SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Born in the USA – Eine Amerikanische Musikgeschichte in 5 Präsidenten Jefferson (1) Von Katharina Eickhoff Sendung: Montag, 25.07. Juli 2016 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 „Musikstunde“ mit Katharina Eickhoff Born in the USA – Eine Amerikanische Musikgeschichte in 5 Präsidenten Jefferson (1) SWR 2, 25. Juli – 29. Juli 2016, 9h05 – 10h00 Indikativ CD T. 1 ab 0’30 bis 0’45 „We hold these truths to be self-evident.....life, liberty and the pursuit of happiness.“ / Declaration of Independence John F. Kennedy Patriotic Music Unlimited Das ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, verfasst im Juli vor 240 Jahren, verlesen von einem amerikanischen Präsidenten: John F. Kennedy, in den so viele Leute Hoffnung gesetzt hatten, dass die Visionen von 1776, dass alle Menschen gleich geschaffen sind zum Beispiel...dass diese Visionen doch noch amerikanische Realität werden könnten. Von Kennedy wird auch noch ausführlich die Rede sein in dieser Musikstundenreihe, in der es, pünktlich zur Eröffnung der heißen Phase im Präsidentschaftswahlkampf, um fünf amerikanische Präsidenten und ihre Zeit gehen soll. Ausgesucht habe ich diejenigen fünf, unter denen die USA jeweils an einem historischen Wendepunkt standen, in deren Regierungszeit also sich diese Vereinigten Staaten nachhaltig verändert haben: Thomas Jefferson hat die schönen Ideale zu Papier gebracht, auf denen das Land gegründet wurde, unter Abraham Lincoln hat es nach einer fürchterlichen Zerreißprobe zu sich selbst gefunden, mit Franklin D. Roosevelt ist Amerika Weltmacht geworden, und seit George W. Bush ist es in seinen Grundfesten erschüttert. Und wie immer, wenn Geschichte geschrieben wird, schreibt die Musik an dieser Geschichte mit, sie ist Chronik, Rückblick, Spiegel und Tonspur, sie erzählt uns von den Menschen, wie sie gelebt, gefühlt, gedacht haben, - und darüber, wie Amerika fühlt und denkt, wissen wir hier, wie sich immer wieder rausstellt, immer noch viel zu wenig. Die amerikanische Musik zum Beispiel, die gibt es, auch wenn europäische KulturArroganz sie gern als nicht der Rede wert abtut. Sie ist ein unverzichtbarer Teil der großen Erzählung dieses riesigen Landes, seine Chronik und manchmal auch sein Korrektiv. Und ein Stück war von Beginn an und bis heute immer dabei: 3 CD T. 2 2’40 Yankee Doodle, Bearb.: Morton Gould „The President’s own“ United States Marine Band, Morton Gould Altissimo 75442202572 Yankee Doodle – ob man will oder nicht DAS amerikanische Musikstück schlechthin, weil es im Grunde die ganze Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika in sich trägt: Die Melodie ist uralt, stammt vermutlich schon aus dem späteren europäischen Mittelalter, und sie ist dann über die Meere und durch die Jahrhunderte gereist, war Kampfgesang der Unionists, also der Nordstaaten im Sezessionskrieg, ist im 20. Jahrhundert durch die seltsamen Sinfonien des Charles Ives gegeistert und wird bis heute hingebungsvoll bei patriotischen Feiern und Umzügen aller Art getrötet, garniert mit Blaubeermuffins und Nationalflagge in Form von Papierfähnchen. Zuallererst haben das Liedchen in Amerika im 18. Jahrhundert aber wohl britische Soldaten gesungen, um sich über die chaotischen amerikanischen Kämpferkollegen lustig zu machen, mit denen es anfangs ja noch gemeinsam gegen die Franzosen ging – ein Doodle ist soviel wie ein Dödel... Aber als dann der Krach mit England um die amerikanische Selbstbestimmung eskaliert ist, als also die Amerikanische Revolution kam, da war „Yankee Doodle“ plötzlich das Lied der amerikanischen Revolutionäre in den nördlichen Staaten, irgendwo wird dann in neuen Strophen schon George Washington gelobt, und an anderer Stelle wird’s auch mal ein bisschen schlüpfrig: „Hey ho auf unser Cape Cod, Hey Ho auf Nantasket, lasst bloß nicht die Bostoner Spaßvögel in Euer Muschelkörbchen fassen... Zu zwei und zwei geht man zu Bett, zwei und zwei zusammen, und wenn nicht genug Platz da ist, legt man sich eben übereinander...