Christian Kopetzki

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Zitiervorschlag:
Kopetzki, Grundrechtliche Aspekte der Biotechnologie am
Beispiel des „therapeutischen Klonens“, in: Kopetzki/Mayer
(Hrsg), Biotechnologie und Recht, Veröffentlichungen des
Ludwig-Boltzmann-Institutes für Gesetzgebungspraxis und
Rechtsanwendung, Band 11, Verlag Manz, Wien 2002, S. 15-66
[Aus technischen Gründen weicht der Seitenumbruch
geringfügig von jenem des Originals ab.]
Grundrechtliche Aspekte der Biotechnologie
am Beispiel des „therapeutischen Klonens“
Christian Kopetzki
I. Einleitung
Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der Biotechnologie sind so
vielfältig wie der Begriff der Biotechnologie selbst. Versteht man unter „Biotechnologie“ Verfahrensweisen und Techniken, die lebende Organismen zur
Produktion nützlicher Substanzen einsetzen, dann spannt sich der thematische
Bogen von der gentechnischen Herstellung von Arzneimitteln über bestimmte
Methoden der Tierzucht bis hin zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung
oder dem Klonen von embryonalen Stammzellen zur therapeutischen Gewebszüchtung. Es leuchtet ein, dass sich für dieses breite Feld an Sachverhalten
keine einheitlichen verfassungsrechtlichen Aussagen treffen lassen.1)
Die folgenden Überlegungen beschränken sich daher auf einen sehr engen, wenngleich aktuellen Schwerpunkt, nämlich auf die grundrechtliche Beurteilung2) der Gewinnung embryonaler Stammzellen zum Zweck des „thera1) Zu grundlegenden Verfassungsfragen der Gentechnologie vgl Huber/Stelzer,
Öffentlich-rechtliche Rechtsfragen der Gentechnologie, in: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hrsg), Gentechnologie im österreichischen Recht (1991) 1
(23 ff); Schlag, Die Herausforderung der Biotechnologie an die österreichische allgemeine Grundrechtsdogmatik, ÖJZ 1992, 50.
2) Zur einfachgesetzlichen Rechtslage vgl den Beitrag von Miklos. Während die
Verwendung befruchteter Eizellen gem § 9 Abs 1 FMedG zu forschenden oder therapeutischen Zwecken untersagt ist, steht das „therapeutische Klonen“ – mangels eines
hinreichend begründbaren Verbots – de lege lata jedenfalls nicht unter Strafsanktion:
Das Verbot von Eingriffen an entwicklungsfähigen Zellen gem § 9 Abs 1 FMedG
bezieht sich wegen der eindeutigen Legaldefinition des § 1 Abs 3 FMedG nur auf „befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen“; dies trifft – mangels Befruchtung –
bei der Methode des Kerntransfers von vornherein nicht zu. Auch § 9 Abs 1 FMedG
letzter Satz, der dieses Manipulationsverbot auf sämtliche Keimzellen (Eizellen und
Samenzellen) ausdehnt, steht dem therapeutischen Klonen durch Kerntransfer nicht
entgegen, weil dieses Verbot nur dann zum Tragen kommt, sofern diese Zellen „für
medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet werden sollen“. Eine analoge
Anwendung auf entwicklungsfähige Zellen, die durch Kerntransfer gewonnen wurden,
scheitert wegen der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung des FMedG nicht nur
am klaren Wortlaut sowie dem strafrechtlichen Analogieverbot (vgl auch BTDrucksache 13/11263 v 26. 6. 1998), sondern auch daran, dass es an einer analogiefä-
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peutischen Klonens“.3) Dabei geht es – vereinfacht dargestellt – um die Übertragung des Zellkerns einer Körperzelle in eine entkernte weibliche Eizelle
(„Dolly-Methode“). Einige (wenige) der dadurch entstehenden Zellen entwickeln sich – mit Hilfe chemischer oder physikalischer Stimulation – wie ein
befruchteter Embryo durch Zellteilung weiter. In der Folge sollen aus diesem
entwicklungsfähigen Embryo in der Frühphase toti- bzw pluripotente embryonale Zellen entnommen werden, aus denen dann – möglicherweise – unterschiedliche Gewebsstrukturen zum Zweck des Gewebsersatzes ausdifferenziert
werden können, die mit dem Zellspender (weitgehend) genetisch identisch
sind4) und die daher keine immunologischen Abstoßungsreaktionen auslösen.
Da diese Zellen zumindest in der Anfangsphase noch die Fähigkeit zur Bildung eines gesamten Organismus („Totipotenz“) besitzen, könnte durch Implantation des geklonten Embryos in eine Gebärmutter theoretisch auch ein
neuer Mensch geboren werden. Die terminologische Unterscheidung zwischen
„reproduktivem“ und „therapeutischem“ Klonen orientiert sich somit an der
unterschiedlichen Zielsetzung und der weiteren Verwendung der Zellen. Im
ersten Fall soll ein Mensch geklont, im zweiten Fall embryonale Zellen gezüchtet werden.5)
II. Grundrechtliche Aspekte
Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion über die Embryonenforschung im Allgemeinen und das „therapeutische Klonen“ im Besonderen steht die Frage nach den grundrechtlichen Rahmenbedingungen solcher
Techniken. Während Eingriffe im Frühstadium embryonaler Entwicklung den
einen als Angriff auf die Substanz der europäischen Menschenrechtstradition
und als „Niederlage für die Menschheit“6) insgesamt erscheinen, sehen andere
higen Lücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes fehlt: Der
Gesetzgeber des FMedG wollte biomedizinische Techniken, die mit der menschlichen
Fortpflanzung nichts zu tun haben, von einer Normierung im Rahmen des FMedG
überhaupt ausnehmen (vgl RV 216 BlgNR 18. GP 10). Ohne hinreichende Begründung
für die Ableitung eines Verbots des therapeutischen Klonens aus dem FMedG hingegen
Eder-Rieder, Vorbem zu §§ 96-98 StGB, in WK2 (23. Lfg 2001) Rz 19; Harsieber,
Geklont und verdammt? ÖÄZ 2001/4, 33; Prat, Stammzelltherapie aus ethischer Sicht,
Imago hominis 2001/2, 121 (123).
3) Vgl Lanza et al, Human therapeutic cloning, Nature Medicine 5 (1999) 975;
Cibelli et al, The first human embryo cloned, Scientific American 2002/1.
4) Wegen der in der entkernten Eizelle verbleibenden mitochondrialen DNA – sie
macht einen quantitativ verschwindenden Bruchteil des Gesamtgenoms aus – stimmt
die Erbinformation des Embryos nicht ganz mit jener des Zellspenders überein.
5) Noiville, Embryon humain et clonage, Revue générale de droit médical, Numéro spécial: La recherche sur l’Embryon: qualifications et enjeux (2000) 135 (137): „Il
s’agit de cloner de cellules pour obtenir non plus des êtres humains, mais du matériel
biologique“.
6) Vgl – unter Zitierung eines Vatikansprechers – Schönbauer, „Niederlage für die
Menschheit“, Der Standard, 27. 11. 2001, 2.
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im Verbot der Embryonenforschung eine „unchristliche Perversion“ zu Lasten
neuer Heilungschancen.7) Es erscheint daher lohnend, den grundrechtlichen
Spielraum bei der Verwendung menschlicher Embryonen für Forschungs- und
Therapiezwecke näher zu beleuchten.
Dass die Grundrechte der medizinischen Forschung am Menschen oder
der Gewinnung menschlicher Körpersubstanzen zu Zwecken Dritter enge
Grenzen setzen, ist zunächst evident: Zentrale Bestimmungen grundrechtlichen
Inhalts – etwa in der EMRK oder im UN-Weltpakt über bürgerliche und politische Rechte – verdanken ihre Entstehung nicht zuletzt den menschenverachtenden Wissenschaftspraktiken im Nationalsozialismus und richten sich schon
von ihrer historischen Zielsetzung her nicht nur, aber jedenfalls auch gegen
Missbräuche der medizinischen Forschung.
Mögen die genauen grundrechtlichen Schranken im Detail mitunter noch
unklar sein, so ist doch ihre systematische Verortung mit hinreichender Sicherheit auszumachen: Sie ergeben sich aus jenen Grundrechten, welche die
menschliche Person und ihre Integrität schützen. Das sind im wesentlichen die
Art 2, 3 und 8 EMRK. Zwangsweise Versuche werden überdies durch Art 7
Abs 2 des UN-Weltpaktes kategorisch verboten. Daraus lässt sich im Ergebnis
eine Bindung der biomedizinischen Forschung an den Grundsatz des „informed consent“ und somit auch ein Verbot zwangsweiser Experimente ableiten.8) Unterhalb der Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art 3 EMRK und zur Lebensgefährdung (Art 2 EMRK)
besteht zwar aufgrund des Gesetzesvorbehalts zu Art 8 EMRK ein gewisser
Spielraum für Ausnahmen, doch sind die daraus erwachsenden Rechtfertigungsmöglichkeiten für „konsenslose“ Eingriffe am Menschen im öffentlichen
Interesse sehr eng. Vereinfacht und pointiert formuliert: Die Menschenversuche des „Dritten Reichs“ sind nach heutigen rechtlichen Maßstäben selbstverständlich verfassungs- und völkerrechtswidrig.
Für die verfassungsrechtlichen Grenzen der Forschung an bzw der Nutzung von Embryonen für therapeutische Zwecke lassen sich daraus nur dann
tragfähige Schlussfolgerungen ziehen, wenn und soweit das vorgeburtliche
Leben in der Frühphase der Entwicklung vom Schutzbereich der genannten
(oder gleichgerichteter) Grundrechte erfasst wird (vgl unten A, B und C). Im
Anschluss daran wird zu prüfen sein, ob es möglicherweise grundrechtliche
Argumente für die Zulassung der Embryonenforschung bzw der Nutzung embryonaler Zellen gibt (D, E). Abschließend werden einige völkerrechtliche Rahmenbedingungen analysiert, die sich insb aus der Biomedizinkonvention des
Europarates (MRB) ergeben könnten (III).
Bevor auf die einzelnen Grundrechte näher einzugehen ist, sei vorausgeschickt, dass die Frage nach dem Beginn des verfassungsrechtlichen Lebens-
7) Lingens, Moralisch korrekte Zelle. Die Fristenlösungsdiskussion hat ein neues
Kleid – die Fronten bleiben die alten, Profil v 28. 5. 2001, 144: „Ich behindere die
Rettung von Menschen, indem ich die Rechtspersönlichkeit von Zellgebilden schütze“.
8) Zusammenfassend Kopetzki, Unterbringungsrecht I (1995) 396 ff.
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schutzes weder eine ethische9) oder religiöse10) noch eine naturwissenschaftliche Frage ist, sondern eine Frage der Verfassungsinterpretation. Dass diese –
wie sich zeigen wird – zu erheblich anderen Ergebnissen führt als die herrschende deutsche Lehre, hat nicht nur mit unterschiedlichen Traditionen der
Grundrechtsinterpretation,11) sondern auch mit einer abweichenden Verfassungsrechtslage zu tun.
9) Vgl zur (rechts)ethischen Beurteilung aus ganz unterschiedlichen Positionen
und mit erwartungsgemäß divergierenden Ergebnissen zwischen strikter Ablehnung
und weitgehender Bejahung der Embryonenforschung (in dieser Reihenfolge abnehmenden Schutzniveaus) statt vieler zB Naumann, Der Staat und die Heiligkeit des
Lebens, Die Zeit Nr 26 v 21. 6. 2001, 9; Spaemann, Gezeugt und nicht gemacht, Die
Zeit Nr 4 v 18. 1. 2001, 37; Hösle, Heilung um jeden Preis? Die Zeit Nr 10 v 1. 3. 2001,
36; Türcke, Der schmale Grat der Demut, Die Zeit Nr 7 v 8. 2. 2001; Körtner, Die
Würde des Menschen – unantastbar? Über die rechtliche und moralische Stellung von
Embryonen, in: ders, Unverfügbarkeit des Lebens (2001) 103; Schöne-Seifert, Von
Anfang an? Die Zeit Nr 9 v 22. 2. 2001, 41; Merkel, Rechte für Embryonen? Die Zeit
Nr 5 v 25. 1. 2001, 37; Bernat, Der menschliche Keim als Objekt des Forschers.
Rechtsethische und rechtsvergleichende Überlegungen, in: Bender/Gassen/Platzer/
Seehaus (Hrsg), Eingriffe in die menschliche Keimbahn (2000) 57; Wetz, Die Würde
des Menschen ist antastbar (1998) 297 ff; Kuhlmann, Politik des Lebens – Politik des
Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie (2001) 61 ff. Zur Bedeutung dieses
ethischen Pluralismus für die Rechtspolitik Huster, Bioethik im säkularen Staat, Z phil
Forschung 55 (2001) 258.
10) Vgl dazu die nicht weniger vielfältigen Positionen der Religionsgemeinschaften zur Embryonenforschung, deren Palette von strikter Ablehnung (so die katholische:
zB Deutsche Bischofskonferenz, Imago hominis 2001/2, 148) über Kompromiss- und
Abwägungsbereitschaft (so die evangelische: zB Körtner, Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin [2001] 19 ff) bis hin zur
moralischen Indifferenz hinsichtlich des frühen extrakorporalen embryonalen Lebens
(so zB die jüdische Tradition: zB Rabbi Moshe Dovid Tendler, Stem Cell Research and
Therapy: A Juedo-Biblical Perspective, in: US-National Bioethics Advisory Commission, Ethical Issues in Human Stem Cell Research III [2000] H-3) reicht.
11) Dazu Grimm, Die Fristenlösungsurteile in Österreich und Deutschland, JBl
1976, 74; vgl auch Luf, Menschenrechte, in: Korff ua (Hrsg), Lexikon der Bioethik II
(1998) 679 (681). Zur methodischen Diskussion um „Schrankentheorie“ und „Werttheorie“ der Grundrechte auch Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529 = in: ders, Staat, Gesellschaft, Freiheit (1976) 221. Solche
idealtypischen Polarisierungen sollten nicht vergessen lassen, dass „Grundrechtstheorien“ zwar gewisse methodische Vorverständnisse sichtbar machen, nicht jedoch eine
für die „gesamte“ Grundrechtsordnung zutreffende Auslegungsanleitung bieten können.
Die Frage nach der normativen Bedeutung bleibt für jedes Grundrecht gesondert zu
beantworten. Sofern man auf ein grundrechtstheoretisches Bekenntnis dennoch nicht
verzichten möchte: Die Auffassung von den Grundrechten als Eingriffsschranken und
Rahmenordnung (zur Begründung Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, 457) ist in Österreich
nicht nur vorherrschend, sondern beschreibt hinsichtlich der Freiheitsrechte auch am
ehesten den dem österreichischen Verfassungsrecht adäquaten methodischen Zugang:
statt vieler Korinek, Das Grundrecht der Freiheit der Erwerbsbetätigung als Schranke
für die Wirtschaftslenkung, FS Wenger (1983) 243 (250); Öhlinger, Die Grundrechte in
Österreich, EuGRZ 1982, 216 (224); Walter, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle in Österreich, in: Vogel (Hrsg), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
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A. Recht auf Leben
Nicht nur wegen der Ausstrahlungswirkung der deutschen Verfassungsdiskussion liegt der Schwerpunkt der grundrechtlichen Auseinandersetzung
zum Thema „therapeutisches Klonen“ und „Embryonenforschung“ beim Recht
auf Leben. Der aktuelle Diskurs bewegt sich dabei auch in Österreich auf argumentativen Pfaden, die seit den Auseinandersetzungen über den Schwangerschaftsabbruch in den siebziger Jahren und über das Fortpflanzungsmedizingesetz in den achtziger Jahren hinreichend ausgetreten sind:
1. Allgemeines
Die zentrale Frage geht dahin, ob – und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt –
auch ungeborenes menschliches Leben in den Schutzbereich des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Leben fällt. Was die positivrechtliche
Grundlage dieses Rechts betrifft, so kann man sich im gegebenen Zusammenhang auf Art 2 EMRK beschränken: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt“ (Art 2 Abs 1 EMRK). Der Schutz des Lebens
gem Art 63 Abs 1 des StV von Saint Germain12) stellt demgegenüber nur eine
spezielle Ausformung des Gleichheitssatzes dar, ohne den sachlichen Schutzbereich des Lebensschutzes weiter zu ziehen.13) Außerdem erstreckt sich sein
persönlicher Geltungsbereich nur auf „Einwohner“, was einer Ausdehnung auf
Ungeborene schon sprachlich entgegensteht.14)
Darüber hinaus enthält – abgesehen vom Verbot der Todesstrafe in Art 85
B-VG und im 6. ZPMRK – weder das B-VG noch das StGG 1867 ein eigenständiges Recht auf Leben. Versuche, etwa aus dem Recht auf persönliche
Freiheit gem Art 8 StGG 1867 ein „stillschweigend vorausgesetztes“ Recht auf
Leben abzuleiten,15) haben sich zurecht nicht durchgesetzt,16) weil Art 8 StGG
(1971) 1 (17 ff); jüngst wieder ausführlich Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten (1997) 114 ff. Die österreichische Tradition der Grundrechtsinterpretation trägt – schon wegen ihrer skeptischen Haltung gegenüber dem Einfließen außerrechtlicher (insb moralischer) Wertungen – eher „positivistische“ Züge (vgl Walter ibid
2). Dass eine solche – der Beschreibung des positiven Rechts und nicht einer materialen
Wesensschau verpflichtete – Rechtswissenschaft dennoch kein inhaltsleerer Formalismus, sondern immer auch Rechtsinhaltsbetrachtung (und insofern zwangsläufig
Wertbetrachtung) sein muss, hat Winkler (Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen
[1969]) nachdrücklich gezeigt.
12) Art 63 Abs 1 StV v Saint Germain: „Österreich verpflichtet sich, allen Einwohnern Österreichs ohne Unterschied der Geburt, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse
oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren.“
13) MwN Kneihs, Das Recht auf Leben in Österreich, JBl 1999, 76.
14) Vgl schon VfSlg 7400/1974; Marschall, Grundsatzfragen der Schwangerschaftsunterbrechung im Hinblick auf die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte
auf Leben, JBl 1972, 497 (508); 548.
15) ZB Adamovich/Spanner, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts6
(1971) 521 f.
