gespannt. Der Fährmann dreht an einem Schwungrad, um das Floß entlang der Kette durch den Fluss zu ziehen. 10 ATMO: Motorrad nähert sich. "now he will carry this motorcycle here”, Motor aus, Stimmen mongolisch Autor: Gerade will der Fährmann ablegen, als sich noch ein Motorrad nähert - das erste Motorengeräusch, das ich seit vier Tagen höre. Der Fahrer hat einen Ziegenbock über dem Benzintank festgebunden. Die Hörner des Tieres sind am Rückspiegel befestigt. ATMO: Kette werfen, Fährmann brüllt, Stimmen, lachen, Autor: Der Fährmann macht ein gutes Geschäft: Wir zahlen dreimal 20 Cent für Menschen und Pferde, dazu kommt ein ganzer Euro für Motorrad und Fahrer da kann er den Ziegenbock ruhig umsonst mitfahren lassen, sagt der Fährmann. O-TON: mongolisch Sprecher 1: Bei dem Wetter habe ich schon mal zehn Fahrten am Tag. Das letzte Motorrad ist erst ein paar Stunden her. Wenn es viel regnet, kann der Fluss allerdings schnell sehr tief und reißend werden. Dann muss ich die Fahrten einstellen. ATMO: Regen auf Zeltdach, Gewitterdonnern Autor: Nur im Winter sind die Flüsse der Mongolei monatelang zugefroren und deshalb sicher zu überqueren. Von Juni bis September fällt dagegen der vom Fährmann angesprochene "viele Regen". Auch im Frühling und Herbst wird es gefährlich, denn dann sind die Flüsse nur angefroren und das Eis entsprechend brüchig. Auch dann kann die Fähre nicht fahren. Wer die Überquerung auf eigene Faust wagt und sich dabei ernstlich verletzt, stirbt meist einsam: Krankenhäuser sind weit entfernt. Erfährt ein Hospital überhaupt von einem Unfall, muss nicht selten erst Benzingeld für den Transport aufgetrieben werden. 11 Wegen der immer schlechter werdenden medizinischen Versorgung breiten sich auch wieder einfache Krankheiten aus: Seit 1991 hat sich die Zahl der an Tuberkulose Erkrankten mehr als verdoppelt. Auch die besiegt geglaubte Pest bricht in der Mongolei fast jedes Jahr irgendwo aus. Musik ATMO: Stimmen Autor: Nach drei weiteren Tagen im Sattel taucht in der Steppe plötzlich am Horizont eine kleine Sehenswürdigkeit auf: Ein Dutzend richtiger Häuser mit Steinwänden und Dächern aus Ziegeln. Als wir näherkommen, sehen wir, dass die Gebäude leer stehen. Die Fassaden haben Risse, viele Dachziegel fehlen. Aus einer der Hausruinen tritt ein älterer Herr mit Schirmmütze, Felljacke und schwarzen Lederstiefeln. Er hat uns schon von weitem gesehen. O-TON: mongolisch Sprecher 1: Das war hier früher ein Dorf namens Binder. Da drüben bin ich damals in die Schule gegangen. Daneben war ein Laden und die Dorfregierung mit der Verwaltung. Aber in den 50er Jahren traten hier mehrfach die Flüsse über ihre Ufer und das ganze Tal stand unter Wasser. Damals ist viel Vieh ertrunken. Sehr gefährlich. Da kamen aus Ulan Bator Wissenschaftler und sagten, dass wir wegziehen müssen: auf höheres Gelände. ATMO: Schritte über Gelände Autor: Damals seien Holzhütten hier abgebaut und anderswo wieder aufgebaut worden, erzählt uns Herr Damdiseren. Die Steinhäuser verfielen. Wieder werde ich an die vergangene realsozialistische Epoche erinnert: an die Arbeit von 12 Wissenschaftlern, Landschaftsplanern und an eine mächtige Zentralregierung, die auch fernab vom Zentrum ihre Pläne durchsetzte. O-TON: mongolisch Sprecher 1: Da drüben in den Gebäuden war eine große Molkerei, wo wir Milch und Sahne produziert haben. Dort habe ich Jahrzehnte lang gearbeitet - zuletzt als Leiter. Es gab Maschinen, 100 Melkerinnen und 5 000 Kühe. 1,7 Millionen Liter Milch haben wir jährlich produziert. Das war ein Staatsbetrieb hier. Doch dann wurde die Produktion eingestellt. ATMO: Türe aufschließen, Betreten der Halle, "here is some