“. CD 2’16 Yankee Doodle Boston Camerata, Joel Cohen Erato 3867222 Der Yankee Doodle war also schon allseits verbreitet, als sich am 4. Juli 1776 dreizehn amerikanische Staaten von Großbritannien losgesagt und ihren unabhängigen Staatenbund proklamiert haben – die Briten kriegten das auch schriftlich, nämlich in jener feierlichen Erklärung, die als Declaration of Independence, genauer: The unanimous declaration of the thirteen United States of America, in die Geschichte einging, in ihrem fabelhaft formulierten Wortlaut zum großen Teil 4 verfasst von einem einzigen und einzigartigen Mann: Thomas Jefferson, der dann ziemlich genau ein Vierteljahrhundert später der dritte Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Diese Erklärung der Founding Fathers, der Gründerväter im Jahr 1776 war der Beginn einer ungeheuren Aufstiegsgeschichte, die womöglich jetzt, im 21. Jahrhundert, langsam zu Ende geht, aber noch ist ja nicht aller Unabhängigkeitstage Abend... Und so beunruhigend die Verhältnisse auch sein mögen, jedes Jahr wird hartnäckig landauf, landab in schönen Reden der Geist Thomas Jeffersons beschworen, der damals diese Unabhängigkeitserklärung in so wohlklingende Worte gegossen hat, die aber eben nicht bloß schöne Worte, sondern der Stoff, die Wurzel waren, aus der der erste demokratische Staat der Neuzeit wachsen sollte: Dass alle Menschen gleich sind, und von ihrem Schöpfer mit unveränderlichen Rechten, unalienable rights, ausgestattet, nämlich „Life, liberty and the pursuit of happiness“ – davon hatten immer mal wieder ein paar Leute geträumt, aber bis dahin hatte es noch niemals jemand zum Ausgangspunkt einer Gesetzgebung gemacht. Der amerikanische Avantgarde-Akkordeonist Guy Klucevsek, dessen Eltern als kroatische Einwanderer dem amerikanischen Traum gefolgt sind, hat aus diesen drei emblematischen Worten ein witziges Stück gemacht, wobei er allerdings den Wortlaut ein bisschen abgewandelt hat – als ob ein schon leicht angetrunkener Bürgermeister irgendwo im mittleren Westen bei seiner Feiertagsrede zum Independence Day die klare Aussprache nicht mehr ganz auf die Reihe kriegt, und da wird dann aus „Pursuit of happiness“ das Glück durch italienischen Schinken: „Life, liberty and the prosciutto happiness“. CD T. 1 1‘02 Guy Klucevsek, Life, liberty and the prosciutto happines Winter & Winter 910 058-2 Freiheit und Schinken: Life, liberty and the prosciutto happiness... Wenn man bedenkt, dass zur Zeit ein Mann Chancen auf die amerikanische Präsidentschaft hat, der Belgien für eine schöne Stadt hält, und wenn man sich dann im Vergleich mit einer so rundum beeindruckenden, weltläufigen Figur wie Thomas Jefferson befasst – dann kann man schon mal ins Zweifeln kommen, ob die USA noch God’s Own Country sind. Aber für alles einfach bloß Gott verantwortlich zu machen, das war nicht Thomas Jeffersons Sache...Jefferson, Sohn eines wohlhabenden Plantagenbesitzers aus 5 dem Süden, war ein Macher vor dem Herrn: Hochintelligent und gebildet, extrem kommunikativ, streitlustig, aber