ESSSTÖRUNGEN

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Bachelorarbeit
ESSSTÖRUNGEN
Ursachen und Krankheitsverlauf mit psychosomatischem Fokus
vorgelegt von
Kristina Anna Koiner
0421370
Medizinische Universität Graz
Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Gesundheitsförderung und spezifische Aspekte in der Pflege
Mag. a Dr. in Marion Habersack MPH
Medizinische Universität Graz
Universitäts-Augenklinik
Auenbruggerplatz 4, 8036 Graz
Graz, am 08. 01. 2010
Ehrenwörtliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig und ohne
fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die
den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich
gemacht habe.
Weiters erkläre ich, dass ich diese Arbeit in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen
Prüfungsbehörde vorgelegt habe.
Graz, am 08.01.2010
1
Inhaltsverzeichnis
1. Zusammenfassung ........................................................................................ 3
2. Einleitung ...................................................................................................... 4
3. Krankheitsbild der Anorexia nervosa und der Bulimia nervosa ............... 6
3.1. Kriterien der Diagnosefindung laut ICD-10 der WHO ..................................................6
3.1.1. Diagnosekriterien der Anorexia nervosa ................................................................6
3.1.2. Diagnosekriterien der Bulimia nervosa ..................................................................6
3.2. Medizinische Komplikationen und Symptomatik .........................................................7
3.3. Krankheitsverlauf bei Anorexie und Bulimie ...............................................................9
3.4. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Krankheitsbilder ..........................................10
4. Ätiologie und Pathogenese ......................................................................... 12
4.1. Der biologische Faktor ............................................................................................... 12
4.2. Der soziokulturelle Anteil .......................................................................................... 14
4.3. Körperkonzept und Körperselbstwahrnehmung .......................................................... 17
4.3.1. Körperbild ...........................................................................................................17
4.3.2. Selbstwert und Selbsthass .................................................................................... 19
4.4. Sucht.......................................................................................................................... 22
4.5. Psychodynamik ..........................................................................................................25
4.6. Weibliche Identität und Sexualität .............................................................................. 28
4.7. Hungerwahrnehmung und Individuation .................................................................... 32
5. Die Psychotherapie als Behandlungs- und Bewältigungsstrategie........... 35
5.1. Stationäre vs. ambulante Therapie .............................................................................. 35
5.1.1. Indikationen bei Anorexia nervosa ......................................................................35
5.1.2. Indikationen bei Bulimia nervosa ........................................................................ 36
5.2. Stationäre psychodynamische multimodale Psychotherapie ........................................ 38
5.3. Ambulante kognitive Verhaltenstherapie .................................................................... 38
6. Schlussfolgerung ......................................................................................... 40
7. Diskussion ................................................................................................... 42
8. Literaturverzeichnis ................................................................................... 43
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1. Zusammenfassung
Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit Ursachen von Essstörungen, genauer mit Ursachen
von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa bei Mädchen und jungen Frauen. Diese
psychosomatische Krankheit ist multikausal bedingt. Körper und Psyche sind gleichermaßen
betroffen und die Ursachen können unterschiedlicher Natur sein. Genetische und biologische
Faktoren sollen aufgrund dieser Tatsache ebenso Bedeutung finden wie soziale und familiäre
Einflüsse sowie psychodynamische Faktoren (vgl. Reich 2003). Die Anorexia nervosa äußert
sich primär in einer Art „Gewichtsphobie“. Die Betroffene hat große Angst davor dick zu
werden. In Zusammenhang mit dieser existentiellen Angst, steht eine Körperschemastörung,
bei der der Körper verfälscht wahrgenommen wird und kontinuierlich als zu dick erscheint.
Medizinische Komplikationen treten in Folge des extremen Gewichtsverlust in bedrohlicher
Weise auf, sind aber in relativ hohem Maße reversibel (vgl. Baeck 1994). Übersetzt bedeutet
Bulimia nervosa „Ochsenhunger“, was auf das Hauptkennzeichen der Störung hinweist, das
wiederholte Auftreten von Essattacken. Die Gemeinsamkeit mit der Anorexia nervosa ist die
enorme Angst vor einer Gewichtszunahme, wobei das Gewicht einen sichtbaren Unterschied
zwischen beiden Störungen darstellt. Charakteristisch für die Bulimie, sind die Scham und das
Verstecken der Krankheit, weshalb die Krankheit häufig jahrelang von der Außenwelt nicht
erkannt wird (vgl. Löwe 2004, Quenter 2004, et al.). Die Anorexie erfordert ein noch höheres
Maß an Selbstkontrolle, weshalb es auch zu einer stärkeren Verbreitung der Bulimie infolge
des Zusammenhangs zwischen Selbstbewusstsein und äußerer Attraktivität und der bereits
erwähnten Gewichtsphobie kommt (vgl. Reich 2003). Die innere Körperwahrnehmung spielt
eine wichtige Rolle hinsichtlich der Störung der Hungerwahrnehmung und anderer
körperlichen Empfindungen (vgl. Bruch 2004). Essgestörte Frauen stehen häufig in Konflikt
mit ihrer Weiblichkeit (vgl. Johnston 2003). Die Abhängigkeit von Drogen und
Medikamenten, wird immer häufiger von zerstörerischen Verhaltensweisen beispielsweise
einer Essstörung begleitet, weshalb man hier von dem Begriff der „Polytoxikomanie“ spricht
(vgl. Rost 2008). Aus psychodynamischer Sicht besteht bei der Anorexie, wie auch bei der
Bulimie ein Abgrenzungskonflikt in der Beziehung zu primären Bezugspersonen. Diese
Symbolhaftigkeit der Nahrung äußert sich somit auf verschiedene Art. Gefühle wie Wut,
Hass, Angst, Ohnmacht und Einsamkeit können diesen Missbrauch der Nahrungsaufnahme
verursachen (vgl. Bruch 2004). Welche Art der Psychotherapie gewählt wird und ob diese im
stationären oder ambulanten Setting stattfindet, soll in jedem Fall die Individualität der
Patientin berücksichtigen.
3
2. Einleitung
Der „richtige“ Umgang mit dem Thema Essen ist ein viel diskutiertes Gebiet mit einem
breitgefächerten Spektrum und
einem wachsenden Konfliktpotential. Für immer mehr
Menschen, vor allem für Mädchen und junge Frauen wird es des Öfteren zu einer Obsession
sich mit dem Thema Ernährung, dem eigenen Körper und der daraus abgeleiteten, häufig
ambivalenten Selbstwahrnehmung auseinanderzusetzen. Nicht selten entwickeln sich daraus
schädliche und unnatürliche Umgangsformen mit der Nahrungsaufnahme. In der Literatur und
unter Experten ist es unumstritten, dass Nahrung nicht nur eine physiologische Funktion hat,
im Sinne eine Versorgung des Körpers mit Energie, um ihn gesund und leistungsfähig zu
halten. Die Rolle der Psyche und ihr Zusammenhang mit Nahrung und dessen Funktion
gewinnen immer mehr an Bedeutung, bewusst und unbewusst. Die Konfrontation mit dieser
Tendenz ermöglicht das implizierte Konfliktpotential zu erkennen und sie in den
therapeutischen und medizinischen Behandlungsrahmen mit einzubeziehen. Essen dient neben
der Funktion als Energielieferant, auch als Ausdrucksform und Kompensationsmöglichkeit
von Emotionen, Gefühlen und wie bereits angesprochen von intra- und interpersonellen
Konflikten. Mädchen und junge Frauen sind entsprechend ihres Lebensalters noch stark in
den physischen und psychischen Entwicklungsprozess, sowie in eine Entwicklungsdynamik
eingebunden, so dass sie besonders vulnerabel und gefährdet sind einen pathologischen
Umgang mit Nahrung im Sinne einer Essstörung zu internalisieren. Ich möchte mich in
meiner folgenden Arbeit speziell Mädchen und jungen Frauen widmen und mich auf zwei
Formen der Essstörungen limitieren, auf die Anorexia nervosa und auf die Bulimia nervosa.
Mädchen und junge Frauen sind zwar in ihrer Entwicklung noch nicht völlig ausgereift, sind
jedoch tagtäglich mit familiären Konflikten, negativen Emotionen und Gefühlen konfrontiert.
Das häufige Fehlen von entsprechenden „Strategien“, um mit diesen Emotionen und
Konflikten umzugehen, schützt sie nicht vor diesen, ganz im Gegenteil. Nicht selten werden
aufgrund dieser „Hilflosigkeit“ andere Strategien entwickelt. Um diese Form der „Strategie“
soll es in dieser Arbeit gehen. Essstörungen sind heutzutage keine Rarität mehr. In der
Literatur werden sie immer öfters thematisiert, analysiert und ihre Multikausalität wird als
Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten in das Zentrum des Interesses gestellt. Diese
Multikausalität ist Basis der ersten Forschungsfrage: Welche Ursachen führen dazu, dass
Mädchen und junge Frauen einen pathologischen Umgang mit Nahrung, im Sinne einer
Essstörung entwickeln? Essstörungen sind wie bereits erwähnt nicht rein physische
Störungen, sondern spielen sich in ihrer psychosomatischen Pathologie gleichermaßen in
4
einem beträchtlichen Ausmaß auch auf der psychischen Ebene ab. Die zweiten
Forschungsfrage beschäftigt sich daher mit der psychischen Dimension bzw. mir der
Behandlung dieser und mit der Form bzw. Art des Settings der Psychotherapie. Hier stehen
zwei primäre Möglichkeiten im Vordergrund. Die ambulante Therapie und die stationäre
Therapie. Jede Behandlung ist individuell, weshalb auch das Behandlungskonzept variabel ist.
Es geht um die Frage, welche Form der Psychotherapie im Sinne der Wahl des Settings als
effizient für eine erfolgreiche Behandlung der Essstörung angesehen wird? Die
Nahrungsaufnahme hat neben ihrer Funktion essentielle Bedürfnisse wie Hunger und Durst zu
befriedigen, auch die Funktion eines Transportmittels für Emotionen und Gefühle. Diese
Arbeit beschäftigt sich daher ebenso mit der psychosomatischen Dimension der Anorexia
nervosa und der Bulimia nervosa, sowie mit den entsprechenden therapeutischen
Behandlungsoptionen.
5
3. Krankheitsbild der Anorexia nervosa und der Bulimia nervosa
3.1. Kriterien der Diagnosefindung laut ICD-10 der WHO
3.1.1. Diagnosekriterien der Anorexia nervosa
Der ICD-10 der WHO (International Classification of Mental and Behavioral Disorders) ist
ein internationales Klassifikationssystem und definiert die Anorexia nervosa (F50.0) wie folgt
(vgl. Dilling 2000, Mombour 2000 et al.):
-
Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten oder Quetelets- Index (= Body
Mass Index) von 17,5 oder weniger
-
Gewichtsverlust selbst herbeigeführt durch:

Vermeidung von hochkalorischen Speisen und eine oder mehrere der folgenden
Möglichkeiten

selbst induziertes Erbrechen

selbst induziertes Abführen

übertriebene körperliche Aktivitäten

Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika
-
Körperschema- Störung als eine tief verwurzelte überwertige Idee; sehr niedrige
Gewichtsschwelle
-
endokrine Störung (Hypothalamus- Hypophysen- Gonaden- Achse):

Amenorrhö (bei Männern: Libido- und Potenzverlust)

bei
Beginn
der
Erkrankung
vor
der
Pubertät
Abfolge
der
pubertären
Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt
3.1.2. Diagnosekriterien der Bulimia nervosa
Die Kriterien der ICD-10 für die Bulimia nervosa (F50.2), sind wie folgt (vgl. Dilling 2000,
Mombour 2000 et al.):
-
andauernde
Beschäftigung
mit
dem
Essen,
unwiderstehliche
Gier
nach
Nahrungsmitteln, Essattacken
-
Vermeidung von Gewichtszunahme anhand von:
6

selbst induziertem Erbrechen

Missbrauch von Abführmitteln

zeitweilige Hungerperioden

Einnahme von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten, Diuretika
-
krankhafte Furcht dick zu werden
-
häufig zeichnet sich in der Vorgeschichte eine Episode von Anorexia nervosa ab, die
voll
ausgeprägt
oder
verdeckt
mit
mäßigem
Gewichtsverlust
und/oder
vorübergehender Amenorrhö vorkam
3.2. Medizinische Komplikationen und Symptomatik
Anorexia nervosa
Die Betroffene hat große Angst davor dick zu werden und leidet unter einer regelrechten
„Gewichtsphobie“. In Zusammenhang mit
dieser existentiellen Angst, steht eine
Körperschemastörung, bei der der Körper verfälscht wahrgenommen wird und kontinuierlich
als zu dick erscheint. Um diese Erscheinung des eigenen Körpers zu kontrollieren und somit
das gewünschte Körperselbstbild zu erreichen werden, verschiedene Strategien angewendet.
Extreme
Nahrungsrestriktion,
Erbrechen,
Einnahme
von
Appetitzüglern
oder
Diuretikamissbrauch sowie exzessive sportliche Aktivität („Sitze nie, wenn du stehen, stehe
nie, wenn du gehen, gehe nie, wenn du laufen könntest.“), werden als Leitsymptome erkannt.
Auch wenn die Krankheit und die gleichzeitige und offensichtliche Veränderung des Körpers
der Außenwelt nicht verborgen bleibt, fehlt es den Betroffenen häufig an Krankheitseinsicht.
Verleugnung und Verbergen des eigenen Körpers sind nicht selten eine Folge, um den
pathologischen Kreislauf aufrecht erhalten zu können. Wenn es um das Verständnis der
seelisch wirksamen Faktoren geht, steht die bereits genannte „Gewichtsphobie“ im Fokus.
„Diese unterscheidet sie von anderen Formen des Fastens, die zum Beispiel von religiösen
oder politischen Motiven geprägt sind, aber auch im Zusammenhang mit anderen seelischen
Erkrankungen entstehen können, beispielsweise Depressionen“ (Reich 2008, S. 103). Soziale
Isolation ist eine weitere Folge, wenn Nahrung und Gewicht zu zentralen Lebensthemen
werden. Kontrolle wird eine Art „Machtinstrument“, mit dem sie sich selbst von ihrer Umwelt
und Familie zu verselbstständigen versuchen und so das maximale Maß an Autonomie zu
erreichen versuchen. „Ein magersüchtiges Kind kann die ganze Familie dominieren, u.a. kann
es sie mit seinem Wunsch tyrannisieren, dass die anderen das tun sollen, was es selbst nicht
will, nämlich essen“ (Baeck 1994, S. 19).
7
Medizinische Komplikationen treten in Folge des extremen Gewichtsverlustes in bedrohlicher
Weise auf, sind aber in relativ hohem Maße reversibel (vgl. Baeck 1994). Der Körper
versucht auch bei verminderter Energiezufuhr die Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Dies
geschieht durch einen Anstieg des Cortisolspiegels, wodurch es zu einem Abbau von
Fettgewebe und einer Freisetzung von Zucker kommt. Schilddrüsenhormone und
Grundumsatz sind hingegen reduziert, genauso wie Sexualhormone, was wiederum zu einer
Rückbildung der Geschlechtsorgane und dem Ausbleiben des Zyklus führt. Die
Körpertemperatur ist erniedrigt, die Haut blass und trocken, die Herzfrequenz und der
Muskeltonus sind vermindert (vgl. Cuntz 1998, Hillert 1998). Es kommt zu Müdigkeit,
Frieren und Obstipation (Verstopfung). Bei chronischer Magersucht können die inneren
Organe atrophieren (schrumpfen) und die Körperbehaarung verändert sich zu einer
flaumartigen Form, auch Lanugo- Behaarung genannt, die den ganzen Körper überzieht (vgl.
Baeck 1994).
Bulimia nervosa
Übersetzt bedeutet Bulimia nervosa „Ochsenhunger“, was auf das Hauptkennzeichen der
Störung hinweist, das wiederholte Auftreten von Essattacken. An einem gewissen Punkt,
während einer solchen Essattacke, kommt es zu einem Kontrollverlust, der von den
Betroffenen anhand ähnlicher Strategien wie bei der Anorexia nervosa, nämlich Erbrechen,
Abführmittel- und Laxantienmissbrauch,
Einläufen,
Fasten und exzessivem Sport
kompensiert wird. Die Gemeinsamkeit mit der Anorexia nervosa ist auch die enorme Angst
vor einer Gewichtszunahme, wobei das Gewicht auch einen sichtbaren Unterschied zwischen
beiden Störungen darstellt. Im Gegensatz zu Anoretikerinnen sind Bulimikerinnen häufig
leicht übergewichtig, normalgewichtig oder leicht untergewichtig. Dies beinhaltet auch die
Schwierigkeit die Krankheit durch Außenstehende zu erkennen. Charakteristisch für die
Bulimie, sind die Scham und das Verstecken der Krankheit, weshalb die Krankheit häufig
jahrelang von der Außenwelt nicht erkannt wird (vgl. Löwe 2004, Quenter 2004, et al.).
„Lange Zeit sind die Betroffenen überzeugt, ihr Verhalten steuern zu können. Sie gestehen
sich erst sehr spät ein, dass sie die Entscheidung darüber, ob sie erbrechen oder nicht, nicht
mehr kontrollieren können, dass ihr Verhalten zum Zwang geworden ist“ (Baeck 1994, S.
21). Wie auch bei der Anorexia nervosa ist das soziale Leben beeinträchtigt.
„Viele bulimische Patientinnen erleben sich als depressiv, antriebsarm und freudlos, was in
der Regel erst im Anschluss an die Manifestation der Essstörung auftritt. Sie fühlen sich dabei
in sozialen Situationen häufig ängstlich, gleichermaßen hilflos und angespannt, was sie
8
gegebenenfalls durch betont selbstsicheres Auftreten zu überspielen versuchen“ (Cuntz,
Hillert 1998, S. 69).
Zu den medizinischen Komplikationen, die auch als Wiedererkennungsmerkmale der
Krankheit für erfahrene Therapeuten gelten, sind geschwollene Parotiden (Speicheldrüsen),
„Male“ an der Fingern, mit denen das Erbrechen ausgelöst wird, Zahnschäden und geplatzte
Äderchen an den Skleren der Augen (vgl. Löwe 2004, Quenter 2004, et al.). Neben diesen
kann es auch zu einer Magenwandperforation, einer Entgleisung des Elektrolythaushaltes
(Kalium- und Magnesiummangel), sowie zu Nierenschäden und Herzrhythmusstörungen in
Folge des wiederholten Erbrechens kommen (vgl. Baeck 1994).
3.3. Krankheitsverlauf bei Anorexie und Bulimie
Im Gegensatz zur Bulimie liegt für die Anorexie eine Reihe von Untersuchungen über
Langzeitverläufe vor. Die Resultate der Untersuchungen hängen signifikant von der
Katamnesedauer ab. Mit zunehmender Katamnesedauer differenzieren sich die günstigen von
den ungünstigen Verläufen in hohem Maße (vgl. Krüger et al. 1997).
„Über den Langzeitverlauf bulimischer Essstörungen ohne Therapie ist wenig bekannt. Das
unbehandelte Zustandsbild scheint sich hauptsächlich zu chronifizieren, z.T. zu
verschlechtern und nur bei einer Minderzahl zu verbessern“ (Reich 2003, S. 16).
Unterschiede im Verlauf zeigen sich bezüglich Heilung, Besserung und Chronifizierung,
Mortalitätsrate, Komorbidität mit anderen psychiatrischen Erkrankungen und Schwierigkeiten
im psychosozialen und psychosexuellen Bereich. Bei Patientinnen mit Anorexia nervosa wird
bei ca. 50% eine Heilung festgestellt, bei gut 30% eine Besserung und bei den restlichen 20%
chronifizieren sich die Verläufe (vgl. Jeong 2005). 50% der bulimischen Patientinnen sind
nach 2 bis 10 Jahren asymptomatisch, ca. 20% haben weiter bulimische Symptome und die
restlichen 30% haben entweder einen Wechsel zwischen symptomfreien Intervallen und
Rückfällen oder eine subklinische bulimische Symptomatik (vgl. Krüger et al. 1997). Bei ca.
einem Drittel bzw. bei der Hälfte der Patientinnen kommt es zu Heilungen oder deutlichen
Besserungen in den ersten drei Jahren, nachdem psychotherapeutische Behandlung in
Anspruch genommen wurde. Allerdings scheint es bei Bulimie hohe Rückfallquoten zu geben
(vgl. Reich 2003). Die häufigsten psychiatrischen Begleiterkrankungen bei Anorexie sind
Depression, Zwangssymptome, Alkohol- und Drogenmissbrauch und Schizophrenie. Bei der
Bulimie ist die depressive Symptomatik vorherrschend. Wenn sich die Esssymptomatik nicht
9
verbessert, treten bei der Anorexie zusätzlich Schwierigkeiten im psychosozialen und
psychosexuellen Bereich auf. Dies äußert sich in einer schlechten Integration und der Angst
oder Ablehnung der Sexualität (vgl. Krüger et al. 1997).
Die Sterblichkeitsraten liegen bei der Anorexia nervosa in mittelfristig angelegten
Katamnesen von 5 bis 8 Jahren unter 5%, mit zunehmender Tendenz bei einer längeren
Katamnesedauer. Nach 20 Jahren liegen sie bei 15% und nach über 20 Jahren bei bis zu 20%
(vgl. Jeong 2005). Die Mortalitätsrate bei Bulimie ist unklar. Untersuchungen sprechen für ein
sich chronifizierendes Krankheitsbild in unbehandelten Fällen. Teilweise verschlechtert es
sich und in geringem Ausmaß tritt eine positive Entwicklung in Richtung Genesung ein (vgl.
Krüger et al. 1997). Die Sterblichkeitsrate wird bei bulimischen Patientinnen als gering
eingestuft, was aber möglicherweise einer Unterschätzung gleichkommt (vgl. Jeong 2005).
„Ess- Störungen haben eine starke Tendenz zur Chronifizierung, wenn sie unbehandelt
bleiben. Anorexie und Bulimie können durch Psychotherapie geheilt oder deutlich gebessert
werden. Auch bei bereits seit Jahren bestehenden Anorexien und Bulimien kann
Psychotherapie bezüglich der Kernsymptomatik und der zugrunde liegenden Konflikte sowie
der weiteren mit diesen Erkrankungen verbundenen Probleme hilfreich sein“ (Reich 2008, S.
106).
3.4. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Krankheitsbilder
Anorexie und Bulimie sind psychische Störungen, bei denen die Nahrung symbolisch und
gleichzeitig zentral im Blickfeld der Symptomatik steht. Um die Krankheitsdynamiken beider
Essstörungen zu verstehen und nachvollziehen zu können, ist es eine Notwendigkeit, ihre
Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten voneinander abzugrenzen und darzustellen. Der
Fokus liegt bei Anorektikerinnen, wie auch bei Bulimikerinnen auf der äußeren Erscheinung,
dem Gewicht und auf den Strategien, wie sie dieses Gewicht halten bzw. reduzieren können,
um schlank zu bleiben oder zu werden. Es geht demnach bei beiden Erkrankungen um den
Wunsch des Schlankseins und um die Gewichtsregulation. Die Unterschiede zeigen sich
erstmal in den Strategien, die angewendet werden, um dieses Schlankheitsideal zu erreichen
und zu leben.
Die Symptomatik ist nicht in jedem Fall klar abgrenzbar. Es existieren „Mischgruppen“
zwischen der Bulimie und der Anorexie, die diagnostisch und therapeutisch von signifikanter
10
Bedeutung sind. So beschreibt Reich (2003) unter Anlehnung an empirische Studien, dass es
deutliche Unterschiede zwischen Bulimikerinnen und bulimischen
Anorektikerinnen
einerseits und restriktiven Anorektikerinnen andererseits gibt. Weiters betont er die
Notwendigkeit, die Anorexie und die Bulimie als verschiedene Krankheitsidentitäten zu
verstehen (vgl. Reich 2003).
Es lässt sich eine Entwicklung der Übergänge zwischen den Gruppen feststellen. So ist der
Übergang von der Anorexie hin zu einer Bulimie mit ständigen Fressanfällen, Erbrechen und
Heißhungerattacken tendenziell existent. Bulimische Patientinnen entwickeln ca. zur Hälfte,
oder weniger häufig, Merkmale einer Anorexie. Übergänge von der Bulimie hin zur Anorexie
sind sehr selten, wobei es durchaus vorkommt, dass sich eine Anorexie in eine Bulimie
„weiterentwickelt“ (vgl. Jeong 2005).
Laut Reich (2003) existieren Unterschiede hinsichtlich Symptomatik, Erstmanifestation,
Auslösungssituation, Persönlichkeit, Psychodynamik, Idealbildung, Körperideal, Sexualität,
Beziehungsstil, Zirkel der Symptombildung und Umgang mit der Erkrankung (vgl. Reich
2003). Wie hier ersichtlich wird, ist eine differenzierte Abgrenzung der Anorexie und der
Bulimie relevant, wenn auch nicht immer simpel. In der Regel erfolgt die Erstmanifestation
der Anorexie früher, nämlich in der frühen bis mittleren Adoleszenz, beim Übergang oder
beim Beginn der Ablösephase von beispielsweise dem Elternhaus. Das Erkrankungsalter der
Bulimie verschiebt sich nach hinten, in die Verselbstständigungsphase und die Symptomatik
ist laut Reich (2003) Ausdruck von Identitätskonflikten zwischen bedürftigem „defektem“
Selbst und idealem starken Selbst (vgl. Reich 2003).
„Das Essen entspreche den als `defekt` erlebten Selbstanteilen und deren Befriedigung,
während das Erbrechen der Anforderung der Kontrolle, dem Streben nach Schlanksein sowie
den als `ideal` erlebten Selbstanteilen der Stärke und Attraktivität entsprechen“ (Jeong 2005,
S. 26).
Auch im Umgang mit Sexualität zeigt sich ein deutlicher Unterschied, der sich mit dem
Konstrukt der eigenen „Idealerscheinung“ in Verbindung bringen lässt. Bulimikerinnen leben
ihre Sexualität aus, dennoch haben sie Angst vor Zurückweisung und Unzulänglichkeit, aber
auch vor Bindung, weshalb sie sich in eine Ambivalenz begeben, die unter anderem eine
Störung der Erlebnisfähigkeit bedingt. Anorektikerinnen haben keine sexuellen Kontakte und
zeigen auch kein Interesse dafür. Im Gegensatz zu Bulimikerinnen, die mit ihrem Idealbild
eine konventionelle Weiblichkeit und Attraktivität, sowie Stärke und Leistungsfähigkeit
11
assoziieren, spielt bei der Anorexie Askese, Selbstkontrolle, Autonomie, Verbundenheit und
Harmonie eine bedeutende Rolle (vgl. Jeong 2005). In Folge der Erkenntnis ist die Bulimie
als elaborierte, habitualisierte Impulshandlung zu verstehen und der Zirkel der
Symptombildung im Sinne des Wechsels zwischen Impulshandlung, Selbstkritik und
Gegenregulierung als entsprechender Ausgleich zu sehen (vgl. Reich 2003).
„Beide Erkrankungen entwickeln einen selbstverstärkenden Zirkel, wobei das impulshafte
bulimische Verhalten im Gegensatz zu den Idealbildungen und verstärkt affektiven
Schwankungen steht. Bei der Anorexie hingegen nehmen der Einklang mit der asketischen
Idealbildung und den Verleugnungstendenzen der Erkrankung mit der Abmagerung zu,
gleichzeitig verstärken sich die asketischen Forderungen“ (Reich 2003, S. 36).
4. Ätiologie und Pathogenese
4.1. Der biologische Faktor
Reich (2003) versteht die Entstehung von Bulimie und Anorexie als multikausales
Geschehen. Genetische und biologische Faktoren sollen aufgrund dieser Tatsache ebenso
Bedeutung finden, wie soziale und familiäre Einflüsse, sowie psychodynamische Faktoren.
Ein weiteres Indiz für die Notwendigkeit des Einbezugs genetischer Einflussgrößen sieht
Reich in der Häufung von Essstörungen, sowie von anderen psychischen Störungen, wie
affektiven Erkrankungen, Sucht oder Zwangsstörungen in den Familien der Patientinnen (vgl.
Reich 2003). Bruch (2004) betont die Relevanz des fundamentalen Wandels in der
biologischen Forschung. Forscher distanzieren sich immer mehr davon, die gesamte
Pathologie auf eine hervorstechende Abweichung zu reduzieren. Die Tendenz geht in
Richtung einer Meinungsänderung, im Sinne einer Betonung der Komplexität von
Interaktionsmustern. Ein Symptom wird nicht mehr punktuell aus einer isolierten Sache
erklärt. Bruch spricht von einer dynamischen Interaktion multivariabler Systeme (vgl. Bruch
2004).
„Im modernen biologischen Denken wird ein lebender Organismus als Knotenpunkt in einem
äußerst komplexen Netzwerk von Interaktionen, Beziehungen und Transaktionen angesehen.
Ein Teil dieses kausalen Netzwerks liegt im Inneren: In den biochemischen und
physiologischen Prozessen, durch die der Körper lebendig und aktiv bleibt. Ein anderer Teil
ist äußerlich; er ist zuständig für die Interaktion des Organismus mit den anderen
Angehörigen der Lebenswelt und mit den nicht lebendigen Faktoren der Umwelt.
Umwelteinflüsse wie interpersonelle Erfahrungen im Zusammenhang mit Über- oder
12
Unterernährung sind lediglich Teil dieses ausgeklügelten Systems, wenngleich zuweilen von
großer Wichtigkeit“ (Bruch 2004, S. 43).
Um den tatsächlichen Einfluss von genetischen Faktoren zu bestimmen, wurden bereits
mehrere Zwillingsstudien durchgeführt, anhand dieser wurden Konkordanzraten für die
Entstehung von Bulimie und Anorexie bei monozygoten und dizygoten Zwillingen gezeigt.
Limitationen bestehen hinsichtlich fehlender Adoptionsstudien, sodass der Beitrag von
Umwelteinflüssen auf die Entwicklung der Konkordanz nicht genau abgeschätzt werden kann.
Weiters bestehen bei der Abschätzung von genetischen Einflüssen methodische Probleme,
welche das Überschätzen konkordanter Fälle oder unterschiedliche Methoden zur
Einschätzung des monozygoten Status, sowie der Essstörung implizieren (vgl. Reich 2003).
„Eine unspezifische Neigung zu psychischen Erkrankungen und oder zu affektiven
Erkrankungen als Grundlage für die Entwicklung einer Anorexie wird als unwahrscheinlich
angesehen, da eine nichtspezifische neurotische Vulnerabilität bei Zwillingen, bei denen nur
einer von Anorexie affiziert war, nicht gefunden werden konnte“ (Reich 2003, S. 20).
Ansichten über die Bedeutung somatischen Aspekte der Anorexia nervosa gehen auseinander.
Bruch (2004) bezieht sich auf den Pathologen Simmonds, der 1914 feststellte, dass
zerstörerische Prozesse im Vorderlappen der Hirnanhangsdrüse in Beziehung zur Kachexie
stehen. Es wurden endokrinologische Begriffe dazu verwendet den Zustand zu definieren und
die Behandlung bestand in der Verabreichung von Hormonen und sogar in der Implantation
von Hypophysen. Später zielten klinische Studien auf die Unterscheidung zwischen dem
psychiatrischen Syndrom und einer Hirnstörung ab (vgl. Bruch 2004). Es existieren mehrere
Untersuchungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen pathophysiologischen Befunden,
wie der Störung der Hypothalamus-, Hypophysen-, Nebennierenrinden- Achse oder einer
Störung des serotonergen Systems und Essstörungen. Es wurde dabei festgestellt, dass
Neurotransmitter komplexe Interaktionen mit dem Essverhalten zeigen. Hervorzuheben ist
dabei die Rolle des Proteins Leptin hinsichtlich seiner Bedeutung als Botenstoff für die
Regulierung des Körpergewichts. Leptin verändert sich proportional mit der Körperfettmenge,
ein niedriger Leptinspiegel geht einer Gewichtszunahme voraus und Leptin interagiert mit
Insulin sowie mit CHR (corticotrophin releasing hormone), welches das Essverhalten hemmt,
den Energieverbrauch steigert und die Energiereserven entleert (vgl. Reich 2003).
Forschungsergebnisse belegen, dass bei der Anorexie ein extrem niedriger Leptinspiegel, eine
qualitative Veränderung im Tagesrhythmus der Leptin-, und Cortisol- Spiegel und eine
Veränderung des zeitlichen Zusammenwirkens zwischen Leptin und Cortisol besteht. Bei der
Bulimie hingegen bestehen keine signifikanten Anzeichen für einen niedrigen Leptinspiegel
13
als Ursache von Heißhungerattacken. Reich (2003) postuliert in diesem Zusammenhang die
Schwierigkeiten seitens der Forschung Ursache und Wirkung zu differenzieren. Die
beschriebenen Veränderungen können als genetisch bedingte Prädispositionen oder als deren
Folge interpretiert werden. Weiters haben sie eine aufrecht erhaltende Rolle (vgl. Reich
2003).
„Die Störungen serotonerger Funktionen, niedrige Leptinkonzentration oder hohe
Konzentration des Neuropeptid Y können z.B. das Gefühl eines drohenden Kontrollverlustes
beim Essverhalten erzeugen und die Entstehung von Essanfällen oder vermehrter
Kontrollanstrengungen begünstigen“ (Reich 2003, S. 21).
Trotz der Tendenz der modernen Forschung gestörte Essfunktionen als Interaktion multipler
biologischer Faktoren, sowie als erfahrungsmäßige Faktoren, die in einer Wechselbeziehung
stehen, einzuordnen und in Folge zu einem abnormalen Gewicht führen, ist es ebenso
notwendig, die Organische Pathologie zu berücksichtigen (vgl. Bruch 2004).
„Die psychologischen Faktoren wurden so betont, dass ich wiederholt junge Patienten
gesehen habe, die zur psychiatrischen Begutachtung überwiesen worden waren und bei denen
ein enzephalitischer Prozess übersehen worden war“ (Bruch 2004, S. 63).
4.2. Der soziokulturelle Anteil
Im Laufe der Geschichte hat sich das Körperbild der Frau stark geändert. „Venus von
Willendorf“ ist eine Statue einer extrem fettleibigen Frau, mit großen Brüsten und einem
massiven Bauch. Sie stammt aus der Periode der ältesten Steinzeit und ist die älteste
Darstellung der Menschen. Nicht nur diese Statue ist ein Indiz für die Vorliebe für fettleibige
Frauen, die bis zur jüngeren Steinzeit anhielt. Nicht sicher ist es, ob es sich dabei um eine
realitätsnahe Darstellung des damaligen Körperideals handelt, oder um die Darstellung des
Traumes von Fülle und Überfluss in einer Zeit, in denen Hungerperioden nichts
Ungewöhnliches waren und gleichzeitig die bedrohlichste, vorstellbare Katastrophe (vgl.
Bruch 2004).
„Angst vor dem Verhungern hat die Handlungen und Einstellungen der Menschen in
entscheidendem Maße geprägt. Die Geschichte der Menschen ist eine Chronik seiner
Nahrungssuche genannt worden. In jedem Zeitalter und in jedem Land haben Menschen
gehungert, und das 20. Jahrhundert ist da keine Ausnahme. Fettleibigkeit wurde als Abwehr
gegen das gefürchtete Los des Verhungerns aufgefasst“ (Bruch 2004, S. 21).
14
Hungersnot und Nahrungsmangel waren lange Zeit für extremes Leid und für den physischen
und moralischen Verfall der Menschen verantwortlich. Mit der Entwicklung der Kornkammer
wurde die Nahrungskontrolle möglich. Politische Konsequenzen waren die Folge und Völker
wurden dadurch in die Sklaverei getrieben (vgl. Bruch 2004).
„Doch Aushungerung als politische Waffe hat wahrscheinlich nie in so hohem Maße
Anwendung gefunden wie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern des Hitlerregimes
in Deutschland und als Mittel der Unterwerfung in besetzten Ländern“ (Bruch 2004, S. 22).
Die Reaktion auf Hunger ist für die meisten Menschen allgemeingültig. Es werden zwei
Phasen einer Hungerperiode beschrieben. Zu Beginn kommt es zu konstanter Beschäftigung
mit Essen, zum Verlust des sexuellen Verlangens, zur Abnahme emotionaler Reaktionen und
in Folge abnehmender menschlicher Rücksichtnahme zu wachsendem Egoismus. Dieser
ersten Phase folgen Inaktivität, Apathie, sozialer Rückzug und erhöhte Reizbarkeit. Die
Anorexie betrachtend, existiert dieses Schema nicht. Der ausgemergelte Körper wird
verleugnet, die resultierende Erschöpfung wird nicht als bedrohlich wahrgenommen,
beziehungsweise verdrängt und auch die anderen Charakteristika werden als nicht vorhanden
beurteilt (vgl. Bruch 2004).
„Bei dem Schreckgespenst des Hungers, das über der Menschheit schwebt, ist die freiwillige
Ablehnung von Nahrung ein komplexes, ziemlich `unnatürliches` Phänomen. Freiwillig nichts
zu essen, ist in vielen Religionen ein vorgeschriebenes Ritual; es ist das Bemühen, sich selbst
von egoistischen und materialistischen Interessen zu befreien und Leib und Seele zu reinigen“
(Bruch 2004, S. 24).
Beispielsweise hat sich Fasten als Mittel Aufmerksamkeit zu erregen und sich Bewunderung
zu verschaffen im Fernen Osten als lange Tradition manifestiert. „Gegen jemanden zu
fasten“, oder buchstäblich auf der Türschwelle des Feindes zu verhungern, bewirkte
Demütigung. Auch im Westen ist diese „Strategie in Form von Hungerstreiks eine wirksame
Methode, um auf Missstände hinzuweisen (vgl. Bruch 2004).
„Angst vor Hunger ist so universal, dass es Bewunderung, Ehrfurcht und Neugier hervorruft,
wenn sich jemand ihm willentlich aussetzt- und solche, die Aufsehen erregen wollten, haben
sich dieses Mittels weidlich bedient“ (Bruch 2004, S. 26).
Das Schlankheitsideal als beeinflussende, soziokulturelle Größe lässt sich vor allem in den
westlichen Ländern beobachten. Primär sind Frauen gefährdet in dieser Norm, die von der
Gesellschaft, den Medien und der Mode vorgegebenen wird, ein Körperideal zu sehen und
15
geraten damit in eine Ambivalenz. Diese Norm ist aufgrund von biogenetischen meist nicht
zu erreichen und in vielen Fällen entsteht dadurch eine Gewichtsphobie (vgl. Reich 2003).
„Das Nichterreichen gesetzter oder selbstgesetzter Standards kann so dem eigenen Versagen
zugeschrieben werden und zu noch mehr Selbstkontrolle antreiben. Dysfunktionales
Essverhalten, Diäten und hierdurch hervorgerufene Gewichtsschwankungen können zu einem
wichtigen Vorläufer von Bulimie werden“ (Reich 2003, S. 22).
Es lassen sich zwei Phänomene beobachten. In den westlichen Industrie-, bzw. PostIndustrienationen entwickelte sich ein enormer Nahrungsmittelüberfluss, der lange unbekannt
war. Allgemein gültige Regeln zur Nahrungsaufnahme verschwanden, weshalb es in diesem
Überfluss zu einer Freiheit der Nahrungsmittelwahl kam und das Individuum überforderte.
Das Durchschnittsgewicht der Bevölkerung stieg. Im Gegenzug dazu, kam es zu einer Art
Gewichtsphobie, denn die Grenzen für Übergewicht wurden immer enger gezogen und
diskriminiert. Ein weiterer soziokultureller Einflussfaktor auf Bulimie ist die Rationalisierung
des zwischenmenschlichen Umgangs und die darin integrierte Affekt- und Körperkontrolle
(vgl. Reich 2003).
„`Das Ziel der Körperkontrolle liegt heute näher am Körper als früher; das Aussehen bemisst
sich nicht mehr an der richtigen Kleidung oder Haltung, sondern an der Körperform selbst.
Moduliert wird nicht mehr so sehr die soziale Hülle des Körpers, sondern das zwischen
invariablem Körperbau und der Haut angesiedelte Fett- und Muskelgewebe(…)`“
(Reich 2003, S. 22).
„ Hier ist das Individuum mehr und mehr auf sich selbst zurückgeworfen; Befriedigungen
werden immer stärker nur aus dem Selbstbild, immer weniger aus einem Beziehungsgefüge
gewonnen, eine Konstellation, die für die Bulimiepatientin zentrale Lebensschwierigkeit ist“
(Böhme- Bloem 1996, S. 19).
Die Anorexie erfordert ein noch höheres Maß an Selbstkontrolle, weshalb es auch zu einer
stärkeren Verbreitung der Bulimie infolge des Zusammenhangs zwischen Selbstbewusstsein
und äußerer Attraktivität und der bereits erwähnten Gewichtsphobie kommt (vgl. Reich
2003).
16
4.3. Körperkonzept und Körperselbstwahrnehmung
4.3.1. Körperbild
Der Begriff „Körperbild“ klingt einerseits sehr eindeutig, klar und verständlich, doch fehlt
dem Begriff eine allgemein gültige Definition. Auch wenn dieser Terminus häufig in den
verschiedensten Zusammenhängen und in unterschiedlichen inhaltlichen Kontexten
verwendet wird, ist nicht jedem sofort klar, worum es sich genau handelt, wenn man von dem
„Körperbild“ eines Menschen spricht. NeurologInnen und PsychologInnen haben sich diesem
Problem angenommen und versucht, Klarheit und Eindeutigkeit bezüglich dieses Ausdrucks
zu schaffen. Bislang ist es jedoch nicht gelungen den Begriff „Körperbild“, oder einen seiner
bedingenden Komponenten, quantitativ fest zu schreiben, um diese in seinem Sinne mit einem
gewissen Grad an Sicherheit messen zu können (vgl. Bruch 2004). Bruch (2004) beschreibt es
als ein Konzept, obwohl es sich nicht quantitativ bestimmen lässt und betont seinen klinischen
Nutzen, da es die Vielfalt von Einstellungen umfasst, die Patienten bezüglich ihres Körpers
haben und zum Ausdruck bringen. Dieses Konzept setzt sich aus mehreren Komponenten
zusammen, die sich laut Bruch, angesichts der Auswertung der Erfahrungen, nicht immer klar
unterscheiden lassen. Es geht dabei um die verzerrte kognitive Wahrnehmung des Selbst, um
die Interpretation von internen und externen Reizen, das Gefühl Kontrolle über die eigenen
körperlichen Funktionen, um die Reaktion auf die reale Körperfiguration und um die
Einschätzung der eigenen Attraktivität auf die Umwelt (vgl. Bruch 2004). Weiters bezieht sie
sich auf Schilder, der dieses Konzept erweiterte, in dem er klinisch- psychiatrische Aspekte
hinzufügte und das Körperschema als ein „geistiges Bild, das wir uns über unseren eigenen
Körper machen“ und infolge „wie der Körper uns selbst erscheint“, beschreibt (vgl. Bruch
2004). Störungen bezüglich dieses „Körperschemas“ sind wesentliche Indikatoren und
Kennzeichen von Essstörungen, wie Bulimia nervosa und Anorexia nervosa, weshalb sie auch
als zentrales diagnostisches Kriterium gelten (vgl. Reich 2003). Störungen des Körperbildes
sind multikausal bedingt (vgl. Bruch 2004). Reich (2003) weist auf die Unterscheidung
zwischen zwei Optionen der Definition und der Erfassung hin. Die erste Option bezieht sich
auf die Verzerrung der Wahrnehmung des Körperumfangs und der Körpergröße der
Patientinnen. In der zweiten Option geht es um die Unzufriedenheit bezüglich Kognition und
Bewertung des Körpers. Diese beiden Optionen sind unabhängig voneinander. Die
Verhaltensdimension dieser Störung äußert sich beispielsweise in einer zwanghaften
Kontrolle des Körpergewichts. Die Dimensionen, Einstellung und Bewertung des Körpers
17
sind klar voneinander zu unterscheiden. Die Dimension der Einstellung zum eigenen Körper,
die negativer Natur ist, lässt einfacher zwischen dem Vorhandensein und Nichtvorhandensein
einer Essstörung differenzieren. Wahrnehmungsverzerrungen lassen hingegen weniger
deutlich die Unterschiede zwischen wahrgenommenem Selbst und Ideal erkennen. Weiters
zeigt Reich auf, dass die Bulimie eine weitaus größere Unzufriedenheit mit dem eigenen
Körper mit sich bringt, als die Anorexie (vgl. Reich 2003).
Um noch einmal die Verhaltensebene anzusprechen, ist anzumerken, dass es sich bei der
Anorexia nervosa um eine kontinuierliche Steigerung der Magerkeit geht. Bei der Bulimie ist
das aktuelle und anerkannte Schönheitsbild das angestrebte Körpermaß, beziehungsweise eine
subjektive Gewichtsvorgabe, die nicht überschritten werden soll. Die Bulimia nervosa ist
durch eine Phobie zuzunehmen gekennzeichnet (vgl. Böhme- Bloem 1996). Eine bekannte
Wirkgröße, die einen bewussten oder unbewussten Einfluss auf das Körperbild und
Körperkonzept hat, ist die Gesellschaft. Schlankheit wird vor allem in der westlichen Welt als
Ideal gesehen. Jegliche Art von Übergewicht wird abgewertet und gleichzeitig verurteilt,
beziehungsweise als inakzeptables Körpermaß propagiert. Bruch (2004) spricht dabei von
einer Verzerrung des gesellschaftlichen Körperkonzepts. Sie betont auch, dass es im Idealfall
keinen Unterschied zwischen Körperbau, Körperbild und sozialer Akzeptanz geben sollte.
Hierzu ist weiter festzuhalten, dass dadurch Menschen, die von ihrer körperlichen
Veranlagung her nicht in die gesellschaftliche Norm bezüglich der körperlichen Erscheinung
passen, sich einem konstanten psychischen und seelischen Druck ausliefern müssen, begleitet
von Kritik seitens ihrer Umwelt (vgl. Bruch 2004).
„Um Störungen im Körperbild bei Patienten mit abweichenden Körpermaßen zu verstehen,
muss man wissen, dass biologische, psychische und soziale Kräfte in ständiger
Wechselbeziehung miteinander stehen“ (Bruch 2004, S. 116).
Die innere Körperwahrnehmung spielt eine wichtige Rolle hinsichtlich der Störung, der
Hungerwahrnehmung und anderer körperlichen Empfindungen. Sie hat einen signifikanten
Einfluss auf die abweichenden Körpermaße und die Interpretation der körperinternen Reize,
sowie auf das Gefühl den Körper kontrollieren zu können, weshalb sie näherer Untersuchung
bedarf und notwendigerweise in die Erforschung des Körperbildes integriert werden muss
(vgl. Bruch 2004). Bei Patientinnen, die an Anorexia nervosa leiden, kommt diese
Wahrnehmungsstörung wohl am deutlichsten zum Ausdruck und zeigt sich in einer fehlenden
Körperidentität. Bruch (2004) spricht hier von der Leugnung der AnorektikerInnen, der sich
kompromisslos weigert, seinen Körper als das zu sehen, was er in der Realität ist. Der
18
ausgemergelte Körper, beziehungsweise seine uneingeschränkte Verleugnung, ist ein
primäres Symptom der Anorexia nervosa und gleichzeitig ein Teilaspekt der negativen
Grundeinstellung (vgl. Bruch 2004). Auf dem Weg der Heilung einer Essstörung ist diese
Thematik der
Körperwahrnehmung und der
Körperidentifikation ein unumstritten
wesentlicher Teil. Im Zuge der therapeutischen Arbeit geht es darum, den Betroffenen zu
einer realitätsbezogenen und authentischen Wahrnehmung des Selbst anzuleiten und es ihnen
zu ermöglichen verschiedene Erfahrungen in ein adäquates funktionierendes Ganzes zu
integrieren (Bruch 2004). Das Gefühl der Kontrolle, welches innerhalb dieses Prozesses eine
wichtige Rolle spielt, wird im folgenden Unterkapitel ergänzend diskutiert (vgl. Bruch 2004).
Reich
(2003)
hält
im
Zuge
der
Differenzierung
zwischen
den
Dimensionen
Wahrnehmungsverzerrung und Einstellung bezüglich des Körpers, die Notwendigkeit der
Veränderung der Einstellung fest. Kommt es nicht zu dieser Veränderung, bleibt das Risiko
eines Rückfalls in einer Essstörung hoch (vgl. Reich 2003). Die Ziele der therapeutischen
Begegnung beschreibt Bruch (2004) als die Möglichkeit, den Patienten bei seiner
Entwicklung zu begleiten und zu beobachten, wie er die Fähigkeit erlangt, kontinuierlich
freier über seine manifesten Vorstellungen und Gefühle, bezogen auf seinen Körper, sprechen
kann und wie diese mit anderen Aspekten seiner Selbstwahrnehmung in Relation kommen
(vgl. Bruch 2004).
„Therapeutisch gesehen ist es wichtig, einem Menschen zu einer realistischen Wahrnehmung
seines Selbst zu verhelfen, körperlich oder anders, und dazu beizutragen, dass er
verschiedenartige Erfahrungen in ein funktionierendes Ganzes mit wechselnden Impulsen zu
integrieren vermag“ (Bruch 2004, S. 117).
4.3.2. Selbstwert und Selbsthass
„Wenn ich zu dick bin, bin ich nicht gut genug. Wenn ich nicht gut genug bin, werde ich nicht
geliebt. Wenn ich nicht geliebt werde, bin ich nichts wert. Folglich werde ich nur geliebt,
wenn ich superschlank bin, und dann bin ich auch etwas wert. Also tue ich alles, um schlank
zu werden“ (Göckel 2003, S. 101).
Diese Dynamik oder Denkfalle beschreibt, wie sich Mädchen, heranwachsende Frauen und
Frauen im Konflikt mit dem Essen und ihrem Essverhalten von außen bestimmt fühlen und
damit ihr Inneres, ihr Selbst diesem Trugschluss unterwerfen. Der Wunsch nach
Geborgenheit, Liebe, Nähe und Anerkennung resultiert in diesem Kreislauf, bei dem
19
Selbstwert, Selbstvertrauen und die eigene Identität als Preis für Schlankheit und der damit
verbundenen Attraktivität bezahlt werden.
Roth (2005) betrachtet das Thema Selbstvertrauen im Sinne dem eigenen Körper zu
vertrauen. Essgestörte Frauen haben sehr oft Schwierigkeiten sich selbst zu vertrauen. Diese
Furcht den eigenen Körper nicht mehr unter Kontrolle zu haben, lässt sie in eine Diät, in
gezügeltes Essen oder in einen pathologischen Umgang mit Essen flüchten (vgl. Roth 2005).
„Essen was du willst erfordert Mut. Du musst glauben, dass dein Hunger enden wird; du
musst glauben, dass du gut genug bist, um zu bekommen was du willst: Essen ist ein Weg, dir
zu sagen, dass du an dich glaubst, dass du nicht länger ängstlich zu sein brauchst. Essen, was
dir gefällt ist ein Teil der vielschichtigen Notwendigkeit, dir selbst zu vertrauen; zu vertrauen,
dass das, was du willst, dich befriedigen und nicht zerstören wird“ (Roth 2005, S. 164).
Sich mit anderen zu vergleichen, ist eine häufig gewählte Strategie, um sich und andere
Menschen zu bewerten. Dabei ist das Selbstwertgefühl des vergleichenden Menschen meist
schwach ausgeprägt und man neigt dadurch dazu andere als „wertvoller“ einzuschätzen als
sich selbst. Roth (2005) spricht von der Wertlosigkeit als etwas Relatives. Ausschlaggebend
ist, was man in anderen sieht und wie man sich damit vergleicht. Es geht um die Interpretation
des verbalen Inputs von außen, gemeint ist damit, was andere über die Person sagen.
Wertlosigkeit hängt davon ab, wie sehr man bereit ist seine Persönlichkeit zu erweitern und
ein besseres Verständnis für sich selbst zu suchen (vgl. Roth 2005).
„Die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von der äußeren Erscheinung nimmt in der
Adoleszenz sehr stark zu. Selbstwertprobleme, Schwierigkeiten, sozial akzeptiert zu werden,
Leistungsprobleme und Versagensängste werden auf den Körper projiziert“
(Reich 2008, S. 201).
Reich (2008) stellt dabei fest, dass Mädchen und weibliche Jugendliche psychosozialen
Stress, beispielsweise Schulstress, eher mit Auffälligkeiten im Essverhalten kompensieren.
Weiters reagieren sie auf geringfügige Stressoren heftiger und lang andauernder als Jungen
und neutrale Stressoren werden in Beziehungsstressoren umgewandelt (vgl. Reich 2008).
„Im Alter von elf bzw. zwölf Jahren werden die eigenen Beurteilungen des Körperumfangs
sowie die angenommenen Idealmaße prädiktiv für die Entwicklung von gestörtem
Essverhalten“ (Reich 2008, S. 201).
Bezüglich der zunehmenden Abhängigkeit von den Beurteilungen Gleichaltriger, nimmt in
der Adoleszenz die Abhängigkeit von Peergroups und Medieneinflüssen auf das Erleben stark
20
zu. In dieser Zeit geht es um die Ablösung von der Familie und die Peergroup übernimmt hier
die Funktion eines „Übergangsobjektes“ zwischen Familie und Erwachsenenwelt. Einerseits
bietet die Peergroup neue geltende Normen und Unterstützung bei Problemen, andererseits
herrscht ein starker Konformitäts- und Uniformitätsdruck, der einen entsprechenden Druck
auf die Jugendlichen ausüben kann. Weibliche Jugendliche suchen in Peergroups intime
Vertrauensbeziehungen. Die medialen Einflüsse, die vor allem weibliche Idealbilder
transportieren, können durch die Gleichaltrigengruppe verstärkt werden (vgl. Reich 2008).
„Einflüsse der Peers auf Essverhalten und Körperbild finden über Gruppenkonformität und
sozialen Druck, Ärgern, Abwerten und Drangsalieren wegen des Aussehens und der Figur,
über Vergleichen und Rivalisieren sowie negative sexuelle bzw. partnerschaftliche
Erfahrungen statt“ ( Reich 2008, S. 203).
Göckel (2003) beschreibt die Untugenden von Essgestörten als das Unverständnis für sich
selbst, Ungeduld, Besessenheit und Verzweiflung. Der Selbsthass ist bei der Überwindung der
Essstörung das größte Hindernis, der Kern einer Essstörung. Sie sieht den Beginn dieser
Selbstentfremdung und Selbstzerstörung in der Kindheit, in der es darum geht dem Kind
einen „sozialen Uterus“ zu bieten, der vor einer Reizüberflutung schützen soll, adäquate
Nahrung liefern soll und der eine Flexibilität zu altersgemäßen Erfahrungen bietet (vgl.
Göckel 2003). Schock- Erfahrungen, wie die Trennung von der Mutter, wechselnde
Bezugspersonen, Isolation und absichtliches Hungern, lassen bewirken, dass das Urvertrauen
beeinträchtigt wird. Göckel (2003) beschreibt das Urvertrauen in die Mutter, deren
Zuverlässigkeit und Funktionieren als Fundament des Selbstvertrauens (vgl. Göckel 2003).
Eltern sind mit einem Neugeborenen oft überfordert und ohne auf die Bedürfnisse des Kindes
zu achten, bedeutet ein „funktionierendes“ Kind das Ergebnis ihres strikt angewendeten
Erziehungsplans. Das Kind reagiert darauf mit Resignation. Das Gefühl der Wertlosigkeit ist
das eigentliche Ergebnis dieser Erziehungsstrategie. Das Thema Gewalt spielt dabei ebenso
eine wichtige Rolle. Körperliche Züchtigung gehört für manche Eltern genauso zu einer
„gesunden Erziehung“. Das Kind integriert Gewalt unbewusst und unreflektiert in sein
Verhaltensrepertoire (vgl. Göckel 2003).
„ Das Kind wird sich als Erwachsener selbst so behandeln. Es gibt Klienten, die sich selbst
ohrfeigen. Die sich die Arme zerschneiden und sich unaufhörlich selbst beschimpfen. Die
Drogen nehmen, `um nicht mehr sie selbst zu sein´. Das nennt man dann eine BorderlineStörung, unter der etwa ein Viertel aller Frauen mit Bulimie ebenfalls leiden“ (Göckel 2003,
S. 121).
21
Die fehlende Achtung der kindlichen Bedürfnisse, führt zur Internalisierung fremder Normen
und verursacht im Laufe der Entwicklung Schuldgefühle beim Kind gegenüber den eigenen
Bedürfnissen (vgl. Göckel 2003).
4.4. Sucht
Das
Hinzuziehen
von
gesellschaftswissenschaftlichen,
anthropologischen
und
psychologischen Modellen, ermöglicht einen interdisziplinären Blick auf den Begriff „Sucht“,
der wiederum das Verständnis für Suchtstörungen erweitert und in die Tiefe führt. Gefühle
und Stimmungen, die negativ besetzt sind, sind für perfektionistische und „funktionieren“
wollende Menschen, wie für Menschen, die an einer Essstörung leiden, nicht akzeptabel.
Diese Gefühle werden bewusst wahrgenommen, aber die Betroffenen kennen häufig nicht
ihren Ursprung oder verleugnen ihn (vgl. Klein 2008).
„Das `Süchtige an der Sucht` ist demnach nicht nur die Maßlosigkeit im Erleben und
Verhalten. Neben dem Überschreiten von Grenzen, um sich bestimmte, sonst nicht
vorstellbare Gefühle und Stimmungen zu verschaffen, ist darunter auch der sehr funktionale
Gebrauch von Suchtmitteln zur `Selbstreparatur` psychischer Missempfindungen zu
verstehen, der am Ende oft in einen Verlust der Kontrollfähigkeit mündet“ (Klein 2008, S. 4).
„Befragt man Sucht- Patienten in der Therapie nach ihrer Kindheit, so ist häufig die Antwort
zu erhalten, diese sei `normal` gewesen“ (Wallroth 2008, S. 29).
Wallroth
(2008)
erklärt
diese
Fehleinschätzung,
die
häufig
durch
fehlende
Vergleichsmaßstäbe zustande kommt, mit einer tiefen Sehnsucht nach einer „heilen Welt der
Kindheit“, die der Betroffene in diesem Sinne nicht erlebt hat (vgl. Wallroth 2008). Die
Notwendigkeit der Abgrenzung des Sucht-Begriffs betont Rost (2008) im Hinblick auf die
Gefahr der Entwicklung, in Richtung Sinnentleerung und Bedeutungslosigkeit. Gemeint wird
damit die Anwendung des Terminus auf zu viele Verhaltensweisen. Eine andere Gefahr
besteht in dem Verlust des Leidvollen, Zerstörerischen und des Lebensbedrohlichen.
Kennzeichnende Eigenschaften, beziehungsweise charakteristische Dynamik einer Sucht (vgl.
Rost 2008).
„Eher akzeptabel ist der Begriff der süchtigen Grundhaltung zu Beschreibung abhängiger
Persönlichkeiten“ (Rost 2008, S. 40).
Im klinischen Bereich wurde erkannt, dass es immer seltener zum Auftreten von isolierten
Süchten kommt. Die Abhängigkeit von Drogen und Medikamenten wird immer häufiger von
22
zerstörerischen Verhaltensweisen beispielsweise einer Essstörung begleitet, weshalb man hier
von dem Begriff der „Polytoxikomanie“ spricht (vgl. Rost 2008).