old motors to produce some electricity" Autor: Herr Damdiseren lädt uns zur Besichtigung ein: In einer Halle liegen unter einer dicken Staubschicht kreuz und quer alte Werkzeuge herum. Weiter hinten sind im Halbdunkeln ein Stromgenerator und ein Traktor ohne Reifen zu erkennen. O-TON: mongolisch Sprecher 1: Früher haben wir hier aus Milch jede Menge Butter und Sahne produziert. Heute lohnt das nicht mehr: Die Preise sind in der Mongolei viel zu niedrig, weil diese Produkte billig importiert werden - aus irgendwelchen Überschüssen der Industrieländer. Die Regierung hat heute kein Konzept mehr für eine eigene Wirtschaftspolitik. Deshalb wurde unsere Fabrik stillgelegt. ATMO/O-TON: Türe öffnen, "these tools can be used again, so he locked this house", mongolisch Sprecherin 2 (Dolmetscherin Odnoo): Diese Maschinen könnten weiterhin genutzt werden, sagt er. Deshalb schließt er die Türe ab. 13 Autor Der Entwicklungsreport der Vereinten Nationen schreibt, dass die mongolische Regierung beim Wechsel zur marktorientierten Wirtschaft eine "Schocktherapie" probiert habe. Vor der Wende wurden Rohstoffe sowie industrielle Produkte wie Leder und Bekleidung garantiert abgenommen - von anderen sozialistischen Staaten zu hohen, subventionierten Preisen. Nach dem Ende des Sozialismus schrumpfte der Industriesektor allein bis 1993 um mehr als 40 Prozent. Die Agrarindustrie auf dem Land brach praktisch völlig zusammen - wie Herrn Damdiserens Molkerei. Seitdem boomen nur noch die Rohstoffindustrien. Doch davon profitieren in der Mongolei nur wenige korrupte Politiker und Verwalter: Ganz offiziell haben Spitzenpolitiker millionenschwere Besitz- und Schürfrechte an Rohstoffvorkommen wie Kohle und Gold inne, die sie munter an zahlungskräftige Unternehmen verscherbeln. Mittlere Chargen klauen einen Großteil der ohnehin mageren Lizenzgebühren, die ausländische Konzerne für Abbau und Export zahlen müssen. Die Ausländer erhalten sogar auf Jahre Steuerbefreiungen, wogegen immer wieder in der Hauptstadt demonstriert wird. Auch Nomaden sind indirekt vom Abbau der Rohstoffe betroffen: Sie verlieren Weideflächen, die zu riesigen Minengebieten mutieren. Und wenn plötzlich alle Menschen und Tiere krank werden, hat wieder jemand den Fluss vergiftet: Gold wird oft illegal mit Quecksilber aus dem Gestein gelöst; danach wandert das Quecksilber in Flüsse und Grundwasser. Musik ATMO: reiten, Vogelstimmen, Pferde atmen heftig Autor: Nach fast zwei Wochen in der Steppe reiten wir am Onon entlang, dem Fluss, in dem Dschingis Khan als Kind angelte. Immer einsamer wird es, je weiter wir nach Norden ziehen. Plötzlich ist das Wetter winterlich geworden: Bei minus 5 Grad reiten wir zwischen Bergen und Hügeln parallel zur sibirischen Grenze. Das letzte Ger haben wir vor fünf Stunden verlassen. Gerade zwei unbewachten Viehherden sind wir begegnet. Unsere Pferde kämpfen um sicheren Tritt auf 14 vereisten Felsbrocken. Ein eiskalter Wind bricht los. Er trägt aus der Ferne Stimmen heran. Am Waldrand ist eine Jurte auszumachen. ATMO: Schamanen-Ger, Wind Autor: 20 Menschen stehen vor der Jurte - für hiesige Verhältnisse ein Massenauflauf. Als wir näherkommen, beginnt ein älteres Paar zu trommeln. ATMO: Schamanen-Nachwuchs trommelt und singt draußen vor Jurte Autor: Die Trommler tragen hochaufragende, spitze Zaubererhüte und schwarze Umhänge, an denen bunte Stoffbänder und Wollknäuel befestigt sind. Die Zuschauer verneigen sich immer wieder vor den beiden: Die Jüngeren, teils noch Kinder, wirken dabei eher ratlos, die Älteren routiniert wie alte Glaubensgefährten. Wir sind in eine schamanische Versammlung geraten. Nach dem Ende der