auch freundschaftsbegabt – mit John Adams, seinem Vorgänger im Präsidentenamt, hat er sich über Verfassungsfragen bis aufs Blut gestritten, aber danach waren beide noch bis zu ihrem Tod dick befreundet , und Thomas Jefferson war einfach unersättlich im Informationen sammeln. „Kein Grashalm wächst, ohne dass es mich interessiert“, hat er gesagt, und auch darauf schaut man dann doch mit Wehmut angesichts des manchmal begrenzten Horizonts mächtiger Politiker heutzutage,...Thomas Jefferson scheint noch Muße für Vieles gehabt zu haben: für Musik und für Literatur – ohne Bücher könne er nicht leben, hat er gesagt - , für Architektur und Tiere – im Weißen Haus gab es zu seiner Zeit unter anderen eine Drossel namens Dick und zwei Bärenbabies -, für splendide Einladungen...Jefferson hat im großen Stil gelebt, er liebte das gute Essen und gute Weine, aber bei aller Bonhomie: Bei der Verfolgung seiner politischen und gesellschaftlichen Ziele, bei der Verteidigung der Freiheitsrechte aller Menschen, war er konsequent bis unerbittlich, und er hat von Anfang an darauf hingewiesen, dass Demokratie bedeutet, dass man mitmachen muss: „Schlechte Kandidaten“, so Jefferson, „werden von Bürgern gewählt, die nicht zur Wahl gehen.“ Das ist heute noch so wahr, dass es wehtut, siehe Großbritannien... Und nicht zuletzt, auch mit Blick aufs Heute: Jefferson war – das sollten Tea-PartyFreunde und Trump-Anhänger vielleicht nochmal durchlesen, bevor sie, die Hand auf dem Herzen, die Gründerväter herbeibeschwören – Jefferson war ein entschiedener Verfechter der Religionsfreiheit. Zu wem oder was einer daheim betete, fand er, hatte keinen Einfluss auf seinen Wert als Mensch und Staatsbürger. Und deshalb war er auch ganz entschieden für die Trennung von Bildung und Religion – dass es in der Schöpfungsgeschichte ein paar kleine historische Ungereimtheiten gibt, darauf hatten ja schon seine Freunde, die Aufklärer, hingewiesen. Was Amerikas Kreationisten bis heute nicht hindert, dafür zu streiten, dass die wahre Geschichte endlich Eingang in den Biologieunterricht findet, dass nämlich Gott die Erde im Jahr 4004 vor Christus erschaffen hat, und zwar an einem 23. Oktober. Einen kleinen Erfolg konnten sie auch mittlerweile verbuchen: In Texas hat man vor ein paar Jahren neue Schulbücher rausgegeben, und in denen kommt Thomas Jefferson unter den bedeutendsten Denkern der USA schon gar nicht mehr vor. Zu links, der Mann, dachte man sich wohl. Zu seinen Lebzeiten war das zum Glück anders – dass Thomas Jefferson maßgeblich das Gesicht des künftigen Amerika geprägt hat, dass er sozusagen Mr Liberty persönlich war, wusste nicht nur der kleine, elitäre Kreis der Verfassungsverfasser, es hat sich ganz offensichtlich auch schnell bei der breiteren Bevölkerung herumgesprochen. Und weil in den Staaten damals überall und ständig gesungen wurde, war schnell ein kleines Preislied zur Melodie von 6 „Greensleeves“ fertig, das dann in den ewig jungen Schatz der Amerikaner für patriotische Gesänge eingegangen ist: Rejoice, Columbia’s sons, rejoice! To tyrants never bend your knee But join with heart and soul and voice For Jefferson and Liberty! Digas 2 Trad., Jefferson and Liberty Boston Camerata, Joel Cohen Erato 3867222 2’40 ...Auf Youtube habe ich dieses stolze alte Gründungsliedchen als Instrumental entdeckt, kombiniert mit der Erklärung, dass Amerika „under attack“ sei, nicht nur durch die Immigranten, gegen die man bekanntlich dringend eine Mauer bauen muss, sondern vor allem durch „die da in Washington“, die gewählten Politiker, die allesamt, Republikaner wie Demokraten, abgesetzt und mit Waffen vertrieben gehören. Und das alles wie gesagt garniert ausgerechnet mit der Melodie dieses Jefferson-Lieds, wo es doch im Text in der dritten Strophe heißt: „Here strangers from a thousand shores, compelled by tyranny to roam shall find amidst abundant stores a nobler and a happier home.