16) Dagegen zB Novak, Das Fristenlösungs-Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, EuGRZ 1975, 197 (198); Holoubek, Gewährleistungspflichten
311 f; Kneihs, JBl 1999, 76. Mit der Berufung auf die „Logik“ lässt sich ein solches
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unter dem Titel der „persönlichen Freiheit“ seit jeher nur die Bewegungsfreiheit schützt17) und auch das StGG insgesamt viel zu zersplittert und kompromisshaft ist, als dass es sich „über eine Sammlung von Einzelpositionen des
Grundrechtsschutzes zu einer geschlossenen und umfassenden Wertordnung
hochstilisieren ließe“.18)
2. Meinungsstand
Die Antwort der österreichischen Höchstgerichte ist in diesem Punkt eindeutig: Nach übereinstimmender Auffassung des VfGH19) und des OGH20)
bezieht sich der Schutzbereich des Art 2 EMRK nicht auf das ungeborene
Leben. „Mensch“ iSd Art 2 EMRK ist nur der geborene Mensch. Ein großer
Teil der Lehre folgt dieser Auffassung und lehnt die Anwendung des Art 2
EMRK auf vorgeburtliche Entwicklungsstadien ab.21) Andere Autoren nehmen
eine mehr oder weniger weit gehende Einbeziehung ungeborenen Lebens in
den Schutzbereich des Art 2 EMRK an, bejahen dies aber erst ab gewissen
Recht nicht begründen, so aber Lewisch, Menschenwürde Forschungsinteresse preisgegeben? Der Staatsbürger 1988/3, 12 FN 10.
17) MwN Kopetzki, Unterbringungsrecht I 240 f.
18) Öhlinger, EuGRZ 1982, 224 f.
19) VfSlg 7400/1974.
20) OGH 25. 5. 1999, 1 Ob 91/99k, RdM 1999/23, 182.
21) Vgl mwN bereits Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention (1968)
47 (es läge „nicht der geringste Anhalt dafür vor, dass man bei Art 2 an den Schutz des
nasciturus gedacht hat“); Pfeifer, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für Österreich, FS Hugelmann I (1959) 399 (424) („denn der Embryo ist
noch kein fertiger Mensch“); Tretter, Art 2 MRK, in: Ermacora/ Nowak/ Tretter (Hrsg),
Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte (1983) 83 (103 ff); Machacek, Das Recht auf Leben in Österreich, EuGRZ 1983, 453 (466); Rosenzweig, Drei Verfassungsgerichte zur Fristenlösung, FS Broda (1976) 231 (237 ff, 264 ff); Stolz, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Gentechnologie – die österreichische Sicht, in: Mellinghoff/Trute
(Hrsg), Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, Internationales
Verwaltungsrecht (1988) 203 (210 f, insb 213); ders, Grundrechtsaspekte künstlicher
Befruchtungsmethoden, in: Bernat (Hrsg), Lebensbeginn durch Menschenhand (1985)
109 (115 f); Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen künstlicher Fortpflanzung, in: Enquete zum Thema Familienpolitik und künstliche Fortpflanzung, 1985 (1986) 31 (38 f);
Posch, Rechtsprobleme der medizinisch assistierten Fortpflanzung und Gentechnologie,
GA 10. ÖJT 1988, I/5, 26 f; Kopetzki, Hirntod und Schwangerschaft, RdM 1994, 67
(75); Mayer, B-VG2 (1997) Art 2 MRK Anm I.1; Eder-Rieder, Die rechtlichen Grundlagen der medizinisch unterstützten Fortpflanzung, JAP 1998/99, 165 (170); Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz2 (1999)
57 („Das Leben ist geschützt von der Geburt bis zum Tod“); Dujmovits, Die EUGrundrechtscharta und das Medizinrecht, RdM 2001, 72 (74 f); Schulz, Schleichende
Harmonisierung der Stammzellforschung in Europa? ZRP 2001, 526 (527); Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl 2001, 1 (3); wohl
auch Feik, Der räumliche und persönliche Geltungsbereich der Grundrechte, ZÖR
1999/1, 19 (24); Melichar, Das Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes über die sogenannte „Fristenlösung“, FS Dordett (1976) 91 (100 f), sowie – wenngleich im Ergebnis unentschieden – Holoubek, Gewährleistungspflichten 315.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
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Entwicklungsstadien, die zeitlich durchwegs nach der Nidation liegen.22) Eine – der herrschenden deutschen Verfassungsrechtslehre entsprechende – Ausdehnung des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes auf Embryonen in vitro
innerhalb der ersten Entwicklungstage bzw -wochen ab dem Zeitpunkt der
Befruchtung wird freilich ebenso vertreten.23)
Die Straßburger Rechtsprechungsorgane – die zwar noch nicht zur Embryonenforschung,24) wiederholt aber im Kontext der Abtreibungsproblematik
mit der Frage nach der Anwendbarkeit des Art 2 EMRK befasst wurden –
haben sich bisher nicht für eine Ausdehnung des Art 2 EMRK auf den Ungeborenen ausgesprochen: Trotz eher vager – und nie entscheidungserheblicher –
Andeutungen, dass die EMRK vielleicht auch einen gewissen Schutz des Fötus
verbürge, wurde Beschwerden gegen die Zulassung des Schwangerschaftsabbruches seitens der EKMR nicht stattgegeben.25) In einem norwegischen Fall
hat auch die „Fristenlösung“ – in concreto der nicht weiter begründungspflichtige Schwangerschaftsabbruch durch selbstbestimmte Entscheidung der Frau
binnen 12 Wochen – der Überprüfung an Art 2 EMRK standgehalten.26) Die
Argumentationslinie der EKMR erscheint allerdings nicht geradlinig und lässt
Unsicherheit erkennen: Zunächst zog die EKMR aus der Umschreibung der
persönlichen Schutzbereiches der Konventionsrechte durch die Worte „every22) Vgl zB Moser, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das bürgerliche Recht (1972) 133; Stolz in: Bernat, Lebensbeginn 116 (extrauterine Embryonen
„sind vom Schutzbereich des Grundrechts auf Leben nicht erfasst“); Posch, 10. ÖJT
1988, I/5, 26 f; Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar2 (1996) Art 2 EMRK, Rz 3;
Berka, Die Grundrechte (1999) Rz 368; ders, Lehrbuch Grundrechte (2000) 78; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)2 (1999) Rz 268
(„nicht vom Moment der Befruchtung an“); Wildhaber, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 227
(„von der Lebensfähigkeit an“); Voss, Rechtsfragen der Keimbahntherapie (2001) 178.
23) ZB – wenn auch nicht immer ausdrücklich zu extrakorporalen Embryonen –
Marschall, JBl 1072, 508 ff; Waldstein, Rechtserkenntnis und Rechtsprechung. Bemerkungen zum Erkenntnis des VfGH über die Fristenlösung, JBl 1976, 505; 574 (576);
ders, Das Menschenrecht zum Leben (1982) 36 ff; Groiss/ Schantl/ Welan, Der verfassungsrechtliche Schutz des menschlichen Lebens, ÖJZ 1978, 1 ff; Lewisch, Der Staatsbürger 1988/3, 12; ders, Leben und sterben lassen. Zur Frage verbrauchender Experimente an Embryonen, ÖJZ 1990, 133 (141); ders, Das Recht auf Leben (Art 2 EMRK)
und Strafgesetz, FS Platzgummer (1995) 381 (394 ff); Schlag, Verfassungsrechtliche
Aspekte der künstlichen Fortpflanzung (1991) 105 ff; ders, In-vitro-Fertilisation und
Lebensrecht, in: IMABE (Hrsg), Der Status des Embryos (1989) 117 (118); Piskernigg,
Die Selbsthilferegelung des ABGB (1999) 280 ff. In diese Richtung auch Peukert,
Human Rights in international law and the protection of unborn human beings, FS
Wiarda 1988, 511 (517); Jacqué, La Convention européenne des droits de l’homme et
la bioéthique, in: Furkel/Jung (Hrsg), Bioethik und Menschenrechte (1993) 3 ff. Widersprüchlich Ermacora, Grundriss Menschenrechte Rz 206, 216, 218.
24) Einschlägige Entscheidungen sind bisher nicht ersichtlich: Vgl Harris/
O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights (1995) 42 FN
11.
25) MwN Frowein/Peukert, Art 2 EMRK Rz 3; Harris/O’Boyle/Warbrick, Convention 41 ff.
26) EKMR Appl 17.004/90, DR 73 (1992) 155.
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Christian Kopetzki
one“ bzw „toute personne“ in der EMRK im Allgemeinen sowie in Art 2
EMRK im Speziellen den Schluss, dass nur Geborene, nicht hingegen vorgeburtliche Entwicklungsstadien umfasst seien.27) In der Folge hat die EKMR
dann jedoch die Frage nach dem Schutz für den Ungeborenen noch einmal
unter dem Aspekt der staatlichen Schutzpflicht und des Begriffs „Leben“ iSd
Art 2 EMRK aufgeworfen und insofern unbeantwortet gelassen, indem sie –
eventualiter – selbst für den Fall einer extensiven Auslegung des Lebensbegriffs eine Verletzung des Art 2 im Hinblick auf die Rechtsposition der Mutter
verneint hat.
Der EGMR hat sich zur Frage des vorgeburtlichen Lebensschutzes bisher
nicht explizit geäußert. Die Entscheidung im Fall Open Door, in der das irische
Verbot der Verbreitung von Informationen über die Möglichkeit von Schwangerschaftsunterbrechungen im Ausland als Verstoß gegen Art 10 EMRK qualifiziert wurde, deutet aber eher darauf hin, dass der Gerichtshof den nasciturus
nicht als von Art 2 EMRK geschützt ansah.28) Dem von der irischen Regierung
vorgebrachten Argument, die Rechtfertigung des Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit iSd Art 10 Abs 2 EMRK ergebe sich neben dem Schutz der
„Moral“ auch aus dem Schutz der „Rechte anderer“ – nämlich des Ungeborenen –, schloss sich der EGMR nicht an, indem er die irische Gesetzgebung
ausschließlich unter dem Aspekt des Schutzes der „Moral“ thematisiert und
letztlich als unverhältnismäßig beurteilt hat.29) Auch an anderer Stelle ließ der
EGMR erkennen, dass er die Frage nach dem Beginn des Lebensschutzes
letztlich für eine „Glaubensfrage[n] über die Natur des menschlichen Lebens“
hält, in der die EMRK mangels eines gesamteuropäischen Minimalkonsenses
keine Position beziehen könne.30)
27) EKMR Appl 8416/79, DR 19, 244 (249 f): „... both the general usage of the
term ‚everyone‘ (‚toute personne‘) in the Convention (...) and the context in which this
term is employed in Article 2 (...) tend to support the view that it does not include the
unborn“; bestätigend EKMR, Appl 17.004/90, DR 73, 155 (166 f).
28) In diesem Sinn auch die Kritik von Lewisch, FS Platzgummer (1995) 395 FN
27, wonach dem EGMR „der Lebensschutz kein Anliegen ist“.
29) EGMR, Fall Open Door (Z 61 ff), EuGRZ 1992, 484 (487). Ob sich der Begriff
„andere“ auch auf das Ungeborene erstreckt, wurde zwar offen gelassen (Z 63). Da der
EGMR diese Rechtfertigungsmöglichkeit aber nicht weiter verfolgte, obwohl die (unter
dem Aspekt des Schutzes der Moral abschlägig entschiedene) Verhältnismäßigkeitsprüfung im Licht des alternativen Schutzgutes „Rechte anderer“ durchaus zu einem abweichenden Ergebnis und damit zur Rechtfertigung der irischen Gesetzgebung führen hätte
können, muss wohl angenommen werden, dass der EGMR die Anwendbarkeit des
Eingriffszieles „Schutz der Rechte anderer“ im konkreten Fall nicht in Betracht zog.
Anders die dissenting opinion von Matscher und Blayney, EuGRZ 1992, 491.
30) EGMR, Open Door (Z 68), EuGRZ 1992, 484 (488): Der EGMR anerkenne,
„dass die nationalen Behörden in Fragen der Moral einen weiten Beurteilungsspielraum
besitzen und dies insbesondere in einem Bereich wie dem vorliegenden, welcher Glaubensfragen über die Natur des menschlichen Lebens betrifft. Wie der Gerichtshof früher
bemerkt hatte, ist es nicht möglich, in der rechtlichen und sozialen Ordnung der Vertragsparteien eine einheitliche europäische Moralkonzeption zu finden ...“.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
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3. Zur Auslegung des Art 2 EMRK
Mit der höchstgerichtlichen Judikatur zu Art 2 EMRK könnte man die
Frage nach den grundrechtlichen Schranken des therapeutischen Klonens bzw
des Embryonenschutzes aus der Sicht des Art 2 EMRK für entschieden halten.
Eine dogmatische Analyse kann sich mit diesem Verweis auf die „herrschende
Ansicht“ freilich nicht begnügen: Gerade das Fristenlösungserkenntnis hat
bekanntlich nicht nur wegen der inhaltlichen Kernaussage,31) sondern auch
wegen bedenklicher Ausführungen zur grundrechtlichen Schutzrichtung und
zur Interpretation der EMRK Kritik erfahren.32)
Allerdings erlauben die methodischen Ungereimtheiten der verfassungsgerichtlichen Begründung noch nicht den Umkehrschluss auf die Richtigkeit
der Gegenmeinung. So folgt etwa aus der – vieldiskutierten – Frage nach der
Schutzrichtung und der Intensität staatlicher Schutzpflichten noch nichts für
die inhaltlichen und zeitlichen Grenzen des Lebensschutzes. Denn dabei geht
es nicht um den Adressaten des in Art 2 EMRK verankerten Schutzgebotes,
sondern um den Kreis der berechtigten Grundrechtsträger bzw – in objektivrechtlicher Hinsicht – um die Auslegung des im Begriff „Leben“ angesprochenen sachlichen Schutzbereiches.33) In diesen Punkten hat, wie im Folgenden zu
zeigen ist, die Rechtsprechung des VfGH aber nach wie vor überwiegende
Gründe für sich – wenngleich man auch ein Vierteljahrhundert nach dem Fristenlösungserkenntnis nicht behaupten kann, dass hier „die Interpretation der
einschlägigen Verfassungsnormen mit zwingender Notwendigkeit zu einem
einzig richtigen Ergebnis führt“.34)
Dazu statt aller und mwN nur Groiss/Schantl/Welan, ÖJZ 1978, 1.
Für viele zB Novak, Das Fristenlösungs-Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, EuGRZ 1975, 197; Pernthaler, Entscheidungsbesprechung, JBl
1975, 316 ff; Spanner, Die Bedeutung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes für das Zivilrecht, JBl 1978, 286 ff; Grimm, JBl 1976, 74 ff; zusammenfassend
Lewisch, FS Platzgummer (1995) 382 ff.
33) Im Hinblick auf die Auslegung des Art 2 EMRK ist daher zu bezweifeln, dass
das Interpretationsergebnis des VfGH ausschließlich auf ein bestimmtes („klassischliberales“) Grundrechtsverständnis zurückzuführen ist (so aber für viele Grimm, JBl
1976, 74 ff; Zipf, WK Vorbem §§ 96-98 StGB, Rz 12). Denn erstens hat der VfGH in
VfSlg 7400/1974 die (überholte) These von der ausschließlich staatsgerichteten Eingriffsabwehr zu Art 2 EMRK gar nicht vertreten. Und zweitens hat die Frage, gegen
wen sich ein Grundrecht richtet und ob es neben staatlichen Abwehransprüchen auch
Schutzpflichten verbürgt, zunächst nichts damit zu tun, welche Bedeutung jene Begriffe
aufweisen, die den sachlichen („life“) bzw persönlichen („everyone“) Schutzbereich
umschreiben bzw wann dieser Schutz beginnt. Die Problematik der Auslegung des
sachlichen und persönlichen Schutzbereiches stellt sich – unabhängig von allgemeinen
grundrechtstheoretischen Erwägungen – immer in der selben Weise, gleichgültig ob es
um unmittelbar staatsgerichtete Eingriffsabwehr oder um die Ableitung staatlicher
Schutzpflichten gegen Eingriffe Privater geht. Aus der Bejahung positiver Schutzpflichten ergibt sich daher auch nichts für die Frage nach der Reichweite des „grundrechtlich
geschützten Rechtsgutes“ (so aber offenbar Grimm, JBl 1976, 79).
34) Koller, Theorie des Rechts (1992) 202.
31)
32)
24
Christian Kopetzki
a) Der Wortlaut des Art 2 EMRK
aa) Grundrechtssubjektivität von Embryonen?
Maßgeblich für die Auslegung des Art 2 EMRK ist die „übliche Bedeutung, die den Begriffen des Vertrages in ihrem Zusammenhang und unter Berücksichtigung seines Zieles und Zweckes beizulegen ist“.35) Geht man vom
Wortlaut des Art 2 EMRK aus, so kann dem VfGH und der EKMR nicht entgegen getreten werden, wenn sie die Umschreibung des persönlichen Schutzbereiches durch die Begriffe „everyone“ bzw „toute personne“ nach dem –
jedenfalls in der Rechtssprache – üblichen Wortsinn nur auf (geborene) Personen beziehen.36) Nur die der Jurisdiktion der Vertragsstaaten „unterstehenden
Personen“ (Art 1 EMRK) sind Träger der Konventionsrechte.
Die Gleichsetzung des Begriffs „Mensch“ – oder in anderen Grundrechten: der Begriffe „jedermann“ oder „Person“ – mit dem Geborenen ist im Übrigen keine Besonderheit des Art 2 EMRK, weil auch die einfachgesetzliche
Rechtsordnung37) die Rechtsfähigkeit (und den daran anknüpfenden Schutz der
Person) in aller Regel den Geborenen vorbehält: „Mensch“ bzw „Person“
bezeichnen im Zivil- und Strafrecht durchwegs nicht das embryonale Leben:
Gerade weil der nasciturus beispielsweise keine „Person“ iSd § 16 ABGB38)
oder kein „anderer“ iSd strafrechtlichen Tötungsdelikte (§§ 75 ff StGB)39) ist,
finden sich im einfachgesetzlichen Recht ergänzende Sonderbestimmungen,
die den Lebensschutz teilweise – und in eingeschränktem Ausmaß – auf den
Ungeborenen erstrecken (vgl §§ 96 ff StGB, § 22 ABGB).40) Wäre der Embryo
vom zivilrechtlichen Personsbegriff mitumfasst, dann bedürfte es der Fiktion
35) Vgl 31 Abs 1 WVK. Dazu – auch zur Bedeutung der WVK für die Auslegung
der EMRK – zuletzt zB EGMR 4. 4. 2000, Litwa, Appl 26.629/95 (Z 57 ff). Allgemein
zur Auslegung der EMRK Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rz 7. Die
Aussage in VfSlg 7400/1974, wonach bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge das
gemeinsam Gewollte im Sinne des „gemeinsamen Minimums“ zugrunde zu legen sei,
entspricht bei normsetzenden Verträgen wie der EMRK nicht dem aktuellen Stand von
Lehre und Rsp.