realsozialistischen Ära erstarkt das religiöse Leben in der Mongolei wieder. Von den dreißiger Jahren an wurde das Religionsverbot mit aller Härte durchgesetzt. Mit den wenigen Christen und Muslimen hatte die neue Führung leichtes Spiel. Der Hauptangriff galt der mit Abstand größten Glaubensgruppe, den Buddhisten: Unzählige Mönche wurden ermordet, ihre Klöster niedergebrannt. Der schamanistische Glauben aber, der keinen Klerus und keine Tempel kennt, war schwerer zu verfolgen. Seit 1990 herrscht nun wieder Religionsfreiheit. ATMO: Tür, im Schamanen-Ger: wir stellen uns vor, Monolog des Schamanen - "he is leading director shaman” Autor: Drinnen im Ger des Schamanen schimmern Butterkerzen in Schalen und verbreiten ein schummriges Licht. Auf einem Ofen brodelt ranzig riechender Buttertee. An einer Schnur hängen tibetische Gebetsfahnen, obwohl in der 15 Mongolei heute fast niemand mehr tibetisch versteht. Dem Eingang gegenüber sitzt ein Mann wie ein Bär. Er trägt einen besonders bunten Umhang - und eine große Sonnenbrille. O-TON: mongolisch Sprecher 2: Wir Schamanen sprechen direkt mit den Göttern und den verstorbenen Menschen im Himmel. Wenn ein Schamane stirbt, wird er für immer ein Geist im Himmel. Von dort sieht er auf unsere Welt herab und spricht mit den Schamanen, die noch auf der Erde sind. Die Verbindung zwischen Erde und Himmel ist die wichtigste Aufgabe der Schamanen. Außerdem helfen wir den Menschen auf der Erde, wenn sie krank sind. ATMO: Stimmen, Glöckchen, husten Autor: Noch in Ulan Bator hatte ich in der englischsprachigen Zeitung "MongolenKurier" gelesen, dass die Schamanen unlängst eine schwere Niederlage einstecken mussten: Der Präsident der Mongolei, Nambaryn Enkhbayar - ein alter Kommunist, der seine Karriere einst in der Revolutionären Volkspartei begann - hat den Buddhismus zur offiziellen Staatsreligion erklärt und sich selbst als Anhänger bezeichnet. ATMO: Glöckchen, Schamane selbst singt in Jurte, Gesang der Gläubigen Autor: Niemand weiß, wie viele Anhänger die Schamanen heute tatsächlich haben. Viele Mongolen wollen sich gar nicht für nur eine Glaubensrichtung entscheiden. Bilgee, der Fahrer, und die Dolmetscherin Odnoo berühren auf unserer Reise Dschingis Khan-Statuen mit ihrer Stirn, als wären es Heiligenfiguren. Sie verneigen sich aber auch vor Buddhafiguren. Und im Schamanen-Ger nehmen sie ebenfalls bald am Ritual teil: Sie stimmen in den Refrain ein und führen ihre gefalteten Hände vor die Stirn. 16 Draußen tobt der eiskalte Wind. Nach 1400 Kilometern mit Jeep und Pferd über Trampelfade, mit einem Zelt als einziger Behausung setzt bei mir Erschöpfung ein. Meine eigenen Vorräte wie Knäckebrot, Müsli und Kaffee sind aufgebraucht und ich bin auf das mongolische Essen angewiesen. Die mongolische Küche ist laut einem Reiseführer "eher auf's Überleben orientiert, denn auf Geschmack " und besteht praktisch nur aus Fleisch und Tierprodukten, wenn nicht gerade jemand aus der Stadt Exotisches wie Kartoffeln mitgebracht hat. Mein Sitznachbar erkennt meine angeschlagene Gemütsverfassung und bietet Hilfe an: Wir könnten doch ein Stück gemeinsam reiten. ATMO: Pferde Autor: Auf einem Geröllfeld kommen unsere Pferde ins Schnaufen. Tief hängen dunkle Wolken über uns. Eisregen setzt ein. Es wird dunkel und wir laden unseren Mitreisenden, Herrn Batoldak, in eines unserer Zelte ein. ATMO: starker Regen auf Zelt, Stimmen, rollender Donner Autor: Es wird die ungemütlichste Nacht auf dieser Reise. Hier sind nachts Räuberbanden unterwegs - viele kommen aus dem nahen Sibirien herüber. Meistens werden Tiere gestohlen. ATMO: Hund direkt neben Zelt, nachts, Wolf heult Autor: Ich hatte mich