“ Hier sollen Fremde von überall her, die die Tyrannei daheim zur Flucht zwingt, ein besseres und glücklicheres Zuhause finden. Das sind sie, die eigentlichen Ideale, auf denen die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika beruhte – und diese schönen und menschlichen Ideale haben wiederum was mit der tiefen Glaubensverwurzelung zu tun, die ein Erbe der ersten Siedlergruppen im Nordosten ist, der Pilgerväter, die ja überhaupt die fürchterliche Überfahrt aus dem alten Europa nur auf sich genommen hatten, um hier in Freiheit ihrem Glauben zu leben. Und glauben, das hieß für diese ersten Amerikaner vor allem: Singen. CD Trav’ling home Anon., Hatfield Boston Camerata, Joel Cohen Erato 2564 69211-5 T. 1 2’30 7 ...ein Spiritual aus dem späteren 18. Jahrhundert, das sich in der Sammlung des Mr Kimball gefunden hat, einem hingebungsvollen Amateurmusiker, der in Newburyport, Massachusetts ein Musikensemble unterhalten und regelmäßige Konzertabende veranstaltet hat. Es ist anzunehmen, dass Thomas Jefferson sich eher selten auf solche Veranstaltungen früher amerikanischer Amateurmusikpflege verirrt hat – zwar waren für ihn alle Menschen gleich, aber es konnten nicht alle gleich gut Geige spielen, und Jefferson selbst konnte das erstaunlich gut, ja, das Geigen war fast schon eine Obsession für ihn: Er hat es als Kind gelernt und hat nach eigenen Angaben, zumindest vor seiner Zeit als Präsident, möglichst mehrere Stunden am Tag Violine gespielt. Meistens auf einer kleinen Tanzmeister-Violine, die sich gut auf dem Pferd mitnehmen ließ, später begleitet am Cembalo von seiner Frau Martha. Sehr gut möglich, dass bei Jeffersons an Hausmusikabenden auch die Lieder von Francis Hopkinson aufgeführt worden sind – Hopkinson, geboren in Philadelphia, war neben Jefferson einer der „Founding Fathers“ der Vereinigten Staaten, sein Name steht auch unter der Unabhängigkeitserklärung. Von Beruf war Hopkinson Richter, aber er war vor allem ein künstlerisch und literarisch hochbegabter Mensch, hat satirische Gedichte, Komödien, politische Essays verfasst, und – komponiert. Joel Frederiksen und sein Phoenix-Ensemble kümmern sich schon länger um amerikanische Raritäten dieser Art und haben Hopkinsons Lieder wieder ausgegraben und aufgeführt: CD T. 3 Francis Hopkinson, Enraptur’d I gaze... Sabine Lutzenberger, Joel Frederiksen, Ensemble Phoenix Privataufnahme 3’00 ... Nach dem Tod seiner Frau Martha ist Jefferson dann im Jahr 1785 als Botschafter nach Paris gegangen – die Franzosen dort, egal, ob uralter Adel oder junge Revolutionäre, hätten ihn am liebsten auch zum Franzosen gemacht, und er selber hat den schönen Satz geprägt, dass jeder Mensch von Kultur zwei Vaterländer habe, sein eigenes und Frankreich. Sicher ist, dass Jefferson den Verantwortlichen im Jahr 1789 jede Menge guter Ratschläge gegeben hat, von denen dann eher wenige beherzigt wurden: Man muss ja feststellen, dass verglichen mit dem beispiellosen Terror, in den die Französische Revolution mündete, ihr Vorbild, die Amerikanische Revolution, erstaunlich erfolgreich, geordnet und menschenwürdig abging – nicht zuletzt dank Männern wie Thomas Jefferson. 8 Jefferson in Paris – so heißt der Film von James Ivory von Mitte der 90-er Jahre, der einen historisch erstaunlich korrekten Abriss von Jeffersons fünf Pariser Jahren liefert: Wie er in der aufgeladenen Stimmung zwischen Versailles und Paris alle bezaubert hat, wie er selbst bezaubert war von Europa, durch das er immer wieder Architektur-Reisen unternommen hat, und wie er, der schmucke Witwer, sich heftig in die italienisch-britische Malerin und blendende Schönheit Maria Cosway verliebt hat: „The dialogue of the head versus the heart“ hat er seinen Mammut-Liebesbrief überschrieben, den er ihr nach ihrer dann vernünftigerweise angetretenen Abreise geschickt hat – die beiden sind Brieffreunde geblieben bis an Jeffersons Lebensende. Gleichzeitig, sagt der Film, hat der einsame Jefferson aber eine Affäre mit der farbigen Zofe seiner Tochter Patsy angefangen. Das klingt nun wie von James Ivory erfunden, ist es aber nicht, Sally Hemings war wohl tatsächlich ab der Paris-Zeit knapp vierzig Jahre lang die Frau im Leben Thomas Jeffersons, auch wenn man das in den USA aus naheliegenden, also: rassistischen Gründen nicht wahrhaben wollte. Inzwischen ist es per DNA-Analyse an ihren Nachkommen erwiesen, und sie und ihre Kinder waren ja auch die einzigen Sklaven, die Jefferson jemals in die Freiheit entlassen hat. Dass er Sklaven gehalten hat, dieser Schatten liegt auf dem Bild des großen Freiheitshelden, aber die Zeit war vielleicht einfach noch nicht reif für diese Revolution, außerdem beruhte Jeffersons wirtschaftliche Unabhängigkeit nun mal auf dem Geld seiner Familie, und das kam von der Plantage in Virginia, deren wirtschaftlicher Erfolg nur mit Sklaven möglich war, das wusste Jefferson ganz genau. Aber immerhin hat er ja doch mit seinen Schriften den Weg für Abraham Lincolns Feldzug gegen die Sklaverei vorgezeichnet. Aber zurück zur Musikgeschichte: Die klassische Musik, wie sie Jefferson in den europäischen Salons angetroffen hat, hat schon seit dem späteren 16. Jahrhundert immer mal wieder auf Umwegen in die USA gefunden. Und sie hat dort eine Entwicklung genommen, von der sie sich in den europäischen Adelssalons, wo sie herkam, wohl nichts hat träumen lassen. Es ist nämlich so, dass die amerikanischen Folksongs, die damals pausenlos in Umlauf kamen, oft irgend einen instrumentalen oder gesungenen Import aus Europa zugrunde liegen haben, der dort eher aus der höfischen Sphäre kam – bei dem, was jetzt folgt, kann man die Metamorphose zum Beispiel ziemlich gut hören: Aus einer instrumentalen Recercada, also einem Ricercar, des Spaniers Diego Ortiz aus dem 16. Jahrhundert wurde drüben in Amerika ein Folksong mit dem Titel „Betty Anne“. 9 CD T. 4 3’00 Diego Ortiz/Anon., Ricercada premera/Betty Anne Boston Camerata, Joel Cohen Erato 2292-45474-2 ... Mit der bürgerlichen Musikkultur war es damals in den Kolonien natürlich eine völlig andere Sache als in den eleganten Salons von Wien, Paris oder London – musikalische Hochkultur in Form von aktueller, komplexer Musik der bedeutenden Komponisten der Zeit, Haydn, Mozart etc., hat so gut wie gar nicht stattgefunden. Und die Musik, die das tägliche Leben in den noch zu vereinigenden Staaten begleitet hat, hatte immer noch viel mit den Weisen und Chorälen und Liedern zu tun, die die Pilgrim Fathers 150 Jahre vorher mit übers Meer gebracht haben. Ein ziemlich großer Teil der Musik, die man zur Zeit der Amerikanischen Revolution gehört, oder besser: gemacht hat, hatte, wen wundert’s, geistlichen Inhalt, - es ist kein Zufall, dass das erste in Nordamerika gedruckte Buch ein Psalmenbuch war. Und zur Zeit der Revolution hatte Amerika dann aber auch schon seinen ersten ureigenen Chorkomponisten, der aufbauend auf den alten Gesängen mit neuen Harmonien experimentiert hat und – das wird typisch für amerikanische Komponisten werden: der ein Autodidakt war. William Billings, geboren 1746, war der erste bekannte amerikanische Komponist, und dass er seine letzten Jahre als Straßenfeger arbeiten musste und in bitterer Armut gestorben ist, ist erschütternd, wenn man bedenkt, dass ein Stück von ihm lange Jahre quasi die Nationalhymne des jungen, freien Amerika gewesen ist. Völlig zu Recht, denn „Chester“, so heißt das Stück, hat die Freiheitskämpfer der Amerikanischen Revolution befeuert und war vom sonst eher braven Billings auch ganz genauso gemeint. Es klingt zwar wie ein Kirchenchoral, aber der Text, den Billings selber geschrieben hat, ist lupenreine Revoluzzer-Lyrik, die die jungen, frischen Ideale der Amerikaner gegen die alte, verstaubte Welt der Kolonialherren ausspielt: Lass die Tyrannen ihre eisernen Lanzen schwingen Und die Sklaverei mit ihren üblen Ketten rasseln Wir fürchten sie nicht, wir vertrauen auf Gott... Ihre Veteranen fliehen vor unserer Jugend, Und Generäle ergeben sich bartlosen Jungen ... 10 CD William Billings, Chester Boston Camerata, Joel Cohen Erato 3867222 2’10 ... „Chester“ - Das war in der Zeit des Unabhängigkeitskriegs die inoffizielle Hymne der Revolution – geschrieben und getextet von dem vielleicht ersten spezifisch amerikanischen Komponisten überhaupt, von William Billings aus Boston. Dort, in Boston, hat ja in den 1770-er Jahren alles überhaupt erst angefangen, die ersten Verschwörer gegen die britische Oberhoheit haben sich dort immer unter einem Baum getroffen, weil das unverdächtiger war als ein konspiratives Hinterzimmer, und von Boston ausgehend hatte dann nach der Revolution fast jede Stadt ihren „Liberty Tree“. Und Boston war ja dann auch der Ort, wo als inoffizieller Startschuss der Revolte die sogenannte „Boston Tea Party“ stattfand, bei der kein Mensch auch nur eine Tasse Tee getrunken hat. Vielmehr haben Bostoner Bürger aus Protest gegen den britischen Steuerzwang damals mehrere Ladungen Tee der englischen East India Trading Company ins Wasser gekippt – dass sie sich dabei als Indianer verkleidet hatten, ist der etwas alberne Aspekt bei der wütenden Aktion. Um aber nochmal auf William Billings aus Boston zu kommen: Der war in der europäischen Kunst des Kontrapunkts nicht wirklich beschlagen und hat sich einfach seine eigene Choralkompositionslehre zusammengestöpselt, ganz frei von irgendwelchen Schulen und Regeln – ziemlich amerikanisch also, ein echter Selfmade-Man avant la lettre: Viele amerikanische Komponisten waren später solche Autodidakten, und das schlägt sich irgendwie tatsächlich auch im spezifischen Klang der amerikanischen Kunstmusik nieder: dass sie immer wieder in fast archaischen Harmonien abläuft, für die die seltsamen europäischen Verbote, bloß keine Quintparallelen etc., einfach nicht galten. Und dass sie sich immer von Neuem auf ihre Ur-Anfänge besinnt, die Choräle und die Folksongs. Als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Amerikas Komponisten dann zum ersten mal ein Gefühl für amerikanische Musiktradition aufgekommen ist, da hat man sich auch an William Billings erinnert. William Schuman vor allem hat sich erinnert, Schuman, auch so ein amerikanischer Individualist nach Noten, hat ein dreiteiliges Orchesterstück mit dem Titel „New England Triptych“ geschrieben, und das gipfelt am Ende triumphierend in einer Fantasie über William Billings’ „Chester“: 11 1936742(STG) T. 4 01-004 William Schuman, New England Triptych Saint Louis Symphony Orchestra, Leonard Slatkin 2’55 William Schumans kleine Fantasie auf die erste, damals noch inoffizielle, Nationalhymne der ganz jungen Vereinigten Staaten: Chester, von William Billings, einem der ersten in den USA geborenen Komponisten. William Schuman wiederum, lange Jahre Leiter der Juilliard School und ein enorm produktiver Komponist, war Jahrgang 1910 und ist damit schon in eine vorhandene amerikanische Musiktradition hineingeboren worden. Die Musik, die 1801 bei Thomas Jeffersons Inauguration zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu hören war, war nicht mehr aufzutreiben, nur die Texte sind noch auf einem Programmzettel von damals erhalten, es waren choralartige Stücke mit aktualisierten Texten, in denen ungefähr jedes zweite Wort „Liberty“ und jedes fünfte Wort „Jefferson“ ist. Jeffersons Inauguration war übrigens die erste, die in Washington stattgefunden hat, seine zwei Vorgänger George Washington und John Adams haben noch in New York residiert, und die traditionelle Parade vom Capitol durch die Stadt zum neugebauten Weißen Haus hat Jefferson dann auch gleich schon mal eingeführt. Am Entwurf dieses Weißen Hauses, der sich ganz nach klassischen Europäischen Vorbildern richtet, hat der architekturverrückte Jefferson auch schon das eine oder andere Wörtchen mitgeredet, er hat den noch federführenden George Washington in Stilfragen beraten. Der erste, der dann im Jahr 1800 dort eingezogen ist, war aber noch Jeffersons Vorgänger und zu der Zeit sein unversöhnlicher Gegner, John Adams. Der schrieb an seinem zweiten Tag dort: „Mögen immer nur ehrliche und weise Männer unter diesem Dach regieren.“ – Sein Nach-nach-nach-etc.-nach- Folger Franklin D. Roosevelt hat den schönen Spruch dann noch ins Kaminsims des Dining Rooms eingravieren lassen, aber zu der Zeit hatte das Weiße Haus die absolute Unschuld in diesem Sinne vermutlich schon längst verloren, wobei die richtig üblen Typen wohl tatsächlich erst später kamen... Im Vergleich zu heute, wo es 130 Zimmer und 35 Badezimmer, einen Kinosaal und eine Joggingstrecke und noch so dies und das umfasst, war das ursprüngliche Weiße Haus ein ziemlich bescheidener Bau, eher wie das Landhaus eines wohlhabenden Plantagenbesitzers – Thomas Jefferson war es nach dem Einzug trotzdem viel zu groß. „Groß genug für zwei Kaiser, einen Papst und einen Lama“ seien die Zimmerfluchten, hat er damals geschrieben – das hat ihn aber nicht dran gehindert, gleich mit dem Ummodeln und Anbauen anzufangen, 12 immerhin sollte es für die Festlichkeiten und Empfänge ja einen unvergesslichen Rahmen abgeben... CD T. 5 bis 1’12 Leonard Bernstein, Pennsylvania 1600, President Jefferson Luncheon March 3326699-006 Der President Jefferson Luncheon March ist das, Musik aus „1600 Pennsylvania Avenue“, einem Musical, das 1976 Leonard Bernstein zusammen mit dem MyFair-Lady-Librettisten Alan Jay Lerner herausbrachte, und das einer der kapitalen Flops des Broadways wurde – schade, denn die Idee war charmant: Die Geschichte des Weißen Hauses, Adresse: 1600 Pennsylvania Avenue, anhand von ein paar ausgewählten Präsidenten zu erzählen. Natürlich war Jefferson dabei, und natürlich ist er derjenige, bei dem es um’s Essen und Trinken und Feste feiern geht. An das Projekt Europa, wie es dieser Tage in Brüssel so verzweifelt verteidigt wird, hätte Jefferson