36) VfSlg 7400/1974; EKMR, Appl 8416/79, DR 19, 244 (249 f); EKMR, Appl
17.004/90, DR 73, 155 (166 f). Zu den zeitlichen Grenzen der Grundrechtssubjektivität
Kopetzki, Organgewinnung zu Zwecken der Transplantation (1988) 52 ff. Vgl auch
Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights (1995)
42 FN 13: „the textual evidence supports this interpretation“. Auch in der Rsp des
Amerikanischen Supreme Court wird der Begriff „Person“ nur auf Geborene bezogen:
dazu Brugger, A Constitutional Duty to Outlaw Abortion? A Comparative Analysis of
the American and German Abortion Decisions, JbÖR 36 (1987) 49 (insb 54).
37) Nicht nur die österreichische: vgl etwa für die BRD nur § 1 (d)BGB. Näher
Eichler, Personenrecht (1983) 105 ff: „Der vorgeburtliche Zustand ist nach allgemeiner
Anschauung erst der des ‚Menschwerdens‘, noch nicht der Zustand des ‚Menschseins‘.“
38) Zum Beginn der vollen Rechtsfähigkeit mit der Geburt Aicher in: Rummel,
ABGB I3 (2000) § 16 Rz 5.
39) Moos, WK Vorbem § 75 Rz 8 ff („Entstehung des Rechtsguts des menschlichen Lebens durch die Geburt“).
40) MwN Holoubek, Gewährleistungspflichten 314 f mwN.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
25
des § 22 ABGB („werden als Geborene angesehen“) gar nicht.41) Diese klaren
Differenzierungen zwischen „Personen“ und vorgeburtlichen Lebensstadien
zeigen hinreichend, dass die Rechtsordnung keinen umfassenden – beide Fälle
in gleicher Weise einschließenden – Lebensschutz kennt bzw dass dann, wenn
der Schutzbeginn vor der Geburt angesetzt werden soll, dies ausdrücklich
normiert wird.42) Wie die historische Entwicklung des Abtreibungsverbots
zeigt, ist ein den Geborenen vergleichbarer umfassender Lebensschutz des
Ungeborenen auch in der Rechtsgeschichte kaum je verwirklicht gewesen.43)
Aus diesem Befund eines auf Geborene eingeschränkten persönlichen
Geltungsbereiches folgt bei wörtlicher Auslegung, dass der Ungeborene iSd
Art 2 EMRK nicht Grundrechtsträger im Sinne eines subjektiven verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts ist. Ihm fehlt die „Grundrechtsfähigkeit“.44)
bb) Verweisung auf nationales Recht?
Ganz unbestreitbar ist dies freilich nicht: So könnte man etwa die Auffassung vertreten, dass Art 2 EMRK den Beginn der (Grund-)Rechtsfähigkeit
nicht abschließend festlegt, sondern insofern auf die nationale Festlegung der
Rechtsfähigkeit verweist.45) Mit der Autonomie der Konventionsbegriffe und
dem Gebot einer vom nationalen Recht unabhängigen Auslegung stünde dies
41) Zutreffend Machacek, 10. ÖJT 1988, II/5, 142; zur zivilrechtlichen Differenzierung zwischen „Mensch“ und „Leibesfrucht“ Wolff in: Klang2 I/1 (1964) 155. Zeiller
(Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I [1811] 122) sprach von
einer „Rechtsdichtung“ des Gesetzgebers.
42) Das trifft mitunter auch auf Grundrechte zu: vgl in diesem Sinn auch Art 4
AMRK: „Jedermann hat das Recht auf Achtung seines Lebens. Dieses Recht wird
gesetzlich geschützt und gilt im Allgemeinen vom Augenblick der Empfängnis an (...).“
43) Dazu Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn. Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots (1988); ders, Vom Wert und Unwert der pränatalen Menschenwürde,
JZ 1989, 279 (283 ff). Die Schutzwürdigkeit werdenden Lebens wird aus der Perspektive der Rechtsordnung „seit jeher ... als geringerwertig eingestuft“: Zipf, WK Vorbem zu
§§ 96-98 StGB, Rz 5 mwN. Gegen die Übertragung ethischer und religiöser Vorstellungen von der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens auf die Rechtsordnung
Schmoller, in: Triffterer, StGB-Kommentar, Vorbem §§ 96-98 StGB, Rz 19 ff, insb 22.
44) Ebenso für die BRD zB J. Ipsen, Der „verfassungsrechtliche Status“ des Embryos in vitro, JZ 2001, 989 (994); Denninger, in: Alternativ-Kommentar zum GG für
die BRD2 (1989) vor Art 1 Rz 35; Manssen, Staatsrecht I Grundrechtsdogmatik (1995)
Rz 115; anders etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar I (1996) Art 2 II Rz 25
(jeweils mwN zum strittigen Meinungsstand).
45) In diesem Sinn schon Marschall, JBl 1972, 508. Dafür könnte immerhin sprechen, dass Art 2 EMRK auf das „Recht“ jedes „Menschen“ auf sein Leben Bezug
nimmt und damit einen Grundrechtsträger vorausgesetzt, der für eine Zurechnung des
subjektiven Rechts auf Leben überhaupt erst in Betracht kommt. Die Schutzentfaltung
des Art 2 EMRK würde dann – da die EMRK die Grenzen der Rechtsfähigkeit selbst
nicht ausdrücklich definiert – von der nationalen Zuerkennung der Rechtsfähigkeit
abhängen. Hinsichtlich der Rechtsfähigkeit von juristischen Personen wird eine solche
Sichtweise wohl auch allgemein akzeptiert, da sich diese Frage erst vor dem Hintergrund des innerstaatlichen (zB Gesellschafts-)Rechts beurteilen lässt. Vgl – zum Eigentum – auch Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 38 f.
26
Christian Kopetzki
nicht grundsätzlich im Widerspruch,46) solange man im Auge behält, dass der
Umfang eines derartigen Definitionsspielraumes aus teleologischen Gründen
sehr eng sein müsste und die Zuerkennung des Personenstatus an alle lebenden
(geborenen) Menschen zum unverrückbaren – und ihrerseits autonom zu bestimmenden – „Wesensgehalt“ der Konvention gehört.47)
Auch eine solche Deutung des konventionsrechtlichen Personsbegriffs als
Verweisung auf die nationale Rechtsfähigkeit könnte allerdings nicht dazu
führen, dass die (mit der Lebendgeburt aufschiebend bedingte) Zuerkennung
der Rechtsfähigkeit ab der Empfängnis durch § 22 ABGB im Kontext des
Art 2 EMRK die volle Grundrechtssubjektivität hinsichtlich des Rechts auf
Leben auch für jene extrakorporalen Embryonen nach sich zieht, die für andere
Zwecke als jene der Fortpflanzung verwendet werden sollen: Bei diesen wird
nämlich die – in § 22 ABGB für die Zuerkennung der Rechtsfähigkeit aufgestellte – Bedingung der Lebendgeburt nie erfüllt. Angesichts des Programmcharakters des § 22 und seiner Konkretisierungsbedürftigkeit durch andere
Bestimmungen der Rechtsordnung wäre überdies zu veranschlagen, dass jedenfalls die frühe embryonale Phase in vitro nach österreichischem Recht
insgesamt – weder nach § 22 ABGB noch nach dem FMedG – einen absoluten
Substanzschutz genießt48) – ganz abgesehen davon, dass es bei den durch
Kerntransfer erzeugten Embryonen bereits an einer „Empfängnis“ iSd § 22
ABGB fehlt.49)
Doch unabhängig von der strittigen Auslegung des § 22 ABGB – eine den
Gesetzgeber bindende verfassungsrechtliche Schranke aus Art 2 EMRK lässt
sich auf dem Umweg über § 22 ABGB schon deshalb nicht begründen, weil
der normative Anknüpfungspunkt für eine subjektive Rechtssphäre des nasciturus im ABGB seinerseits zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht.
Eine gesetzliche Erlaubnis der Embryonenforschung würde sowohl auf § 22
ABGB als auch auf Art 2 EMRK durchschlagen und die nationale Rechtsordnung derart verändern, dass die Verweisung des Art 2 EMRK ins Leere ginge.
46) Grundsätzlich ablehnend gegen einen solchen Rückgriff auf den nationalen
Personenbegriff (zu Art 2 MRK) aber VfSlg 7400/1974; Tretter, Artikel 2 MRK, in:
Ermacora/Nowak/Tretter (Hrsg), Die Europäische Menschenrechtskonvention in der
Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, 1983, 83 (120).
47) Selbstverständlich hätten daher – was nachdrücklich hervorzuheben ist – die
Vertragsstaaten keine Definitionsmacht darüber, bestimmten Personengruppen den
Status als Grundrechtssubjekt abzusprechen. In den Randbereichen des Lebensbeginns
und des Lebensendes wäre die Annahme eines solchen Konkretisierungsspielraumes
aber vertretbar, weil und es sofern gerade in diesen Grenzfällen an einem gemeinsamen
europäischen Standard fehlt.
48) Manche nehmen im Hinblick auf die §§ 96 ff StGB und § 17 FMedG sogar eine weitgehende materielle Derogation des § 22 ABGB an: Piskernigg, Selbsthilferegelung 277; für eine teleologische Reduktion des § 22 ABGB unter Ausschluss des extrauterinen Embryonen zB Posch, 10. ÖJT 1988, I/5, 81 ff. Zur begrenzten Leistungsfähigkeit des § 22 ABGB für extrauterine Embryonen Aicher in: Rummel, ABGB I3 § 22
Rz 2; Posch in: Schwimann, ABGB I2 (1997) § 22 Rz 4.
49) Die „Empfängnis“ iSd § 22 ABGB ist mit der Befruchtung gleichzusetzen:
Posch in: Schwimann, ABGB2 I § 22 Rz 1.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
27
cc) Überschießende Schutzpflichten?
Schwerer wiegt der Einwand, dass die Beschränkung des persönlichen
Schutzbereiches auf Geborene („everyone“) einen darüber hinaus reichenden
sachlichen Schutzbereich („life“) noch nicht zwingend ausschließe.50) Davon
dürfte auch die EKMR ausgehen, wenn sie dem Embryo zwar die Grundrechtssubjektivität abspricht, die Frage nach dem Schutzumfang des Art 2
EMRK aber dann – wenn auch ohne klares Ergebnis – ein weiteres Mal unter
dem Titel des Lebensbegriffs des Art 2 EMRK erörtert.51) Aus dieser Perspektive könnte eine objektive staatliche Schutzpflicht zugunsten des nasciturus
selbst dann angenommen werden, wenn man diesem keine (eigene) Grundrechtsfähigkeit zuspricht.
Für eine solche Dissoziation zwischen Grundrechtsträgern und objektiver
Schutzpflicht fehlt hier aber ein tauglicher Anhaltspunkt: Denn wenn Art 2
EMRK „Menschen“ das Recht „auf das Leben“ gewährleistet, so deutet nichts
darauf hin, dass der sachliche Schutzbereich „Leben“ den Kreis der vom persönlichen Anwendungsbereich erfassten Grundrechtsträger („everyone“) überschreitet, ohne dass es für diese Feststellung noch einer Auseinandersetzung
mit dem Lebensbegriff des Art 2 EMRK bedürfte. Art 2 EMRK schützt nicht
das „Leben“, sondern das einem Menschen zugeordnete Recht auf Leben. Die
Begriffe „everyone“, „right“ und „life“ sind wechselseitig aufeinander bezogen, und die objektiven Grundrechtswirkungen reichen nicht weiter als das
Grundrecht selbst.52) Die Formulierung des Art 2 EMRK liegt daher durchaus
auf der Linie des in Österreich überwiegenden Grundrechtsverständnisses,
wonach die „objektive“ Schutzwirkung der Grundrechte im System des Verfassungsrechts nicht über den personellen Geltungsbereich hinaus geht: Die
Grundrechte schützen keine – von subjektiven Rechten losgelöste – „abstrakten“ Werte, sondern individuelle Grundrechtspositionen,53) und wo diese nicht
50) In diese Richtung van Dijk/van Hoof, Convention 218. Nach der insb in der
BRD herrschenden Auffassung kann die objektive Funktion eines Grundrechts über die
subjektive Funktion hinausgehen, vgl nur Murswiek in: Sachs, GG-Kommentar (1996)
Art 2 GG Rz 16. Derartige Ausstrahlungswirkungen werden bei manchen Grundrechten
etwa für die Zeit nach dem Tod diskutiert, wenngleich man hier unschwer von einer
Folgewirkung eines dem Lebenden zustehenden subjektiven Rechts ausgehen kann (vgl
zu Art 8 EMRK etwa Kopetzki, Organgewinnung zu Zwecken der Transplantation
[1988] 56).
51) ZB EKMR Appl 8416/79, DR 19, 249 f.
52) Auch für Art 2 EMRK trifft daher die Formulierung von Schmidt-Jortzig, Systematische Bedingungen der Garantie unbedingten Schutzes der Menschenwürde, DÖV
2001, 925 [928], zu: „Rechnet also eine Bezugsgröße nicht zum grundrechtlich personellen Schutzbereich ‚Mensch‘, erstrecken sich auch die institutionellen Gehalte von
objektiver Ausstrahlung und staatlicher Schutzpflicht nicht auf sie“. Ähnlich schon
Rosenzweig, FS Broda 253, 262 ff.
53) Eingehend und mwN Holoubek, Gewährleistungspflichten 243 ff, insb 246.
Zur – zurecht – fehlenden Rezeption der deutschen Lehre von der „objektiven grundrechtlichen Wertordnung“ in Österreich vgl die Hinweise in FN 138. Hier, und nicht in
der Frage der Schutzrichtung, liegt wohl der entscheidende Unterschied zur herrschenden deutschen Lehre. Auch jene Autoren, die in Österreich einen verfassungsrechtli-
28
Christian Kopetzki
mehr oder noch nicht gegeben sind, endet auch die grundrechtlich begründbare
Schutzpflicht des Staates.
b) Systematische Aspekte
aa) Schutzbereich und Ausnahmekatalog
Aus systematischer Sicht fällt zunächst auf, dass Art 2 EMRK – im Gegensatz zu Art 6 des UN-Weltpaktes – keine Ausnahme von der Vollstreckung
der Todesstrafe an Schwangeren vorsieht, was – wollte man den Art 2 auch auf
das ungeborene Leben beziehen – immerhin ein Wertungswiderspruch wäre.54)
Dazu kommt, dass der detaillierte Katalog prinzipiell zulässiger Tötungshandlungen des Art 2 Abs 2 in seiner Ausrichtung auf polizeiliche Standardmaßnahmen (Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung, Durchführung einer Festnahme etc) ausschließlich auf Geborene
anwendbar ist. Der Schwangerschaftsabbruch ist unter diesen Ausnahmen
nicht erwähnt, obwohl es sich dabei um ein seit jeher umstrittenes und bei der
Formulierung der EMRK daher wohl kaum „übersehenes“ Thema handelt.55)
Das lässt allerdings unterschiedliche Deutungen zu. Zum einen könnte
man aus dem Fehlen jeglicher Erwähnung des Schwangerschaftsabbruchs in
Art 2 Abs 2 EMRK den Schluss ziehen, dass das vorgeburtliche Leben auch
vom Schutzbereich des Art 2 Abs 1 nicht erfasst wird. Würde der Schutzbereich auch das ungeborene Leben einschließen, so hätte dies – so im wesentlichen die Position des VfGH – einen unbedingten Schutz des Ungeborenen zur
Folge. Da aber viele Konventionsstaaten einen Schwangerschaftsabbruch unter
bestimmten Voraussetzungen zulassen, ohne dass dies in Art 2 Abs 2 EMRK
berücksichtigt wurde und auch kein Staat einen einschlägigen Vorbehalt erklärt hat, deutet dies darauf hin, dass das ungeborene Leben im Schutzbereich
nicht enthalten ist.56)
Zu einem ganz anderen Ergebnis gelangt, wer eine systematische Gesamtbetrachtung des Art 2 EMRK und daher jeden Rückschluss von den
Grundrechtsschranken auf den Schutzbereich ablehnt: Dann folgt aus der
Nichterwähnung der Abtreibung in den Grundrechtsschranken auch nichts für
die Auslegung des Schutzbereichs. So meint etwa Lewisch, dass die auschen Lebensschutz ab der Befruchtung bejahen, argumentieren letztlich – mehr oder
weniger bewusst – auf dem Boden einer grundrechtlichen „Werttheorie“, indem sie den
Schutz „menschlichen Lebens“ als „Wertentscheidung“ von der individuellen Grundrechtsberechtigung abkoppeln (paradigmatisch zB Schlag, Fortpflanzung 98 ff; Lewisch,
FS
Platzgummer
381 ff);
kritisch
dagegen
mwN
Holoubek,
Gewährleistungspflichten 126 ff (insb 131 f), 139 ff, 246.
54) Velu/Ergec, La Convention Européenne des Droits de l’Homme (1990) 175.
55) Vgl (aus der Entstehungszeit der EMRK) Fleisch, Die Regelung des Abtreibungsproblems in den Strafgesetzen der Gegenwart, ÖJZ 1955, 584; 605.
