1 COPYRIGHT: COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darfEs ohne Genehmigung nicht nicht Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. darf ohne Genehmigung verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder oder in sonstiger WeiseWeise vervielfältigt werden.werden. Für Rundfunkzwecke abgeschrieben in sonstiger vervielfältigt Für Rundfunkzwecke darf darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt Berlin benutzt werden. werden. „Unsere Literatur ist tot“ Der usbekische Schriftsteller Uchqun Nazarov Literatur- Wortspiel von Jörn Klare Redaktion: Dorothea Westphal Zweite Fassung vom 15.7.2005 Eine „Zitatorin“ Ein Sprecher (alt) „Autor“ könnte der Autor nach Rücksprache mit der Regie selbst übernehmen ________________________________________________________________________________________ MUSIK ein paar Takte /Take 2 der CD MUMTOZ Kuylar als durchgängiges Motiv) ZITATORIN Zahro saß unwillig auf ihrem Stuhl. Sie hatte sich ja nichts zuschulden kommen lassen und war daher sicher, dass sie schnell wieder gehen könnte. Sie wartete ein wenig und hustete dann, um den Diensthabenden auf sich aufmerksam zu machen. »Ja? Warum sind Sie hier?« fragte dieser schließlich mit sanfter Stimme. »Na, die haben mich hierher gebracht«, sagte Zahro gehässig und warf einen kurzen Blick auf die Milizionäre. »Da muss ein Irrtum passiert sein, entschuldigen sie«, sagte der Diensthabende lächelnd. ATMO 1 AUTOR Zug Seit zwei Wochen bin ich in Usbekistan unterwegs. War in den quick- 2 lebendigen Städten der legendären Seidenstraße Buchara und Samarkand. Beeindruckende Bauwerke - freundliche Menschen. Ein schönes Land. Jetzt sitze ich im Zug - eine Art Zentralasien-Express – von Samarkand in die Hauptstadt Taschkent. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN »Darf ich Ihren Familiennamen wissen?« »Nosirova, Zahro«, sagte Zahro, durch die Entschuldigung des Diensthabenden einigermaßen ermuntert, und schaute die Milizionäre wieder von oben herab an. »Wo arbeiten Sie? Haben Sie Papiere?« »Ich arbeite nicht.« »Studieren Sie?« »Ich habe nicht fertig studiert«, sagte Zahro, die sich nicht so schnell geschlagen gab. »Beziehen Sie eine Rente?« »Was heißt da Rente?« Zahro verzog das Gesicht. »Wovon leben Sie? Haben Sie eine feste Beschäftigung? Verstehen Sie sich auf ein Handwerk?« »Nein.« ATMO 1 AUTOR Zug In Taschkent bin ich mit dem Schriftsteller Uchqun Nazarov verabredet. Von ihm stammt eines der wenigen Bücher, das in den letzen Jahren aus dem Usbekischen in Deutsche übersetzt wurde. Der Titel des Romans: „Das Jahr des Skorpions“. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN »Zeigen Sie Ihre Papiere«, sagte der Diensthabende, ohne seinen verbindlichen Ton zu verändern. »Papiere? Ich habe keine Papiere«, sagte Zahro mit lauter, nervöser 3 Stimme. »Und Ihr Pass?« »Ich habe mir noch keinen beschafft, ich habe noch keine Zeit gehabt.« »Wie alt sind Sie?« »Zwanzig.« »Wenn Sie nicht studieren und in keiner Fabrik arbeiten, warum haben Sie dann keine Zeit? Womit sind Sie denn so beschäftigt?« Zahro wand sich. Es ging ihr zusehends wie einer Fliege im Spinnennetz, je mehr sie um sich schlug, desto dichter zog es sich um sie zusammen. ATMO 2 AUTOR Zug Im Zug bin ich der einzige Ausländer. Die Großfamilie vor, hinter und neben mir findet das offensichtlich sehr interessant. Für die Dauer der Reise werde ich spontan und ungefragt adoptiert - das heißt durchgefüttert. Lange Zeit laufen Kinder auf dem Bahndamm neben uns her. Manchmal müssen sie ihr Tempo drosseln, um uns nicht zu überholen. Später geht es schneller. Doch bei etwa 60 Stundenkilometern ist die Höchstgeschwindigkeit erreicht. Fünf Stunden braucht der Zug für die knapp 300 km nach Taschkent. 3400 Som, das sind keine drei Euro, kostet das Erste Klasse Ticket. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN »Ich habe Sie etwas gefragt«, sagte der Diensthabende, und erstmals zeigte sich ein Anzeichen von Härte in seiner Stimme. Zahro antwortete nichts. Sie hatte Angst, ihre Lage durch eine Antwort zu verschlimmern. »Keinen Pass, keine regelmäßige Beschäftigung, kein ordentlicher Beruf. Das heißt, entweder stehlen Sie oder Sie leben von Prostitution.« »Was haben Sie für ein Recht, mich so zu beleidigen?!« schrie Zahro heraus. »Ja dann beweisen Sie das Gegenteil, dann werden wir Sie hier keine Minute lang festhalten“, sagte der Diensthabende in ernstem Ton. 4 ATMO 3 AUTOR Zug Erste Klasse, das bedeutet: alte aber bequeme Einzelsitze, Teppiche auf dem Boden und grellbunte Musikvideos am Kopfende des Großraumwagens. Junge, gutgekleidete Männer umarmen darin mit Vorliebe ältere Frauen. Es könnten die Mütter sein. Die Lobpreisung der Mutter ist in Usbekistan äußerst beliebt, zumindest was Lyrik und romantische Lieder betrifft. Meine - sicher auch schon über sechzigjährige - Nachbarin ist gerührt und ich muss wieder eines der hart gekochten Eier essen, die sie in regelmäßigen Abständen aus der Tasche zieht. Irgendwann übertönt das Rattern der alterschwachen Mechanik die inbrünstigen Gesänge. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Nun war es schon mehr als zehn Tage her, dass Zahro ins Gefängnis gekommen war. Während dieser Zeit hatte niemand sie befragt oder verhört. Man warf sie in eine enge, stinkende Zelle mit blechbeschlagener Tür und einem eisenvergitterten, hohen Fensterchen, durch das kaum Licht hereindrang. ATMO 3 AUTOR Zug Eilig kontrolliert der Schaffner die Fahrkarten, dann entledigt er sich der unbequemen Uniformjacke, legt einen Bruce-Willis-Actionfilm in den Videorekorder und macht es sich vorn in der ersten Reihe bequem - der einzigen Reihe, in der man auch den Ton des Films verstehen kann. Meine Nachbarin döst vor sich hin. Die flache, trockene Steppenlandschaft kriecht am Fenster vorbei und bietet keine Abwechslung. Mein Buch schon. Es erzählt von einem anderen Usbekistan, einem Usbekistan, das sich vor dem Reisenden verbirgt. Es erzählt von dem „Skorpion“, einem opportunistischen 5 Kriegsgewinnler, der in den vierziger Jahren seine Verbindungen zu Politik, Geheimdienst und Polizei des Sowjetstaates ohne Skrupel nutzt, um seine Ziele zu erreichen. Auch das Schicksal der 20jährigen Zharo, die gegen seinen Willen vom Sohn als Braut erwählt wurde, gehört dazu. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Am Tag nach ihrer Inhaftierung behaupteten sie, es wäre zu wenig Platz, und wiesen einen dreißigjährigen Mann in Zahros Zelle ein. Zahro schrie um Hilfe und hämmerte an die Tür - niemand achtete darauf; sie jammerte und flehte den Mann an, versuchte an sein Ehrgefühl zu appellieren - auch das erbrachte nichts. Der Mann verband Zahro den Mund und fing an, ihr die Kleider auszuziehen. Der Mann tat alle Schweinereien, die ihm einfielen. Am nächsten Tag schafften sie ihn fort, aber schon kurze Zeit danach brachten sie einen anderen. Der neue war noch ärger als der vorige. ATMO 4 AUTOR Zug Die ehemalige Sowjetrepublik Usbekistan liegt in der Mitte der zentralasiatischen Staaten und grenzt somit an Turkmenistan, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Afghanistan. Seit der Unabhängigkeit 1991 wird Usbekistan von Islam Karimov regiert, der zuvor schon als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Usbekistans die Geschicke des Landes lenkte. Zwei Jahre nach seiner Machtübernahme verbietet Karimov jegliche Opposition. Als Präsident ernennt er persönlich alle Minister, Gouverneure, Richter, Staatsanwälte und Bürgermeister. Die Predigten in den Moscheen werden von der Regierung landesweit vorgegeben und kontrolliert, um kritische Töne zu unterbinden. Protestaktionen sind verboten. Im Mai wurden im Fergantal hunderte Demonstranten kaltblütig niedergeschossen. MUSIK ein paar Takte 6 ZITATORIN Am Abend öffnete sich die Tür mit einem Krachen, der Wärter brüllte, aber von drinnen hörte man nichts. Der Wärter brüllte wieder in die Dunkelheit hinein. Keine Antwort. Langsam gewöhnten sich seine Augen, und als er die Umrisse erkennen konnte, fiel der Blick des Wächters auf die halbnackte Zahro, erhängt am Fenstergitter mit einem Seil, das sie aus den Lumpen ihres Kleids gedreht hatte. Die beiden Arme umfassten den Leib, und umgetreten unter ihren Füßen, deren Zehen einander fast berührten, der Koteimer. . . O-TON 1 AUTOR Russisch Uchqun Nazarov - mit wirren, weißen Haaren und großer Brille auf einer stolzen Nase - hat „Im Jahr des Skorpions“ Ende der achtziger Jahre in der politischen Aufbruchsphase der sowjetischen Perestrojka geschrieben. Das Buch war schnell vergriffen. Weil es im Zweiten Weltkrieg spielt und Nazarov damit einen historischen Hintergrund gewählt hatte, konnte er der Zensur entgehen. An Aktualität aber hat der Roman nichts verloren. Heute wie damals wird das Volk unterdrückt, sagt er. Nur die Methoden seien noch perfider geworden. Mit am Tisch sitzt ein Dolmetscher, der mir geholfen hat, Nazarov zu finden. Am Tag zuvor brachen unbekannte Schläger dem jungen Mann die Nase. Das könnte, so vermuten beide, mit diesem Gespräch zusammenhängen. O-TON 2 Russisch SPRECHER Das Volk hat Angst vor den Machthabern. Es hat Angst, dass es schlimmer und immer noch schlimmer wird. Die Hoffnungen, diese Euphorie nach der Unabhängigkeit sind in Hoffnungslosigkeit umgeschlagen. Heute herrschen Armut, Gesetzlosigkeit und Totalitarismus, weil Leute an die Macht kamen, die dem Land nicht helfen sondern es ausrauben wollten. AUTOR Nazarov, 1934 geboren, ist ein schmaler, freundlicher - vor allem aber 7 - ein mutiger Mann. Zusammen mit seiner Frau, der Tochter und dem Schwiegersohn lebt er in einer Wohnung im Zentrum von Taschkent. Dazu kommt noch ein kleiner Enkel. Immer wieder schleicht sich der Sechsjährige äußerst trickreich ins Wohnzimmer, um sich - entgegen den Mahnungen der Großmutter - einen Schokoladenkeks zu schnappen. Die familiäre Idylle steht in direktem Gegensatz zu Nazarovs Wut. O-TON 3 Russisch SPRECHER Ob ich mich fürchte? Na ja, manchmal denke ich, was nur mit meinen Enkeln, mit meiner Tochter, mit meiner Frau werden soll?! Aber wenn ein Mensch für seine Rechte und für ein besseres Leben kämpft und darauf verzichtet, Hymnen auf die Mächtigen zu schreiben, dann bleibt ihm nichts anderes übrig als schlecht zu leben. Den Präsidenten kritisieren und dann auch noch ein schönes Leben haben wollen? Das geht nicht. AUTOR Das macht Nazarov zu einem gesellschaftlichen Außenseiter. Seit Jahren hat er in seiner Heimat nichts mehr veröffentlichen können. O-TON 4 Russisch SPRECHER Das ginge nur, wenn ich das derzeitige System und den Diktator loben würde. So aber bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Manuskripte aufzubewahren. Was ich schreibe, landet im Schrank. Mehr kann ich nicht tun. Ich habe ja noch nicht mal genug Geld, um einen Dolmetscher zu bezahlen, damit er meine Texte übersetzt. Ich kann sie nirgendwo hin schicken, damit dort gelesen wird, was in Usbekistan geschieht. Verstehen Sie – ich fürchte mich, das zu erzählen, worüber ich geschrieben habe. Weil ich Angst habe, dass sie dann kommen könnten, um alles zu durchsuchen. Für sie sind das Dokumente gegen die offizielle Meinung, gegen die offizielle Macht. AUTOR Später bitte ich ihn, mir eine dieser Geschichten zu geben. Das freut 8 den alten Mann. Auf dem Heimweg bietet mir der Dolmetscher an, die Geschichte zu übersetzen. Sie heißt „Der Tunnel“. Im Jahr 2003 hat Nazarov sie geschrieben. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Sattar Muminov, ein magerer Fünfzigjähriger, ist Geschichtslehrer und er ist überflüssig. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird die Geschichte des Landes wieder einmal umgeschrieben. Die Unterrichtsstunden werden gekürzt. Sattar Muminov bekommt die Kündigung. Ein Lehrer, der nichts anderes gelernt hat. Er steht da, wie ein einsames Kamel. O-TON 5 Russisch SPRECHER Ich habe gegen die Zensur gekämpft. Sogar in den Ministerien als sie uns Schriftsteller dort hinbestellten. Ich habe gesagt, solange es die Zensur gibt, wird es keine gute Literatur geben. Offiziell haben sie die Zensur dann abgeschafft. Aber die Funktion des Zensors ist einfach auf die Lektoren und Herausgeber übertragen worden, auf die Redakteure der Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen. Das heißt, wenn es früher zehn Zensoren gab, so sind es heute bestimmt tausende. Ich habe ihnen gesagt: ‚Ihr pumpt die Zensur in uns hinein. Aber ihr müsst die Zensur aus uns rauspumpen’. Ich würde nicht sagen, dass ich ängstlich bin, aber ich habe mich jedes Mal gefragt – kommt es durch, kommt es nicht durch. Was ich schreibe, kann deswegen nicht gedruckt werden. Das Volk hört und liest nichts. Meine Literatur ist eingesperrt. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Die Rente von Sattar und seiner Frau Munis ist winzig, reicht nicht einmal für das Nötigste. Munis ist zuckerkrank. Alles Geld geht für das Insulin drauf. Oft reicht es nicht mal dafür. Ihre Tochter ist mit Dreißig an Anämie gestorben. Die Enkeltöchter Muattar und Barno leben bei ihnen. Um die Waisen von ihrem Schicksal abzulenken, hat Sattar fast 9 den ganzen Besitz zu Geld gemacht. Nur den alten Fernseher, den Kühlschrank und einen Teppich haben sie behalten. Den bewahrt Munis „in ihrer Zahnhöhle“ wie sie sagt. Muattar - die Älteste - ist im heiratsfähigen Alter. Der Teppich soll ihre Mitgift sein. Ich habe da einen Professor gesehen – sagt Munis eines Tages – der an der Bushaltestelle Fahrkarten verkauft. Ein Traumjob. Da war ich schon – sagt Sattar - bevor du nicht ein Paar Kröten als Schmiergeld locker machst, kannst du es vergessen. ATMO 5 AUTOR Taschkent Im Zentrum von Taschkent. Gut zwei Millionen Menschen leben in der Stadt. Sie gilt als die modernste Metropole Zentralasiens. Erwartungen an eine exotische Atmosphäre werden enttäuscht. Die Architektur, die Kleidung, der gesamte Alltag erinnern eindeutig an die Sowjetunion. Besonders stolz ist man auf die in der Region einzigartige U-Bahn. Doch Taschkent ist keine schöne Stadt. 1966 wurde sie erst von einem Erdbeben und anschließend von den Stadtplanern ruiniert. Die Architektur orientiert sich nicht an den Menschen, sondern an der Macht. Dazu passt, dass vor wenigen Wochen so gut wie alle Hauptstraßen ins Stadt – und somit auch ins politische Zentrum kurzerhand aufgerissen und zu provisorischen Parks umfunktioniert wurden, um – wie es unter der Hand heißt – größere Demonstrationen zum Präsidentenpalast verhindern zu können. ATMO 6 AUTOR Timur In der Mitte des kleinen Parks – dort, wo vor wenigen Jahren noch Karl Marx für die Ideale einer anderen Zeit stand – thront heute die überlebensgroße Statue eines mittelalterlichen Kriegers auf einem galoppierenden Pferd. Sein Name: Timur oder auch Tamerlan – vor etwa 600 Jahren gestorben, vor zwölf Jahren mit einem politischen Auftrag wieder auferstanden. Timur – in der Nähe Samarkands geboren - herrschte im vierzehnten Jahrhundert vom Ganges bis zum 10 Mittelmeer. Gleich nach Dschingis Khan war er der mächtigste und auch grausamste Herrscher, den Zentralasien je hatte. Es sind diese Machtfülle und wohl auch der Machtwille, die ihn zur von der Staatsspitze auserkorenen Identifikationsfigur der jungen, usbekischen Nation prädestinieren. Seit Anfang der neunziger Jahre wimmelt es im ganzen Land nur so von Timur-Denkmälern und Timur-Statuen. Doch der inszenierte Kult ist eine Geschichtsfälschung. Zum einen war Timur überhaupt kein Usbeke sondern ein Mongole, zum anderen wurde die Hochkultur seiner Nachfahren – der Timuriden - ausgerechnet von usbekischen Invasoren vernichtet. Die Polizisten auf der Parkbank stört das nicht. Sie genießen den Schatten des Standbilds. Beim Brettspiel lassen sie sich von einem alten Mann die Schuhe putzen. Geld bekommt der nicht dafür. Schließlich tragen die Männer eine Uniform. O-TON 6 Russisch SPRECHER Im letzten Jahr hab ich meinen neuen Roman einer Literatur-Zeitschrift gegeben. Sie haben dort das Manuskript gelesen und drei entscheidende Kritikpunkte benannt, über die es keine Diskussionen geben könne. Erstens, wenn man die Gesellschaft beschreibt - dann nur mit positiven Figuren. Mängel und Fehler dürfen nicht kritisiert werden. Zweitens, wenn es um Timur geht, dann nur als Anführer des Volkes. Drittens, Bettszenen sind verboten. Aber in meinem Buch gibt es viele davon. Also hab ich versucht, mich zu verteidigen: ‚Den Menschen für seine Gedanken zu bestrafen, das ist unmöglich’, habe ich gesagt. Was Timur betrifft: Wenn ein Mensch sein Schwert zieht, um seine Nation, seine Heimat, sein Land vor fremden Eindringlingen zu verteidigen, dann kann ich das noch verstehen. Aber wenn er sein Schwert zieht und in andere Länder einfällt, um Krieg zu führen, zu zerstören und sich zu bereichern, dann muss man die Dinge bei ihrem Namen nennen. Irgendjemand muss das doch tun. Und was die Bettszenen betrifft – wie sollen unsere Frauen denn sonst schwanger werden? Wenn sie nicht lieben, nicht mit Männern schlafen, können sie keine Kinder bekommen. Die fallen doch nicht vom Himmel. Ich bin 11 Realist - ich muss schreiben, was ich sehe. Darum geht es. AUTOR Nazarov macht eine wohl gesetzte Pause. O-TON 7 Russisch SPRECHER Ich habe nicht zugestimmt und sie haben mir den Roman zurückgegeben. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Sattar seufzt. Wie soll es weitergehen? Was wird morgen sein? Er hat nicht die geringste Idee. Von Tag zu Tag wird es schlimmer. So erscheint das Leben sinnlos. Was wird aus den Enkeltöchtern? Reife junge Frauen mit Hochschulausbildung finden heutzutage keinen Mann. Eine Frau soll ein junges Ding sein, ein Muster an Jungfräulichkeit. Mit Kopftuch, aus dem nur Augen und Nase herausschauen. Muattar wird keinen Schleier tragen. Selbstverständlich nicht. Aber dann wird sie niemand heiraten. Ein paar Jahre hat sie noch. Dann ist es zu spät. Und wenn die Älteste nicht heiratet, darf es die Jüngste auch nicht. Wenn also doch jemand kommt, sollte man gleich zustimmen. Und dann? Woher soll das Geld für die Hochzeit kommen? Diese elenden, teueren Hochzeitssitten! Unmengen Kisten mit Gebackenem, Gekochtem, Gegartem. Allein von den teuren Pralinen dürfen es nicht weniger als Zehn Kilo sein. Verweigerst du das – wirst du ausgelacht, verhöhnt, und die Braut wird es schwer haben. Mit dem Kopfkissen wird sie die Tränen teilen. Und gebärt sie innerhalb von zwei Jahren kein Kind, wird es noch schlimmer. Das Leben wird zur