übrigens womöglich eher nicht geglaubt, was nicht heißt, dass er heute in der Schmuddelecke bei Nigel Farage und Beatrix von Storch sitzen würde – Jefferson war allerdings auch in den USA immer strikt gegen eine zentralistische Regierung mit einer Zentralbank – er war überhaupt entschieden gegen die Herrschaft der Banken, fand sie „gefährlicher als stehende Armeen“, stattdessen war er sehr für Föderalismus und die größtmögliche Souveränität der einzelnen Staaten. Aber wenn man dann in der tatsächlichen Regierungsverantwortung ist, stellt sich die Lage ja oft wieder völlig anders dar - als Jefferson Präsident war, hat er nämlich doch ein paar ziemlich zentralistische Aktionen getätigt, zum Beispiel hat er ohne Verfassungsauftrag und ziemlich im Alleingang im Jahr 1803 richtig viel Geld in die Hand genommen und es Napoleon rübergeschoben. Napoleon hatte mit Europa zu der Zeit schon genug um die Ohren und wollte sich nicht auch noch mit den französischen Besitzungen in Übersee herumschlagen, also hat er den noch zu Frankreich gehörenden Teil Amerikas verscherbelt, und der war ziemlich groß – für umgerechnet 15 Millionen Dollar haben bei diesem „Louisiana Purchase“ immerhin zwei Millionen Quadratkilometer Südstaaten, bzw. mittlerer Westen den Besitzer gewechselt. Was ja im Nachhinein eine ziemlich gute Sache war, sonst wären heute die halben USA französisch, und man will sich gar nicht ausmalen, was das wieder für ein Theater wäre. Gleich drei amerikanische Präsidenten haben es geschafft, an einem 4. Juli, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, zu sterben, - am 4. Juli 1826 waren es ausgerechnet zwei Verfasser dieser Erklärung, Thomas Jefferson und sein 13 Vorgänger, Gegner und dann doch wieder Freund John Adams, die gleichzeitig im Sterben lagen, - ohne vom Sterben des jeweils anderen zu wissen. John Adams hat sich in der Zeit seiner eigenen Präsidentschaft so mit Jefferson entzweit, dass er nicht mal zur Inauguration Jeffersons erschienen ist, aber später waren sie dann wieder ziemlich gut befreundet. Adams’ letzte Worte waren „Thomas Jefferson survives!“ – ob er das nun empörend oder beruhigend fand, ist nicht überliefert. Es stimmte auch gar nicht, denn Thomas Jefferson war schon ein paar Stunden vorher gestorben, in seinem geliebten Monticello, das ihm zu dem Zeitpunkt schon fast nicht mehr gehört hat, weil es so mit Schulden belastet war, unter anderem, weil Jefferson eine riesige Bürgschaft für einen Freund übernommen und: weil er immer zu viele Bücher gekauft hatte. Seine Teilnahme an der 50-Jahr-Feier der Unabhängigkeitserklärung hat er noch selbst abgesagt, und in diesem Brief noch einmal einen Jefferson-Satz für die Ewigkeit hingeschrieben, dass nämlich „die breite Masse der Menschheit nicht mit Sätteln auf dem Rücken geboren sind, noch einige wenige gestiefelt und gespornt, bereit, rechtmäßig, durch die Gnade Gottes, auf ihnen zu reiten.“ Thomas Jefferson survives – hoffen wir mal, dass Mr Adams Recht behält. Immerhin, ein paar seiner unsterblichen Sätze sind eingraviert in die Raumschiffe der Star Trek-Flotte. Nehmen wir’s als gutes Omen... 1’37 Jefferson Luncheon March Schluss, 3326699-006 Literaturangaben: Virgil Thomson, Musikgeschehen in Amerika (antiquar.) Jack Sullivan, New World Symphonies - How American culture changed European music, Yale University Press Wolfgang Koeppen, Amerikafahrt, Suhrkamp Alex Ross, The rest is noise - Das 20. Jahrhundert hören, Piper George Packer, The Unwinding - Thirty years of American decline, Faber & Faber