56) Vgl neben VfSlg 7400/1974 schon Pfeifer, FS Hugelmann 424. Die grundsätzliche Vereinbarkeit des Schwangerschaftsabbruches mit Art 2 EMRK wurde auch
anlässlich der parlamentarischen Beratung der EMRK nicht in Zweifel gezogen: Abg
Weiß, StProtNR 8. GP, 63. Sitzung 2945.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
29
schließlich staatsgerichteten Eingriffstatbestände des Abs 2 mit der aus Art 2
Abs 1 erster Satz abzuleitenden staatlichen Schutzpflicht gegenüber Eingriffen
Privater „gar nichts zu tun“ haben.57) Man dürfe daher aus dem Fehlen des
Schwangerschaftsabbruches im staatsgerichteten Ausnahmekatalog nicht auf
den Ausschluss des Ungeborenen aus der allgemeinen Schutzgewährleistung
des Art 2 1. Satz schließen,58) weil sich die Abtreibungsfrage in der Staatsrichtung ohnehin nicht stelle. Das beantwortet zwar immer noch nicht die zentrale
Frage nach dem Umfang des Schutzbereiches. Sobald man aber das ungeborene Leben in den Schutzumfang des Art 2 Abs 1 einbezieht, folgt daraus eine
grundsätzliche – und durch die Schranken des Art 2 Abs 2 in keiner Weise
strukturierte bzw eingeschränkte – Schutzpflicht des Staates zugunsten des
nasciturus. Konsequenterweise beurteilt Lewisch daher die „Fristenlösung“ als
Verstoß gegen Art 2 EMRK. Welche Indikationen und Motive des Schwangerschaftsabbruches aus dieser Perspektive überhaupt noch einer grundrechtlichen
Rechtfertigung zugänglich sind, ergibt sich dann erst aus einer umfassenden
Abwägung mit anderen Rechtsgütern bzw Grundrechten, die je nach Autor
unterschiedlich ausfällt.59)
bb) Zur Bedeutung der Ausnahmen für den Schutzbereich
Die für eine systematische Auslegung weichenstellende Frage geht also
dahin, ob der vom VfGH gezogene Rückschluss aus dem Ausnahmenkatalog
des Art 2 2. Satz und Abs 2 EMRK auf die Grenzen des sachlichen Schutzbereiches nach Art 2 1. Satz zulässig ist oder ob, wie Lewisch meint, die einzelnen Teile des Art 2 EMRK völlig isoliert von einander auszulegen sind.
Bei näherer Betrachtung hat die Auffassung des VfGH die besseren
Gründe für sich: Dass staatliche Schutzpflichten für das Verhältnis zwischen
Privaten lediglich dem Art 2 Abs 1 1. Satz zuzuordnen und die übrigen Bestimmungen des Art 2 auf staatliche Maßnahmen beschränkt sind, trifft gewiss
zu. Es ist aber nicht ersichtlich, weshalb wegen dieser unterschiedlichen
Schutzrichtung der Ausnahmekatalog des Abs 2 nicht zur Auslegung des
Schutzbereiches bzw der Reichweite einer Schutzpflicht gem Art 2 Abs 1 1.
Satz EMRK herangezogen werden dürfte. Welche Bedeutung grundrechtliche
Schrankenvorbehalte für die Beurteilung staatlicher Schutzpflichten haben,
wirft zwar manche Zweifelsfragen auf.60) Die kategorische Auffassung, die
materiellen Eingriffsziele in einem Gesetzesvorbehalt gelten ausschließlich in
57) Lewisch, FS Platzgummer 391, 395. Man dürfe den Art 2 EMRK „gerade nicht
‚in seinem Zusammenhang‘ sehen“ (ibid 396).
58) In diesem Sinn Lewisch, FS Platzgummer (1995) 382 ff.
59) So möchte etwa Lewisch nur die Fristenregelung, nicht jedoch andere „sachgerechte“ Indikationsfälle ausschließen (FS Platzgummer 396), während Holoubek (Gewährleistungspflichten 317 ff) die – von ihm freilich nur als Prämisse angenommene –
Schutzpflicht zugunsten des Embryos auch mit dem Selbstbestimmungsrecht der
Schwangeren (Art 8 EMRK) für abwägbar hält und er daher keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Fristenregelung hat.
60) Vgl Murswiek in: Sachs, GG-Kommentar (1996) Art 2 Rz 24 ff; Holoubek,
Gewährleistungspflichten 251 ff, 292 ff.
30
Christian Kopetzki
der Staatsrichtung, ist aber in dieser Allgemeinheit nicht überzeugend. Jedenfalls bei primären – an den Gesetzgeber adressierten – Schutzpflichten ist
anzunehmen, dass die Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen
Dritter – dh von Unterlassungen des Gesetzgebers, diese zu verbieten – den
materiellen Anforderungen an die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe entsprechen müssen.61) Staatliche Schutzpflichten sind kein grundrechtsdogmatisches
aliud, sondern konsequent zu Ende gedachte Eingriffsverbote.62) Das trifft auch
für Art 2 EMRK zu, dessen erster Satz nicht losgelöst von den nachfolgenden
Bestimmungen interpretiert werden darf.63) Das hat zur Folge, dass der Gesetzgeber auch bei Erfüllung seiner Schutzpflichten keine Eingriffe Privater in das
Leben erlauben darf, die er gem Art 2 Abs 2 EMRK selbst nicht setzen dürfte.64) Die von Lewisch angeführte unterschiedliche historische Herkunft der
einzelnen Teile des Art 2 EMRK steht einem solchen systematischen Argument schon deshalb nicht entgegen, weil die entstehungszeitliche Auslegung
gerade bei völkerrechtlichen Normen nicht zu einer Verdrängung systematischer Gesichtspunkte führen kann.65)
So gesehen erscheint der Rückschluss des VfGH von der mangelnden Berücksichtigung des Schwangerschaftsabbruches in Art 2 Abs 2 EMRK auf eine
restriktive Auslegung des Schutzbereiches und der Schutzpflichten nach Art 2
Abs 1 also durchaus zulässig.
61) Murswiek in: Sachs Art 2 GG Rz 27. „Die Pflicht, Eingriffe Dritter zu verbieten, die sich nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen, ist das Äquivalent der
Pflicht, staatliche Eingriffe zu unterlassen“ (Murswiek, ibid Rz 29). Ähnlich zu Art 8
EMRK Forder, Legal Protection under Article 8 ECHR: Marckx and beyond, Netherlands International Law Review 1990, 162 (172 ff), dort insb gegen die These, wonach
Art 8 Abs 2 EMRK bei der Beurteilung der positiven Schutzpflichten irrelevant sei; im
gleichen Sinn Holoubek, Gewährleistungspflichten 265 f FN 414; Wildhaber/ Breitenmoser, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 6 ff, 55 ff. Auf die Frage, ob die Ausnahmen des Art 2
Abs 2 EMRK der Tatbestands- oder der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind, kommt
es in diesem Kontext nicht an.
62) Funk, Ein Grundrecht auf Schutz der Gesundheit? JRP 1994, 68 (73).
63) Holoubek, Gewährleistungspflichten 289; Kneihs, JBl 1999, 82 f.
64) Vgl Remmelink, The legal position on euthanasia in the Netherlands in the light
of Article 2 of the ECHR, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber (Hrsg), Protecting
Human Rights: The European Perspective. Studies in memory of Rolv Ryssdal (2000)
1157 (1167). Daher ist auch die gesetzliche Regelung der Notwehr zwischen Privaten
an Art 2 Abs 2 EMRK zu messen: so zutreffend Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar
Art 2 Rz 2 und 11, die die materiellen Gründe des Art 2 Abs 2 auch auf staatliche
Schutzpflichten beziehen; ebenso – wenn auch nur mittelbar – Kneihs, JBl 1999, 82 f.
Anders Lewisch, FS Platzgummer 388 ff mwN. Dass bei der Umsetzung dieser Schutzpflichten auf der Ebene der Vollziehung und bei der Wahl des dafür einzusetzenden
Instrumentariums ein weiter Beurteilungsspielraum besteht, ist eine andere Frage.
65) Vgl Art 31, 32 WVK. Die von Lewisch (FS Platzgummer 383) betonte Rezeption des Art 2 Abs 1 erster Satz EMRK aus den Entwürfen zu Art 6 IPBPR spricht eher
dafür als dagegen, dass der Begriff „Mensch“ in diesem Kontext ebenfalls nur den
Geborenen meint. Denn auch Art 6 IPBPR bezieht den Begriff „Mensch“ bzw „human
being“ nicht auf das ungeborene Leben (vgl in und bei FN 75).
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
31
cc) Abwägungsfähigkeit des Lebensschutzes nach Art 2 EMRK?
Gegen eine Abkoppelung der Schutzpflichten von den Eingriffstatbeständen des Art 2 EMRK spricht aber noch eine weitere Überlegung: Gerade weil
Art 2 EMRK – deutlicher als andere Grundrechte – eine staatliche Schutzpflicht statuiert, vermag es nicht zu überzeugen, über den Ausnahmekatalog
und die dort explizit vorgesehenen Güterabwägungen hinausgehende Abwägungsgesichtspunkte zuzulassen, nur weil die Lebensbedrohung von Privaten
ausgeht. Die Struktur des Schrankenvorbehalts zeigt, dass in das Recht auf
Leben – anders als nach Art 2 GG – nur in engen, klar umrissenen Fällen eingegriffen werden darf: Art 2 verfügt nicht über den in der EMRK ansonsten
gebräuchlichen elastischen Gesetzesvorbehalt, der Einschränkungen ganz
allgemein zugunsten bestimmter Ziele zulässt. Auch immanente Schranken
sind nicht anerkannt.66) Art 2 EMRK darf nicht einmal im Krieg oder im öffentlichen Notstand suspendiert werden (Art 15 Abs 2 EMRK). Der Schutz des
Lebens ist in Art 2 EMRK also vergleichsweise „abwägungsfest“ konzipiert.
Er erlaubt keinerlei Unterscheidung und Abstufung nach Wert oder Qualität
des Lebens,67) auch nicht nach einem – wie auch immer zu bestimmenden –
„Lebensinteresse“.
Diese in der EMRK vorgenommene Unterscheidung zwischen absolut
eingriffsfesten Rechten (wie zB dem Folterverbot) bzw solchen Rechten, die –
wie Art 2 und 5 EMRK – lediglich punktuelle, klar umschriebene Ausnahmefälle zulassen und (eher als Prinzipien formulierten) Rechten, die je nach Abwägungsergebnis anderen Interessen oder Gütern weichen müssen, sollte auch
in der Horizontalrichtung nicht verwischt werden. Ein Grundrecht, in das vom
Staat nur in engen und taxativen Ausnahmefällen eingegriffen werden darf,
behält seinen rigiden Charakter auch dort, wo es um den staatlichen Schutz vor
privaten Eingriffen geht.
Hält man somit daran fest, dass Art 2 EMRK für die Annahme eines –
nach welchen Kriterien immer – abgestuften Lebensschutzes keinen Raum
lässt, so bestätigt dies die Auffassung des VfGH: Wollte man den ersten Satz
des Art 2 auch auf das ungeborene Leben beziehen, so liefe dies angesichts der
strikten und abwägungsfeindlichen Gesamtkonzeption des Art 2 auf einen
wenn schon nicht absoluten, so doch derart starken Schutz des Ungeborenen
hinaus, dass allenfalls bei vitalen Bedrohungen der Schwangeren eine Durchbrechung begründbar wäre. Ein solches Ergebnis ist auf systematischer Ebene
nicht von vornherein auszuschließen. Die damit verbundene Konsequenz einer
weitreichenden Verfassungswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruches wird
man dem Art 2 EMRK aber unter Einbeziehung anderer Interpretationsgesichtspunkte nicht unterstellen dürfen: Bei dieser Deutung wären – abgesehen
von einer strengen vitalen Indikation – die meisten europäischen Rechtsordnungen wegen ihres mehr oder weniger weitgehenden Abtreibungsrechts kon-
66)
67)
Kneihs, JBl 1999, 79 mwN.
Kneihs, JBl 1999, 78 mwN.
32
Christian Kopetzki
ventionswidrig,68) was unter Beachtung der Entstehungsgeschichte (unten c)
und eines europäischen Standards bei der Auslegung der EMRK (unten d)
nicht anzunehmen ist. Plausibler ist somit die Auffassung, dass das pränatale
Leben für sich genommen vom Schutzbereich des Art 2 EMRK nicht erfasst
wird.69)
Die These eines in der Horizontalwirkung abgestuften und abwägbaren
Lebensschutzes gem Art 2 EMRK zieht schließlich auch den Vorwurf auf sich,
dass jede zusätzliche ungeschriebene Differenzierung oder „immanente Grundrechtsschranke“ dem Lebensschutz insgesamt schadet: Denn wenn man –
immerhin entgegen dem Wortlaut des Art 2 EMRK – einmal Relativierungen
und Abwägungen mit kollidierenden Rechten zuungunsten des Lebens beim
Ungeborenen zulässt, dann ist nicht auszuschließen, dass diese Relativierung
auch beim Geborenen vorgenommen und das Leben gegen andere – in Art 2
Abs 2 EMRK nicht erwähnte – Güter abgewogen wird. Zurecht hat daher
Machacek davor gewarnt, dass die postulierte immanente Grundrechtsschran68) Ebenfalls verfassungswidrig wäre die Zerstörung von Embryonen, wie sie in
Gestalt (behördlich genehmigter) nidationshemmender Verhütungsmittel oder als Nebenwirkung von Techniken der Reproduktionsmedizin täglich hingenommen wird.
Weiters müsste man dann auch eine grundrechtliche Schutzpflicht zugunsten jener
Embryonen annehmen, die nach Ablauf der Einjahresfrist des § 17 FMedG nicht mehr
länger aufbewahrt werden dürfen. Der gängige Einwand, es sei eben ein Unterschied,
ob man die Abtreibung in einer mütterlichen Konfliktsituation erlaubt oder aber die
Verwendung von in-vitro Embryonen zu Forschungszwecken, verfängt zumindest auf
der verfassungsrechtlichen Ebene nicht: Art 2 EMRK anerkennt weder den mütterlichen Entscheidungskonflikt noch Forschungs-, Heil- oder sonstige Interessen als legitime Tötungsgründe an, ganz abgesehen davon, dass das einfachgesetzliche Recht die
Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruches nicht von einem „Konflikt“ abhängig
macht (näher Schmoller, Vorbem §§ 96-98 StGB Rz 23 ff, insb Rz 31). Wer dem
Selbstbestimmungsrecht der Frau hinreichendes Gewicht zubilligt, um einen Eingriff in
das Leben zu rechtfertigen, der hat bereits akzeptiert, dass das Lebensrecht unter bestimmten Voraussetzungen gegenüber gewichtigen Drittinteressen weichen muss, und
es wäre nicht einzusehen, weshalb Gesundheitsinteressen Dritter nicht ein ähnliches
Gewicht aufweisen könnten wie die Selbstbestimmung und Lebensplanung einer
Schwangeren, zumal beide Interessensphären letztlich im Schutzbereich desselben
gegenläufigen Grundrechts (Art 8 EMRK) angesiedelt sind. Wäre der Embryo tatsächlich Träger oder zumindest Schutzgut des Grundrechts auf Leben, dann wäre er in
beiden Konstellationen davor geschützt, irgendwelchen Abwägungen mit Konfliktsituationen Dritter, die er in keiner Weise zu verantworten hat, weichen zu müssen (zutreffend daher auch für Österreich R. Merkel, Die Abtreibungsfalle, Die Zeit Nr 25, 13. 6.
2001, 42). Mit dem Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Straflosigkeit und
Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruches (dagegen im Hinblick auf § 97 Abs 1
Z 2 2. Fall StGB nun auch OGH RdM 1999/23; mwN Bernat, Unerwünschtes Leben,
unerwünschte Geburt und Arzthaftung, FS Krejci II [2001] 1041 [1068 f]) lassen sich
solche Wertungswidersprüche nicht bereinigen.
69) Daraus folgt keine gänzliche verfassungsrechtliche Schutzlosigkeit des nasciturus, weil dieser – abgesehen von den aus dem Gleichheitssatz erfließenden zusätzlichen
Differenzierungsgeboten – in der Regel am grundrechtlichen Schutz der Mutter teilhat
(näher Holoubek, Gewährleistungspflichten 315). Nach der hier vertretenen Auffassung
richtet sich dieser grundrechtliche Schutz aber nicht zugleich gegen die Mutter, und er
besteht auch nicht für extrakorporale Embryonen.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
33
ke, welche zur einer Rechtfertigung indizierter Abtreibungen führe, auch die
Tötung von Menschen in „Indikationsfällen“ rechtfertigen könnte.70) Allgemeiner formuliert: Die Stärkung der Gewährleistungsextensität ist nur um den
Preis einer Schwächung der Gewährleistungsintensität zu haben.71)
c) Entstehungsgeschichte
Die restriktive Auslegung des VfGH wird auch durch die Entstehungsgeschichte des Art 2 EMRK gestützt: Wie schon erwähnt, wurde der für die Ableitung staatlicher Schutzpflichten maßgebliche erste Satz des Art 2 Abs 1
EMRK aus Formulierungen der zeitgleich beratenen Entwürfe zum UNWeltpakt (IPBPR) übernommen, es fand also eine gewisse textliche Anknüpfung an Art 6 des Weltpaktes statt.72) Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Frage nach dem Beginn des grundrechtlichen Lebensschutzes in den Verhandlungen zum Art 6 IPBPR ausführlich diskutiert, dort jedoch
einschränkend beantwortet wurde: Aus dessen Entstehungsgeschichte ergibt
sich nämlich, dass das werdende Leben gerade nicht erfasst werden sollte. Die
Initiative vieler Staaten, den Lebensschutz – vergleichbar dem Art 4 Abs 1
AMRK73) – bereits mit der Empfängnis beginnen zu lassen, wurde unter Hinweis auf die zu unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen nicht verwirklicht. 74)
Damit steht im Einklang, dass die zu Art 6 IPBPR herrschende Lehre den
Schutz des Lebens erst mit der Geburt75) oder (nach anderen Auffassungen)
70) Machacek, EuGRZ 1983, 466. Denn wer den Embryo zum „würdebegabten“
Menschen erhebt und sich gleichzeitig mit fristgebundenen Indikationen abfindet, die
dessen Tötung erlauben, findet sich „in genau den Niederungen wieder, in die [er] [...]
um gar keinen Preis gelangen wollte: In die der Vernichtung unwerten Lebens“ (Jerouschek, JZ 1989, 284, an die Adresse des BVerfG).
71) Jestaedt, Die Grundrechtsrevolution frisst ihre Kinder, JRP 2000, 99 (106).
72) Tretter, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Art 2 MRK 103 ff; Stolz, in: Mellinghoff/Trute, Leistungsfähigkeit 212 f. Zur Entstehungsgeschichte des Art 2 EMRK näher
Ramcharan, The Drafting History of Article 2 of the European Convention on Human
Rights, in: Ramcharan (Hrsg), The Right to Life in International Law (1985) 57.
73) Art 4 Abs 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) (Übersetzung aus EuGRZ 1980, 435): „Jedermann hat das Recht auf Achtung seines Lebens.
Dieses Recht wird gesetzlich geschützt und gilt im Allgemeinen vom Augenblick der
Empfängnis an. Niemand darf willkürlich getötet werden“. Im Übrigen hat auch die
weite Formulierung der AMRK Auslegungsdivergenzen hinsichtlich des Schutzes
ungeborenen Lebens nicht verhindern können: vgl nur Shelton, Abortion and the right
to life in the inter-american System: The Case of „Baby Boy“, HRLJ 1981, 309; Desch,
The Concept and Dimensions of the Right to Life, ZÖR 36 (1985/86) 77 (94 ff).
74) Dazu Ramcharan, The Drafting History of Article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, in: Ramcharan (Hrsg), The Right to Life 42 (51, 54);
Redelbach, Protection of the Right to Life by Law and by other means, in: Ramcharan
(Hrsg), Right to Life 182 (198); Desch, ZÖR 36 (1985/86) 87 ff; mwN Nowak, UNOPakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll (1989) 130 f.
75) Statt vieler Nowak, UNO-Pakt 131; Desch, ZÖR 36 (1985/86) 88; Schwelb,
The United Nations, the Council of Europe and Human Rights: Some Observations,
RDH 1975, 505 (515): „the matter ist left to regulation by national law“.
34
Christian Kopetzki
mit der Lebensfähigkeit annimmt,76) obwohl der persönliche Schutzbereich des
Art 6 IPBPR im authentischen englischen Wortlaut durch den weiteren Begriff
„human being“ statt „everyone“ umschrieben ist.77) Ähnliches gilt für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren Art 3 bei der Redaktion des
Art 2 EMRK ebenfalls als Inspirationsquelle diente: Vorstöße, den Lebensschutz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ab der Befruchtung
anzusetzen, wurden unter Hinweis auf die nationalen Regelungen des Schwangerschaftsabbruches abgelehnt.78)
Die historische Perspektive spricht daher ebenfalls eher dafür, dass die
Einbeziehung des ungeborenen Lebens in den Schutzbereich des Art 2 EMRK
nicht beabsichtigt war bzw – was auf das gleiche hinausläuft – dass sich für
diese Einbeziehung kein mehrheitsfähiger Konsens fand.79) So gesehen kann
der vom VfGH erwähnte Umstand, dass kein Vertragsstaat der EMRK einen
Vorbehalt zu Art 2 EMRK bezüglich der bestehenden nationalen Regelungen
über den Schwangerschaftsabbruch erklärt hat,80) sehr wohl als Indiz für ein
gewisses Vorverständnis der Vertragsstaaten gedeutet werden.
d) Bedeutungswandel und „europäischer Standard“
Text, Systematik und Entstehungsgeschichte der Konventionsbestimmung
weisen also in die gleiche Richtung. Eine teleologische, an Ziel und Zweck der
EMRK orientierte Auslegung könnte diesem Ergebnis nur dann entgegen
gehalten werden, wenn man die aus der Präambel und Art 1 EMRK hervorleuchtenden Zielsetzungen – insb die wirksame Anerkennung der in der
EMRK verankerten Rechte und Freiheiten sowie die Herstellung einer größeren Einigkeit unter den Vertragsstaaten – in gleicher Weise auf (geborene)
Menschen und Ungeborene bezieht. An einer möglichst früh und umfassend
einsetzenden Schutzpflicht bestünde dann kaum ein Zweifel. Doch ob die
effektive Zusicherung der Konventionsrechte an alle „Personen“ (Art 1) tatsächlich auch den Embryo einschließt oder nicht, setzt bereits die Lösung jener
strittigen Frage voraus, die mit dem teleologischen Argument beantwortet
werden soll. Die Einbeziehung der Embryonalentwicklung ab der Befruchtung
in den Kreis der „Menschen“ und „Personen“ ist nur unter Zugrundelegung
eines ganz bestimmten Wertungshintergrundes selbstverständlich. Dieser versteht sich aber nicht von selbst.81)
76) Dinstein, The Right to Life, Physical Integrity, and Liberty, in: Henkin (Hrsg),
The International Bill of Rights. The Covenant on Civil and Political Rights (1981) 114
(122).
77) Dazu Schwelb, RDH 1975, 515.
78) Vgl UN-Doc E/CN 4/AC 2/SR 3; dazu Velu/Ergec, Convention 175.
79) Näher Tretter, in: Ermacora/Nowak/Tretter 118 ff.
80) Dazu VfSlg 7400/1974; Guradze, 47; Melichar, FS Dordett (1976) 100.
81) Auch der Hinweis von Lewisch (FS Platzgummer 400 f) auf die Greuel der nationalsozialistischen Herrschaft oder auf den präpositiven Charakter des Lebensrechts
als historisch-teleologische Wurzeln der EMRK geben über die eigentliche Kernfrage –
nämlich die wertungsmäßige Gleichsetzung des geborenen mit dem ungeborenen Leben
im Kontext des Art 2 EMRK – keine Auskunft.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
35
Soll der Hinweis auf Ziel und Zweck des konventionsrechtlichen Lebensschutzes nicht in einen Zirkel münden, muss daher danach gefragt werden, ob
die Identifizierung von Mensch und Embryo – und damit die grundsätzliche
Gleichbewertung des menschlichen Lebens ab der Befruchtung – von einem
gemeinsamen europäischen Vorverständnis getragen ist. Dass die bisherigen
Überlegungen eher das Gegenteil nahe legen, schließt keineswegs aus, dass
möglicherweise eine „dynamische“ Interpretation des Art 2 EMRK zu einer
Einbeziehung vorgeburtlicher Entwicklungsstadien führen könnte. Auch der
mangelnde Konsens der Vertragspartner steht dem nicht entgegen, weil die
entstehungszeitliche Auslegung bei völkerrechtlichen Verträgen bei weitem
nicht jene Rolle spielt wie bei der Auslegung nationalen Rechts. Bei normativen Menschenrechtsverträgen tritt die Bedeutung des Willens der Vertragspartner noch weiter zugunsten einer objektiven und an einem „europäischen
Standard“82) orientierten Auslegung zurück.83) Die Straßburger Organe haben
wiederholt betont, dass die Konvention nicht vor dem Hintergrund des Verständnisses bei der Vertragsformulierung interpretiert werden darf. Bei unbestimmten Begriffen wie der „unmenschlichen“ Behandlung wird von der
Rechtsprechung auch ein evolutiver Auslegungswandel in Betracht gezogen,
da die EMRK als „living instrument“ nicht unabhängig von den jeweiligen
Zeitumständen und Bedrohungen ausgelegt werden dürfe.84) Der Grundsatz der
„dynamischen“ und „evolutiven“ Auslegung wird mitunter auch zur Begründung eines Embryonenschutzes in der EMRK ins Treffen geführt.85)
Eine solche – sowohl den Text als auch den historischen Konsens transzendierende und daher an der Grenze zur Rechtsfortbildung angesiedelte –
„extensive“ und „objektive“ Auslegung ist freilich nur dann und insoweit vertretbar, als sich ein solcher Wandel des Begriffs „Mensch“ oder zumindest
eine weitgehende Gleichbewertung des geborenen mit dem ungeborenen Leben (insb der Embryonalphase in vitro) im Hinblick auf das grundrechtliche
Schutzniveau auf einen nachvollziehbaren europaweiten Konsens stützen
könnte. Zurecht wird hervorgehoben, dass derartige interpretative Fortentwicklungen noch nicht durch den bloßen Appell an den hohen Wert des geschützten
82) Dazu zB Korinek, Auf dem Weg zu einem europäischen Grundrechtsstandard,
in: Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit (2000) 71.
83) MwN Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human rights treaties, FS
Wiarda (1988) 65 (68 ff).
84) MwN Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rz 7; Bernhardt, FS
Wiarda (1988) 69; Wildhaber/Breitenmoser, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler
Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 17 ff; Prebensen,
Evolutive interpretation of the European Convention on Human Rights, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber (Hrsg), Protecting Human Rights: The European
Perspective. Studies in memory of Rolv Ryssdal (2000) 1123. Als Beispiele für einen
Wandel der Auslegung unter Hinweis auf geänderte und weiterentwickelte rechtliche
Standards in den Mitgliedsstaaten der EMRK vgl statt aller die vom EGMR entschiedenen Fälle Tyrer, Serie A Nr 26 (Prügelstrafe als erniedrigende Bestrafung iSd Art 3),
Marckx, Serie A Nr 31 (Rechtsbeziehung unehelicher Kinder zur Mutter), Dudgeon,
Serie A Nr 45 (Straffreiheit homosexueller Beziehungen).
85) Jacqué, in: Furkel/Jung (Hrsg), Bioethik und Menschenrechte 2 ff.
36
Christian Kopetzki
Rechtsguts oder an den Charakter der Konvention als „living instrument“ gerechtfertigt sind; vielmehr müssten sie sich „besonders behutsam und genau
des Konsenses der europäischen Rechtsgemeinschaft vergewissern, wenn sie
nicht dem Vorwurf einer ihnen nicht übertragenen allgemeinen rechtspolitischen Würdigung ausgesetzt werden sollen“.86)
Ein hinreichender Konsens der europäischen Rechtsgemeinschaft kann
jedoch in diesem Zusammenhang nicht – oder jedenfalls noch nicht – behauptet werden.87) Die jüngere europäische Rechtsentwicklung liefert keinen hinreichenden Anhaltspunkt für eine Erweiterung des Lebensschutzes, der – wäre
er im Rechtsvergleich nachweisbar – als „europäischer Standard“ bei der Auslegung der EMRK zu berücksichtigen wäre. Im Gegenteil: Die Vielfalt der
jüngeren Regelungen auf dem Gebiet der Biomedizin und des Embryonenschutzes in vitro hat – im Vergleich zum Schwangerschaftsabbruch88) – europaweit eher noch zugenommen. Strikte Schutznormen, die jeglichen Eingriff
am Embryo in vitro ausschließen und daher insofern einen unbedingten „Lebensschutz“ verbürgen, stellen im europäischen Vergleich eher die Ausnahme
als die Regel dar.89)
Diese Divergenz der Auffassungen kommt nicht zuletzt wieder in der
sachlich einschlägigen Konvention des Europarates über Menschenrechte und
Biomedizin aus 1997 zum Ausdruck, die – mangels Übereinstimmung der
Vertragsstaaten – keinen konsequenten Embryonenschutz, insb kein Verbot
der Embryonenforschung enthält.90) Die Biomedizinkonvention kann als Beleg
dafür gelten, dass es für eine solche Ausdehnung des grundrechtlichen Lebensschutzes auf das Embryonalstadium nach wie vor keine gemeinsame Position
im Rahmen der Europaratsstaaten gibt.91) Bestätigt wird dieser Befund durch
86) Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rz 11. Ähnlich Harris/
O’Boyle/Warbrick, Convention 8 f, wonach „a new social standard [must] have
achieved sufficiently wide acceptance to affect the meaning of the Convention“; Bernhardt, FS Wiarda (1988) 70. Die bisherigen Beispiele einer „dynamischen Fortentwicklung“ in der Rsp des EGMR betreffen soweit ersichtlich durchwegs Sachverhalte, wo
ein derartiger Konsens evident war.
87) Vgl (zur Frage, ob Art 2 EMRK auch das vorgeburtliche Stadium umfasse)
mwN van Dijk/van Hoof, Convention 218 („On this point, however, there is no consensus at the national and the international level“). Zum Ganzen auch Mathieu, La vie en
droit constitutionnel comparé. Eléments de réflexions sur un droit incertain, RIDC
1998/4, 1031. Zur Unergiebigkeit des Art 2 EMRK für den Embryonenschutz weiters
Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz (1999) 204 ff.
88) Zur bunten Vielfalt der Rechtsordnungen hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruches vgl Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, 3 Bde
(1988 ff); Wildhaber, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK
(1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 228 ff.
89) Vgl die Hinweise in FN 123. Von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des
Schutzes ungeborenen Lebens kann daher auf europäischer Ebene nicht gesprochen
werden: Grabenwarter, DVBl 2001, 3.
90) Vgl insb Art 18 MRB, dazu näher unten III. B.
91) Dazu nur Birnbacher, Bioethische Konsensbildung durch Recht? – Fragen an
das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin, in: Taupitz (Hrsg), Die Bedeutung
der Philosophie für die Rechtswissenschaft (2001) 51, insb 55 ff. Als Indiz für einen
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
37
die jüngste europäische Formulierung des Rechts auf Leben in Art 2 der
Grundrechte-Charta der Europäischen Union,92) dessen Übereinstimmung mit
Art 2 EMRK ausdrücklich beabsichtigt war93) und der (daher) ebenfalls nicht
auf das ungeborene Leben bezogen wird. Wenn – so Grabenwarter – „jeder
Person“ das Recht gewährt wird, liegt die Annahme nahe, dass damit der
Schutz ungeborenen Lebens ausgeklammert werden soll, zumal sich „aus den
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten kein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Schutzes ungeborenen Lebens begründen lässt“.94)
Unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer „evolutiven“ oder „dynamischen“ Interpretation kann somit eine vom Konventionstext, der Systematik
und der Entstehungsgeschichte nicht gestützte Ausdehnung des Art 2 EMRK
auf die gesamte Embryonalphase zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht begründet werden. Der Rekurs auf Art 2 EMRK erweist sich daher auch als ungeeignet, um den rechtspolitischen und moralischen Streit um den Status von Embryonen mit Hilfe eines durchschlagenden Verfassungsarguments zu schlichten,
weil der aus Art 2 EMRK zu gewinnende Embryonenschutz seinerseits wieder
auf einen europäischen Konsens angewiesen wäre. Die evolutive Weiterentwicklung der Konventionsbegriffe und ihre Ausdehnung auf Embryonen in
vitro scheitert gerade am Mangel jenes Minimalkonsenses, der nach der Intention seiner Befürworter durch die Berufung auf das Lebensrecht der EMRK
katalysiert werden soll.
e) Sonderfall „therapeutisches Klonen“
Bei der grundrechtlichen Beurteilung des „therapeutischen Klonens“
kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Die – von der Diskussion um den
Schwangerschaftsabbruch und die Fortpflanzungsmedizin gebahnte – Debatte
um den Beginn des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes betraf die genaue
zeitliche Terminisierung dieses Schutzes im Kontinuum der Embryonalentwicklung zwischen der Befruchtung und der Geburt eines menschlichen Individuums. Beim „therapeutischen Klonen“ geht es aber mitunter um Sachverhalte, die damit nicht mehr viel gemeinsam haben. Beim Kerntransfer in eine
entkernte, unbefruchtete Eizelle zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen gibt es weder eine „Befruchtung“ noch zielt das Vorhaben auf das Erzeufehlenden europäischen Konsens wird man die MRB jedenfalls in Betracht ziehen
dürfen, auch wenn ihre Berücksichtigung als Auslegungsmittel für solche Bestimmungen der EMRK (vgl Art 31 Abs 3 WVK), die strengere Schutznormen vorsehen, wegen
Art 27 MRB abzulehnen wäre. Hier geht es gerade um die Frage, ob die EMRK solche
höheren Standards überhaupt vorsieht.
92) Art 2 Abs 1 Grundrechte-Charta der EU, ABl C 364/1 (= EuGRZ 2000, 558):
„Jede Person hat das Recht auf Leben“.
93) Vgl die Erläuterungen zu Art 2 der Charta, EuGRZ 2000, 558. Vgl auch Art 52
Abs 3 der Charta, wonach die Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite
haben wie die entsprechenden Rechte in der EMRK.
94) Grabenwarter, DVBl 2001, 3; ebenso Benoit-Rohmer, La Charte des droits
fondamentaux de l'Union européenne, Le Dalloz 2001, 1483 (1486); Dujmovits, RdM
2001, 74.
38
Christian Kopetzki
gen eines Lebewesens ab. Die argumentative Nähe zum Recht auf Leben entsteht einzig und allein dadurch, dass die gewonnenen Zellverbände eine Totipotenz aufweisen und sich daher theoretisch – unter Hinzutreten aller möglicher Faktoren wie dem Zufall, technischer Manipulationen und insbesonders
der Implantation in die Gebärmutter einer Frau – wieder zu einem neuen Menschen entwickeln könnten. Es bedarf also einer Reihe mehr oder weniger unwahrscheinlicher Zusatzprämissen, um den Bogen zwischen diesen totipotenten Zellen und einem künftigem Individuum zu spannen, wobei eine der entscheidenden Prämissen – die Implantation – bei den Szenarien des therapeutischen Klonens von vornherein nicht beabsichtigt ist.
Wie Berka zutreffend schreibt, schützt die Verfassung aber nicht das
menschliche Leben im Sinne der Gattungszugehörigkeit – was auch auf die
unverschmolzenen Keimzellen95) und letztlich auf sämtliche humane vitale
Zellen zuträfe – und daher auch nicht jedes „potenzielle“ oder künftige Leben,
sondern das individuelle Leben eines „Menschen“.96) Nur vor diesem Hintergrund lässt sich erst begründen, weshalb das Leben des Menschen im grundrechtlichen Sinn bereits mit dem irreversiblen Hirntod (und nicht erst mit dem
Absterben der letzten menschlichen Zelle im Organismus) endet.97) Es sprechen daher selbst dann, wenn man der hier vertretenen engen Auslegung des
Art 2 EMRK die Gefolgschaft versagt, gute Gründe dafür, auch den Beginn
des Lebens als grundrechtliches Schutzgut im Kontext des Rechts auf Leben
jedenfalls nicht vor dem Beginn der Hirnentwicklung anzusetzen.98) Dazu
kommt noch, dass sich das gebräuchliche „Potenzialitätsargument“ spätestens
dann ad absurdum führt, sobald es in Zukunft vielleicht möglich wird, somatische Zellen durch Entdifferenzierung und Reprogrammierung wieder in einen
embryonalen „Urzustand“ zurückzuversetzen. Denn dann ist „potenziell“ jede
somatische Körperzelle99) „mögliches“ und „künftiges“ menschliches Leben,
und man müsste sich bereits bei kleinen körperlichen Eingriffen nicht nur um
die Rechtssphäre des Spenders, sondern auch um eine Rechtfertigung hinsichtlich des Körpermaterials nach Art 2 EMRK Gedanken machen. Verfassungsrechtlich begründbar sind solche Überspannungen der Grundrechtsordnung mit
Sicherheit nicht.100)
95) Vgl H. Markl, Der Mensch ist moralisch großzügig geschneidert, Süddeutsche
Zeitung v 31. 10./1. 11. 2001, 19: „Das ‚menschliche Leben‘ beginnt keineswegs mit
der Verschmelzung von menschlichen Ei- und Samenzellen, denn auch die unverschmolzenen Gameten sind menschlich“.