schon gefragt, warum Herr Batoldak mit drei Wachhunden unterwegs ist. Diebe sind hier offenbar nicht die einzige nächtliche Gefahr. Ich schlafe in drei Schlafsäcken und einer Daunenjacke, doch trotzdem erwache ich mit einer Gänsehaut: Draußen heult ein Wolf! Ich liege allein in meinem Einzelzelt und horche, ob sich in den anderen Zelten etwas regt. Doch die anderen schlafen einfach weiter. Für mich ist die Nacht zu Ende. Aufgeregt 17 erzähle ich beim Frühstück von dem Wolf. Herrn Batoldak entlockt meine Schilderung nur ein mildes Lächeln: O-TON: mongolisch Sprecher 2: Die Hunde schützen die Menschen vor den Wölfen. Nur in sehr gefährlichen Situationen benutzen wir Gewehre. Normalerweise attackieren die Wölfe keine Menschen. Nur wenn der Wolf dumm ist oder Tollwut hat, kommt das mal vor. Autor: Unser Wolf war zum Glück klug und gesund, denn niemand hat ein Gewehr dabei. ATMO: Pferde außer Atem auf wildem Terrain Autor: Unsere Wege trennen sich: Herr Batoldak macht sich auf den Weg zu seiner Familie. Musik ATMO: Jeep startet, fährt ab Autor: Endlich können wir wieder über eine längere Distanz mit dem Jeep fahren: Zu unserem letzten Ziel vor der Rückkehr nach Ulan Bator führt wieder eine befahrbare Piste. Die Bezirkshauptstadt Batshireet mit ihren 3000 Einwohnern kommt mir nach drei Wochen in der Steppe wie eine Metropole vor: Die Hauptstrasse bilden immerhin vier Fahrspuren nebeneinander im Sand. Dutzende Holzbuden und mehrere Steinhäuser sind in der Abenddämmerung zu erkennen, dahinter blinkende Lichter: Es gibt wieder Strom! Die Lichterketten einer Karaoke-Bar versprechen sogar ein Nachtleben. ATMO: zwei girls sprechen mongolisch, Musik 18 Autor: Drinnen fällt mein Blick zuerst auf ein Poster, auf dem sich zwei nackte europäische Frauen auf einem Motorrad räkeln. Nein, sagt die Bardame, sie kennt keinen geeigneten Zeltplatz für uns, serviert aber gerne mongolisches Bier. In der Bar sitzen und tanzen etwa 30 Menschen. Ein Stroboskop wirft Lichtblitze auf die schummrige Tanzfläche: Zwei betrunkene, traditionell gewandete Nomaden halten sich aneinander fest. Ein Dritter torkelt, hält sich an einem Vorhang fest, reißt ihn dabei herunter. Hinter dem Vorhang schlafen in einer Karaoke-Kabine ein paar junge Männer. ATMO: "Hauptstraße" Binder: Motorrad passiert, Schritte passieren, Autos, Stimmen Autor: Am nächsten Morgen betrachten Bilgee, Odnoo und ich meine Fotos aus der Karaoke-Bar. Auch wir hatten dort zuviel getrunken. In der grellen Mittagssonne lese ich, was die Vereinten Nationen über den "Alkoholismus in der Mongolei" berichten: 51 Prozent der erwachsenen Mongolen "missbrauchen Alkohol andauernd"! Uns kommt ein verkatert aussehender Mann entgegen, der mich gestern in der Bar sehr freundlich willkommen geheißen hatte. Er erzählt, dass er erst im Frühling aus der Steppe hierher gezogen und nun sesshaft geworden sei. O-TON: mongolisch Sprecher 2: In der Steppe zu leben oder hier, das macht einen großen Unterschied. In der Steppe hatte ich nie Freizeit. Ich habe immer nur gearbeitet - keine Zeit zum Trinken. Aber hier im Dorf: Hier werde ich sehr faul, weil nicht genügend zu tun ist. Wasser von der Quelle holen, Brennholz hacken für das Feuer - und das war's dann schon. Aber ich muss natürlich meine Kinder ernähren. Und das ist schwierig, weil man hier für alles Geld zahlen muss. Meine Frau und ich haben keine Ausbildung und können deshalb nicht in einem Büro arbeiten. Auf dem Land konnten wir arbeiten, hier finden wir keine Arbeit. Unseren Kindern soll es 19 einmal besser gehen: Sie sollen alle etwas lernen und deshalb wohnen wir jetzt hier. Hier können sie in die Schule gehen. ATMO: in Hütte: alte Mutter macht Geräusche, Kinder und Frauen, Kochgeräusche Autor: In der ersten Woche meiner Reise hatte ich unterwegs auch viele Kinder gesehen, bis sie allesamt plötzlich verschwanden. Odnoo hatte mir erklärt, dass die Schulferien zu Ende gegangen waren: Dann nämlich werden die meisten Nomadenkinder in das nächste Dorf mit Schule gebracht, um dort zu lernen. Nachts schlafen die Kinder in der Schule in Schlafsälen. Alle paar Wochen kommen die Eltern zu Besuch. Nur wenn die Eltern ihr Nomadenleben aufgeben, wie Herr Ariunbileg und seine Familie, können sie auch bei ihren Kindern bleiben. O-TON: mongolisch Sprecher 1: Ich bin in einer Nomadenfamilie aufgewachsen da draußen. Aber nach den letzten harten Wintern hatten wir einfach nicht mehr genügend Tiere. Dann kam ein Waldbrand und alle Ziegen waren weg. Da brauchen wir jetzt nicht mehr so weit draußen zu wohnen. Für die neun Kühe, die wir noch besitzen, finden wir auch hier am Dorfrand genügend Gras. Einer meiner Söhne geht sogar schon in die neunte Klasse. Deshalb haben wir beschlossen, hier zu leben. Autor: Fünf Kinder hat Herr Ariunbileg, außerdem muss er seine Frau und die 97jährige Großmutter versorgen. Er hilft gelegentlich auf dem Bau aus: Immer mehr Holzhäuschen entstehen, weil Nomaden aufgeben und aus der Steppe ins nächste Dorf ziehen oder gleich nach Ulan Bator. Hier in Batshireet soll es Hunderte neue Einwohner geben: teils Familien, die seit jeher nomadisch gelebt und nun aber die letzten Winter draußen nicht überstanden haben. Vor allem aber "neue" Nomaden, die ihr Leben in der Steppe nicht meistern konnten. 20 O-TON: mongolisch Sprecher 1: Ich vermisse das Nomadenleben. Jeden Tag bin ich stundenlang geritten - jetzt habe ich nicht mal mehr ein Pferd. Es gibt nicht genügend Arbeitsplätze. Aber es war trotzdem richtig, hierher zu ziehen. Für mich selbst habe ich zwar kein wichtiges Ziel mehr im Leben. Aber hier ist es einfacher für die Kinder, etwas zu lernen. Ich möchte, dass alle meine Kinder etwas lernen. Musik Autor: In der Steppe hatte ich anscheinend die erfahrensten, besten Nomaden angetroffen: die, die erst den Sozialismus, dann die Wende, dann den Nomadenboom und schließlich die schrecklichen Winter der jüngsten Zeit überstanden haben. Mir fällt Frau Odjargal ein, die erste Nomadin, die ich getroffen hatte. Frau Odjargal hatte uns die Position ihres Winterstandorts beschrieben: den Eingang zu einem kleinen Tal, das der Fahrer Bilgee kennt. Ich beschließe, Frau Odjargal auf meinem Rückweg zu besuchen. In der Steppe wird es ungemütlich: Minusgrade herrschen jetzt die meiste Zeit des Tages und ein eiskalter Wind fegt über das Land, obwohl der Winter noch gar nicht richtig angefangen hat. ATMO: Hunde, Dialoge mongolisch, Wind Autor: Tage später freut sich Frau Odjargal, uns wiederzusehen. Sie eilt in ihr Ger, um eine "Überraschung" vorzubereiten: ATMO: song "one way ticket to the moon" Autor: Strahlend steht Frau Odjargal vor einer Holztruhe, auf der ein Fernseher und ein DVD-Player laufen. Auf dem Bildschirm ist eine westliche Band in Nikolausmänteln und -mützen zu sehen mit Frisuren aus den 70ern. Ein Go-go- 21 Girl in einem Nikolaus-Minirock tanzt auf einem Plüschpodest. Die Gastgeberin und Odnoo sind begeistert: O-TON: englisch Sprecherin 2: Dieses Lied handelt von Weihnachten - das ist unser mongolisches Neues Jahr. Das wird bei uns immer mehr gefeiert. - Viele Familien können heutzutage sogar mitten in der Steppe Fernsehen schauen! Und dabei Karaoke singen. ATMO: Musik, Odnoo summt mit Autor: Erst am nächsten Morgen entdecke ich neben dem Zelt die Stromquelle für Fernseher und DVD-Player: ein