Hölle. ATMO 7 Broadway 12 AUTOR Passiert man von der Timur-Statue kommend das Justizministerium, stößt man auf den sogenannten Broadway. Eine lärmende Flaniermeile, ein paar hundert Meter lang, mit billigen Bierkneipen und Ramschbuden. ATMO 8 AUTOR Karaoke Mittendrin zwei junge Frauen in engen Jeans und T-Shirts, auf einem Bildschirm rasen schicke Motoryachten an einem langen Strand entlang. Dazu zwei Mikrophone, eine Hifi-Anlage und sehr viel Sehnsucht – Karaoke in Taschkent. ATMO 8 AUTOR Karaoke Nach ein paar weiteren hundert Metern – ein streng bewachtes Gebäude mit klassizistischer Fassade. Fünf Stockwerke über - und fünf unter der Erde. Bis 1991 diente es dem sowjetischen KGB, danach dem Nationalen Sicherheitsdienst Usbekistans. Dass die Arbeit in den weitläufigen Folterkellern auch nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepublik weitergeht, gehört zur Taschkenter Allgemeinbildung. ATMO 8 Karaoke O-TON 8 Russisch SPRECHER Ich schreibe ständig. Ich mache keine Pause. Das, was ich sehe, Gutes und Schlechtes - das schreibe ich auf. Es ist natürlich mehr Negatives. Mehr Kritisches. AUTOR Nazarov versteht sich als Beobachter, als Mahner und moralische Instanz. Sein Thema ist die immer wieder aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Macht, Recht und individuellen Lebensmöglichkeiten der Bürger. O-TON 9 Russisch 13 SPRECHER Zum Beispiel hab ich eine kleine Erzählung geschrieben: Ein Mann geht zur Arbeit und da er nicht weiß, wo er seinen Sohn lassen kann, nimmt er ihn mit. Auf der Arbeit geben die Kollegen dem Jungen Schokolade und Spielzeug und fragen – na was willst Du mal werden, wenn Du groß bist? Der Junge antwortet – Präsident! Alle lachen. Später beginnt man, den Vater zu verfolgen, dann den Großvater, dann die Großmutter. Das sind keine jungen Leute mehr. Sie sind krank. Es wird schlimmer und schlimmer ... und der Vater erhängt sich, weil er keinen Ausweg mehr weiß. Der Junge landet als Gelegenheitsarbeiter auf der Straße. Das ist dann das Ende der Geschichte. AUTOR Nazarov hat Theater studiert und als Film-Regisseur gearbeitet. Seine erste Erzählung veröffentlichte er 1960. Bald darauf wurde sie ins Russische übersetzt und erschien in einer Moskauer Literaturzeitschrift. O-TON 10 Russisch SPRECHER Wenn Sie meine Werke lesen, die ich zu sowjetischer Zeit verfasst habe, dann werden Sie darin keine Verbeugung vor der Sowjetmacht finden. Ich habe immer versucht, das zu vermeiden und habe deshalb mehr Novellen, Erzählungen und Kurzgeschichten geschrieben, die weniger beachtet wurden. Die damaligen Machthaber haben die kleinen Formen unterschätzt und vor allem die Romane kontrolliert. Dort ging es dann um Baustellen, Elektrizitätswerke, Flugzeuge, Kolchosen und so weiter. Im kleinen Genre aber konnte man über Schmerz, Traurigkeit, Melancholie und unerfüllte Liebe schreiben ... wir wussten, dass sie darauf weniger achten. So sind wir durch die Zensur gekommen. AUTOR Als Usbekistan unabhängig wurde, hat Nazarov das, wie er sagt, „aus tiefster Seele begrüßt“. Heute weiß er nicht, wovon er leben soll. In der Sowjetunion fühlte er sich als Schriftsteller eingeengt und bevormundet, aber er konnte immerhin schreiben und er konnte seine Familie ernähren. 14 O-TON 11 Russisch SPRECHER Bücher und Romane wurden herausgegeben. Fast jedes Jahr oder wenigstens jedes zweite Jahr konnte man als Schriftsteller ein Buch veröffentlichen. Aber die Themen waren vorgegeben. Kolchosen und Vorsitzende von Kolchosen kamen darin vor, ebenso der Kampf für das Progressive gegen das Herkömmliche ... um solche Dinge ging es da. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Was soll das Leben überhaupt? Das Volk wird immer ärmer. Wobei Fernsehen, Zeitungen und Rundfunk unablässig die neue Zeit feiern. Am Tag der Unabhängigkeit - ein Feuerwerk. Ein Festmahl und drum herum die Pest. Selbst die eifrigsten und schlimmsten Verteidiger des alten Regimes sitzen jetzt wieder in den Führungsetagen. Dort schwadronieren sie sogar vom Widerstand und dem Kampf um Selbstbestimmung. Dabei sind sie es doch, die jeden Ansatz einer liberalen Denkweise unterdrückt haben. Es ist zum Heulen. Müssen wir uns etwa mit dem Gedanken vertraut machen, dass unsere Unabhängigkeit ein Symbol für Armut und Willkür ist? ATMO 9 AUTOR Chorzu Am Rand des Chorzu Basars, ganz in der Nähe der Altstadt, steht eine alte Frau. Es ist später Vormittag, die Sonne steigt, der Asphalt glüht. Ein paar graue Haare sind ihr unter dem Kopftuch hervor gerutscht. Sie schwitzt. Die Augen sind halb geschlossen. Fast scheint sie vor sich hin zu dösen. Hin und wieder erhält sie einen kleinen, unbeabsichtigten Rempler aus der vorbeidrängenden Masse. Sie wankt, fällt aber nicht. Fast krampfhaft hält sie eine Schachtel vor ihrer Brust. Sie bietet einzelne Zigaretten an, für ein paar Cent das Stück. Seit fast zwei Stunden hat sie nichts verkauft. Aufgeben ist für sie keine Alternative. ATMO 9 Chorzu MUSIK ein paar Takte 15 ZITATORIN Sattar schaut auf die erwachende Stadt. Wie ein Storch mit kaputtem Flügel. Er denkt an sein unmögliches Leben und daran, sich umzubringen. Anderthalb Meter Seil, das reicht. Etwas aber hält ihn am Leben. Was für ein Schock wäre das für seine Frau und besonders für die Mädchen. Wie sollten sie damit fertig werden? Ihr Elend würde noch schlimmer. Und wie sollen sie ihn begraben? Woher sollen sie das Geld dafür nehmen? ATMO 10 AUTOR Chorzu Ein junger Mann beschallt seine Umgebung mit selbstkopierten Musikkassetten. Ein Gruppe Teenager lässt sich ihre Lieblingshits vorspielen. Und tatsächlich kauft eines der Mädchen einen der staubigen Tonträger. Der junge Mann strahlt. Nicht alle Geschäfte laufen schlecht. Dass es durchaus auch Profiteure der usbekischen Krise gibt, verraten die protzigen, westlichen Luxuslimousinen. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Geräuschlos zieht Sattar sich an, und geräuschlos verlässt er die Wohnung und schleicht zum Basar der Tagelöhner. Irgendetwas wird sich finden – etwas tragen, beim Umzug helfen, Lastwagen ausladen – es gibt doch immer was zu tun. Er könnte auch Gartenarbeiten verrichten. Obwohl er schnell müde wird, er schafft es. Er könnte heute ein Paar Fladenbrote und Tee nach Hause bringen. Er wäre kein Nichtsnutz mehr. O-TON 12 Russisch SPRECHER Wenn man die Literatur nach 1917 betrachtet, so war das Lyrik schöner Kitsch: Das sich Verzehren nach den Mondschönheiten, nach den jungen Mädchen und so weiter. AUTOR Erst mit der Sowjetunion wurde die Prosa als literarische Gattung in 16 Usbekistan eingeführt. Die Lyrik hat eine wesentlich ältere Tradition. Sie ist auch heute noch populär. Hymnen an die Liebe, die süßen Blumen und die kleinen Vögelchen. Nutzloses Zeug, sagt Nazarov. O-TON 13 Russisch SPRECHER Das braucht niemand. Aber es wird sogar veröffentlicht. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Sattar stellt sich in die Reihe der Tagelöhner und fühlt sich wie auf einer fremden Hochzeit. Die Menge lärmt wie ein Bienennest, drängt zu jedem anhaltenden Auto. Alle bieten ihre Dienste an. Sattar verharrt an einer Stelle, denkt, dass die Arbeitgeber zu ihm kommen. Aber keiner kommt. Keiner will ihn. Alle nehmen die kräftigen Kerle mit den Werkzeugtaschen, handeln den Preis aus und fahren weg. Sattar steht daneben wie ein Idiot. Die Sonne brennt. Um keinen Kunden zu verpassen, beugt er sich nicht einmal runter, um den losen Schnürsenkel zu binden. Er steht einfach da, lässt sich nichts anmerken. Mit jeder Minute schwindet die Hoffnung. Nur gut, dass niemand ihn hier kennt. Sonst wäre er gezwungen, irgendeinen Quatsch zu erfinden. AUTOR Mehrmals frage ich Nazarov, ob er möchte, dass dieses Gespräch veröffentlicht wird. Es ist ein für usbekische Verhältnisse unerhört mutiges Gespräch. Die Folgen sind nicht absehbar. „Es muss gesagt werden“, antwortet er. „Es muss gesagt werden!“ O-TON 14 Russisch SPRECHER Es gibt hier keine lebendige Literatur ... im Prinzip gibt es gar keine Literatur. Das, was durch die Zensur kommt, das ist Ersatz – das ist noch nicht mal Ersatz, das ist eine Hymne auf den Präsidenten Karimow und auf die Freiheit und Unabhängigkeit, die er uns gebracht haben soll. Deshalb kann ich Ihnen auch keine Namen von irgendwelchen zeitgenössischen Schriftstellern nennen, die mit Herzblut 17 und Überzeugung über die heutige Zeit schreiben. Vielleicht gibt es die, aber ich kenne sie nicht. Vielleicht schreiben sie auch für die Schreibtischschublade. Aber wenn es eine solche Literatur gibt, dann hat sie keine Wirkung, weil niemand sie kennt. MUSIK ein paar Takte ZITATORIN Sattar will in die Unterführung. Eine Frau starrt auf seinen offenen Schuh. Verlegen setzt er sich auf die Stufen, bindet den Schnürsenkel. Zum Aufstehen fehlt die Kraft. Er entscheidet sich einen Augenblick auszuruhen – nimmt die Pelzmütze ab, legt sie zur Seite, schließt die Augen. Als er wieder zu sich kommt, erstarrt er – in seiner Mütze liegt Geld. Scheine und Münzen. Fünfer, Zehner, sogar Fünfundzwanziger. Sattar ist fassungslos, schaut sich um - besorgt und verloren. Doch die Leute beachten ihn nicht. Wieder landet vor ihm eine schwere Münze. ‚Nein, nicht nötig! Ich....’ Die Frau reagiert nicht. Das Geld. Sollte er es wegwerfen? Er zieht die Mütze zu sich heran. Vorsichtig. Nimmt die Scheine, die Münzen in die Hand. Er wartet. Niemand beobachtet ihn. Hastig versteckt er alles in seiner Arbeitsjacke. Er erstarrt, zieht die Mütze tief in die Stirn, steht auf, bewegt sich mit schweren Schritten, kauft eine Packung Zigaretten. Eine raucht er bis zu Ende. Dann zählt er die „Beute“. ATMO 11 AUTOR Gespräch Nazarov und Dolmetscher Gleich wird Nazarov aufstehen. Er wird mich fragen, was ich essen möchte. Er wird es sich nicht nehmen lassen, das traditionelle Plov aus Reis, Karotten, Zwiebeln, Baumwollöl, Lammfleisch, Bohnen und Rosinen selbst zu kochen. Er wird eine Volksweisheit zitieren, die lautet: „Bist du reich, genießt du den Plov, bis du arm, lebst du nur vom Plov.“ Er wird eine neue Flasche Wodka auf den Tisch stellen. Es wird ein langer Abend werden. Der junge Dolmetscher und der alte Schriftsteller, die sich zum ersten Mal begegnet sind, werden Pläne schmieden. Für die Zukunft. Es sind die schweren Zeiten, in denen die 18 Menschen über sich hinauswachsen. Das ist ein Grund, zu hoffen und zu kämpfen. O-TON 15 Russisch SPRECHER Ich bin Schriftsteller. Also muss ich schreiben. Und wenn die anderen nichts schreiben, dann sollen wenigstens meine Texte überleben. Jetzt wird davon nichts gedruckt, aber unter Umständen in zwanzig, dreißig Jahren. Wenn sie die Texte dann lesen, können sich die Menschen ein Bild machen von einer Zeit, in der das Volk belogen und verspottet wurde. ___________________________________________________________ Die ersten sieben Zitate - insgesamt 67 Zeilen - stammen aus Uchqun Nazarov Das Jahr des Skorpions Aus dem Usbekischen von Ingeborg Baldauf Berlin: Dağyeli, 2002 Die übrigen Zitate stammen aus der hier erstmals veröffentlichen Geschichte „Der Tunnel“ von Uchqun Nazarov Übersetzung Jörn Klare