96) Berka, Grundrechte Rz 368; ders, Lehrbuch Grundrechte 78 Rz 212.
97) MwN Kopetzki, Organgewinnung 51 ff; Weber, Transplantationsrecht – ein
Problemaufriss, in: Barta/Weber, Rechtsfragen der Transplantationsmedizin in Europa
(2001) 13 (15).
98) Markl, Süddeutsche Zeitung 31. 10./1. 11. 2001, 19: „Es ist die gleiche Logik,
die personales Leben mit dem Hirntod enden lässt, die seinen Beginn an ein funktionsfähiges Gehirn knüpft“. Diese Parallele wurde auch zu § 22 ABGB längst vertreten: vgl
zB Posch, 10. ÖJZ I/5, 81; zustimmend Schick, 10. ÖJT 1988, II/5, 24 ff.
99) Und das heisst: jedes „vollgeschneuzte Taschentuch“ (H. Schuh, Aus Hirn
ward Herz. Zum neuesten Schöpfungsakt der Organzüchter, Die Zeit Nr 24/2000).
100) Wie hier im Ergebnis und mwN Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, 929.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
39
f) Ergebnis
Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass nach ganz herrschender Auffassung jedenfalls das Stadium der frühen embryonalen Entwicklung vor der
Nidation – sei es in vivo oder in vitro – nicht dem verfassungsrechtlichen Lebensschutz gem Art 2 EMRK unterliegt. Das ergibt sich im Einklang mit dem
VfGH und dem OGH bereits aus der Unanwendbarkeit des Art 2 EMRK auf
das ungeborene Leben insgesamt. Doch selbst wenn man dieser – nach wie vor
umstrittenen – Auffassung nicht folgt, würde der Beginn des grundrechtlichen
Lebensschutzes nach überwiegender Lehre nicht vor den Nidation einsetzen.101) Umso weniger stehen unbefruchtete totipotente Zellen unter dem
Schutz der Verfassung.
B. Menschenwürde
Der zweite zentrale Einwand gegen die Embryonenforschung und das therapeutische Klonen stützt sich auf den Grundsatz der Menschenwürde. Allerdings kennt die österreichische Bundesverfassung einen solchen Grundsatz
nicht explizit (bzw nur in sachlich nicht einschlägigen Zusammenhängen wie
dem Schutz der persönlichen Freiheit gem Art 1 Abs 4 PersFrG).102) Die einzige in Betracht kommende positivrechtliche Verankerung enthält Art 3 EMRK,
der im systematischen Umfeld des Folterverbotes auch jede Art der unmenschlichen und erniedrigenden Strafe und Behandlung verpönt. Dieses Verbot
„unmenschlicher Behandlung“ verbürgt gewiss einen spezifischen Schutz der
Menschenwürde. Eine dem Art 1 GG vergleichbare umfassende verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde lässt sich daraus aber nicht gewinnen.103) Denn auch wenn man Art 3 EMRK mit Stolz „als eine gewissermaßen
101) Und selbst wenn man den Schutzbeginn des Art 2 EMRK mit der Befruchtung
ansetzen wollte: Jene Güterabwägung zu Lasten des Ungeborenen, die – obgleich in
Art 2 Abs 2 EMRK nicht positiviert – nach Meinung mancher zu einer grundsätzlichen
Zulässigkeit nicht vital indizierter Schwangerschaftsabbrüche in Indikationsfällen (zB
Lewisch, FS Platzgummer 396) führt, müsste dann zumindest im Prinzip auch zugunsten anderer grundrechtlich geschützter Rechte – etwa der Forschungsfreiheit oder dem
Lebens- und Gesundheitsschutz Dritter – möglich sein. Vgl auch FN 68.
102) Vgl Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 33; Huber/Stelzer, Gentechnologie
23; Öhlinger, Verfassungsrecht4 (1999) Rz 748; Kopetzki, Organgewinnung zu Zwecken der Transplantation (1988) 44, 46; Berka, Lehrbuch Grundrechte 81 Rz 218;
Weber, Transplantationsrecht, in: Barta/Weber, Transplantationsmedizin 14; Novak,
Fortpflanzungsmedizingesetz und Grundrechte, in: Bernat (Hrsg), Die Reproduktionsmedizin am Prüfstand von Recht und Ethik (2000) 62 (64). Weitere Nachweise zum
(kontroversiellen) Meinungsstand bei Kopetzki, Unterbringungsrecht I (1995) 403.
Gegenmeinungen sprechen von einem auch der österreichischen Verfassung „zugrundeliegenden“ Gedanken der Menschenwürde (zB Loebenstein, Die Zukunft der Grundrechte im Lichte der künstlichen Fortpflanzung des Menschen, JBl 1987, 694 [699]).
103) Stelzer, Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1991) 171; Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 33; Zellenberg, Der grundrechtliche Schutz vor Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung –
40
Christian Kopetzki
subsidiär wirkende Generalklausel“ in die Interpretation anderer Grundrechte
einfließen lassen möchte,104) so könnte dieser „Einfluss“ nicht über das hinaus
gehen, was der normative Gehalt des Art 3 EMRK (oder allenfalls noch in
Betracht kommender anderer Grundrechte) für sich betrachtet abzudecken in
der Lage ist.105) Art 3 EMRK ist kein allgemeines Auffangrecht, das den von
anderen positivierten Grundrechten nicht abgedeckten „Menschenwürderest“
abschöpft.106)
1. Art 3 EMRK
Ob bzw welche Folgerungen sich aus Art 3 EMRK für die embryonale
Phase ziehen lassen, ist derzeit nicht einmal in Ansätzen ausgelotet. Manche
Autoren bejahen zwar eine grundsätzliche Anwendung des Art 3 EMRK auf
den Embryo,107) doch divergieren die daraus gezogenen Konsequenzen ganz
beträchtlich: So beschränken etwa Öhlinger und Nowak den Schutz des Art 3
EMRK auf die Staatsrichtung, während sie eine grundrechtliche staatliche
Schutzpflicht im Hinblick auf in-vitro-Embryonen im Ergebnis verneinen.108)
Demgegenüber erblickt Lewisch in Art 3 EMRK ein Verbot der „verbrauchenden Embryonenforschung“.109) Vielfach wird der dem Ungeborenen durch
Art 3 EMRK zugesprochene Schutz überdies unter die Bedingung der späteren
Lebendgeburt gestellt,110) was der Bestimmung jegliche Relevanz nimmt, sobald der Eintritt dieser Bedingung nicht intendiert ist.
a) Persönlicher und sachlicher Schutzbereich
Wie schon bei Art 2 EMRK sind auch bei der Interpretation des Art 3
EMRK drei Ebenen auseinander zu halten: Die Frage nach der Schutzrichtung
(Staat/Private), die Frage nach dem persönlichen Geltungsbereich („niemand“)
und schließlich die Frage nach dem sachlichen Schutzbereich, insb nach den
Kriterien einer „unmenschlichen Behandlung“.
Art 3 EMRK, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Grund- und Menschenrechte in Österreich III (1997) 441 (455); Voss, Keimbahntherapie 178 f.
104) Stolz, in: Bernat (Hrsg), Lebensbeginn durch Menschenhand 113 ff (114);
ders, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg), Leistungsfähigkeit 205 ff.
105) Zutreffend Stelzer, Wesensgehaltargument 171. So wohl auch Dujmovits,
RdM 2001, 74, wonach staatlichen Eingriffen in die Würde des Menschen bereits durch
spezifische andere Grundrechte begegnet werde. Viel weitergehend Steiner, Ausgewählte Rechtsfragen der Insemination und Fertilisation, ÖJZ 1987, 513 (516).
106) Villiger, EMRK Rz 277.
107) ZB
Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Grund- und
Menschenrechte III 449 mit Nachweisen zum Meinungsstand (FN 41);
Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39.
108) Vgl Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39; wohl auch Stolz, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg), Leistungsfähigkeit 209.
109) Lewisch, Staatsbürger 1988/3, 12; ebenso Jacqué, La Convention européenne
des droits de l’homme et la bioéthique, in: Furkel/Jung (Hrsg), Bioethik und Menschenrechte (1993) 1 (4 f); Posch, 10. ÖJT 1988, I/5, 78 f.
110) Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
41
Was die Schutzrichtung betrifft, so ist heute kaum mehr umstritten, dass
Art 3 EMRK nicht nur gegen staatliche Eingriffe gerichtet ist, sondern in Verbindung mit der allgemeinen Zusicherung gem Art 1 EMRK auch staatliche
Schutzpflichten für das Verhältnis zwischen Privaten enthält.111) Das besagt
zwar nichts über die Reichweite und Intensität dieser Schutzpflicht, zeigt aber,
dass man die Bedeutung des Art 3 EMRK für das vorliegende Thema nicht auf
staatlich zurechenbare Handlungen beschränken darf.
Hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereiches liegt jedoch auch in diesem Zusammenhang die Annahme nahe, dass Art 3 EMRK – wie alle anderen
Konventionsrechte – seinem Wortlaut nach nur auf „Personen“ (arg „niemand“/„nul“/„no one“) anwendbar ist. Jene Argumente, die im Kontext des
Art 2 EMRK für eine Einschränkung der Grundrechtssubjektivität auf Geborene skizziert worden sind, lassen sich daher im Kern auch auf die Begriffe „nul“
bzw „one“ in Art 3 EMRK übertragen.112) Was eine darüber hinausreichende
Ausstrahlungswirkung über den Kreis der erfassten Grundrechtsträger betrifft,
so wird man eine solche objektive Schutzpflicht hier insofern eher vertreten
können, als Eingriffe am Embryo durchaus zu Zuständen führen könnten, die
dann – nach der Geburt – für sich genommen als „unmenschliche Behandlung“
eines Grundrechtsträgers und somit als Verletzung des Art 3 EMRK zu qualifizieren wären.113) Die scheinbar über die subjektive Grundrechtsberechtigung
hinaus gehende objektive Grundrechtswirkung lässt sich somit als Vorwirkung
zur Abwehr künftiger Grundrechtsverletzungen Geborener deuten. Dies steht
auch im Einklang mit der Rsp zu Art 3 EMRK, die nicht nur die tatsächliche
„unmenschliche Behandlung“, sondern bereits einschlägige Bedrohungssituationen – somit also die Gefahr künftiger Eingriffe – als Verletzung des Art 3
einstuft.114) Eingriffe am Embryo, die nach der Geburt etwa zu Leidenszuständen führen würden, die ihrerseits dem Art 3 EMRK widersprechen, wären
daher schon in der Embryonalphase gem Art 3 EMRK unzulässig.
Für Manipulationen an Embryonen im Frühstadium, die nicht auf die
Herbeiführung einer Schwangerschaft abzielen, muss diese Begründung einer
„Vorwirkung“ jedoch versagen. Es wäre damit aber auch unter dem Aspekt
des sachlichen Schutzbereiches nichts zu gewinnen. In der Frage, welche
Sachverhalte unter den Begriff der „unmenschlichen Behandlung“ zu subsumieren sind, eröffnet die Unbestimmtheit der Textierung hier zwar ebenso
111) Näher Kneihs, Grundrechte und Sterbehilfe (1998) 296 ff; Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Die Grundrechte in Österreich III 452 ff. In diesem Sinn
nun ausdrücklich EGMR, Fall A, RJD 1998-VI, 2692 (Z 22 ff) (staatliche Schutzpflicht
gegen eine Misshandlung durch Stiefvater). MwN auch Harris/O’Boyle/Warbrick,
Convention 21, 57 f.
112) Vgl oben II.A.3. Anders wieder Marschall, JBl 1972, 509, der die Worte
„niemand“/„nul“/„no one“ als Verweis auf die einfachgesetzliche Zuerkennung von
Rechtspersönlichkeit deutet. Damit wird aber der Umfang des Embryonenschutzes nach
Art 3 EMRK ohnehin an den einfachen Gesetzgeber delegiert und ein genuin verfassungsrechtlicher Würdeschutz in diesem Entwicklungsstadium verneint.
113) In diesem Sinn auch Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39.
114) MwN Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Grund- und Menschenrechte III 467.
42
Christian Kopetzki
beträchtliche Spielräume wie bei innerstaatlichen Menschenwürdeklauseln.115)
Dennoch – oder gerade deshalb – waren die Straßburger Organe bisher bemüht, handhabbare Spruchformeln zu entwickeln, die den Schutzbereich des
Art 3 EMRK konkretisieren. Legt man die bisherige Rsp zu Art 3 EMRK
zugrunde, so ergeben sich keine Anhaltspunkte, die – auch ohne Bezug zu
späteren Entwicklungsstadien – für eine Ausdehnung des Art 3 EMRK auf das
frühe embryonale Leben fruchtbar gemacht werden könnten. Ein Blick auf
Lehre und Rechtsprechung zum sachlichen Schutzbereich des Art 3 EMRK
zeigt vielmehr, dass es sich beim Folterverbot und beim Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung um Tatbestandsmerkmale handelt, die im
wesentlichen nach dem Schweregrad der zugefügten Leiden abgestuft werden.116) Auch die Rsp des VfGH liegt auf dieser Linie: Danach verstößt ein
(staatlicher) Akt gegen Art 3 EMRK, wenn ihm eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Missachtung des Betroffenen „als Person“ zu eigen
ist.117) Wie auch immer man die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Tatbeständen des Art 3 und die dafür erforderlichen Intensitätsschwellen im Detail
bewältigt, kann doch gesagt werden, dass Art 3 EMRK im Kern auf verletzte
persönliche Interessen und auf die Zufügung von menschlichem Leid abstellt,118) mithin also auf Kriterien, deren Erfüllbarkeit möglicherweise in späteren Stadien der Schwangerschaft, nicht aber im frühen Embryonalstadium
zur Debatte steht. Vor diesem Hintergrund hat auch die EKMR den Vorwurf
einer Verletzung des Art 3 EMRK durch einen Schwangerschaftsabbruch mit
dem Hinweis zurückgewiesen, es gäbe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass
dem Foetus Schmerz zugefügt wurde.119) Insb der enge systematische Zusammenhang zum Folterverbot spricht dagegen, den Schutzbereich des Art 3
EMRK auf Sachverhalte auszudehnen, die von vornherein nicht geeignet sind,
künftiges Leid eines Grundrechtsträgers hervorzurufen.
115) Vgl auch Harris/O’Boyle/Warbrick, Convention 88: „The terms ‚inhuman‘
and ‚degrading‘ especially have no clear legal meaning and tend to be over-used in
ordinary speech“.
116) Berka, Grundrechte Rz 380.
117) Vgl statt aller VfSlg 10.661/1985, 12.258/1990 etc.
118) MwN Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler, Die Grundrechte III 466 („geistiges und/oder physisches Leiden von nicht bloß geringfügigem Ausmaß“); zum individuellen Leid als entscheidende Eintrittsschwelle in Art 3 EMRK vgl auch Frowein/
Peukert, Art 3 EMRK Rz 2; Velu/Ergec, Convention 201; Harris/O’Boyle/ Warbrick,
Convention 61 f. Auch die Rsp des EGMR zur „unmenschlichen Behandlung“ stellt
maßgeblich auf die Zufügung von Schmerzen und Leid ab: mwN zB EGMR 26. 10.
2000, Fall Kudla, Appl 30.210/96 (Z 91); 7. 6. 2001, Fall Papon, Appl 64.666/01; mwN
Céré, Entscheidungsbesprechung, Le Dalloz 2001/29, 2336 (2337 f) („seuil de gravité
de souffrance essuyé par un individu“). Der Begriff der Folter stellt eine spezielle Ausprägung der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung dar: mwN EGMR 23. 5.
2001, Fall Denizci et al, Appl 25.316-21/94 (Z 383).
119) EKMR, Appl 17.004/90, DR 73, 155 (169): „The Commission has not been
presented with any material which could substantiate the applicant’s allegation of pain
inflicted upon the foetus (...). ... [T]he Commission does not find that the case discloses
any appearence of a violation of Article 3 of the Convention.“
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
43
b) Bedeutungswandel und „europäischer Standard“
Dieser Befund schließt zwar, ebenso wie bei Art 2 EMRK, nicht aus, dem
Art 3 EMRK bei entsprechend „dynamischer“ Interpretation im Lichte aktueller biotechnologischer Bedrohungen einen darüber hinausgehenden Schutz für
das frühe Embryonalstadium zu unterstellen – gerade die unbestimmten Formulierungen des Art 3 gaben in der Judikatur wiederholt Anlass zu „dynamischen“ Interpretationsansätzen.120) Auch bei Art 3 EMRK ist aber zu bedenken,
dass eine dynamische Weiterentwicklung des Schutzbereiches nur vor dem
Hintergrund eines europaweiten Wandels der Wertanschauungen bewerkstelligt werden könnte.121) Wie bereits erwähnt fehlt es auf dem Boden der derzeitigen europäischen Rechtsentwicklung aber gerade im Hinblick auf Embryonen in vitro an einem hinreichend abgesicherten Minimalkonsens, der eine
solche Auslegung legitimieren könnte.122) Denn immerhin sind Techniken wie
die Präimplantationsdiagnose, die „verbrauchende“ Embryonenforschung oder
das therapeutische Klonen in vielen europäischen Ländern – wenngleich in
unterschiedlichem Ausmaß – zulässig.123) Rigorose Verbote, wie sie etwa das
FMedG enthält, sind eher für die deutschsprachigen Staaten kennzeichnend.
Die Biomedizinkonvention des Europarates und ihr nur sehr schwach ausgeprägter Embryonenschutz (vgl Art 18) belegen, dass es an einem konsistenten
„europäischen Standard“ dieses Schutzes mangelt. Der Umstand, dass Art 26
MRB sogar Ausnahmen vom Verbot der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken zulässt, sofern dies nur zum Schutz der öffentlichen Gesundheit notwendig ist, zeigt, dass von einem europäischen Standard des Verbots
der Embryonenforschung aus Gründen der Menschenwürde nicht die Rede
sein kann.124)
MwN Harris/O’Boyle/Warbrick, Convention 8.