Brett mit Solarzellen, deren Strom eine Autobatterie speist. Nun ist also auch Frau Odjargal mit dem Rest der Welt verbunden. Ihr Mann ist immer noch nicht zurückgekehrt und sie erzählt uns, dass er in Ulan Bator mit zweien seiner Söhne ist: Die beiden möchten dort ein Studium beginnen. Der Vater helfe ihnen, ein möglichst billiges Zimmer zu finden. O-TON: mongolisch Sprecherin 1 Immer mehr Menschen ziehen in letzter Zeit in die Dörfer und Städte. Denn Nomaden müssen sehr hart arbeiten; jeden Tag, von früh bis spät. Aber ich könnte nicht in einer Stadtwohnung leben. Es ist sehr schwierig, in der Stadt zu atmen, und es ist dort viel zu laut. In der Steppe ist es viel abwechslungsreicher: Feuerholz und Dung suchen, die Kühe melken, Milchprodukte machen. Ich habe keine Ausbildung. In der Stadt könnte ich nur als Putzfrau arbeiten oder Kellnerin mit einem sehr niedrigen Lohn. Und deshalb könnte ich dort nicht leben, weil alles etwas kostet. ATMO: Autor: Baby weint 22 Zehn Kinder hat Frau Odjargal großgezogen: Die jüngeren gehen im nächsten Dorf in die Schule und übernachten auch dort. Zwei möchten studieren und sind gerade in die Stadt gewandert. Die älteste Tochter arbeitet bereits in der Provinzhauptstadt als Polizistin. O-TON: mongolisch Sprecherin 1: Vielleicht wird eines meiner Kinder als Nomade leben. Aber die meisten werden eine Ausbildung machen und einen richtigen Beruf ergreifen. Wir dürfen zwar nie vergessen: Mongolen bleiben immer irgendwie im Herzen Nomaden. Wir werden immer vor allem Fleisch essen wollen. Wenn meine Kinder ihr Fleisch in der Stadt kaufen müssten, wäre das zu teuer für sie. Aber wenn eines meiner Kinder später Nomade wird, könnte es meinen anderen Kindern Fleisch schenken. Und die Stadtkinder können den Nomaden Geld geben, damit sie sich etwas kaufen können. Das ist heutzutage wohl die klügste Lösung für eine Familie. ATMO: Plauderei auf mongolisch Autor: Auf dem langen Weg zurück nach Ulan Bator komme ich an einer Dorfschule vorbei. Vor dem Gebäude stehen ein paar Schüler. Wir sprechen sie an. O-TON: Umfrage englisch/mongolisch Autor: Wer von Euch gehört zu einer Nomadenfamilie? - mongolisch - Odnoo, Spr.in 2.: Eine Hälfte sind Nomadenkinder, deren Eltern wirklich weit weg leben. Die anderen wohnen zusammen mit ihren Familien im Dorf. - Autor: Was sind eure beruflichen Pläne? Wollt ihr später Nomaden werden? - mongolisch lachen. Autor: Berufswunsch Nomade - diese Idee finden die Teenager vor allem ulkig. Ein Junge trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "White Punks on Dope", ein Mädchen eine rosa Hose, auf der "Love Doll" steht. Die Steppe scheint mir plötzlich sehr 23 weit weg zu sein, obwohl sie gleich hinter dem Schulgebäude beginnt. Eines der Mädchen spricht ein wenig Englisch: O-TON: englisch Sprecherin 3: Ich will Ärztin werden - Zahnärztin - und deshalb muss ich später auf die Universität gehen. - Autor: Und generell: Wie viele von euch wollen zurück zu ihren Familien in die Steppe und wie viele wollen in die Stadt gehen? - Sprecherin 3: Die meisten Kinder hier möchten Doktor werden oder Lehrer oder Ingenieur. Nur wenige wollen Hirten werden. Ich werde nach Ulan Bator gehen. In zwei Jahren bin ich hier weg. Musik Absage: Dschingis Khans Erben vor dem Aus? Mit Nomaden durch die Mongolei Ein Feature von Achim Nuhr Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk, dem Südwestrundfunk und dem Hessischen Rundfunk, 2007. Es sprachen: Oliver Nitsche, Sigrid Burkholder, Axel Gottschick, Esther Hausmann, Juan Carlos Lopez und Simone Pfennig Ton und Technik: Eva Pöpplein und Beate Braun Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff