Kompositionen - Musik und Gender im internet

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Multimediale Präsentation "Pauline Viardot"
Kompositionen
“... sie ist die genialste Frau, die mir je vorgekommen.” Dieser Meinung war nicht nur
Clara Schumann, von der diese Äußerung stammt. Pauline Viardots sängerisches
und pianistisches Können, ihre Intelligenz, ihre selbst für damalige Maßstäbe
außergewöhnliche musikalische Vielseitigkeit waren stets unbestritten. Anders die
Qualität ihrer Kompositionen: Pauline Viardot zitiert, parodiert, imitiert; einen
einheitlichen Stil strebte sie nicht an. Ihr ging es um Leichtigkeit, Witz, Lebendigkeit Musik als Kommunikation. Welch ein Gegenbild zum leidenden, ringenden
christusgleichen romantischen Künstlertypus à la Beethoven. Hier kämpft sich
niemand durch Nacht zum Licht, sondern hier leuchtet alles in den schillerndsten
Farben. Ist das nicht ein Zeichen für mangelnden Ernst, mangelnde Tiefe? Darf man
so komponieren?
Der letzte Zauberer
Le Dernier Sorcier
Uraufführung am 20.September 1867 in Baden-Baden
Clara Schumann aus Baden-Baden
in einem Brief an Johannes Brahms vom 3. Oktober 1867
Von hier kann ich Dir übrigens etwas musikalisch Interessantes berichten. Frau
Viardot hat 3 kleine Operetten geschrieben, wovon sie zweie mit ihren Kindern und
Schülern aufgeführt hat. Ich habe beide Opern jede dreimal gehört, und immer mit
derselben Freude. Mit welchem Geschick, feinsinnig, anmuthig, abgerundet das alles
gemacht ist, dabei oft amüsantester Humor, das ist doch wunderbar! Die Texte sind
von Turgenjew, der auch mitspielte, und kaum hat sie alles aufgeschrieben, spielt es
nur so aus Skizzen-Blättern! und wie hat sie das einstudiert, die Kinder, wie sind sie
bezaubernd, der Junge ein wahres Komiker-Genie! überall in der Begleitung hört
man die Instrumentation heraus - kurz, ich fand wieder bestätigt, was ich immer
gesagt, sie ist die genialste Frau, die mir je vorgekommen, und wenn ich sie so
sitzen sah am Klavier, das Alles mit der größten Leichtigkeit leitend, so wurde mir
weich ums Herz, und ich hätte sie vor Rührung an mich drücken mögen…
Clara Schumann an Johannes Brahms 3.10.1867. In: Litzmann, Berthold (Hrsg.). Clara Schumann Johannes Brahms. Briefe aus den Jahren 1853-1896. 2 Bde. Leipzig 1927, hier Bd. I, S. 565.
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Der Letzte Zauberer Einführung
Eine Operette ist eine Operette ist eine Operette?
von Dagmar Penzlin. In: Pauline Viardot-Garcia. Der Letzte Zauberer. Musik-Szenen-Briefe.
Programmheft Hochschule der Künste Sommersemester 1999.
Eine Operette ist eine Operette ist eine Operette? Weit gefehlt: Der
Geisteswissenschaftler Volker Klotz unterscheidet sehr genau gute von schlechten
Operetten.[1] Für ihn kommen gute Operetten als "musikdramatisch und szenisch
aufsässige Bühnenwerke" daher, "die wider erstarrte und verhockte Lebenshaltungen
anrennen."[2] Ironie wie Selbstironie, satirische Angriffslust und anarchische
Ordnungswidrigkeit bestimmen den rebellischen Grundimpuls dieser Werke.
"Inversion ist ihr Prinzip"[3], also Umkehrung der bestehenden Verhältnisse.
Synonym für die gute Operette an sich ist die Offenbachiade.[4] Ihr Namensgeber,
Jacques Offenbach, gilt als Vater der französischen Operette zur Zeit des 'Second
Empire' unter Napoleon III. Seinen Höhepunkt erlangte diese Form der
antibürgerlichen Unterhaltungskunst zwischen 1865 und 1875.[5]
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so zu sein mag, Pauline Viardots Le dernier
sorcier steht ohne Frage in der Tradition der Offenbachiade, nicht zuletzt weil Iwan
Turgenjew das Libretto zu dieser Operette geschrieben hat. Der russische Dichter
schätzte Offenbachs Werke sehr und kannte einige von ihnen genau.[6] Hinzu kam,
daß er und Pauline Viardot zu den Gegnern von Napoleon III. gehörten. Ihre
Ablehnung gegenüber seinem Regime floß in den Schaffensprozeß von Le dernier
sorcier ein.
Auch aus politischen Gründen hatte die Sängerin 1863 Frankreich verlassen und
sich mit ihrer Familie im ebenso weltoffenen wie kunstliebenden Baden-Baden
angesiedelt; Turgenjew folgte 1864 der Freundin endgültig dorthin und bezog die
Villa nebenan.[7] Am 24. April 1863 hatte Pauline Viardot sich von der Opernbühne
verabschiedet, so daß sie nun in Baden-Baden Zeit und Raum hatte für zwei Dinge,
die ihr besonders am Herzen lagen: das Unterrichten und das Komponieren. Vor
allem schrieb sie Lieder und Salon-Operetten für ihre zahlreichen Schülerinnen,
damit diese erste Bühnenerfahrungen vor Publikum sammeln konnten.[8] Aufgeführt
wurden diese Werke während der sonntäglichen Matineen im Hause Viardot, das
schon bald zu einem der Baden-Badener Treffpunkte für Adelige und Künstler aus
ganz Europa wurde.[9]
So gesehen, hatte Le dernier sorcier zunächst einmal mehr pragmatischen Aspekten
zu gehorchen. Da Pauline Viardot nur Schülerinnen unterrichtete, mußten die SalonOperetten überwiegend Rollen für weibliche Stimmen zu bieten haben. Iwan
Turgenjew, der auch die Libretti zu zwei weiteren - weniger beachteten Viardotschen Operetten schrieb (Trop de femmes,1867, und L'Ogre, 1868), hatte
bereits 1859 erste Gedanken zu Le dernier sorcier skizziert.[10] Diese frühen
Entwürfe sahen als Besetzung für Lélio (zu diesem Zeitpunkt Robert benannt) noch
einen Tenor vor, auch waren sie nur für den engsten Kreis um die Familie Viardot
bestimmt und versprühten laut Zekulin wesentlich mehr beißenden Witz[11] als jenes
Textbuch für eine zunächst halböffentliche Aufführung im Salon, das Turgenjew
(vermutlich) im August 1866 beendete[12] und Pauline Viardot schließlich vertonte.
Wiederum waren es die Gesangsschülerinnen (darunter auch Pauline Viardots drei
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Töchter und der Sohn Paul), die indirekt die Entstehung von Le dernier sorcier
beeinflußten, denn der Schutz ihrer Reputation war wichtiger, als einen Skandal zu
wagen: "This potential for titillation was in fact an important element in many French
operettas, but it was obviously out of the question for Pauline Viardot to subject her
daughters and students, for many of whom she was to great extent in loco parentis,
to any such scandalous experience. Frenzied bacchanals were banished, titillation,
however mild, was excluded and buffoonery was not only restrained, but reserved
primarly for Krakamiche and Perlimpinpin (...)." [13]
Auch wenn Zekulin zu dem Ergebnis kommt, daß die zweiaktige Operette, so wie sie
uns überliefert ist, wesentlich zahmer ist als jede Offenbachiade,[14] enthält Le
dernier sorcier nicht wenig satirisches und gesellschaftskritisches Potential. So ist die
Titelfigur Krakamiche (in Pohls deutscher Übersetzung in Kratz umbenannt) in
vielerlei Hinsicht eine Parodie auf den verhaßten Napoleon III. und sein Regime;
Turgenjew selbst bekannte dies in einem Brief an Pavel Annenkov.[15]
Der einst machtvolle Zauberer Krakamiche hat seine magischen Kräfte verloren, wie
er voller Selbstmitleid in seiner Arie bekennen muß. Trotzdem versucht er, den
Anschein der Macht zu wahren, und hofft auf die Ankunft einer Delegation
chinesischer Kobolde. Sie sollen ihm das Moly-Kraut bringen, welches ihm seine
einstige Kraft zurückgeben wird. Vor dem historischen Hintergrund interpretiert,
präsentiert sich hier ein Napoleon III., dem es nicht mehr gelingen will, seine
Anhänger beispielsweise durch nationale Agitation und der Idee einer 'Grande
Nation' wie zur Zeit der Regenschaft seines Onkels Napoleon I. zu ködern.[16] Doch
auch aus seiner steten Interventionspolitik, unter anderem in China (1860,
gemeinsam mit Großbritannien), konnte er nicht wirklich Kapital schlagen,[17] worauf
auch das Team Turgenjew/Viardot mit der Elfen-Intrige anspielt.[18] Denn die
chinesische Delegation besteht aus niemandem sonst als aus den verkleideten
Elfen.
Folgt man der historischen Lesart, sind diese Elfen als liberale Kräfte zu deuten, die
gerade in Frankreich walteten und schließlich in Gestalt der gemäßigten
Republikaner 1870 Napoleon III. absetzten.[19] Ebenso sorgen die Elfen auf
charmant-entschlossene wie kluge Weise für den Sturz des Tyrannen und führen
auch noch zwei Liebende, an deren gegenseitigem Entflammen die Elfenkönigin
nicht ganz unschuldig ist, als Paar einer vielleicht besseren Zukunft zusammen.
Überhaupt die Elfenkönigin: Ihr kommt wirklich eine gattungsspezifische Sonderrolle
zu, denn wo, wenn nicht in einer Operette, könnte man eine dea ex machina
antreffen, Stichwort: Inversion.[20] Ihr Auftritt zum Ende der Operette, in der siebten
Szene des zweiten Aktes, sorgt sanft, aber bestimmt für ein glückliches Ende, - alle
fügen sich in ihr Schicksal, auch der zuvor so uneinsichtige Zauberer Krakamiche: Er
stimmt sogar das darauffolgende a capella-Quartett an und ist plötzlich zu ähnlich
melodischen Aufschwüngen - wie Lelio oder Stella - fähig.
Die Menschen verlassen den Wald der Elfen, und Krakamiches Schloß, ohnehin nur
noch eine Ruine, bricht in sich zusammen. Es war ein Sinnbild für sein Reich, ein
Zwergstaat, wie ihn die Operette gerne zum übersichtlichen Schauplatz wählt, "um
Auswüchse und Verwachsungen der eigenen unübersichtlichen Gesellschaft in den
Blick zu bringen."[21] Krakamiches Diener Perlimpinpin (bei Pohl: Pappap), einst ein
Riese mit übermenschlichen Kräften, nun zusammengeschrumpft zum Zwerg, kann
so als Vertreter der breiten Masse, des Volkes im Zweiten Kaiserreich verstanden
werden: Zunächst folgsam und den Kurs von Napoleon III. in großer Zahl
unterstützend, wendeten sich immer mehr Arbeiter der proletarisch-sozialistischen
Bewegung zu, die schließlich in die Pariser Kommune von 1871 mündete.[22]
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Auch Perlimpinpin verhält sich durchgehend aufmüpfig und respektlos gegenüber
Krakamiche. Einen Großteil ihrer Komik gewinnt die Operette Le dernier sorcier aus
dem Zusammentreffen dieser beiden Figuren: Neben Slapstickszenen bestimmen
vor allem Dialoge voller Wortspiele ihr Miteinander,[23] wobei Perlimpinpin nicht
länger bereit ist, dem genormten Verhalten eines Dieners zu entsprechen, also
fleißig, diskret und untergeben zu sein. Er präsentiert sich vielmehr hemmungslos als
Langschläfer und Vielfraß, der eigenmächtige Entscheidungen trifft und
beispielsweise Krakamiches Regenschirm als Kochutensil verwendet. Auch hier
waltet wieder das Prinzip der Inversion: die gängigen Machtverhältnisse vertauschen
sich.
Pauline Viardot hat zu Turgenjews geistreichem Libretto eine ebenso feinsinnige wie,
wenn nötig, drastisch plakative Musik geschrieben. Im Eingangschor (Nr. 2: "Eilt
herbei! ohne Scheu!"), beispielsweise, prallen die Sphäre der Elfen und die des
Krakamiche kraß aufeinander. Spielerisch dahintänzelnde Klänge von Streichern,
Klarinette und Flöte begleiten den Auftritt der Elfen, der Achtel- und SechzehntelFluß der Musik wird höchstens unterbrochen von dem markanten Vorschlagmotiv,
das die Attacken auf den Zauberer versinnbildlicht. Hierhinein platzt Krakamiche
wutentbrannt: Die Posaunen ertönen im Forte, wenn er beginnt, seine Sätze auf
einem Ton den Elfen entgegen zu deklamieren. Interessanterweise entpuppt sich
sein (Baß-)Ton mehrmals als Grundton eines Dominantseptakkordes, den die
Stimmen der Elfen mit ausgesungenen Lachsalven darüber vervollständigen: Hier
verlangt jemand nach Erlösung...[24]
Die Uraufführung von Le dernier sorcier, in Kombination mit Trop de femmes, fand
am 20. September 1867 in Turgenjews Baden-Badener Villa statt. In direktem
Anschluß folgten drei weitere Aufführungen, darunter auch eine am 23. September
1867 auf Wunsch von Preußens König (späterem Kaiser) Wilhelm sowie eine GalaVorstellung am 17. Oktober 1867 zum Geburtstag des Prinzen Friedrich Wilhelm.[25]
Turgenjew spielte selbst Krakamiche, den Perlimpinpin übernahm Pauline Viardots
zehnjähriger Sohn Paul und ihre älteste Tochter Louise Héritte sang den Prinzen
Lelio. Als Elfenkönigin und Elfe Verveine traten Pauline Viardots 15 und 13 Jahre
alten Töchter Claudie und Marianne auf.[26]
Die Aufführungen fanden ein überaus positives Echo in der europäischen
Musikpresse.[27] Die Rezensionen spiegelten die große Begeisterung des
ausgewählten Salon-Publikums wider. Preußens Königin Augusta war besonders
von Le dernier sorcier angetan. Und sie war es wohl auch, die ihrem Bruder,
Weimars Großherzog Karl Alexander, die Viardotsche Operette ans Herz legte, als er
und seine Frau, Großherzogin Sophie, nach einem Werk suchten, das 1869
anläßlich von Sophies Geburtstag in Weimar, im Großherzoglichen Theater,
aufgeführt werden sollte. Ursprünglich war Richard Wagners Oper Die Meistersinger
von Nürnberg vorgesehen. Das Werk erwies sich jedoch als zu aufwendig für die
Weimarer Verhältnisse, so daß Großherzog Karl Alexander Pauline Viardot einlud,
nach Weimar zu kommen, damit sie die nötigen Vorbereitungen für die Vorstellung
ihrer Operette mit Rat und Tat begleitete: Sie sollte in Kombination mit einer Oper
von Eduard Lassen gezeigt werden.[28]
Auch wenn Le dernier sorcier als Salon-Operette und Experimentierfeld für die
Viardotschen Gesangseleven gedacht war, also für einen recht bescheidenen
Rahmen konzipiert, war es enorm aufwendig, eine öffentliche Aufführung für Weimar
vorzubereiten: Nicht nur, daß der Großherzog eine möglichst opulente Inszenierung
und die Hinzufügung eines Balletts wünschte. Es standen darüberhinaus vier weitere
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neue Musiknummern zur Komposition an, unter anderem die Ouvertüre und Kratz'
Exzorzismus, und zwei wirklich umfangreiche Aufgaben waren zu bewältigen: die
Übersetzung des französischen Textes ins Deutsche sowie die Orchestration des
Klavierauszuges.[29]
Letzteres nahmen Franz Liszt, Kapellmeister am Weimarer Theater, und Eduard
Lassen vor, wobei Lassen, ebenfalls Kapellmeister in Weimar, die Fleißarbeit auf
sich nahm, bis ins letzte Detail das umzusetzen, was in Diskussionen mit Pauline
Viardot und Liszt besprochen wurde. Daß die Komponistin nicht selbst die
Orchestration vornahm, ist schlicht auf ihre mangelnde Erfahrung
zurückzuführen.[30] Lassen, zu seiner Zeit sehr geschätzt als Orchestrator, folgt
melodisch wie harmonisch genaustens dem Viardotschen Original. Die
Orchesterbesetzung für die Weimarer Aufführung geht über die übliche für eine
Operette hinaus: Neben Streichern, Holzbläsern, vier Hörnern, zwei Trompeten, drei
Posaunen und Harfe waren Kesselpauken sowie andere Schlaginstrumente
vorgesehen.[31]
Als wesentlich problematischer erwies sich die Übersetzung der französischen
Operette ins Deutsche. Den Auftrag hierfür bekam Richard Pohl, der in Weimar
bereits ähnliche Aufgaben übernommen hatte, beispielsweise übersetzte er Hector
Berlioz' Béatrice et Bénédicte.[32] Auch in Baden-Baden war Pohl kein Unbekannter,
da er die dortige Lokalzeitung herausgab und als Korrespondent für verschiedene
große deutsche Musikzeitschriften arbeitete. Zwar vertonte Pauline Viardot einige
Gedichte des Gelegenheitsdichters Pohl, er gehörte auch zu ihrem Baden-Badener
Zirkel, doch wirklich sympathisch war Pohl der Künstlerin und Turgenjew nicht. Sie
war es auch, die vor allem ernste Zweifel an seinen Fähigkeiten als Übersetzer
hegte. Doch all ihre Versuche, Turgenjew für diese Aufgabe zu gewinnen, blieben
unfruchtbar: Der russische Dichter wußte wohl um die Schwierigkeiten dieses
Unternehmens, schließlich mußte der deutsche Text der bereits komponierten Musik
folgen und sich ihr unterordnen.[33]
Pohls Übersetzung ist alles andere als kongenial. Auch die Übertragung der ProsaDialoge mißlang. Der Hauptgrund für diese deprimierende Diagnose ist sicher darin
zu suchen, daß Pohl keinen Sinn für Turgenjews von Offenbach inspirierten, frivolsatirischen Humor hatte. In seiner Übersetzung waltet ein fußlahmer Witz ohne
wirkliche Schärfe,[34] der nicht nur die Charaktere verfälscht,[35] sondern auch die
Tiefe des Originals verflacht.[36] Unzufrieden mit der Arbeit von Pohl, versuchten die
an der Weimarer Produktion Beteiligten, zahlreiche Textstellen nachzubessern, auch
Turgenjew verfuhr später so, so daß heute eine Vielzahl von Varianten überliefert
sind.[37]
Die Aufführungen von Der letzte Zauberer am 8. und 11. April 1869 in Weimar
erzielten trotz der fragwürdigen deutschen Übersetzung einen achtbaren Erfolg. In
einem Bericht der "Weimarer Zeitung" vom 24. April 1869 schreibt der Musikkritiker
A. W. Gottschalg, die Musik "sei eine glückliche Mischung feinen Humors, anmutiger
Sentimentalität und pikanter Koketterie".[38] Im gleichen Jahr, also 1869, kam es am
13. August zur Wiederaufnahme der Operette, um das kleine Opernhaus der
Viardots, ein Anbau an ihre Baden-Badener Villa, einzuweihen. Die darauffolgende
Aufführung am 24. August leitete niemand geringerer als Johannes Brahms.[39]
Intrigen und Mißverständnisse überschatteten zu Beginn des Jahres 1870 zwei
Vorstellungen von Der letzte Zauberer am Großherzoglichen Hoftheater in
Karlsruhe.[40] Neben schlechten Kritiken gab es auch Anfeindungen gegenüber den
Autoren dieses Werkes, besonders aber stand Turgenjew im Zentrum der Angriffe.
Man verstand sein Libretto als Parodie auf die geliebten Wagner-Opern, den
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Bogen zur gegenwärtigen politischen Situation in Frankreich und zu Napoleon III.
schlug man nicht.
Nach diesem Desaster folgten 1870 noch zwei letzte öffentliche Aufführungen in
Weimar und Riga,[41] drei weitere im privaten Kreis der Komponistin sind
bekannt,[42] die letzte nachgewiesene Vorstellung im Pariser Salon Viardot ist datiert
auf April 1889. Genau 110 Jahre wurde diese Viardotsche Operette also nicht
aufgeführt: Jetzt sind hier an der Berliner Hochschule der Künste Auszüge aus der
Weimarer Fassung zu erleben. Historische Lesart hin wie her, ist es doch auch
davon abgesehen lohnend, den eigenen Charme dieses Werks kennenzulernen. Und
wie Volker Klotz feststellt, zeichnet sich die gute Operette durch einen "komischen
Überschuß" aus, der nicht zu übersehen wie zuhören ist und: "sich nicht beruhigt,
auch wenn das besondere Angriffsobjekt geschichtlich längst erledigt ist."[43]
1 Vgl. Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München 1989, S. 17f. Klotz' ebenso leidenschaftliches wie umfangreiches Plädoyer für die Operette sucht seinesgleichen
unter den Veröffentlichungen zu diesem Thema: Es liest sich nicht nur gut, sondern bietet eine
fundierte Ausgangsbasis zur eigenständigen Auseinandersetzung mit Werken dieser Gattung.
2 Ebenda.
3 Ebenda, S. 26.
4 Vgl. ebenda, S. 25f.
5 Vgl. Christian Marten: Die Operette als Spiegel der Gesellschaft - Franz Lehárs "Die lustige Witwe":
Versuch einer sozialen Theorie der Operette. Frankfurt am Main 1988, S. 40f.
6 Vgl. Nicholas G. Zekulin: "Humour in Turgenev's Operetta 'Le dernier sorcier'". In: Russian
Literature, XVI (1984), S. 422. In diesem Zusammenhang weist Zekulin auch darauf hin, daß die
Namen der beiden Protagonisten der Operette, der Zauberer Krakamiche und sein Diener
Perlimpinpin, frühen Offenbach-Werken entlehnt sind. Besonders offensichtlich ist die Verbindung zu
Offenbachs Operette Croquefer, ou Le dernier des paladins. (vgl. S. 423 u. FN 17).
7 Vgl. Karl Jörger: "Die Baden-Badener Jahre der Madame Viardot-Garcia und ihres Freundes Iwan
Turgenjew". In: Arbeitskreis für Stadtgeschichte Baden-Baden, Heft 13, S. 19-25.
8 Vgl. auch Nicholas G. Zekulin: The story of an operetta: 'Le dernier sorcier' by Pauline Viardot and
Ivan Turgenev. "Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik." Hrsg. von Peter Thiergen, Bd. 15.
München 1989, S. 10.
9 Vgl. Jörger, S. 20f. und Zekulin (1989), S. 17f.
10 Vgl. Zekulin (1989), S. 10f.
11 Zekulin (1984), S. 430: "(...), for the early drafts of Le dernier sorcier were significantly more farcial
and full of the buffoonery for which the private Viardot circle was always well-known." Vgl. auch zur
Besetzung der frühen Entwürfe FN 55, S. 436.
12 Vgl. Zekulin (1989), S. 11.
13 Zekulin (1984), S. 430.
14 Ebenda.
15 Zekulin, S. 424. Vgl. auch Lubov Keefer: "The Operetta Librettos of Ivan Turgenev". In: Slavic and
East European Journal, X (1966), 2, S. 136.
16 Vgl. Marten, S. 22.
17 Vgl. ebenda, S. 25ff.
18 Vgl. Zekulin (1984), S. 430: "The march of the elves, a parodic hint itself at the Eastern policies of
Napoleon III, (...)."
19 Vgl. Marten, S. 25.
20 Auch wenn weiter oben angeführte pragmatische Gründe hier ins Gewicht fallen, ist der dea ex
machina doch eine feministisch begrüßenswerte Signalwirkung nicht abzusprechen. Vgl. auch zur
wenig traditionellen Darstellung der Frau und ihres Wirkens in der Operette Klotz, S. 66ff.
21 Klotz, S. 139.
22Vgl. Marten, S. 22 u. 24f.
23 Vgl. Zekulin (1984), S. 426.
24 Dem "musikalischen Gelächter" in der Operette widmet Klotz ein eigenes Kapitel, vgl. dort S. 127149.
25 Vgl. Zekulin (1989), S. 18.
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26 Vgl. ebenda, S. 16.
27 Vgl. ebenda, S. 19-23.
28 Vgl. ebenda, S. 29f.
29 Vgl. auch zur Weimarer Aufführung: Nicholas G. .Zekulin: "'Der letzte Zauberer' in Weimar". In:
Zeitschrift für Slawistik, 32 (1987), S. 411-22.
30 Vgl. Zekulin (1989), S. 33: "While Pauline may have had some ideas for instrumental colouring, she
had had no experience writing for an orchestra."
31 Vgl. zur Orchestration besonders Zekulin (1987), S. 413f.
32 Vgl. ebenda, S. 416f.
33 Vgl. ebenda.
34 Vgl. ebnda, S. 417.
35 Dies betrifft vor allem die Figur der Stella, die durch Pohls Übersetzung streckenweise recht
affektiert erscheint; vgl. hierzu Zekulin (1984), S. 423, u. (1987), S. 417ff.
36 Vgl. Zekulin (1987), S. 419.
37 Vgl. ebenda, S. 418.
38 Zitat nach Jörger, S. 24.
39 Vgl. Zekulin (1989), S. 47ff.
40 Vgl. ebenda, S. 51-61.
41 Vgl. ebenda, S. 63f.
42 Vgl. ebenda, S. 69-72.
43 Klotz, S. 174.
Weiterführende Literatur:
Gregor Schwirtz: "Le Dernier Sorcier".
Zur Frage der Opernlibretti von I.S. Turgenev.
Ein biographisch-literarischer Beitrag anläßlich des 75. Todestages des Dichters. In:
Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jahrgang 8, 1958/59, Heft 4/5, S.
519-531.
Der letzte ZaubererInhalt
Ort: im Märchenwald, Zauberschloß von Kratz
Zeit: nicht festgelegt
Libretto: Iwan Turgenjew
Die Elfen haben den schon älteren Zauberer in seiner Zaubermacht außer Gefecht
gesetzt, da die Elfenkönigin nicht möchte, daß Kratz, seine Tochter Stella und der
Gehilfe Pappap weiterhin das Zauberschloß, das sich im Wald der Elfenkönigin
befindet, bewohnen. Die Tochter des Zauberers Stella, die bei der Elfenkönigin einen
Stein im Brett hat, liebt den Prinzen Lelio - sein Zweitberuf ist Jäger - und sehnt sich
nach seiner Liebe. Da sie aber im Zauberschloß wohnt und er ein normalsterblicher
Prinz und Jäger ist, können sich die zwei Königskinder nicht sehen, geschweige
denn finden. Stella bleibt wohl nichts weiter übrig, als die Wünsche ihres Vaters zu
erfüllen, nämlich Geld, Schloß, Macht und Kloster als ihr Glück zu begreifen. Der
schon erwähnte erfolgreiche junge Jäger Lelio vernahm irgendwann mal im
Märchenwald die zarte Stimme von Stella und war augenblicklich in sie verliebt. Zu
gern möchte er dieser Schönheit nah sein, was ihm nur durch die Zauberwirkung der
Elfenkönigin dann doch möglich wird. Lelio kann nun eines Nachts Schloß und Stella
erblicken und hält trotz aller heftigen Einwände seines zukünftigen Schwiegervaters
um Stellas Hand an. Und wie es sich für einen richtigen Prinzen gehört, hat er Stella
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und Kratz auch gleich ein Schloß anzubieten. Kratz, der bei seinen Zauberversuchen
nur noch Pech erntet, nimmt den Vorschlag der Elfenkönigin, doch auch auf dem
Schloß von Lelio zu leben, letztlich dankend und glücklich entgegen. Zum Schluß
bekommt jeder seinen Frieden: Die Elfenkönigin vollbrachte ihre gute Tat, indem sie
Stella und Lelio zu ihrem Glück verhalf und nebenbei hat sie auch ihren sauberen
Wald. Kratz ist befreit von den Elfenplagen und zufrieden über seinen zukünftigen
Schwiegersohn. Die Liebe zwischen Stella und Lelio hat gesiegt. "Heil der
Elfenkönigin".
Solvejg Franke. In: Pauline Viardot-Garcia. Der Letzte Zauberer. Musik-Szenen-Briefe. Programmheft
Hochschule der Künste. Sommersemester 1999.
Der letzte ZaubererRezensionen
Über die Uraufführung von Le Dernier Sorcier am 17. Oktober 1867 in Viardots
Théâtre du Thiergarten schrieb Richard Pohl:
[…] sollten wir wirklich nur geträumt haben? … Geträumt einen 'Sommernachtstraum'
von zarten Elfen und ihrer reizenden Königin, die einen alten, sehr unzuverlässig
gewordenen Hexenmeister, dessen Zauberapparate ebenso baufällig wie seine
Hütte sind, so lange necken und höhnen, bis er sich in den Ruhestand versetzt; von
einem Riesen, der zu einem anscheinend äußerst phlegmatischen, aber doch sehr
pfiffigen Zwerg zusammenschrumpfte; von einem jungen Prinzen, dessen
Liebeszauber auf die graziöse Tochter des alten Hexenmeisters sich weit wirksamer
erweist, als alle Merlin'schen Traditionen; und von einer Musik zu dem Allen, deren
Zauber wohl das Wunderbarste und Schönste an dem ganzen Waldmärchen ist…
[…]
Am Klavier aber saß jene Künstlerin, welche als Sängerin und dramatische
Darstellerin so viel Lorbeeren in ganz Europa erntete, und nun hier waltet und
schafft, als geniale Componistin, musterhafte Kapellmeisterin, erfolgreich wirkende
Lehrerin, - die eigentliche Fee im Château enchanté, Pauline Viardot. Als nun der
Vorhang sich theilte, gewannen ihre geistreichen Gedanken tönendes Leben, und ihr
vielfältiges Wirken bethätigte sich in ihren Schülerinnen: vor allem ihre Tochter,
Madame Héritte, die selbst schon Meisterin; in Frl. Hasselmans, einer schon
bühnengewandten, trefflich geschulten Sängerin […] Und in ihrem Kindern Claudia,
Marianne und Paul regte sich sichtbar der Geist der Mutter und entfaltete seine
ersten Blüthen im Farbenschmelz des Lebensfrühlings. Und der Meister Turgenjeff,
der geistvolle Dichter, der dem Ganzen Worte und Gestaltung verliehen, hatte sich
heute zum Regisseur, Schauspieler und - Sänger (!) umgewandelt und waltete
inmitten der frischen, reizenden Jugendwelt mit prächtigem Humor. […] Aber eine
'Kritik' darüber - schreibe ein Anderer! […] Auch das gehört zum Zauber jener Villa.
Dort könnten sogar die Kritiker zu Dichtern werden, - wenn sie nur das Talent dazu
hätten!
Richard Pohl. In: Badeblatt. 19. 10. 1867.
Eigentlich für halbprivate Aufführungen konzipiert, wurde Der letzte Zauberer © Musik und Gender im Internet
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instrumentiert von Eduard Lassen - am 8. April 1869 in Weimar auch zur
erfolgreichen öffentlichen Erstaufführung gebracht. Das französische Libretto hatte
Richard Pohl ins Deutsche übertragen und dabei stark bearbeitet. Anschließend
wurde das Stück für das Karlsruher Hoftheater einstudiert. Die Premiere fand am 28.
Januar 1870 statt, mit Pauline Viardot in der Rolle des Prinz Lelio. Diesmal waren die
Kritiker nicht begeistert:
Die dritte Novität: 'Der letzte Zauberer', phantastische Operette in 2 Akten von Iwan
Turgeniew, übersetzt von R. Pohl, Musik von Pauline Viardot-Garcia ward als eine
Curiosität vom Publikum hingenommen. Die Handlung schleppt sich matt durch zwei
Akte durch, die Musik ist für eine Dilettantin ganz anerkennenswerth, obgleich sie
aus allen Stylen etwas enthält und sich sogar zur Zukunftsmusik hinneigt. Was
gefällig daran war, ward beifällig aufgenommen. So wurde Frl. Murjahn als Stella,
Frau Viardot als Lelio und Frl. Hausmann als Elfenkönigin besonders ausgezeichnet.
Hr. Brulliot als Zauberer fand sich mit dieser undankbaren anstrengenden Parthie
aufs beste ab und Hr. Devrient als Perlimpinpin erregte schon bei seinem Erscheinen
die Lachlust des Publikums; seine originelle Maske und sein Spiel war von
drastischer Wirkung. Die scenische Ausstattung war auf das reizendste hergestellt,
die Elfentänze und Gruppirungen waren geschmackvoll, kurz, das ganze
Arrangement stellte sich dem Auge höchst wohlgefällig dar.
Daß Frau Viardot es noch immer nicht über sich gewinnen kann, auf ihren Lorbeeren
auszuruhen und nur in ihren Salons noch der Kunst zu huldigen, ist uns unerklärlich,
denn wenn wir bei ihrem öffentlichen Auftreten auch die vollendete Technik ihrer
Gesangskunst bewundern müssen, so tritt doch der Abfall der Stimme zu deutlich
hervor.
Die deutsche Schaubühne. 11. Jg. 3. Heft. 1870.
In der Oper bleibt Frl. Murjahn nach wie vor der Liebling des Publikums. Neben ihr
macht Fräul. Hausmann, welche erst im Herbst debütirt hat, ungewöhnliche
Fortschritte, so dass sie sich als Elsa im 'Lohengrin' allgemeinen Beifall errungen hat.
Schade freilich, wenn so schöne Kräfte auf Werke verwandt werden müssen, wie die
Oper der Frau Viardot-Garcia 'Der letzte Zauberer', Text von Iwan Turgenjew,
deutsch von R. Pohl. Die Ausstattung und Aufführung war so gut, wie sie mit unseren
Kräften überhaupt möglich ist. Bei der ersten Darstellung trat die Componistin in der
Rolle eines jungen verliebten Jägers selbst auf. Allein über den Eindruck, den die vor
einigen Decennien mit Recht gefeierte Künstlerin jetzt macht, so wie über Dichtung
und Composition des ganzen Werkes geziemt Nichts als - Schweigen. (Auch alle
anderen Berichte, die uns zu Gesicht kamen, stimmen darin überein, dass der
Durchfall dieser weiblichen Operette ein vollkommener war. D. Red.)
Allgemeine Musikalische Zeitung. 9. 2. 1870.
Am 28. Februar 1870 erschien in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung jedoch ein
Gegenartikel zu den negativen Kritiken:
Die Operette der Frau Viardot-Garcia: 'Der letzte Zauberer‘, Text von Iwan
Turgénjew, ist gegen Ende Januar hier zum erstenmal aufgeführt und einige Tage
später wiederholt worden. Schon vorher hatte man munkeln hören, sie werde kein
Glück machen. Da aber sowohl über die frühere Aufführung auf dem Hoftheater zu
Weimar als über die allererste Darstellung auf Frau Viardot‘s kleiner Privatbühne (nur
vor eingeladenen Gästen) die günstigsten Berichte bekannt geworden waren, hielt
man jene Munkelein um so mehr für müssigen Klatsch, als die Proben noch gar nicht
begonnen hatten, also Niemandem oder doch nur Einzelnen die Musik der Operette
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bekannt sein konnte. Nach und schön während der hiesigen Aufführung hat sich
ergeben, dass es anders, dass es in gewissen Kreisen zuvor beschlossene Sache
war, den Urhebern dies Stücks wehe zu thun, sei dasselbe gut oder schlecht. Ob die
vorangegangenen dunklen Gerüchte nur aus dem Kreise der Eingeweihten ohne
deren Willen transpirirt waren, oder ob man sie absichtlich verbreitet hatte, um dem
auf selbständige Schätzung verzichtenden Theil des Theaterpublikums ein Vorurtheil
einzuflössen, lässt sich nicht entscheiden; fast möchte man Letzteres für
wahrscheinlicher halten. Am Abend der Aufführung musste es auffallen, dass von
einem Theil des Publikums (und immer von den nämlichen Plätzen aus) bei jeder
Nummer dem laut werdenden Beifall ein bedeutungsvolles vornehmes Schweigen
entgegengesetzt wurde; nur kurz vor Schluss des Stücks, wo die Hauptdarsteller
(unter denen Frau Viardot selbst) die Bühne verlassen, gaben die Schweigsamen ein
Lebenszeichen, indem Einzelne den ausbrechenden Beifall zu dämpfen suchten,
was indess an sich insofern gerechtfertigt gewesen wäre, als die an dieser Stelle
nicht unterbrochene Musik durch den Applaus mehrere Takte lang verdeckt war.
Gleich in den nächsten Tagen erschienen in badischen und nichtbadischen Blättern
die abschätzigsten Berichte von 'vollständigem Misserfolg‘, von 'baldigem
Verstummen eines von Anfang an schwachen Beifalls‘, von 'vernehmlichem Zischen‘,
mit welchen die Operette 'von dem gefüllten Hause zu Grabe getragen‘ worden sei,
von einem 'unmöglichen, weil kindischen‘ Textbuch, – wie wenn Turgénjew ein
obscurer Scribler wäre, dem man frischweg und ohne auf Ungläubigkeit zu stossen
jede beliebige Abgeschmacktheit unterschieben könne.
[...] Was hat man denn eigentlich gegen das hübsche Mährchen? Es wird doch wohl
Niemand so philisterhaft sein, den uns Allen angeborenen Sinn für das
Mährchenhafte überhaupt zu verleugnen oder dessen sich schämen zu wollen!
Niemand wird sagen mögen, er könne die Musik zur Zauberflöte, zum Oberon, zum
'Ehernen Pferde‘ (deren Texte keinen Vergleich aushalten mit dem launigen Libretto
zum 'Zauberer‘) nicht mehr geniessen, weil in den Textbüchern Mähren stehen.
Woher also die Galle? Beinahe könnte es scheinen, eine Partei, welche in neuster
Zeit allenthalben ihre schwarzen Fledermaus-fittige mit krampfhafter Anstrengung
schwingt, habe in dem schon von Weimar und Baden-Baden her bekannte Libretto
unliebsame Anspielungen gewittert und vorsorglich die Parole ausgegeben, das
Ganze müsse für absolut sinnloses Zeug erklärt werden. Es ist wahr, man kann sich
bei gewissen Scenen des Gedankens an gewisse Parallelen kaum entschlagen;
allein Niemand hat das Recht, dafür den Verfasser eines nirgends anzüglichen
Gedichts verantwortlich zu machen. Auch wird ja der Zuhörer immer im Bereich des
reinen Mährchens festgehalten durch die Musik, deren Lieblichkeit uns sogleich
wieder von der Erinnerung an finstre Kräfte der Gegenwart befreit. Wenn einem der
missgestimmten Berichterstatter diese Musik 'zuweilen gesucht‘ vorkam, so wird sich
dies auf ein paar Stellen beziehen wollen, welche mit etwas moderner Freiheit
harmonisirt sind; 'gesucht‘ möchte ich dies aber nicht nennen, und die Linie der
Schönheit wird auch hier nicht überschritten. Von jener heutzutage erlaubten Freiheit
bis zu den Experimenten der 'neudeutschen Schule‘ ist noch ein weiter Weg.
Abgesehen von diesen wenigen Stellen ist es gerade die jetzt selten gewordene
Anspruchslosigkeit der Musik, welche einen wesentlichen Reiz derselben ausmacht.
Stets fein gedacht, bald schalkhaft, bald voll tiefen Gefühls, weiss sie mit einfachen
Mitteln viel zu sagen und uns in behaglichstem Genusse zu erhalten. Einige Lieder
sind von so zarter Innigkeit, dass man sich versucht fühlt zu glauben, nur eine
weibliche Empfindung könne solche Saiten anschlagen. Einen ähnlichen Eindruck
hat man bei dem ersten, äusserst munteren Elfenchor. Seit Weber und Mendelssohn
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ist viel Elfenmusik geschrieben worden, und die meisten der Nachfolger haben mit
mehr oder weniger Glück sich jenen anzuschliessen gesucht, ohne den leichten,
luftig flatternden Ton immer zu treffen, der sich für das neckische Völkchen des
Waldes so wohl schickt. Im 'Zauberer‘ scherzen und lachen die Elfen so übermüthig
durcheinander wie fröhliche Kinder. Es ist, als ob eine phantasiereiche Frau, wenn
sie Elfengesänge in Töne setzt, wirklich an die Existenz eines Elfenreichs glauben
könne, was uns Männern nicht mehr gelingt. [...]
Hoffentlich wird die Operette noch auf andere Bühnen kommen wo sie keiner
Voreingenommenheit begegnet. Dann mag sich zeigen, welche Berichte über die
Carlsruher Aufführung die unparteiischen gewesen sind.
Allgemeine Musikalische Zeitung. 23. 2. 1870. S. 61.
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Le Rêve De Jesus
Szene für Sopran und Klavier
Komponiert 1890
Text Stéphan Bordèse
Durand & Schoenwerk, Paris 1890
Musik und Text
Und Jesus sagt:
Mutter mir dem sanften Blick,
Ich hatte einen schlimmen Traum.
Haltet mich in eurem Arm,
Bis die Nacht vollendet ist.
Et Jesus dit:
Mère au regard si doux,
J'ai fait un vilain rêve.
Gardez-moi près de vous,
Tant que la nuit s'achève.
Ich hatte die Augen geschlossen
Im Rythmus eures Schlaflieds,
Ich hörte noch eure Stimme,
Als meine glückliche Seele
einschlief.
J'avais fermé les yeux, je crois,
Au rythme de votre berceuse,
J'entendais encor votre voix,
Quand s'endormit mon âme heureuse.
Dann sah ich im Schlaf
vom Himmel herab schöne Engel
steigen,
Mit sonnenfarbenen Flügeln und
Kleidern von seltsamer Heiligkeit.
Alors, je vis en mon sommeil,
Descendre du ciel des beaux anges,
Aux ailes couleur du soleil,
Aux robes de clartés étranges.
Sie sagten mir, daß im Himmel Gott
auf einem Thron von Licht,
An einem wunderbaren Ort
Regiert über die gesamte Natur.
Ils me disaient que dans les cieux
Dieu, sur un trone de lumière,
Dans un séjour délicieux
Régnait sur la nature entière.
Sie sagten mir:
Du wirst König sein,
Und dieser Gott wird dein Vater sein;
Aber die eifersüchtigen Menschen,
Werden dich auf Erden verfolgen.
Ils me disaient:
Tu seras Roi,
Et ce Dieu là sera ton Père,
Mais les hommes, jaloux de Toi,
Te persécuteront sur terre.
Dann verschwanden die schönen
Engel.
Und ich sah im Schatten die
Menschen näher kommen, die sie
mir vorausgesagt hatten, ohne sie
zählen zu können.
Puis les beaux anges sont partis.
Et j'ai vu s'avancer dans l'ombre,
Les hommes qu'ils m'avaient prédits.
Sans en pouvoir compter le nombre.
Bald umringte mich ihr Trupp
Und schrie: "Er ist's, der uns
beleidigt!
Bientôt leur troupe m'entourait
Criant: "C'est lui qui nous outrage!
Mort à Jésus de Nazareth!"
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Tod Jesus von Nazareth!"
Und alle schlugen mir ins Gesicht!
Et tous me frappaient au visage!
Mutter mit dem sanften Blick,
Ich hatte einen schlimmen Traum.
Haltet mich in eurem Arm,
Bis die Nacht vollendet ist.
Mère au regard si doux,
J'ai fait un vilain rêve.
Gardez-moi près de vous,
Tant que la nuit s'achève.
Rezensionen
Vielleicht dankt uns der Leser, was wir ihm im dritten Heft unserer Beilagen
zusammengestellt, Tonstücke der verschiedensten Art in Form und Charakter,
darunter zwei mit weiblichen Namen, die in neuester Zeit die Aufmerksamkeit der
musikalischen Welt in hohem Grade auf sich gelenkt. Ueber Pauline Garcia haben
diese Blätter schon an mehreren Orten berichtet. Als Sängerin ihrer berühmten
Schwester nachstrebend, in der Composition ihr vielleicht überlegen, scheint sie
auch dem letztern und höhern Talent die größere Sorgfalt zuzuwenden. Das Lied ist
merkwürdig, als ein deutsches Lied von einer Spanierin componirt, dann durch sich
selbst in seiner Gestaltung und Abrundung. Die Musikerin hat das Bild des Dichters
bis ins Zarteste ausgemalt und Eignes hinzugethan, indem sie den Hirtenknaben im
Anfang singend einführt. Das Letztere mag vielleicht etwas spielend erscheinen; im
Gegensatz aber zur ruhenden Landschaft, die der Dichter vor uns ausgebreitet,
treten die Contraste nun um so lebendiger vor. Nach dem Schluß hin verschwindet
der Gesang des Hirtenknaben allgemach und klingt wie ein Echo nur in der
Begleitung hier und da; es ist, als ob das Glöcklein seinen Gesang immer mehr
übertöne. Ein Vortrag, wie er der Componistin eigen, eine Stimme, wie ihre aus dem
Innersten kommend, werden dem Lied die rechte Färbung und Bedeutung geben.
Robert Schumann. In: Neue Zeitschrift für Musik. Bd. 9. Nr. 26 vom 28. 11. 1838. S. 106.
[…] fast noch mehr fesselte uns aber der Vortrag zweier Lieder […] von Mad.
Viardot, wobei der stürmische Beifall, welchen sie hervorriefen, sicher eben so sehr
der hochgeschätzten Componistin, als ihrem talentvollen Interpreten galt. Namentlich
das erstere (in Leipzig im Druck erschienene) Lied 'Zwei Rosen' (Gedicht von Feth),
ist ein kleines Meisterstück; auf den Quart-Sext-Accord als Orgelpunkt gebaut,
spiegelt es in seltener Reinheit der Stimmung den zarten, poetischen Gedanken mit
Vollkommenheit wieder. - Der bedeutende Erfolg, welchen beide Sänger in dieser
Soirée mit den Viardot'schen Liedern errangen, wird hoffentlich ihre geistreicheren
Collegen anfeuern, ihre Repertoiren gleichfalls mit den Compositionen von dieser
Meisterin zu zieren.
Richard Pohl. In: Badeblatt. 17. 10. 1866.
Auch als Componistin leistet Frau Viardot so vortreffliches, ihr Lied 'Um Mitternacht'
hat es wiederum bewiesen, daß wir nur bedauern, daß sie gerade mit dem Vortrag
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ihrer eigenen Werke so sparsam ist. Sie sollte weniger bescheiden sein.
Richard Pohl. In: Badeblatt. 7. 8. 1868.
Am Schluß des Concertes sang Frau Viardot noch zwei Lieder: eines ihrer
farbenreichen und graziösen Nationallieder (La Calsera) und eine reizende Ballade
eigener Composition 'Nixe Binsefuß‘ (Gedicht von Mörike). Beide Stücke, so
verschieden unter sich, ernteten nicht geringeren Beifall. Ueber die Composition der
'Nixe Binsefuß‘ können wir nur wiederholen, was wir schon früher über die LiederCompositionen von Frau Viardot sagten. Sie sind eine in musikalischer, wie
gesanglicher Hinsicht so glückliche Bereicherung der modernen Liederliteratur, daß
wir ihre Herausgabe durch den Druck geradezu für eine künstlerische Pflicht
erklären.
Richard Pohl. In: Badeblatt. 26. 8. 1868.
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Essay
Beatrix Borchard: Jeux d’esprit - Pauline Viardot-Garcia
Dieser Essay über die kompositorische Arbeit von Pauline Viardot-Garcia und die
Unangemessenheit tradierter Werkkategorien befindet sich in der Materialsammlung.
Hier Anfang und Schluss des Aufsatzes.
"An jedem Sonntag gegen 2 Uhr mittags konnte man während der ganzen Dauer der
sommerlichen Saison eine lange Reihe von Wagen zum Tiergartental hinausrollen
und vor dem offenen Gittertor des großen Vorgartens der Villa Viardot halten sehen,
denen ein Schwarm von Damen und Herren der besten und erlesensten Gesellschaft
entstieg, während andere, näher wohnende, zu Fuß hinausgewandelt kamen. Durch
die ganze Länge jenes vorderen Gartens von der Villa getrennt, erhob sich die große
Musikhalle, ein eleganter Fachwerkbau in Basilikaform mit zierlicher Fassade. An
einen höheren Mittelbau mit seitlichen ovalen Fenstern in dessen oberem Teil legten
sich die beiden Seitenschiffe mit schräg ansteigenden Dächern. Die beiden
Langwände des Innern, in welchem das Sparrwerk des Dachstuhls offen lag, waren
mit der daran aufgehängten Mehrzahl der im Besitz Viardots befindlichen
Meisterwerke alter und neuerer Malerei geschmückt. Den nördlichsten Abschnitt des
Raumes nahmen die große Orgel und die vor ihr aufgestellten beiden Konzertflügel
ein. In einem Medaillon in der Mitte des Giebelbaues dieser Orgel war auf Goldgrund
das zur heiligen Cäcilia idealisierte Profilbild Pauline Viardots von Ary Scheffer
gemalt. Die Bälge brauchten nicht „getreten“ zu werden, sondern wurden durch das
beständig wiederholte Niederdrücken eines Hebels an der rechten Seitenwand des
Instrumentes gefüllt – eine Arbeit, in deren Ausführung, wenn Frau Viardot, die
Meisterin auch dieser Kunst, die Orgel zur Begleitung einer altitalienischen oder
Händelschen Arie spielte, Turgenjew und ich, darin abwechselnd, eine besondere
Genugtuung fanden. Den ganzen weiten Raum bis zur Türwand nahmen
Parallelreihen von Polstersesseln und leichten vergoldeten Rohrstühlchen ein. Je
eine andre Reihe von solchen zog sich längs jeder der beiden Langwände hin. Die
so gestaltete und ausgestattete weite Halle füllte sich sonntags um 2 Uhr mit jener
glänzenden Gesellschaft, in der kaum einer der in Baden-Baden anwesenden Träger
eines berühmten Namens, kaum eine der hier lebenden hervorragendsten
männlichen und weiblichen Persönlichkeiten fehlte. Welch ein in seiner Art ganz
einziges, reizendes Bild gewährte dieser Musiksaal in jenen Stunden der Matinee,
wenn die Nachmittagsonne, durch die elliptischen Fenster in den oberen
Seitenwänden des hohen Mittelteils einstrahlend, die Gemälde an den Wänden wie
diese lebendige Galerie von schönen, von charaktervollen, anziehenden und
fesselnden Köpfen und diese in sommerliche Trachten, meist von hellen, heitern
Farben, oft von ganz phantastischen Schnitten und Zusammenstellungen,
gekleideten Frauen- und Mädchengestalten mit goldnen Lichtern überstreute,
während andere wieder in das warme Helldunkel des übrigen Raumes eingetaucht
blieben! Auf einem Sessel vor der östlichen Wand, unter einem Bilde von Velazquez
– einer Wiederholung der Köpfe zweier spanischer Bauern aus seinem berühmten
Werk „Die Trinker“ in der Galerie es Prado –, nahm Königin Augusta ihren Platz
zwischen den Damen ihres nächsten Gefolges ein. In den Sommern von 1865, 67
und 68 sah man dort wiederholt an ihrer Seite den glorreichen königlichen Gemahl in
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bürgerlicher Promenadentracht sich niederlassen, um, wie seine Gattin, den
köstlichen Gaben des Gesanges und der auf der Orgel, am Flügel und vor den
Notenpulten auf Geige, Cello, Harfe ausgeführten Instrumentalmusik zu lauschen,
die hier in verschwenderischer Fülle von der Hausherrin, den ihr befreundeten
Meistern, Rubinstein, Clara Schumann und Herrmanns an der Spitze, den
bedeutendsten andern Virtuosen und den talentvollsten jungen Gesangschülerinnen
dargeboten wurden. Welche Stunden des vollkommenen Glücks sind mir dort in
jedem jener Sommer durch diese Matineen in der viardotschen Musikhalle gewährt
gewesen! […]
Wenn die Gesellschaft sich nach dem Schluß der Matinee mit enthusiastischen
Danksagungen gegen die Veranstalter und Gastgeber verabschiedet hatte, gingen
die intimeren Freunde und einige wenige eingeladene Gäste durch den Garten
zwischen seinen Blumenbeeten und Bosketts zur Villa zurück, in deren Speisesaal
mit den getäfelten Wänden, vor dessen Fenstern das hereinhängende Weinlaub
goldig grüne Vorhänge bildete, uns das heiterste geistgewürzte Mittagsmahl
erwartete." [1]
Klangwelt – Lebenswelt – was könnte dieses Motto besser charakterisieren als die
Baden-Badener Jahre von Pauline Viardot-Garcia [2] (1821-1903), einer der
berühmtesten und vielseitigsten Musikerinnen der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Sei es in Paris, sei es in Baden-Baden, sei es auf ihrem Landsitz, auf
dem Schloß Courtavenel in Rozay-en-Brie, überall wo sie längere Zeit wohnte, lud
sie ein zu Matineen, Konzerten, Opernaufführungen. Im Rahmen dieser
Veranstaltungen, die als musikalische Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben der
jeweiligen Orte galten, führte sie regelmäßig auch eigene Kompositionen auf. Vor
allem in Baden-Baden, der Sommerhauptstadt Europas, wie die Stadt von ihren
internationalen Gästen liebevoll genannt wurde, traf sich in den Jahren zwischen
1863-1871 im Viardotschen Hause alles, was Rang und Adel hatte. [...]
Komponieren als kulturelles Handeln
“[...] sie ist die genialste Frau, die mir je vorgekommen.” [3] Dieser Meinung war nicht
nur Clara Schumann, von der diese Äußerung stammt. Pauline Viardots
sängerisches und pianistisches Können, ihre Intelligenz, ihre selbst für damalige
Maßstäbe außergewöhnliche musikalische Vielseitigkeit waren stets unbestritten.
Anders die Qualität ihrer Kompositionen: Wie bereits dargestellt, Pauline Viardot
zitiert, parodiert, imitiert; einen einheitlichen Stil strebte sie nicht an. Ihr ging es um
Leichtigkeit, Witz, Lebendigkeit - Musik als Kommunikation. Der Begriff Jeux d’esprit
– eigentlich gemünzt auf die von Ludwig Pietsch geschilderten abendlichen
Schreibspiele im Viardotsche Familien und Bekanntenkreise [4] - charakterisiert
vielleicht am besten ihre Arbeit als Komponistin. Denn ihre „Spiele“ appellieren an ein
gemeinsames Vorverständnis und sind Ausdruck von Geselligkeitsformen, die wir
heute nicht mehr kennen. Welch ein Gegenbild zum leidenden, ringenden
christusgleichen romantischen Künstlertypus à la Beethoven. Hier kämpft sich
niemand durch Nacht zum Licht, sondern hier leuchtet alles in den schillerndsten
Farben. Ist das nicht ein Zeichen für mangelnden Ernst, mangelnde Tiefe? Darf man
so komponieren?
Die Verknüpfung von ästhetischen mit moralischen bzw. ethischen Fragen, wie sie
für die deutsche Diskussion in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist,
war Pauline Viardot fremd. Ihre Operetten sind keine Werke im emphatischen Sinne,
die an einem klassisch-romantisch Musikbegriff orientiert sind. Die geschriebene
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Partitur dokumentiert lediglich die Struktur ihrer Stücke, die erst in den Aufführungen
selbst, die allen Beschreibungen zufolge sehr viel improvisatorische Elemente
enthielt, zu leben begannen. Das erschwert natürlich auch die heutige Rezeption
dieser Kompositionen. Auf keinen Fall hat es einen Sinn, sie unbefragt aufzuführen.
Denn die Noten und der Text als eine musikalisch-dramatische Vorlage müssen erst
auf aktuelle Aufführungsbedingungen hin adaptiert werden. Anders formuliert: Die
Aufführung, die Interpretation ist Teil der Struktur der Stücke.
Anders als für Schumann und Brahms aber genauso wie für Franz Liszt blieben für
Pauline Viardot auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grenzen zwischen
Produktion und Reproduktion fließend; eine Hierarchisierung zwischen Komposition
und Interpretation lehnte sie nicht nur als Komponistin sondern auch als Sängerin ab:
“Du hast keine Idee wie ich jetzt beschäftigt bin. Du weißt nicht welche Arbeit jede
einzelne Rolle in sich trägt - der dramatische Künstler muß fortwährend schaffen - er
muß menschliche, lebendige, fühlende, leidenschaftliche, vollendete, bis in den
kleinsten Details naturwahre Gestalten sich erdenken und dem Zuschauer vorführen.
Vor allem verehre ich den schaffenden Meister, unmittelbar neben ihm den
schaffenden Künstler. Beide sind unzertrennbar - denn Jeder allein für sich bleibt
stumm, und zusammen schaffen sie den höchsten und edelsten Genuß des
Menschen, die Kunst." [5]
Autorschaft und Werk, diese Kategorien einer Heroenmusikgeschichtsschreibung
sind nicht nur, aber besonders im Falle Pauline Viardots ungemessen. Ihre Arbeit
lässt sich nur als künstlerisches Handeln beschreiben. In diesem Handeln sind
Lebenswelt und Klangwelt nicht voneinander zu trennen.
[1] Ludwig Pietsch, Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens, hrsg.
von Peter Goldammer, Berlin 2000 (Originalausgabe: 1893/94), S. 507/508.
[2] Beide Namensversionen, Pauline Viardot bzw. Pauline Viardot Garcia, benutzte sie sowohl als
Autorennamen wie als Sängerin, im Folgenden: Pauline Viardot bzw. vor der Heirat Pauline Garcia.
[3] Brief Clara Schumann an Johannes Brahms 3.10.1867, Briefwechsel Brahms-Clara Schumann,
Bd. I, S. 565.
[4] Vgl. Ludwig Pietsch, Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens,
hrsg. von Peter Goldammer, Berlin 2000 (Originalausgabe: 1893/94),S. 499f.
[5] Brief an Clara Schumann vom Januar 1848, zit. nach B. Borchard, Zwei Musikerinnen - zwei
Kulturen. Unveröffentlichte Briefe von Clara Schumann und Pauline Viardot-Garcia. In: Pauline Viardot
in Baden-Baden und Karlsruhe (=Baden-Badener Beiträge zur Musikgeschichte Bd. 4, hrsg. von Ute
Lange-Brachmann, Joachim Draheim, Stadt Baden-Baden), S. 71-91, hier S. 84.
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