Zu diesem Aspekt der „dynamischen“ Auslegung vgl oben II.A.3.d.
122) Vgl Grillet, L’Europe face au clonage humain: Problèmes et perspectives juridiques, Médecine & Droit 49 (2001) 1 (6): „une situation encore en pleine évolution“.
123) Vgl zB die Übersicht bei H.-G. Koch, Fortpflanzungsmedizin im europäischen
Rechtsvergleich, Aus Politik und Zeitgeschichte B 27/2001, 44 (49 ff); ders, Fortpflanzungsmedizin im europäischen Rechtsvergleich, in: BMJ (Hrsg), Fortpflanzungsmedizin – Ethik und Rechtspolitik, Schriftenreihe des BMJ Bd 105 (2001) 45 (65 ff); McCall
Smith/Revel, The Use of Embryonic Stem Cells In Therapeutic Research, Report of the
International Bioethics Committee der UNESCO v 6. 4. 2001, BIO-7/00/GT-1/2; Manuel, Les solutions retenues dans les différents Etats européens, Revue générale de doit
médical, Numéro spécial: La recherche sur l’Embryon (2000) 149; Puppinck, Human
Cloning Regulation in Europe, The American Center for Law and Justice, CFJD Memo
3. 9. 2001 (www.aclj.org/ cloning/coning_cfjd_europe.asp); Taupitz, Der rechtliche
Rahmen des Klonens zu therapeutischen Zwecken, NJW 2001, 3433 (3439 f); Grillet,
Médecine & Droit 49 (2001) 6 f; Voss, Keimbahntherapie 179 f.
124) Vgl Gabolde/Hors, Utilisation aux fins de greffe de cellules et tissues humains
d’origine foetale ou embryonnaire, Médecine & Droit 44 (2000) 1 (3): „aucune disposition autorisant ou interdisant la recherche sur l’embryon n’existe actuellement dans les
textes adoptés par la Conseil de l‘Europe“; Schulz, ZRP 2001, 527. Teilt man diese
Auslegung des Art 3 EMRK nicht, dann müsste man zum Ergebnis kommen, dass die
Vertragsstaaten der MRB mit Art 18 iVm 26 MRB eine Norm geschaffen haben, die
120)
121)
44
Christian Kopetzki
2. Menschenwürdegarantien im Landesverfassungsrecht
Ausdrückliche Verankerungen des Grundsatzes der Menschenwürde finden sich mitunter in landesverfassungsrechtlichen Regelungen.125) Bei der
Suche nach verfassungsrechtlichen Schranken der Embryonenforschung und
der Gewinnung embryonaler Stammzellen zu therapeutischen Zwecken lässt
sich daraus aber nichts gewinnen. Soweit es sich dabei nämlich – was auf die
Herstellung therapeutisch nützlicher Substanzen jedenfalls zutrifft – um eine in
die Regelungskompetenz des Bundes fallende Angelegenheit handelt, scheidet
das Landesverfassungsrecht als Maßstab aus, weil dieses aus kompetenzrechtlichen Gründen keine Determinante für die Erzeugung oder Vollziehung von
Bundesrecht abgeben kann. Landesverfassungsrechtliche Grundrechtsbestimmungen binden nur die Landesgesetzgebung und die Landesvollziehung.126)
Außerdem dürften landesverfassungsrechtliche Regelungen wegen Art 99 BVG den Geltungsumfang der eher liberalistisch konzipierten bundesverfassungsrechtlich geregelten Grundrechte – zB der Forschungsfreiheit – nicht
beschränken.127)
3. Menschenwürde als ungeschriebenes Prinzip der Bundesverfassung?
a) Die Entscheidung VfSlg 13.635/1993
Die Auffassung, wonach auch dem B-VG ein Verfassungsgrundsatz der
Menschenwürde zugrunde liege, scheint durch eine jüngere Entscheidung des
VfGH gestützt zu werden: In VfSlg 13.635/1993 hat der Gerichtshof unter
Berufung auf Bydlinski „entsprechend den allgemeinen Wertungsgrundsätzen
unserer Rechtsordnung“ ein allgemeines Prinzip der „Personen- und Menschenwürde“ bejaht. Im Schrifttum wurde dieses Erkenntnis als Ansatz für
einen ungeschriebenen Grundsatz der Menschenwürde gedeutet.128)
Im Kontext des konkreten Falles ging es bei dieser Berufung auf die
Menschenwürde allerdings nicht um eine verfassungsrechtliche Aussage, sondern um ein zusätzliches, an der Grenze zum obiter dictum angesiedeltes Argument, um einer Bestimmung der Chemikalienverordnung die gesetzliche
Deckung zu verleihen, die ein – im Text des ChemikalienG nicht eindeutig
enthaltenes – Beweisverwertungsverbot für Versuche an Menschen vorsah.
Das Menschenwürdeargument hatte von seiner argumentativen Funktion her
dem Art 3 EMRK zwar nicht logisch widerspricht, deren Ausnahmen zugunsten der
Embryonenforschung aber von den Vertragsstaaten wegen Art 3 EMRK nicht ausgenützt werden dürften. Näher liegt die Annahme, die nachfolgende Praxis der Vertragsstaaten gem Art 31 Abs 3 WVK ihrerseits bei der Auslegung der EMRK oder zumindest bei der Bestimmung des europäischen Standards zu veranschlagen, vgl FN 91.
125) MwN Demmelbauer, ÖGZ 1993/9, 19 f.
126) Stelzer, Die Quellen der Grundrechte, ZÖR 1999, 9 (15).
127) Berka, Lehrbuch Grundrechte 15 Rz 40; Kopetzki, Unterbringungsrecht I 296
in und bei FN 1920.
128) Stelzer, ZÖR 1999, 15 f; wohl auch Novak in: Bernat (Hrsg), Reproduktionsmedizin 72; Berka, Grundrechte Rz 376 ff.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
45
einen einfachgesetzlichen – weil gesetzesvertretenden – Stellenwert: Die Berufung auf die „Menschenwürde“ substituierte die gesetzliche Grundlage.129)
Hätte der VfGH dem Grundsatz der Menschenwürde tatsächlich Verfassungsrang zugeschrieben, dann liefe dies auf die Bejahung einer verfassungsunmittelbaren, der Konkretisierung durch den nach der Kompetenzverteilung zuständigen parlamentarischen Gesetzgeber enthobenen Schutzpflicht zugunsten
der Menschenwürde hinaus, die von der Verwaltung ohne Dazwischentreten
eines einfachen Gesetzes umzusetzen wäre.
Eine solche Deutung sollte man dem VfGH freilich nicht unterstellen: Sie
widerspräche nämlich dem in der Verfassungsrechtslehre bislang anerkannten
Grundsatz, dass auch verfassungs- bzw grundrechtliche Schutzpflichten erst
über den Umweg einfachgesetzlicher Ausgestaltung zu Eingriffen in die
Rechtssphäre des Einzelnen ermächtigen130) bzw zu unmittelbar anwendbaren
Verhaltensnormen führen können.131) Schutzpflichten rechtfertigen noch keinen gesetzesfreien Eingriff.132) Der Mangel einer gesetzlichen Deckung lässt
sich auch nicht durch den Verweis auf allgemeine Wertungsgrundsätze kompensieren, weil damit unter dem Aspekt der gesetzlichen Konkretisierungspflicht nichts zu gewinnen ist.133)
129) VfSlg 13.635/1993: Entsprechend „den allgemeinen Wertungsgrundsätzen unserer Rechtsordnung“ sei es – „auch ohne besondere gesetzliche Anordnung“ – zulässig, die Berücksichtigung der Ergebnisse von Versuchen am Menschen durch entsprechende Beweisverwertungsverbote zu beschränken. Dazu Stelzer, ZÖR 1999, 16.
130) Vgl dazu für viele Walter/Mayer, Grundriss Verfassung Rz 1329; Öhlinger,
Verfassungsrecht, Rz 742; Kopetzki, Art 1 PersFrG Rz 55, in: Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht III (im Druck); ders, Unterbringungsrecht, Bd 2,
958; U. Davy, Versammlungsschutz und Meinungsfreiheit, JAP 1990/91, 197; Holoubek, Die Struktur der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, 1997, 38. Ebenso für die
BRD zB Murswiek in: Sachs, Art 2 GG Rz 26.
131) Gegen ein direkt aus den Grundrechten abgeleitetes Verbot für bestimmte
Handlungen (Privater) mit eingehender Begründung Holoubek, Gewährleistungspflichten 131 ff. Auch für Österreich gilt daher uneingeschränkt, dass grundrechtliche
Schutzpflichten keine unmittelbaren Rechtswirkungen zugunsten oder zulasten des
Bürgers entfalten: Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des
freiheitlichen Verfassungsstaates (1983) 42.
132) Isensee, Grundrecht auf Sicherheit 43: „Die grundrechtliche Legitimität ersetzt
nicht die Legalität“.
133) Dass gerade der – in der Rsp des VfGH erstmalige und daher „unvorhersehbare“ – Rückgriff auf einen ebenso ungeschriebenen wie unbestimmten Begriff wie jenen
der Menschenwürde dafür herhalten muss, die im Legalitätsprinzip angesprochene
Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Verwaltungshandelns zu substituieren, ist
schon für sich genommen schwer nachzuvollziehen. Denkt man die Argumentationslinie des VfGH zu Ende, so würde dies der Verwaltung einen gesetzlich undeterminierten Entscheidungsspielraum praeter legem eröffnen, sobald sie sich nur auf die „Menschenwürde“ beruft. „Wo aber die Staatsgewalt sich unter Berufung auf höhere Werte
für legitimiert hält, Menschen an etwas zu hindern, was zu verbieten ihr kein Gesetz
erlaubt, da ist Gefahr im Verzug“ (Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder
Rechtsordnung, Transit 21 [2001] 172 [176]). Nicht weniger missverständlich sind die
inhaltlichen Aussagen des VfGH zur Menschenwürdegarantie: Die These, Versuche am
Menschen seien „auch mit dessen Zustimmung zwangsläufig“ mit einem Eingriff in die
46
Christian Kopetzki
Nichts legt also die Annahme nahe, dass der vom VfGH im Wege einer
Art Gesamtanalogie gewonnene Rechtsgrundsatz der Menschenwürde im
Verfassungsrang stehe bzw dass dem Gerichtshof eine solche Aussage zugesonnen werden darf.134) Im Erkenntnis ging es weder um die Begründung eines
solchen verfassungsrechtlichen Grundsatzes, noch wäre ein solcher im entscheidungserheblichen Kontext von Menschenversuchen überhaupt nötig gewesen, da das Selbstbestimmungsrecht, die körperliche Integrität und die Gesundheit von Versuchspersonen auf grundrechtlicher Ebene durch die bestehenden Garantien (insb der Art 2, 3 und 8 EMRK) hinreichend und ohne Rekurs auf ungeschriebene Wertungsgrundsätze geschützt sind.
b) Menschenwürde und grundrechtliche „Wertordnung“
Gegen die Annahme eines ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der
Menschenwürde spricht also nicht nur, dass es dafür keinerlei – über die Positivierung von Einzelgrundrechten hinausgehenden – Ansatzpunkte im Verfassungstext gibt, sondern auch, dass das B-VG mit seinem formellen Verfassungsbegriff, der ausdrücklichen Bezeichnungspflicht für Bundesverfassungsrecht (Art 44 Abs 1 B-VG), der Zurückhaltung bei inhaltlichen Zielsetzungen
zugunsten organisatorischer und verfahrensbezogener „Spielregeln“ für den
politischen Willensbildungsprozess, dem Fehlen eines in sich homogenen
Grundrechtskataloges135) und der Reduktion von „Grundrechten“ auf den
strukturellen Gehalt eines „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts“136)
für derartige Begründungsansätze wenig Platz lässt. Im österreichischen Verfassungsrecht fehlt eine Analogiegrundlage für die Anerkennung ungeschriebener Rechte im Wege der Rechtsfortbildung.137) Die in Deutschland weit
verbreitete – und im Lichte des Grundgesetzes möglicherweise anders zu beurteilende – Auffassung, wonach die Grundrechte Ausdruck einer umfassenden
„Wertordnung“ seien, die letztlich auf alle neuen Regelungsprobleme (auch
und gerade im Bereich der Biomedizin) eine Antwort geben, die der Gesetzgeber nur mehr zu konkretisieren habe, lässt sich auf die österreichische Verfassungsordnung nicht übertragen.138) Die Weiterentwicklung des verfassungsMenschenwürde verbunden, ist in ihrer überschießenden Tendenz fragwürdig und zeigt,
auf welch glatten Boden sich der VfGH mit der Berufung auf das Menschenwürdeargument begeben hat.
134) Eine solche Deutung findet sich auch bei Stelzer (ZÖR 1999, 16), Berka
(Grundrechte Rz 376 ff) und R. Novak (in: Bernat, Reproduktionsmedizin 64, 72) nicht.
Weitergehend nun wohl Stelzer, Verfassungsrechtliche Grenzen des Eingriffs in Rechte
oder Vertragsverhältnisse, DRdA 2001, 508 (517); Müller, Neue Ermittlungsmethoden
und das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung, EuGRZ 2002, 546 (547).
135) Öhlinger, EuGRZ 1982, 224 f; Jabloner, Verfassungsrechtliche Grundordnung und historisch erste Verfassung, JRP 2001, 34 (41).
136) Dazu Stelzer, Die Entwicklung der Grundrechte und ihr Einfluss auf die Textierung von Grundrechtsdokumenten, ZÖR 1999, 3 (6).
137) Statt aller Stelzer, ZÖR 1999, 6.
138) Für eine umfassende grundrechtstheroretische Diskussion vgl Holoubek, Gewährleistungspflichten 76 ff, 126 ff; gegen eine Rezeption der deutschen „Werttheorie“
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
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rechtlichen Rechtsbestandes zur Anpassung an neue Situationen ist dem Verfassungsgesetzgeber vorbehalten.139) Es ist daher auch nicht Aufgabe der Verfassungsinterpretation, durch den „Ausbau“ vorhandener Bestimmungen eine
dem deutschen Grundgesetz „vergleichbare Menschenwürdeklausel zu erarbeiten“.140)
Dazu kommt, dass die Funktion des Menschenwürdearguments gerade bei
Fragen moderner Technologien typischerweise nicht in erster Linie auf die
Begründung subjektiver Rechte abzielt (da hiefür meist die bestehenden
Grundrechte ausreichen), sondern auf die Legitimation neuer Verbote, die
ohne Rekurs auf die Menschenwürde bedenklich scheinen könnten.141) Das
Erkenntnis VfSlg 13.635/1993 macht hier keine Ausnahme. Aus grundrechtsdogmatischer Sicht hat man es mit Ableitungen neuer staatlicher Schutzpflichten aus der Menschenwürdegarantie zu tun, wobei diese Schutzpflichten dann
als systematische Gewährleistungsschranken gegenüber liberalen Abwehrrechten in Anschlag gebracht werden. Auf diese Weise gerät die – nicht durch eine
Bestimmung des positiven Verfassungsrechts abgedeckte – Berufung auf die
Menschenwürde in ein Spannungsverhältnis zu gegenläufigen Freiheitsrechten
und damit auch zum liberalen Prinzip der Bundesverfassung.
Besonders deutlich wird diese antiliberale Stoßrichtung beim Versuch
von Schlag, auf der Grundlage einer hierarchischen Rangordnung der Grundrechte die „Vorrangigkeit staatlicher Schutzpflichten vor individuellen Freiheitsrechten“ nachzuweisen und andere „Freiheiten und Grundrechte“ immer
dann zurücktreten zu lassen, „wo Person, Leben und Integrität so gefährdet
sind, dass die Menschenwürde ... verletzt wird“.142) Sobald das der Rechts- und
Grundrechtsordnung zugrunde liegende Menschenbild überschritten werde,
kehre sich die Freiheitsvermutung („Alles was nicht verboten ist, ist erlaubt“)
um („Alles was nicht erlaubt ist, bleibt verboten“).143) Diese Argumentation
schon Korinek, FS Wenger 250; Öhlinger, EuGRZ 1982, 224; ders, Verfassungsrecht
Rz 693; Walter/Mayer, Grundriss Verfassung, Rz 1325; Rosenzweig, FS Broda 264 ff;
anders hingegen zB Pernthaler, Grundrechtsdogmatik und allgemeine Staatslehre, FS
Ermacora (1988) 605 (607 ff). Kritisch aus deutscher Sicht zB Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders, Staat, Gesellschaft, Freiheit
(1976) 232 ff; H. Dreier in: Dreier, GG-Kommentar I, Art 1 I Rz 62, 99. Vgl gegen die
Umdeutung von Grundrechten in Grundwerte weiters R. Spaemann, Transit 21 (2001)
172 ff; Michalski, Politik und Werte, Transit 21 (2001) 208.
139) Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in:
ders, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit 243 (275).
140) So jedoch Steiner, ÖJZ 1987, 516.
141) Zur „Menschenwürde“-Garantie als primäre Quelle von Verboten zB Augustin, Rechtliche Regelungen für Stammzelltherapien, ZSR 2001, 163 (165 f). Kritisch zB
Ipsen, JZ 2001, 995, wonach „in Deutschland ... allzu oft gesetzliche Verbote im Vordergrund [stehen], die sich besonders guten Gewissens erlassen lassen, wenn sie als
verfassungsrechtlich geboten ausgegeben werden können“.
142) Schlag, ÖJZ 1992, 54; ders, Fortpflanzung 100 f.