„Die Krankheitsbilder der Essstörung und der stoffgebundenen Sucht treten in der Regel
alternierend auf. Die Patientinnen können beim süchtigen Gebrauch eine Substanz gegen eine
andere austauschen bzw. substituieren, z.B. Alkohol gegen Nahrung und umgekehrt. Diese
Symptomverschiebung bzw.- austausch legt die Vermutung nahe, dass bei diesen
Patientinnen, die sowohl Suchtmittelmissbrauch als auch Essprobleme aufweisen, wenn nicht
dynamisch dieselben, so doch zumindest ganz ähnliche Konflikte zugrunde liegen“ (Haßfeld,
Denecke 1996, S. 206).
Im Kontext der Suchtproblematik und in Bezug auf Essstörungen ist festzustellen, dass bei
der Bulimie eine höhere Wahrscheinlichkeit des Missbrauches von Alkohol und anderen
Suchtmitteln besteht, als bei der Anorexie. Als Ursache für diesen Verlauf wird die
Ähnlichkeit bezüglich der Bewältigung von negativen Affekten und das charakteristische,
verheimlichte Praktizieren angeführt. Auch in der Familiengeschichte von Menschen mit
Bulimie sind entsprechende Abhängigkeitsdynamiken bezüglich Alkohol und anderen
Substanzen beobachtet worden (vgl. Reich 2003). Das Verhältnis der Krankheitseinheiten
Persönlichkeitsstörung, Suchtmittelabhängigkeit und Essstörung lässt sich bei der BorderlinePersönlichkeitsstörung, die häufig mit der Bulimie einhergeht, am ehesten bestimmen. Hier
besteht ein eindeutiger psychodynamischer Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstörung,
Essstörung und Sucht (vgl. Haßfeld 1996, Denecke 1996). Bei Patientinnen mit Anorexia
nervosa ist im Wesentlichen ein narzisstischer Grundkonflikt nachweisbar. Im Vergleich zu
anderen Persönlichkeitsstrukturen ist daher in diesem Kontext die Prognose bei einer
substanzgebundenen Sucht eingeschränkt (vgl. Haßfeld 1996, Denecke 1996).
„Der Einstieg in die stoffgebundene Sucht ist von der Psychodynamik her schwerer
verständlich als bei der Bulimie und kommt in der Tat auch statistisch gesehen viel seltener
vor“ (Haßfeld, Denecke 1996, S. 208).
Psychoanalytische
Konzepte
haben
versucht
einen differenzierten Blick
auf die
Abhängigkeitspersönlichkeit zu werfen und als Ergebnis lässt sich feststellen, dass die eine
süchtige Persönlichkeit oder die spezifische Entwicklung einer Sucht nicht existiert.
Entwicklungen, Persönlichkeiten, sowie Verläufe und Ereignisse in der Adoleszenz und im
Erwachsenenleben können mit dem Hintergrund einer verdeckten Störung in einer
manifestierten Sucht resultieren (vgl. Rost 2008).
23
„Vielmehr gehen wir heute davon aus, dass Sucht zumindest zeitweise als Symptom bei
unterschiedlichsten psychischen Störungen bzw. Prädispositionen auftreten kann“ (Rost
2008, S. 42).
Der Ansatz Sucht als Selbstheilungsversuch basiert auf dem in den 20er Jahren des 20.
Jahrhunderts Paradigmenwechsels in der Psychologie, der einen Wechsel von der Triebtheorie
zur Ich-Psychologie indizierte. Das „Ich“ wurde als zentrale Instanz der Persönlichkeit
erkannt, das zwischen den Triebansprüchen des Es und den gesellschaftlichen und
moralischen Ansprüchen des Über-Ichs vermittelt. Die Abhängigkeit wurzelt demnach in
einer Schwäche dieser zentralen Tendenz des Ichs (vgl. Rost 2008).
„Es handelt sich hierbei um Ich- schwache Persönlichkeiten, deren Ich- Grenzen nach außengegen die Wünsche und Anforderungen aus Familie und Arbeit- wie nach innen- gegenüber
den eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Trieben- zu schwach und durchlässig sind“ (Rost
2008, S. 43).
„(…)zu dem Ergebnis, dass bei Suchtkranken praktisch alle Ich-Funktionen defizitär sind, mit
Ausnahme der intellektuellen Fähigkeiten. Im einzelnen waren es Merkmale der
Objektkonstanz, der narzisstischen Gleichgewichtsregulation, der Realitätsprüfung, der
Urteilsfindung, der Regressionsfähigkeit und der Kontrolle von Impulsen und Affekten“
(Haßfeld, Denecke 1996, S. 209).
Im Gegensatz, Sucht als Selbstheilung einzusetzen, gibt es auch die Tendenz, Sucht als
Selbstzerstörungsversuch zu betrachten. Auch in dieser Dynamik geht es darum, den
drohenden vollständigen Zerfall der Persönlichkeit zu schützen, jedoch besteht die Evidenz
massiver
autodestruktiver
Verhaltensweisen.
Charakteristisch
für
diese
ist
ein
Aufeinanderfolgen von traumatischen Erlebnissen in der Kindheit (vgl. Rost 2008).
„Es handelt sich also um eine basale Störung der Identität, einen Mangel an Urvertrauen, der
dazu führt, dass die Selbsterhaltungstriebe, der Überlebenswille, gestört sind“ (Rost 2008, S.
45).
Roth (2005) widerspricht der Annahme, dass Zwanghaftigkeit, also Sucht, der Versuch ist,
eine irrationale Handlung aufgrund eines unwiderstehlichen Impulses zu vollziehen, wie es
die Definition im Lexikon besagt. In diesem Fall ist es nicht korrekt von Irrationalität zu
sprechen, denn hinter diesem zwanghaften Verhalten steckt ein Sinn für süchtige Menschen.
Roth erweitert den Begriff zwanghaftes Verhalten, in dem sie es nicht nur auf offensichtliche
Süchte wie Alkohol, Drogen, Rauchen und Überessen bezieht, sondern auch auf
Partnerwechsel, Konsumzwang, Bewegungssucht, Arbeitssucht und religiösen Fanatismus.
24
Neben der Theorie der Selbstheilung und der Selbstzerstörung existiert auch der
Zusammenhang von Sucht, Leid und der Vermeidung von Leid (vgl. Roth 2005).
„Wir versuchen, Leid zu vermeiden, indem wir ein Verhalten entwickeln, das betäubt und uns
von der Quelle des Leidens entfernt“ (Roth 2005, S. 217).
„Es wird immer wieder versucht, Essstörungen auf die gleiche Weise zu behandeln wie
Alkohol- oder Drogensucht. Die Betroffenen werden aufgefordert, `Abstinenz` zu halten, und
es werden Esspläne aufgestellt. Aber dieser Ansatz scheitert meist, weil zu viel Betonung auf
das Essen gelegt wird und nicht auf den Suchtprozess selbst, das gestörte Essverhalten“
(Johnston 2003, S. 47).
Wie hier dargestellt, ist die Therapie einer Essstörung sehr komplex und wird in weiteren
Kapiteln noch ausführlicher und differenzierter behandelt. Im Gegensatz zu einer Alkoholoder Drogensucht ist es möglich von einer Essstörung gänzlich geheilt zu werden und es ist
möglich das weitere Leben ohne Kampf um Essen, Diäten und Dicksein zu verbringen (vgl.
Johnston 2003).
4.5. Psychodynamik
Das psychodynamische Gefüge bei der Anorexie setzt sich vor allem aus Selbstkontrolle und
Selbstabgrenzung zusammen. „Die Lebensphase, in der sich die Anorexia nervosa entwickelt,
ist die frühe und mittlere Adoleszenz, die Zeit der Pubertät und danach. In diesem
Lebensabschnitt geht es um tatsächliche oder phantasierte Trennungen von den Eltern bzw.
den primären Beziehungspartnern“ (Böhme- Bloem 1996, S. 11). In dieser Dynamik äußert
sich die Anorexie in Gestalt einer Kompromissbildung, bei der es darum geht, die
Raumgrenzen zwischen der eigenen Person und anderen Personen aufrechtzuerhalten und den
Abstand zur Mutter, zum Vater und zu anderen Menschen aufrechtzuerhalten, ohne sich die
bereits genannte tatsächliche Trennung zumuten zu müssen (vgl. Reich 2003).
Konzepte, die bezüglich dieser psychodynamischen Entwicklung existieren, versuchen
anhand differenzierter Ansätze Erklärungsversuche zu konstruieren.
„Dieser Kernkonflikt um die Selbst- Grenzen und die Selbstkontrolle wurde in frühen
psychoanalytischen Interpretationen dieses Krankheitsbildes als Abwehr von Sexualität
gedeutet, insbesondere als Abwehr von Phantasien, die Essen und Sexualität in Verbindung
brachten, z.B. in der Phantasie der `oralen Schwängerung`“ (Reich 2003, S. 29).
25
Die Auseinandersetzung mit Triebimpulsen als Identitätsthema führt zur triebtheoretische
begründeten psychodynamischen Hypothese. Hier geht es ebenfalls um die Ablehnung der
weiblichen Sexualität, die mit inkorporierenden Vorgängen (Aufnahme von Glied und
Samen) einhergeht. Diese Ablehnung und Bekämpfung zeigt sich in einem auf die orale
Ebene verschobenen Kontinuum von Verweigerung und Kontrolle. Diese Hypothese
korreliert mit den Abwehroperationen, die in der Adoleszenz notwendig werden (vgl. BöhmeBloem 1996).
„Allerdings ist die triebdynamische Reifung der meisten Anorektikerinnen kaum wirklich auf
die genital- sexuelle Ebene vorgedrungen, sie sind oral fixiert geblieben bzw. durch das
autonomiefeindliche Familienklima gehalten worden, so dass man selten eine Regression auf
die orale Triebebene, vielmehr häufiger eine Fixierung annehmen muss“ (Böhme- Bloem
1996, S. 13).
Nachfolgende Konzepte zielen auf das Konfliktpotential der frühen Individuation-Separation
und auf die dadurch begünstigte Unfähigkeit sich von dominanten, eindringenden,
kontrollierenden oder überfürsorglichen Beziehungspersonen zu trennen, ab. Als zentrale
Thematik
wird
die
ambivalente
Beziehung
zur
Mutter,
die
sich
aus
einem
Abhängigkeitserleben und einer abgewehrten Aggressivität ergibt, angesehen. Frühe
Trennungskonflikte, die mit ödipalen Problemen in Verbindung stehen, tendieren dazu, vor
allem in der Adoleszenz ihre virulente Wirkung zu zeigen und dort zum Ausbruch der
Erkrankung durch Regression auf eine präödipale Stufe der Entwicklung führen (vgl. Reich
2003).
„Die aufrechterhaltenden Faktoren lassen sich in `innere`, in der Patientin liegende, und
`äußere`, in der sozialen Umwelt liegende Faktoren einteilen. Sie decken sich teilweise mit
den Vorstellungen, die gemeinhin als sekundärer Krankheitsgewinn bezeichnet werden,
teilweise gehören sie auch zur inneren Dynamik des Krankheitsbildes“ (Böhme- Bloem 1996,
S. 13).
Diese aufrechterhaltenden Faktoren bedeuten eine Erschwernis in Hinblick auf die
Therapiearbeit und auf die Zugänglichkeit der Patientin für den Therapeuten, Familie und
Freunde. Die Maximierung des Autonomiegefühls, welche durch wachsende Körperkontrolle,
Effizienz und ein narzisstisches Hochgefühl vermittelt werden, führt weiter zu einer Isolation.
Die Unsicherheit und die Angst dabei resultiert aus der Ungewissheit, ob das Maß an
Kontrolle in Hinblick auf den wachsenden Hunger aufrechterhalten werden kann. Die
Aufmerksamkeit, die mit Nicht- Essen bewirkt wird und die Zuwendung, die symbolisch über
26
das Essen zustande kommt, können nur durch ein restriktives Essverhalten aufrecht erhalten
werden (vgl. Böhme- Bloem 1996).
„Zentral sind Ängste vor Auflösung der Grenzen, Kontrollverlust, Trennung oder
Triebhaftigkeit. In der Abwehrstruktur dominieren neben der Isolierung und Reaktionsbildung
vor allem die Verleugnung, die altruistische Abtretung und die Wendung von Aggressivität
gegen das Selbst“ (Reich 2003, S. 30).
Auch bei der Bulimie besteht ein Abgrenzungskonflikt, hauptsächlich in der Mutter- Tochter
Dynamik. Aus psychoanalytischer Sicht bleibt die Betroffene in ihren basalen Bedürfnissen,
wie haltende Umgebung, Versorgung, Beruhigung und narzisstischer Zufuhr, unbefriedigt.
Die Ambivalenz bei Patientinnen mit Bulimie zeigt sich konkret einerseits in dem Wunsch
nach Bindung und Abhängigkeit, andererseits in der Entwicklung starker Bindungsängste.
Das Bedürfnis nach Verbundenheit und Nähe dient der Kompensation der unerfüllten
Beziehung zur Mutter, die ein Gefühl der Leere und der Wertlosigkeit verursacht.
Bindungsängste resultieren aus der Angst enttäuscht und verlassen zu werden. Die
Psychoanalyse betrachtet die Bulimie hinsichtlich dessen als Störung der frühkindlichen
Separation und Individuation von den primären Bezugspersonen (vgl. Reich 2003).
Eine andere Anschauung dieser Thematik bietet Reich (2003), der die Bulimie als
„elaborierte, habitualisierte Impulshandlung“ ansieht, mit dem Zweck, mit innerseelischen
Spannungen mittels dinglicher Objekte fertig zu werden. Der Identitätskonflikt, unter dem
bulimische Patientinnen generell leiden, besteht in der Aufspaltung des Selbst in ein „ideales“
Selbst und in ein „defektes“ Selbst. Das ideale Selbst soll der Außenwelt ein perfektes,
funktionierendes, selbstkontrolliertes und autonomes Individuum präsentieren, das defekte
Selbst, das hingegen Bedürftigkeit, Schwäche und Unkontrolliertheit repräsentiert und
dementsprechend als Makel bzw. Defekt empfunden wird, soll versteckt bleiben (vgl. Reich
2003).
„Die Patientinnen leiden an einer Phantasie des Defektes und starken Schamkonflikten, einer
affektiven Instabilität, die zusammen mit einer starken Betonung von Essen und äußerer
Erscheinung in den Familien sowie den Konflikten in der Adoleszenz die Verschiebung der
Identitätskonflikte auf den Körper begünstigen“ (Reich 2003, S. 29).
Böhme- Bloem (1996) sieht hinsichtlich der aufrecht erhaltenden Faktoren, die ebenso wie bei
der Anorexie einen Therapieerfolg behindern können, Probleme der Geschlechtszugehörigkeit
und
Konflikte
in
der
soziokulturellen
Position
der
Frau.
Bezüglich
der
27
Geschlechtszugehörigkeit zielt er auf die spannungsreiche Gefühlswelt zwischen Mutter und
Tochter. Im Mittelpunkt steht dabei die orale Fixierung, die für Bulimiepatientinnen
charakteristisch ist. Gemeint ist damit das Verhaftetbleiben in der Objektbeziehung des ersten
Lebensjahres. Das Essen als das wichtigste Kommunikationsmedium der ersten Lebenszeit
wird als solches weiterbenutzt. Aufgrund der eigenen Ambivalenz und Ablehnung der Mutter
gegenüber ihrer eigenen Bedürfnisse, kommt es auch zur Abwehr der kindlichen Oralität.
Später resultiert diese mütterliche Ambivalenz in einer starken Abhängigkeit der Tochter,
sodass diese wegen eines mangelnden Selbstgefühls in dieser Konstellation den Körper
phallisch besetzt und mit diesem Körpergefühl in ödipaler Fixierung in die Adoleszenz eintritt
(vgl. Böhme- Bloem 1996). Die soziokulturelle Position der Frau steht unter dem
signifikanten Einfluss der Medien. Dieser manifestiert sich in den realistisch gesehen
unvereinbaren Anforderungen an das weibliche Geschlecht. Schlankheit, intellektuelle
Kritikfähigkeit, Emanzipation, Aktivität und Leistungsfähigkeit, stehen den konträren
„hausfraulichen“ Qualitäten wie Fürsorge und Mütterlichkeit gegenüber (vgl. Böhme- Bloem
1996).
„Eine Adoleszente mit einem unsicheren Selbstgefühl wird angesichts dieses aus mehreren
sehr gegensätzlichen Facetten zusammengesetzten Idealbildes versuchen, alles in sich zu
vereinen und so unter andauernde innere Spannung geraten. Eine Bulimiepatientin wird
durch dieses Idealbild immer wieder ins Spannungsfeld ihrer Ambivalenz gezogen“ (BöhmeBloem 1996, S. 19).
4.6. Weibliche Identität und Sexualität
Essgestörte Frauen stehen häufig in Konflikt mit ihrer Weiblichkeit. Die Psychologin Anita
Johnston beschreibt in ihrem Buch „ Die Frau, die im Mondlicht aß“ wohin dieser Konflikt
führen kann und was das Resultat des Ungleichgewichts zwischen weiblichen und männlichen
Prinzipien für Mädchen und junge Frauen, die an einer Essstörung leiden, bedeutet.
In unserer Gesellschaft und gleichermaßen in unserer Kultur werden männliche Prinzipien
wie Zielgerichtetheit, Leistung, Produktivität, Rivalität, Autonomie, Individualität und
Systematik hervorgehoben. Gleichzeitig werden weibliche Attribute wie Intuition,
Sensibilität, Ästhetik und die Betonung der Gefühle und Emotionen in den Hintergrund
gestellt und als weniger „nützlich“ eingestuft, da sie weniger zu einem technologischen
Fortschritt oder einem finanziellen Erfolg führen (vgl. Johnston 2003). Sie vertritt die
28
Ansicht, die Epidemie der Essstörungen sei eindeutig das Resultat der Tendenz, männliche
Attribute in ihrer Wertigkeit zu stärken und weibliche Attribute zu entwerten. Da jeder
Mensch sowohl weibliche als auch männliche Anteile in sich trägt, die weiblichen aber
aufgrund ihrer Irrationalität abgewertet werden, kontrolliert der männliche Aspekt den
weiblichen. Frauen mit einem gestörten Essverhalten internalisieren diese Wertung und
zielgerichtete Aktivitäten, Kontrolle und Pflichten treten in den Vordergrund (vgl. Johnston
2003).
Reich (2003) greift in seinem Buch über Familienbeziehungen von Patientinnen mit Bulimia
nervosa die Thematik der weiblichen Rollenkonflikte auf. Diese Konflikte treten gehäuft in
der Adoleszenz auf, bei der es um Reifungs- und Verselbstständigungsschritte geht und um
die damit zusammenhängenden Entwicklungsschritte. Menschen mit einem gestörten
Essverhalten tendieren eher zu einer verstärkten Identifikation mit widersprüchlichen
Rollenanforderungen und deren Erfüllung, besonders infolge der Bulimie (vgl. Reich 2003).
Ein entscheidender Aspekt der Weiblichkeit ist die Menstruation, die bei Mädchen den
Beginn
ihrer
Pubertät
bedeutet.
Nicht
nur
die
Monatsblutung
ist
Teil
dieses
Veränderungsprozesses, sondern der ganze Körper entwickelt sich weiter. Mädchen stehen
vor der Aufgabe sich mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen und ihre weibliche Identität
anzuerkennen. Mit Einsetzen der Menstruation verändert sich gleichzeitig der Körper. Diese
biologische Entwicklung ist weder aufzuhalten, noch zu kontrollieren, weshalb sich eine
Essstörung bei Mädchen häufig gleichzeitig mit Beginn der Pubertät entwickelt. Die
Prädisposition für diese Psychopathologie beinhaltet häufig ein geringes Maß an
Kontrollfähigkeit, beziehungsweise ein mangelndes Gefühl der Macht. Die übermäßige
Beschäftigung mit dem eigenen Essverhalten, beziehungsweise die daraus entstehenden
Diätversuche, sollen in dieser Dynamik das Gefühl von Kontrolle vermitteln oder verstärken.
Die Menstruation wird nicht nur von körperlichen Veränderungen, wie der Entwicklung von
weiblichen Formen, einer hormonbedingten Gewichtszunahme und Heißhungerattacken
begleitet, sondern auch von Stimmungsschwankungen und einer erhöhten emotionalen
Sensibilität (vgl. Johnston 2003).
Die Sexualität bedeutet ebenfalls mit dem Beginn der Pubertät und der Entwicklung eines
Mädchens zu einer jungen Frau nicht nur eine körperliche, sondern auch eine psychische
Umstellung. Diese ist häufig mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden, die anhand der
Kompensation durch Diäten und Kontrolle des Ernährungsverhaltens zu bewältigen versucht
29
werden. Mädchen internalisieren die häufig postulierte und abwertende Interpretation von
weiblicher Sexualität, die Frauen oftmals als sexuelle Objekte, Trophäen und Beute in einer
patriarchalischen Kultur darstellt. Die Medien produzieren ein fertiges Bild von einer schönen
Frau und einer akzeptablen Figur. Gleichzeitig liefern Zeitschriften und das Fernsehen ein
verzerrtes Bild, wie weibliche Sexualität aussieht. Dementsprechendes Konfliktpotential
besteht auch in der Schule und in der Familie. Johnston beschreibt in diesem Zusammenhang
die Entwicklung eines Mädchens, die tendenziell früher einsetzt als bei Jungen und sich auch
offensichtlicher zeigt. Mädchen müssen demzufolge früher lernen, nicht nur mit ihrer eigenen
Auseinandersetzung und mit den subtilen Botschaften aus den Medien zu recht zu kommen,
sondern auch mit Schulkameraden und Freunden, vor allem männlichen Geschlechts (vgl.
Johnston 2003). Johnston (2003) nennt es Doppelmoral der patriarchalischen Machtstruktur,
die einerseits eine gesellschaftlich akzeptierte frühe sexuelle Aktivität der Jungen beinhaltet,
andererseits im Gegensatz dazu, die frühe weibliche Sexualität als bedenklich einstuft (vgl.
Johnston 2003).
Die Familie hat in Bezug auf die sich entwickelnde Sexualität der Tochter wesentlichen
Einfluss. Eltern haben eventuell Schwierigkeiten mit dieser neuen Situation umzugehen.
Väter fühlen sich teilweise eingeschüchtert und werten den sich entwickelnden Körper anhand
von herabsetzenden Bemerkungen ab, oder versuchen ihre Tochter vor Jungen, die sich für
die Tochter interessieren, zu beschützen, in dem sie ihnen gegenüber feindselig reagieren.
Eine andere mögliche Situation wäre, dass sich Väter gegenüber ihren eigenen sexuellen
Gefühlen in einem Konflikt befinden und daraus mit körperlicher Abwendung reagieren.
Brüder können sich in ihrer Identität und persönlichen Ausstrahlung unsicher sein, weshalb
sie das Aussehen der Schwester missbilligen. Die erfahrene Ablehnung von männlichen
Bezugspersonen kann zu einer negativen Einstellung bezüglich des eigenen sich verändernden
Körpers führen und die Strategie der Kompensation eingesetzt werden, um diese Gefühle zu
entkräften. Die Rolle der Mutter in dieser Dynamik ist ebenfalls von entscheidender
Bedeutung. Die Mutter-Tochter Beziehung kann in diesem Zeitraum von Neid, Rivalität,
Kritik, Ängstlichkeit und von der Übertragung des Rollenbildes der Mutter auf die Tochter
geprägt sein. Essen und Diäten bedeutet hier Schutz und der Versuch die eigene Sexualität zu
verbergen, den mädchenhaften Körper wieder zurück zu gewinnen, nicht mehr aufzufallen
und damit jeglichen, Konflikt ausgelöst durch die Körperlichkeit, zu umgehen (vgl. Johnston
2003).
30
Der hier beschriebene Vorgang bezieht sich eher auf Mädchen, die an Anorexia nervosa
leiden, denn diese setzt altersspezifisch früher ein als die Bulimia nervosa. Reich (2003)
unterscheidet das Sexualverhalten zwischen Anorexie und Bulimie in Hinblick auf sexuelle
Erfahrungen und sexuelle Veränderungen. Betroffene der Anorexie versuchen diese zu
vermeiden und rückgängig zu machen. Das Interesse an romantischer Liebe und sexuellen
Erlebnissen ist gering. Da die Bulimie das körperliche Erscheinungsbild im geringeren
Ausmaß verändert, wird diesbezüglich über sexuelle Kontakte und sexuelle Konflikte
berichtet. Einschränkungen werden bezüglich der sexuellen Erlebnisfähigkeit und der
Nichterfüllung der Bedürfnisse des Partners genannt (vgl. Reich 2003).
„Negative Partnerschaftserfahrungen spielen in der Entwicklung und als auslösendes
Moment von Ess- Störungen häufig eine bedeutende Rolle, insbesondere bei der Bulimie.
Zurückweisungen, Missachtung oder Abwertung durch Partner werden häufig auf mangelnde
körperliche Attraktivität zurückgeführt. Der Körper wird zum Sündenbock“ (Reich 2008, S.
204).
Johnston (2003) stellt fest, dass Essstörungen die sexuelle Lustempfindung beeinträchtigen
können. Auslösend können die bereits angesprochenen Eigenschaften sein, die eine
Begleitsymptomatik einer Essstörung darstellen. Im Zuge des Leistungsanspruchs, der
Erfüllung von Pflichten und Aufgaben, verlieren Betroffene das Bedürfnis nach Sexualität
(vgl. Johnston 2003).
Roth (2005) behandelt das Thema Sexualität auf dem Hintergrund einer Inkongruenz
hinsichtlich des Erlebens der eigenen Sexualität. Die Reize des weiblichen Körpers sind
einerseits eine Last, andererseits ein nützliches Instrument, um emotionale Bedürftigkeit
auszudrücken im Sinne von Nähe, Aufmerksamkeit und Liebe. Roth hebt hervor, inwieweit
Frauen im gleichen Maß Schlankheit als Bürde betrachten. Schlankheit indiziert für Mädchen
und junge Frauen häufig das Gefühl ihren Körper präsentieren zu müssen und dabei konstant
attraktiv, verführerisch und vital zu wirken (vgl. Roth 2005).
Die Angst vor der Sexualität ergibt sich aus dem Paradoxon der verfälschten Interpretation
von Sexualität. Häufig setzen Frauen Sexualität mit dem Bedürfnis nach Liebe gleich. Roth
stellt fest, dass es einerseits das größte persönliche Ziel ist schlank zu sein, gleichzeitig
jedoch, durch die Unfähigkeit sich sexuell abzugrenzen, ausgelöst von dem Bedürfnis nach
Liebe, in eine Furcht vor dem Schlanksein und vor der eigenen Attraktivität führt (vgl. Roth
2005).
31
4.7. Hungerwahrnehmung und Individuation
Hunger ist ein Gefühl und Bedürfnis, das jeder Mensch von Geburt an kennt. Da man Hunger
von Geburt an kennt, nehmen auch die meisten Menschen an, dass es sich um ein angeborenes
Gefühl handelt. Menschen, die an einer Essstörung leiden, haben Schwierigkeiten dieses
Bedürfnis nach Nahrung richtig zu interpretieren beziehungsweise eine verfälschte
Wahrnehmung des Hungergefühls. Bruch (2004) spricht von einer mannigfaltigen
symbolischen Bedeutung der gestörten Nahrungsaufnahme, die sich in Form einer gierigen,
unkontrollierten Nahrungsaufnahme, wie auch in Form einer strengen Nahrungsverweigerung
zeigt (vgl. Bruch 2004).
Betroffene sind häufig der Überzeugung, dass der primäre Konflikt die Essstörung ist. Sie
sind sich dem eigentlichen Konflikt, der sich nicht an der Oberfläche, zeigt nicht bewusst oder
verleugnen ihn. Dieser Kampf hat seinen Ursprung in ihrem Inneren, in der Psyche und in der
Seele. Das Essen und das Problem mit dem Essen hat in dieser Dynamik die Rolle eines
Ablenkungsmanövers und dient als eine Art Spiegelbild für die Konflikte, die zu einer
Essstörung führen können (vgl. Johnston 2003).
Wie bereits erwähnt, fällt es ihnen schwer Hunger richtig zu bestimmen und von körperlichen,
sowie emotionalen Bedürfnissen zu unterscheiden. Die essentielle Körperfunktion
Nahrungsaufnahme wird somit missbräuchlich in den Dienst von Bedürfnissen gestellt, die
nichts mit der Ernährung zu tun haben (vgl. Bruch 2004).
Diese Symbolhaftigkeit der Nahrung äußert sich somit auf verschiedene Art. Gefühle wie
Wut,
Hass,
Angst,
Ohnmacht
und
Einsamkeit
können
diesen
Missbrauch
der
Nahrungsaufnahme verursachen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sie als Ersatz für
sexuelle Befriedigung gelten, als Gefühl von Macht, als Abwehr von Verantwortung und
Erwachsensein und als Abhängigkeit von den Eltern, oder im Gegensatz dazu, als Methode
sich von den Eltern abzugrenzen (vgl. Bruch 2004).
An dieser Stelle soll ein detaillierter Einblick gegeben werden, in dem es um die
Kompensation von Gefühlen durch das Essen geht. Essen hat hier nicht mehr die Funktion
einen Nahrungsmangel auszugleichen und das physiologische Bedürfnis des Körpers nach
Nahrung zu befriedigen. Essen dient im Falle von Wut, Angst und Hass der Regulation dieser
32
Empfindungen, damit diese nicht zum Ausdruck kommen können oder als Beruhigungsmittel
in Stresssituationen.
Göckel (2003) beschreibt einige dieser Gefühle anhand einer Art Kompensationsstrategie und
erklärt, dass beispielsweise Wut häufig mit anderen Gefühlen, wie Angst und Ohnmacht,
einher geht. Schuldgefühle sind ebenso wichtig, wenn es um den fehlenden Ausdruck von
Wut geht. Wut im Zusammenhang mit Angst äußerst sich, wenn Betroffene nicht gelernt
haben verschiedene Stärken von Wut zu erkennen und deshalb Angst entwickeln, die Wut
nicht mehr kontrollieren zu können. Die Angst, nicht mehr geliebt zu werden und einen
schlechten Eindruck zu machen, gründet in tieferen Ängsten, wie Trennungsängsten und
Existenzängsten, die wiederum ihren Ursprung häufig in der Kindheit haben. Essen kann in
dieser Dynamik als Autoaggression verstanden werden, die sich häufig in einer Depression
manifestiert (vgl. Göckel 2003).
Ein weiteres Gefühl, welches in diesem Zusammenhang hervorzuheben ist, ist das Gefühl der
Ohnmacht. Göckel (2003) beschreibt die Ohnmacht als Mischung aus Angst und Wut.
Ohnmacht impliziert ihr zufolge Ausweglosigkeit, Stillhalten und Hilflosigkeit. Sie bezieht
sich dabei auf den amerikanischen Psychologen Martin Seligmann. Er wollte mit Hilfe von
Experimenten an Tieren und Menschen beweisen, dass eine Depression erlernt und wieder
verlernt werden kann. Sie beschreibt in diesem Kontext „Die Negativspirale der Ohnmacht“.
Das Gefühl der Ohnmacht ist nicht nur Ursprung dieser Spirale, sondern auch ihr Produkt.
Hilflosigkeit und Deprimiertheit verleiten schnell dazu dieses unangenehme Gefühl anhand
von Essen zu kompensieren, damit
es
„erträglicher“ wird. Selbstvorwürfe und
Selbstabwertung, durch zum Beispiel Schuldzuweisung, gehören zu einer destruktiven
Ausgangsposition, beziehungsweise Grundhaltung dem Selbst gegenüber. In Folge der
Selbstabwertung nimmt auch das Selbstwertgefühl ab und führt weiters zu einer geringen
Motivation alternative Handlungsstrategien zu entwickeln. Resignation ist der nächste Schritt,
der an die herabgesetzte Leistungserwartung anschließt und wiederum in der Ohnmacht
resultiert (vgl. Göckel 2003).
Damit der Begriff des „Lernens“ im Kontext der Essstörung an Transparenz gewinnt, ist es
sinnvoll, zwischen dem physiologischen Zustand des Nahrungsmangels und dem
psychologischen Vorgang im Sinne der Wahrnehmung dieses Mangels als „Hunger“ zu
unterscheiden. Hunger kann neben der physiologischen Dimension auch der Ausdruck einer
33
psychischen Erfahrung sein. Komplexe, unangenehme und zwingende Empfindungen, die
durch einen Nahrungsmangel zustande kommen, führen infolge zur Suche nach Nahrung und
sogar zum Kampf um Nahrung, mit der Aufgabe diese Empfindungen zu eliminieren (vgl.
Bruch 2004).
„Das Wort Hunger wird benutzt, um den physiologischen Zustand des Nahrungsmangels,
schweren Nahrungsentzug, langandauernde Aushungerung oder auch eine weit verbreitete
Hungersnot zu bezeichnen“ (Bruch 2004, S. 66).
„Hunger bedeutet auch eine psychische Erfahrung, nämlich die komplexe, unerfreuliche und
zwingende Empfindung, die ein Individuum hat, wenn keine Nahrung vorhanden ist, und die
zur Suche nach Essbarem und sogar zum Kampf darum führt, um die Qual zu mildern.“
(Bruch 2004, S. 66).
Lernen hat unterschiedliche Ausprägungen und Bedeutungen, weshalb es sinnvoll erscheint,
diesen breit gefächerten Begriff in diesem Kontext von der Verwendung des Terminus
„Lernen“ in den behavioristischen Lerntheorien abzugrenzen. Vertreter dieser Lerntheorie
sehen den Menschen und seinen Geist als eine Art „tabula rasa“ an, auf deren Basis ein
anderer Mensch, nämlich der Experimentator mit Hilfe des Konditionierens von außen
versucht, durch Belohnung oder Bestrafung diesem zu konditionierenden Menschen
differenzierte Leistungsfähigkeiten einzuprägen. Dabei besteht allerdings nicht die
Bedingung, dass diese Leistungsfähigkeiten mit den Bedürfnissen des Menschen kompatibel
sein müssen (vgl. Bruch 2004).
„Wie ich ihn verwende, bezeichnet er die Fähigkeit, angeborene, aber nicht eingeübte
Potentiale, die nur durch interaktionale Erfahrungen organisiert werden können- wie den
aufrechten Gang zu erlernen oder das Nahrungsbedürfnis als Hunger zu erkennen- zu
unterscheiden und einzusetzen“ (Bruch 2004, S. 79).
Johnston (2003) wählt einen anderen Ansatz um die Thematik Hungerwahrnehmung zu
behandeln. Sie weist dabei auf die richtige Deutung, beziehungsweise Fehldeutung der
Körpersignale Hunger und Durst, die von Geburt an in uns existieren, hin. Sie greift den
Begriff „Lernen“ auf, in dem sie sich auf das Verlernen der passenden Reaktion, auf diese
angeborenen Signale, bezieht. Diese erlernte Fehlinterpretation des Signals Hunger oder Durst
entsteht häufig im familiären Kontext und im kulturellen Umfeld. Der prinzipiell klare
Prozess, das Leeregefühl im Magen mit Nahrung zu stillen, wird durch die Anpassung des
Individuums an die Essensgewohnheiten der Familie oder der Kultur angepasst und dadurch
verkompliziert. Verlernen impliziert in diesem Sinne nicht sich mehr auf die eigene Autorität
34
zu verlassen und dem eigenen Körper zu vertrauen. Betroffene orientieren sich folgeschwer
an äußeren Reizen, die als Motiv ebenso Belohnung, Schuldzuweisung, wie auch familiäre
Essensrituale darstellen können (vgl. Johnston 2003).
Resignation als Resultat einer verfälschten Deutung von Hunger und Durst entspricht dem
bereits beschriebenen Gefühl der Ohnmacht. Johnston betont die Notwendigkeit des
Vertrauens in das eigene Körpergefühl und auf das adäquate Reagieren, bezogen auf
Körpersignale, die im Körper entstehen, sowie auf das Bewusstsein, welches den Menschen
befähigt, körperlichen Hunger von emotionalem Hunger zu unterscheiden (vgl. Johnston
2003).
5. Die Psychotherapie als Behandlungs- und Bewältigungsstrategie
5.1. Stationäre vs. ambulante Therapie
„Die Behandlung von Essstörungen gehört zu den aufwendigen psychosozialen Therapien“
(Herzog, Zeeck 2004, S. 82).
In der Praxis wird die Entscheidung ob eine stationäre Therapie erforderlich, ist oder ob eine
ambulante ausreicht, von unterschiedlichen Faktoren abhängig gemacht. Da sowohl die
Anorexia nervosa, wie auch die Bulimia nervosa, die Gefahr einer Chronifizierung birgt, ist
eine stationäre Behandlung aufgrund der medizinischen Komplikationen oft unumgänglich.
Kern und Fundament jeder Therapie bei psychogenen Essstörungen ist eine längerfristige
psychotherapeutische Behandlung, weshalb auch die ambulante Behandlung, wenn sie aus
medizinischer und psychischer Sicht möglich ist, angestrebt wird. Sind die Patientinnen stabil,
bzw. handelt es sich z.B. um eine Patientin mit Bulimia nervosa ohne ausgeprägte psychische
Komorbidität, ist häufig eine ambulante psychodynamische Psychotherapie die Therapie der
Wahl.
Schlussendlich
verfolgt
auch die
stationäre
Therapie
als
Hauptziel,
die
Voraussetzungen für eine langfristige ambulante Therapie zu schaffen (vgl. Herzog 2004,
Nikendei 2004, et al.).
5.1.1. Indikationen bei Anorexia nervosa
„Mangelernährung und Untergewicht haben bei der Aufrechterhaltung der Erkrankung eine
wesentliche Bedeutung. Eine stationäre Behandlung erscheint besonders dann angezeigt,
35
wenn Patientinnen mit einer Anorexia nervosa einen Body- Mass- Index von weniger als 15
erreichen“ (Beisel, Leibl 1997, S. 113).
Neben diesem wesentlichen Entscheidungsfaktor, ist eine stationäre Therapie auch bei einer
ausgeprägten
psychiatrischen
Komorbidität,
z.B.
bei
depressiven
Störungen,
Zwangsstörungen, sozialen Phobien, Persönlichkeitsstörungen und insbesondere bei der
Borderline- Persönlichkeitsstörung zu bevorzugen (vgl. Beisel 1997, Leibl 1997).
Cuntz (1998) und Hillert (1998) sprechen sich im Falle eines ausgeprägten, kachektischen,
vital bedrohten oder mit einer akuten Selbstgefährdung durch suizidale Impulse
einhergehenden Zustandsbildes, auch unter juristischen Gesichtspunkten für eine stationäre
Behandlung aus (vgl. Cuntz 1998, Hillert 1998). Neben diesen hier angeführten Kriterien für
eine stationäre Therapie, ist ein weiteres wesentliches Argument das notwendige Spektrum an
therapeutischen Maßnahmen, welches zur Behandlung schwerer Essstörungen in Form einer
stationären Psychotherapie notwenig ist. Dieses kann nur im Rahmen einer psychosomatischpsychiatrischen Station gewährleistet werden (vgl. Herpertz 2004, Kochhäuser 2004, et al.).
Wie bereits angesprochen, ist die Therapie einer Essstörung ein langer Prozess und eine
stationäre Behandlung ist nur der erste Abschnitt auf dem Weg der Heilung. In dieser Phase
geht es hauptsächlich um die Behandlung einer eventuellen psychischen Komorbidität, um
eine Gewichtssteigerung, bzw. Gewichtsnormalisierung, um die Behandlung somatischer
Komplikationen, um eine Motivationssteigerung und um die Bereitstellung von Informationen
für ein gesundes Essverhalten. Wurde diese Phase erfolgreich bewältigt und abgeschlossen,
sollte eine ambulante Therapie möglichst unmittelbar anschließen (vgl. Herzog 2004,
Nikendei 2004, et al.).
“Vorteil einer ambulanten Therapie bleibt der unmittelbare Bezug zum normalen
Lebensumfeld; die Betroffene kann ihren schulischen oder beruflichen Verpflichtungen
nachkommen und neue Verhaltensweisen unmittelbar umsetzen“ (Cuntz, Hillert 1998, S. 88).
5.1.2. Indikationen bei Bulimia nervosa
Ein meist offensichtlicher Unterschied zwischen Bulimikerinnen und Anorektikerinnen ist das
Gewicht. Patientinnen mit Bulimie sind meist normal- oder idealgewichtig, weshalb eine
stationäre Behandlung oft nicht notwendig ist. Dennoch ist es in manchen Fällen, die
zusätzlich an medizinischen Komplikationen, wie vital gefährdende Elektrolytentgleisungen
oder einer Chronifizierung der Bulimie leiden, bei der die bulimischen Episoden weitgehend
unabhängig von aktuellen intrapsychischen oder interpersonellen Konfliktsituationen im
36
Sinne eines Automatismus erfolgen, unumgänglich sich in stationäre Behandlung zu begeben
(vgl. Herpertz 2004, Kochhäuser 2004, et al.).
„Bulimische Patientinnen bedürfen bei spezialisierten ambulanten Behandlungsmöglichkeiten
nur dann einer stationären Aufnahme, wenn schwerwiegende somatische oder psychische
Komorbidität vorliegt(…)“ (Zeeck, Herzog 1997, S. 73).
Die Familiendynamik in der die Patientin lebt und der Grad der krankheitsbedingten Isolation
innerhalb ihres sozialen Umfeldes, sind für die Indikationsstellung einer stationären
Aufnahme von Bedeutung (vgl. Herpertz 2004, Kochhäuser 2004, et al.).
„Als differenzialdiagnostisch wertvoll hat sich die Unterscheidung in bulimische
Patientinnen mit einer Störung auf neurotischem Entwicklungsniveau gegenüber Patientinnen
mit Ich- strukturellen Störungen erwiesen“ (Herpertz, Kochhäuser 2004, S. 45).
Eine eindeutige und einheitliche Abgrenzung zwischen stationärer und ambulanter Therapie
scheint weder für die Anorexie noch für die Bulimie möglich zu sein. Viele
Rahmenbedingungen müssen bei der Entscheidung berücksichtigt und zu Beginn abgeklärt
werden. Beide therapeutischen Varianten der Behandlung haben Vor- und Nachteile. Beisel
(1997) und Leibl (1997) halten es für sinnvoll die Vorzüge beider Behandlungsangebote
miteinander zu verknüpfen. „Da im Rahmen einer stationären Behandlung nur relativ kurze
Therapiezeiten zur Verfügung stehen, können natürlich diese Problembereiche nur in ihrer
Funktionalität aufgedeckt und Verhaltensänderungen eingeleitet werden“ (Beisel, Leibl 1997,
S. 114). Eine ambulante Fortführung der stationären Therapie erscheint deshalb für eine
dauerhafte Stabilisierung des Krankheitsbildes, sowie den Transfer der erreichten
Therapieziele in den Alltag, als erforderlich (vgl. Beisel 1997, Leibl 1997). Der Übergang von
einer stationären Therapie in eine ambulante sollte sorgfältig als langfristige Therapie geplant
werden. Zu bedenken ist, dass die Patientin sich durch die Entlassung aus der stationären
Behandlung einem abrupten Wechsel des Alltags unterzieht. Weg von einem intensiven
Kontakt-,
Hilfs-
und
eigenverantwortlichen
Strukturierungsangebot
Aufnahme
eines
im
in geschützter
Gegensatz
dazu
Umgebung,
relativ
hin
zur
begrenzten
Therapieangebots (vgl. Zeeck 1997, Herzog 1997).
„ Der Übergang wird erleichtert durch ambulante eßzentrierte Pflegegespräche und bei
Bedarf Familiengespräche“ (Zeeck, Herzog 1997, S. 85).
37
Nun möchte ich zwei unterschiedliche Therapieansätze vorstellen. Anhand dieser beiden
therapeutischen Optionen, soll das stationäre und das ambulante Setting an konkreten
Beispielen verdeutlicht werden.
5.2. Stationäre psychodynamische multimodale Psychotherapie
Wie der Name schon sagt, wird hier multimodal gearbeitet. Das bedeutet, dass aufgrund der
fehlenden Eingrenzbarkeit einer „richtigen“ Psychotherapie bei Essstörungen mehrere
Ansätze genützt werden. Mittlerweile besteht Konsens darüber, dass die Genese von
Essstörungen als multifaktorielles Krankheitsgeschehen zu verstehen ist. Es ist nicht möglich
auf dem Weg der Genesung und der Therapie innerseelisch-psychodynamisch, psychosoziale,
soziokulturelle und biologische Faktoren voneinander zu trennen und gleichzeitig eine
Verbesserung des Gesundheitszustandes zu erwarten. „Die Behandlung der Psychopathologie
unter
psychodynamischen
Gesichtspunkten
ergibt
nur
in
der
Verbindung
mit
symptomorientierten Therapiestrategien (Veränderung des Essverhaltens) ein sinnvolles,
komplementäres Ganzes“ (Herpertz, Kochhäuser et al. 2004, S. 40). Im Fokus der
multimodalen Therapie befinden sich die Bearbeitung des innerseelisch- psychodynamischen
Konfliktgeschehens sowie des familiären und psychosozialen Umfelds und die Rückkehr zu
einer normalen Verhaltensweise (vgl. Herpertz 2004, Kochhäuser 2004 et al.)
5.3. Ambulante kognitive Verhaltenstherapie
Die letzten Jahre haben dazu gedient die Effektivität kognitiv- behavioraler Therapien in der
Behandlung von Essstörungen zu belegen, sodass man von einem Standardtherapieverfahren
sprechen kann. Benninghoven (1997) und Liebeck (1997) beschreiben ein Drei- PhasenModell
des
Vorgehens.
problemlösungsorientierte
Weiters
charakterisieren
Grundhaltung
mit
sie
eine
besonderer
ressourcen-
und
Betonung
des
Selbstmanagementcharakters (vgl. Benninghoven 1997, Liebeck 1997). Die Anwendung des
Verfahrens kann grundsätzlich im stationären, als auch im ambulanten Setting durchgeführt
werden.
Der
Vorteil
der
ambulanten
Therapie
ist
jedoch,
dass
erfahrene
Verhaltenstherapeuten vor Ort verlangt werden, wodurch die Einbeziehung der Familie und
wesentlicher Bezugspersonen bei einzelnen Therapieschritten erleichtert wird. Im stationären
Setting ist diese Intensität der Miteinbeziehung kaum möglich.
38
Die zu Beginn angesprochenen drei Phasen lassen sich wie folgt differenzieren:
1. ausführliche
diagnostische
Phase
(problemorientiertes
Eingangsgespräch,
Verhaltensanalyse, Identifizierung aufrechterhaltender Bindungen, die die Störung
bedingt und Festlegung der Therapieziele)
2. Veränderungsphase, in der auf der Grundlage der Verhaltensanalyse die angestrebten
Veränderungen umgesetzt werden
3. Abschlussphase, die im Wesentlichen einer Rückfallprophylaxe dient und die
Patientin systematisch auf spezifische Aspekte und Probleme der Beendigung der
Therapie vorbereitet.
Allgemeine Überlegungen zur Therapeut- Patientin- Interaktion sind in Hinblick auf die
Strukturierung des therapeutischen Vorgehens zu machen. Der Therapeut hat sich zwar
aufgrund seiner gesamten methodischen und inhaltlichen Kompetenz einzubringen,
schlussendlich ist es aber die Patientin, die mit Hilfe der Methode des geleitenden Entdeckens
Hypothesen bildet, sowie Einzelereignisse und komplexe Zusammenhänge interpretiert (vgl.
Benninghoven 1997, Liebeck 1997).
„Unter geleitetem Entdecken ist zu verstehen, dass der Therapeut auf der strukturellen Ebene
die Patientin so führt, dass sie selbst die wichtigen Schlussfolgerungen erkennen kann. Ein
derartiges Vorgehen erfordert vor allem, dass sich das therapeutische Vorgehen an den
Kompetenzen der Patientin orientiert“ (Benninghoven, Liebeck 1997, S. 107).
Welche Art der Psychotherapie gewählt wird und ob diese im stationären oder ambulanten
Setting stattfinden soll, ist schlussfolgernd aus diesem Kapitel mit der Berücksichtigung der
Individualität jeder einzelnen Patientin zu beantworten. Die Bedürfnisse und Notwendigkeiten
der Patientin, die für die Therapie ausschlaggebenden Bedingungen, wie sie in diesem Kapitel
dargstellt wurden und nicht zuletzt die institutionellen Rahmenbedingung sind in Summe für
die Entscheidungen zu einer bestimmten Therapie relevant.
„Als gemeinsames Grundprinzip gilt jedoch für die Anorexie wie auch für die Bulimie, dass
die Basis für jede Psychotherapie ein körperlicher Allgemein- und Ernährungszustand ist, der
eine vitale Gefährdung ausschließt und eine ausreichende mentale Leistungsfähigkeit für eine
Psychotherapie gewährleistet“ (Herpertz, Kochhäuser et al. 2004, S. 41).
39
6. Schlussfolgerung
Das Anliegen dieser Arbeit war es zwei Fragestellungen in das Zentrum des Interesses zu
stellen und diese zu untersuchen. Es ging einerseits um die Frage welche Ursachen dazu
führen, dass Mädchen und junge Frauen einen pathologischen Umgang mit Nahrung, im
Sinne einer Essstörung entwickeln? Die Limitation auf Mädchen und junge Frauen erfolgte
aufgrund ihrer primären Betroffenheit bezüglich Essstörungen und infolge ihrer erhöhten
Vulnerabilität innerhalb des Entwicklungsprozesses. Die Ätiologie und die Pathogenese von
Essstörungen werden nicht durch einen einzelnen Faktor bestimmt, sondern durch mehrere
Ursachen. Reich (2003) beschreibt die Entstehung von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
daher als multikausales Geschehen. Aufgrund dieser Tatsache, entwickeln sich Essstörungen
nicht allein aufgrund biologischer und genetischer Faktoren, sondern sind auch wesentlich
durch soziale, familiäre und psychodynamische Aspekte beeinflusst (vgl. Reich 2003). Auch
andere Autoren betonen die Tendenz hin zu einer Komplexität von Interaktionsmustern.
Bruch (2004) nennt es eine dynamische Interaktion multivariabler Systeme (vgl. Bruch 2004).
Die soziokulturelle Bedingtheit von Essstörungen und besonders in diesem Zusammenhang
die Rationalisierung von zwischenmenschlichen Prozessen und die darin integrierten Affektund Körperkontrolle erscheinen als wesentliche Aspekte der soziokulturellen Gegebenheiten.
Böhme- Bloem (1996) bezieht sich dabei auf ein Individuum, das die Befriedigung seiner
Bedürfnisse immer mehr aus seinem Selbstbild, als aus einem Beziehungsgefüge gewinnt
(vgl. Böhme- Bloem 1996). Reich (2003) bezeichnet Störungen des „Körperschemas“, die als
weiterer Aspekt in der Pathogenese von Essstörungen zu nennen sind, als wesentliche
Indikatoren und Kennzeichen von Essstörungen (vgl. Reich 2003). Selbstwert und Selbsthass
nehmen für sich ebenso einen beträchtlichen Wert an Bedeutsamkeit an. Göckel (2003) weißt
darauf hin, dass Selbsthass das größte Hindernis bei der Überwindung einer Essstörung ist, er
ist der Kern einer Essstörung. Im Gegensatz dazu sieht sie das Urvertrauen in die Mutter,
deren Zuverlässigkeit und Funktionieren als Fundament des Selbstvertrauens (vgl. Göckel
2003). Essstörungen fallen unter anderem in die Kategorie der Suchtstörungen. Funktionieren
und Kontrolle sind in diesem Zusammenhang zwei beeinflussende Begriffe. Rost (2008)
betont jedoch die Notwendigkeit der Abgrenzung des Sucht- Begriffs. Zu häufig wird der
Begriff Sucht wahllos auf unterschiedliche Verhaltensweisen angewendet. Er bevorzugt den
Terminus der süchtigen Grundhaltung, die bei Essstörungen vorhanden ist. Die Tendenz geht
in Richtung „Polytoxikomanie“. Dies bedeutet, dass Süchte immer seltener isoliert auftreten,
als in Kombination mit anderen Süchten (vgl. Rost 2008). Die Differenzierung anhand
40
psychoanalytischer Konzepte hat ergeben, dass die süchtige Persönlichkeit oder die
spezifische Entwicklung einer Sucht nicht existiert. Vielmehr vertritt man heutzutage die
Ansicht, dass Süchte innerhalb psychischer Störungen zeitweise als Symptom auftreten
können
(vgl.
Rost
2008).
Hinsichtlich
der
Psychodynamik
stehen
Abgrenzung,
Körperkontrolle, Abwehrmechanismen und die Mutter- Tochter Beziehung im Mittelpunkt.
Neben diesen sind auch Begriffe wie Trennungskonflikte, die Abwehr von Sexualität und
Autonomiegefühl von zentraler Bedeutung. Die soziokulturelle Position der Frau und der
mediale Einfluss auf diese sollte an dieser Stelle ebenso betont werden. Sexualität, deren
Stellenwert sich im Laufe der Entwicklung, besonders in der Pubertät verändert, wurde bis
jetzt nur mäßig beachtet, obwohl sie beträchtlichen Einfluss auf Beziehungen zu engen
Bezugspersonen und Freunden hat, sowie auf den Umgang mit sich selbst. Essgestörte
verlieren häufig im Zuge des Leistungsanspruches, der Erfüllung von Aufgaben und Pflichten
das Bedürfnis nach Sexualität. Dieser Verlust bezieht sich bei Anorektikerinnen auf das
Interesse an romantischer Liebe und sexuellen Erlebnissen, bei Bulimikerinnen eher auf die
sexuelle Erlebnisfähigkeit und auf die Nichterfüllung der Bedürfnisse des Partners (vgl. Reich
2003). Hunger als nächster wichtiger Bezugspunkt in der Erkennung und Behandlung von
Essstörungen ist klarerweise ein konfliktbehaftetes Thema für Essgestörte. Sie haben
Schwierigkeiten, diesen wahrzunehmen und zu deuten bzw. zu interpretieren. Die zentrale
Bedeutung von Hunger liegt jedoch nicht
in der Aufrechterhaltung essentieller
Körperfunktionen. Er wird missbräuchlich in den Dient gestellt emotionale Bedürfnisse zu
kompensieren, die nichts mit der Ernährung zu tun haben (vgl. Bruch 2004). Hunger
beschreibt somit nicht nur einen physiologischen Zustand, sondern er steht ebenso mit dem
eigenen Körpergefühl in Beziehung und mit der Selbstwahrnehmung und ist gleichzeitig ein
Lernprozess, bei dem es darum geht dem eigenen Körper und seinen Bedürfnissen wieder zu
vertrauen lernen. Dieser Lernprozess stellt eine der schwierigsten Aufgaben innerhalb der
Bewältigung einer Essstörung dar. Weiters weißt die Existenz von Essstörungen auf die
Multikausalität hin, durch die sie bedingt sind. Nun zur zweiten Fragestellung und somit zur
Psychotherapie als Behandlungsform von Essstörungen in unterschiedlichen Settings. Die
untersuchte Fragestellung war in diesem Zusammenhang welche Form der Psychotherapie im
Sinne der Wahl des Settings als effizient zur erfolgreichen Behandlung von Essstörungen
angesehen wird? Grundsätzlich besteht die Auswahl zwischen einer stationären und einer
ambulanten Behandlung. Die Entscheidung welche als angebracht erscheint, ist wiederum von
verschiedenen Faktoren abhängig. Primär geht es dabei um die medizinische Verfassung der
Patientin, die es in Abhängigkeit vom fortschreitenden Stadium der Erkrankung eine
41
stationäre oder ambulante Behandlung erlaubt. Weiters ist die psychiatrische Komorbidität
wie z.B. eine Depression ausschlaggebend. Beide Behandlungssettings haben Vor- und
Nachteile. Der Bezug zum unmittelbaren Lebensumfeld, der häufig sehr wichtig für den
Heilungsprozess ist, ist im Gegensatz zur stationären Therapie bei der ambulanten
Behandlung gegeben. Möglichkeit einer stationären Therapie wäre die psychodynamische
multimodale Psychotherapie, die wie der Name vermuten lässt mehrere Therapieansätze in
den Behandlungsprozess einfließen lässt und das multifaktorielle Krankheitsgeschehen
wiederum berücksichtigt. Bei der ambulanten Therapie fällt die Wahl häufig auf die kognitive
Verhaltenstherapie.
7. Diskussion
Hinsichtlich des Einflusses biologischer und genetischer Faktoren, dem häufig relativ wenig
Beachtung geschenkt wird, wurde im Rahmen dieser Arbeit festgestellt, dass das Fehlen von
Adoptionsstudien eine gewisse Limitation verursacht. Der Beitrag von Umwelteinflüssen auf
die Entwicklung der Konkordanz kann somit nicht genau abgeschätzt werden. Die Rolle von
Neurotransmitter und deren komplexe Interaktion mit dem Essverhalten verlangt nach
weiterer Aufmerksamkeit, sowie nach der Differenzierung von Ursache und Wirkung
bezüglich genetisch bedingter Prädispositionen (vgl. Reich 2003). An dieser Stelle ist es
meiner Meinung wichtig, weder den biologisch- genetischen Anteil, noch den sozialpsychischen Anteil isoliert zu betrachten. Biologische, psychische und soziale Kräfte stehen
ständig miteinander in einer Wechselbeziehung. Besonders die ambivalente Mutter- Tochter
Beziehung, die vor allem bei der Bulimie als Charakteristikum in Erscheinung tritt, sollte
noch mehr Beachtung geschenkt werden und ihre Wirkung noch detaillierter untersucht
werden. Dem eigenen Körper zu vertrauen und zu lernen seine Bedürfnisse richtig zu deuten
und danach zu handeln ist meiner Meinung nach die Essenz der Heilung jeglicher Form der
Essstörung. In der Erkennung, wie auch in der Behandlung sollte diese Interaktionen der
verschiedenen Dimensionen des Menschen und seines Lebens berücksichtigt werden und
immer wieder als Interessenskern Beachtung finden. Wie die Autoren vorschlagen, halte ich
es ebenfalls für äußerst sinnvoll beide Behandlungskonzepte miteinander zu verknüpfen bzw.
diese in einander übergehen zu lassen. Ich sehe die Entscheidung abhängig von der Phase der
Erkrankung, dem Funktionieren des sozialen Umfeldes und der Bereitschaft der Eltern und
der Familie sich in den Behandlungsprozess zu integrieren. Im Kontext der Therapiewahl
42
steht aus meiner Sicht die Individualität der Patientin im Vordergrund. Ich denke nicht, dass
es ein pauschales Konzept oder Therapieverfahren gibt, da diese hier behandelte
psychosomatische Störung keinerlei Kontinuität in ihrer Entstehung und Behandlung
aufweist.
Ebenso
ist
auch
der
Mensch
hinsichtlich
seiner
innerseelischen
und
psychodynamischen Prozesse nicht von Konstanz gezeichnet und bedarf einem individuellen
und alle beeinflussenden Faktoren berücksichtigenden Behandlungskonzept, das von einer
stimmigen Therapeut- Patientin- Interaktion geleitet werden soll.
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