143) Schlag, 10. ÖJT 1988, II/5, 103. Ansätze in diese Richtung schon bei Ermacora, Grundriss Menschenrechte Rz 1190, wonach „unnatürliche Vorgänge durch das
Recht ausdrücklich erlaubt werden“ müssten. Damit wird das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip – also die Beweislast des Staates, der die Freiheit beschränkt (mwN
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Christian Kopetzki
leidet nicht nur an der Schwierigkeit, eine solche Rangordnung positivrechtlich
zu begründen;144) sie führt letztlich auch dazu, dass die differenzierten Grundrechtsverbürgungen der Verfassung jederzeit durch den Appell an ein unbestimmtes „Menschenbild“ überspielt und aus ihrer primär subjektiv-rechtlichen
Abwehrrichtung in eine Pflichtenbindung umfunktioniert werden können. Die
damit einhergehende und durch die hochgradige Unbestimmtheit der Menschenwürdeklausel noch akzentuierte Verschiebung der Letztentscheidungskompetenz vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber zum Verfassungsgerichtshof erscheint schließlich auch unter dem Aspekt der Gewaltentrennung problematisch: Der Streit um Existenz, Sinn und Funktion einer verfassungsrechtlichen Menschenwürdeklausel mündet – wendet man den Blick
aus den Höhen symbolischer Staatszielbestimmungen in die Niederungen
staatlicher Funktionsabläufe – am Ende in die Frage, wer in Zukunft über die
anstehenden „biopolitischen“ Jahrhundertfragen entscheiden soll: Das Parlament oder das Höchstgericht.145)
c) Rechtsstaat ohne „Menschenwürde“?
Selbstverständlich liegt jeder Rechts- und Verfassungsordnung eine bestimmte Vorstellung vom Menschen zugrunde. Dieses „Menschenbild“ ist,
nicht anders als die „Menschenwürde“, Leitidee, Motor und moralische Legitimation der europäischen Grundrechtsentwicklung bis hin zur Biomedizinkonvention des Europarates und zur EU-Grundrechtscharta:146) Es ist die Überschrift zu jenem Text, den die Menschenrechte darstellen. Der gesamte Grundrechtskatalog ist Ausdruck und Fortentwicklung dieser Würdeidee, und es sind
nicht zuletzt die einzelnen Grundrechte, in denen sie sich manifestiert. Zurecht
wird daher auch gesagt, dass „grundsätzlich alle Grundrechte Teilinhalte der
Menschenwürde gewährleisten“. 147)
Daraus folgt allerdings nicht, dass die „Menschenwürde“ ein eigenes, zu
den anderen Rechten hinzutretendes Recht oder verfassungsrechtliches
„Schutzgut“ ist, und auch nicht, dass es de constitutione ferenda sinnvoll wäre,
Schlink, EuGRZ 1984, 467) – auf den Kopf gestellt. Rechtfertigungspflichtig ist dann
nicht mehr der Freiheitseingriff, sondern der Freiheitsgebrauch. Zurecht kritisch Isensee, Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution, FS Hollerbach (2001)
243 (249 f).
144) Zurecht weist Morscher, EuGRZ 1990, 470, darauf hin, dass sich für die Annahme „abgestufter grundrechtlicher Bedeutungsschichten“ im Sinne einer Hierarchie
der Grundrechte im österreichischen Verfassungsrecht kein Anhaltspunkt findet.
145) Zu diesem gewaltentrennenden Aspekt (auch im Hinblick auf die Judikaturunterschiede zwischen VfGH und BVerfG) zB Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit
im Gefüge der Staatsfunktionen, in: ders, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit
243 (261 ff); Isensee, Vom Stil der Verfassung, Nordrein-Westfälische Akademie der
Wissenschaften (1999) 7 (64 ff). Vgl schon Kelsen, Wesen und Entwicklung der
Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929) 30 (70).
146) Vgl die programmatische Bestimmung des Art 1 MRB; dazu Mathieu, Bioéthique et droits fondamentaux. Quelles réponses au niveau européen, REDP 13 (2001)
695 (697 ff). Ähnlich die Präambel und Art 1 der EU-Grundrechtscharta.
147) Berka, Grundrechte Rz 378.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
49
sie zu einem solchen zu machen. Gerade in jenen Bereichen, in denen der
rettende Griff zur Menschenwürde nahe zu liegen scheint, weil entweder ein
allgemeiner Wertkonsens fehlt und/oder die Zuordenbarkeit zu „herkömmlichen“ Grundrechten versagt, wird auch die Menschenwürdegarantie ihre regulative Aufgabe kaum erfüllen können. Ihre Offenheit bringt es mit sich, dass
die interpretatorischen Ableitungen ebenso vielfältig sind wie jene moralischen
Positionen, durch deren Brille sie gelesen wird. Führt man sich die Spannweite
der Menschenwürdediskussion vor Augen, wie sie beispielsweise in Deutschland zur Frage der Reproduktionstechnologien, der Embryonenforschung und
des therapeutischen Klonens geführt wird, so drängt sich der ernüchternde
Eindruck auf, dass dieser Grundsatz – zumindest in den hier interessierenden
Grenzbereichen der Biomedizin – keinen ausreichend konsentierten Bedeutungskern aufweist, der halbwegs eindeutige normative Antworten erlaubt und
der in der Lage wäre, künftige Entscheidungen einigermaßen vorhersehbar zu
strukturieren.148) Dieser Dissens wird zwar durch den Rückgriff auf gängige
Würde-Formeln aus Religion oder Philosophie vordergründig verdeckt, er
bricht aber bei der Konkretisierung im Einzelfall unvermindert wieder auf.149)
Mit gutem Grund mehren sich daher auch in der deutschen Literatur
Stimmen, die vor einem allzu „leichthändigen und vollmundigen“ Einsatz des
Menschenwürdearguments warnen.150) Wo Rechtspositionen im geltenden
Verfassungsrecht hinreichend abgesichert sind, bedürfen sie keiner „Immunisierung durch Fundamentalbegründungen aus dem Wesen des Menschen“,151)
148) Zur kontroversen Auslegung der Menschenwürdegarantie im deutschen GG
zusammenfassend Luf, in: Korff (Hrsg), Lexikon der Bioethik II 681 f; zum Beginn des
grundrechtlichen Lebensschutzes mwN Isensee, FS Hollerbach (2001) 252.
149) Die mangelnde Steuerungskraft der „Menschenwürde“ in bioethischen Grenzfragen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass viele Rechtsordnungen einen Schutz der Menschenwürde verfassungsrechtlich festgeschrieben haben (mwN Schulze-Fielitz in: H.
Dreier (Hrsg), GG-Kommentar I (1996) Art 2 II GG Rz 5), dass jedoch nichts desto
weniger die konkrete Anwendung des Menschenwürdearguments auf den „Status“ des
Embryo zu völlig abweichenden Ergebnissen führt; vgl Simon, Human Dignity as a
regulative Instrument for Human Genome Research, in: Mazzoni (Ed), Etica della
Ricerca biologica, 39 (41). Das gemeinsame Bekenntnis zum Rechtsgrundsatz der
Menschenwürde wird offenbar zur Projektionsfläche unterschiedlicher Weltanschauungen und Wertauffassungen. Für Menschenwürdeklauseln gilt hier nichts anderes als für
andere hochgradig unbestimmte Wertformeln, weil die damit verbundenen „Auffassungen miteinander konkurrieren und einander vielfach ausschließen und weil ihre Vertreter den Beweis dafür schuldig bleiben müssen, dass nur ihr Wertkonzept mit der Wertformel gemeint sein kann. Dem jeweiligen Konzept nach hat nur eines von ihnen in der
‚Leerformel’ Platz; der allgemeinen Sprachkonvention nach jedoch viele. Daher sind
subjektive Werturteile und freie Wertungen an der Tagesordnung. Politische Auseinandersetzungen spielen sich dann nicht mehr im Vorfeld des Rechtes ab; sie werden unzulässiger- und unnötigerweise mitten in das positive Recht getragen“ (Winkler, Wertbetrachtung 28).
150) Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, 925; in diesem Sinn zB schon Vitzthum, Gentechnologie und Menschenwürdeargument, ZRP 1987, 33; Isensee, FS Hollerbach
(2001) 247; mwN Kopetzki, Unterbringungsrecht I 407. Differenzierend Luf, in: Korff
(Hrsg), Lexikon der Bioethik II 682.
151) Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AÖR 1993, 353.
50
Christian Kopetzki
und wo dies nicht der Fall ist, helfen auch letztere nicht viel. Die geringe
Halbwertszeit der mit dem Würdegrundsatz mitunter verbundenen Wertvorstellungen, die sich exemplarisch an den Diskussionen über die Reproduktionsmedizin ablesen lässt,152) führt vielmehr zu einem Einfließen der jeweils
mehrheitsfähigen Wertauffassungen, oder – wie Böckenförde in ähnlichem
Zusammenhang anmerkte – zu einem „Positivismus der Tageswertungen“ und
letztlich zu einem Zurücktreten spezifisch juristischer zugunsten – wechselnder – rechtsethischer Begründungsansätze.153) Eine eher dem normativen Gehalt der Verfassung als dem Bekenntnis zu einer „objektiven Wertordnung“
verpflichtete Verfassungsinterpretation vermag hingegen die Erinnerung wach
zu halten, dass die Funktion der Grundrechte gerade auch darin liegt, dass sie
ihre Rechtswirkungen für den Einzelnen „vielfach gerade gegen die jeweils
herrschenden Werturteile der Zeit entfalten“.154)
C. Gleichheitssatz
Aus diesem spärlichen grundrechtlichen Befund folgt nicht, dass gesetzliche Regelungen des Embryonenschutzes verfassungsrechtlich überhaupt nicht
determiniert wären. Maßgebliche Bindungen künftiger Rechtspolitik ergeben
sich im wesentlichen aus dem Gleichheitssatz, sofern man diesen – wie der
VfGH und die herrschende Lehre – auch als allgemeines Sachlichkeitsgebot
begreift.155) Zwar ergibt sich aus dem Gleichheitssatz keine staatliche Handlungspflicht. Neue gesetzliche Regelungen können jedoch auf ihre Sachlichkeit
überprüft werden. Der erforderliche Maßstab für die – wertende 156) – Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Differenzierungen kann
dabei aus dem bestehenden Normenbestand – einschließlich der bereits bestehenden Regelungen zur Fortpflanzungsmedizin und zum Schwangerschaftsabbruch – und aus allgemeinen Grundsätzen der Rechtsordnung gewonnen werden, die sich als Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der „Sachlichkeit“ neuer
152) Kaum eine der heute weltweit praktizierten reproduktionsmedizinischen Methoden ist bisher dem (mitunter vorübergehenden) Verdikt der Grundgesetzwidrigkeit
entgangen, so etwa auch nicht – nach der hL der sechziger Jahre – die heterologe Insemination (mwN Giesen, Heterologe Insemination – ein neues legislatorisches Problem?
FamRZ 1981, 413).
153) Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders, Recht,
Staat, Freiheit (1991) 67 (90); ders, Grundrechtstheorie 232 ff, dort auch zur Frage der
verfassungsadäquaten Methodenwahl im Staatsrecht. Zur gebotenen Trennung ethischer
und verfassungsrechtlicher Argumente nun wieder Ipsen, JZ 2001, 989. Zum breiten
und dynamischen Spektrum bioethischer Aussagen Birnbacher, in: Taupitz (Hrsg), Die
Bedeutung der Philosophie für die Rechtswissenschaft (2001) 51 ff.
154) Vgl nur Walter, in: Vogel (Hrsg), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle 20; Walter/Mayer, Grundriss Verfassung Rz 1325.
155) Anderenfalls freilich ließe sich der persönliche Geltungsbereich des Art 7 BVG nicht auf die embryonale Phase erstrecken, weil der Begriff „Bundesbürger“ (Art 7
Abs 1 B-VG) nur Geborene erfasst.
156) Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 762.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
51
Regelungen anbieten und die Abweichungen unter einen erhöhten Begründungszwang stellen. 157)
Schon unter diesem Aspekt dürfte also die Geburt keine scharfe Zäsur
zwischen dem vollen Lebensschutz und einer gänzlichen Preisgabe jeglichen
Schutzes sein. Vielmehr bedürfte es differenzierender und abgestufter Regelungen, welche der schrittweisen Entwicklung des menschlichen Lebens vom
totipotenten Embryonalstadium der Blastozyste bis hin zu einem bereits lebens- und empfindungsfähigen Fötus unmittelbar vor dem Ende der Schwangerschaft einen ebenso abgestuften und kontinuierlich wachsenden Rechtsschutz an die Seite stellen. Auf welche Abstufungskriterien es dabei im einzelnen ankommt und wie diese zu gewichten sind, kann und braucht hier nicht
annähernd ausgelotet werden.158) Einleuchtend ist aber wohl, dass die ersten
Tage eines extrakorporalen Keims vor der Nidation – sei er nun durch Befruchtung oder durch Kerntransfer entstanden – eher am unteren Ende der
Skala rechtlicher Schutzbedürftigkeit anzusiedeln wären, und sohin eine Abwägung mit anderen Rechtspositionen und Interessen – auch der Forschungsfreiheit – ebenso möglich wie geboten wäre. Unzutreffend wäre es jedenfalls,
ein durchgehendes einheitliches Schutzniveau während der gesamten Entwicklungsdauer mit dem Argument zu postulieren, das werdende menschliche Leben sei während seiner gesamten Dauer keinerlei Differenzierungen zugänglich und somit ein „Gleiches“ iSd des Gleichheitssatzes:159) Denn dies trifft –
wie die Ausführungen zum Grundrecht auf Leben gezeigt haben – weder vor
dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Bewertung noch vor dem Hintergrund der einfachgesetzlichen Rechtslage auf dem Gebiet des Embryonenschutzes zu.160)
Bei der Beurteilung des „therapeutischen Klonens“ kommt noch hinzu,
dass hier jene Argumente brüchig werden, die in der rechtsethischen Diskussion ansonsten – mit mehr oder weniger Überzeugungskraft – für die Schutzbedürftigkeit des frühen Embryonalstadiums ins Treffen geführt werden: Weder
hat man es bei einem mit Kerntransfer erzeugten totipotenten embryonalen
Zellverband mit dem Beginn einer selbstgesteuerten kontinuierlichen Entwicklung zum Menschen zu tun (weil eine solche weder intendiert ist noch ohne
aktives Zutun Dritter – nämlich der Implantation – zustande kommen könnte),
noch liegt aus genetischer Sicht ein neues und in seiner Individualität einmaliges Genom vor (weil das Kerngenom mit jenem des Zellspenders im wesentli157) Zu diesem Gedanken eines allgemeinen Ordnungssystems vgl schon Antoniolli, Gleichheit vor dem Gesetz, ÖJZ 1956, 646 (647); Korinek, Gedanken zur Bindung
des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, FS Melichar (1983) 39 (46 ff).
158) Anknüpfungspunkte für Differenzierungen wären etwa – ohne Anspruch auf
Vollständigkeit – das Entwicklungsstadium, die Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs oder die Empfindungsfähigkeit der Leibesfrucht. In eine allgemeine Sachlichkeitsprüfung des Embryonenschutzes müsste mittelbar auch das explizite Verbot der
Diskriminierung behinderter Menschen (Art 7 Abs 1 B-VG) einfließen.
159) Vgl dagegen schon VfSlg 7400/1974.
160) Vgl wieder §§ 96 ff StGB (zum fehlenden Strafrechtsschutz für Embryonen in
vitro: Schmoller, Vorbem §§ 96-98 StGB, Rz 26 ff); § 17 FMedG.
52
Christian Kopetzki
chen identisch ist). Und schließlich überzeugt auch das Potenzialitätsargument
nicht, weil die Entwicklung zu einem geborenen Menschen weder beabsichtigt
ist noch ohne Hinzutreten zusätzlicher – unwahrscheinlicher und ebenfalls
nicht intendierter – Prämissen ablaufen könnte.
D. Freiheit der Wissenschaft
Auf der anderen Seite des grundrechtlichen Beurteilungsrahmens steht
zunächst die Freiheit der Wissenschaft (Art 17 StGG). Darunter fällt im wesentlich die Freiheit der – nicht nur der universitären161) – Forschung.162)
1. Schutzumfang der Forschungsfreiheit
Diese umfasst nach Lehre und Rsp unter anderem die Befugnis, wissenschaftliche Untersuchungen vorzunehmen und ihre Ergebnisse zu veröffentlichen,163) wobei der Begriff der „Wissenschaft“ im wesentlichen prozedural und
nicht inhaltlich zu bestimmen ist: Wissenschaftliche Forschung ist jede Gewinnung wissenschaftlicher Aussagen im Wege der Erkenntnis, also nach
sachlichen, objektiven und nachprüfbaren Gesichtspunkten.164) Kennzeichnend
für die Zuordnung zum grundrechtlichen Schutzbereich ist somit die Einhaltung bestimmter methodischer Standards, nicht jedoch eine materielle Vorbewertung des Forschungsgegenstandes.165) Insofern ist auch der Wissenschaftsbegriff des Art 17 – ähnlich wie der Kunstbegriff des Art 17a StGG – inhaltlich offen konzipiert: Er schließt etwa die Erzielung von Forschungsergebnissen ein, die für bestimmte gesellschaftliche Gruppen schockierend, aus heutiger Sicht nutzlos oder ethisch bedenklich sind. Die Forschungsfreiheit wird
folglich auch nicht durch den Einwand obsolet, es gäbe zu umstrittenen Forschungszielen gleich wirksame Alternativen. Art 17 StGG schützt die Freiheit
der Wissenschaft nicht wegen bestimmter und vorweg glaubhaft zu machender
„positiver“ Erfolge, sondern gerade auch um der wissenschaftlichen Neugier
161) Das Grundrecht steht jedermann zu: VfSlg 8136/1977; Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 924.
162) Vgl schon Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte
(1963) 469; Huber/Stelzer, Gentechnologie 26.
163) VfSlg 3068/1956; Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 923.
164) Zum Begriff der wissenschaftlichen Forschung vgl Wenger/Winkler, Die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre (1974) 70 ff; Rebhahn, Weisungen im Universitätsbereich (1982) 24; Wielinger, Die Freiheit der Wissenschaft in Österreich, EuGRZ
1982, 289 mwN; Berka, Grundrechte Rz 587 ff. Ähnlich VfSlg 3191/1957 („das Aufsuchen neuer Erkenntnisse oder die Festigung älterer Erkenntnisse auf einem bestimmten Wissensgebiet“).
165) Wenger/Winkler, Freiheit der Wissenschaft 73: „Nur ein solcher formalisierter
oder formeller Wissenschaftsbegriff ist sowohl mit dem Wortlaut als auch mit dem
erkennbaren Sinn der Freiheitsgarantie des Art 17 StGG vereinbar“. Zu dieser Offenheit
des Wissenschaftsbegriffs als „Verfahrensbegriff“ vgl auch die deutsche Lehre zu Art 5
III GG, mwN zB Denninger in AK-GG2 I (1989) Art 5 III/I Rz 13 ff; Pernice in: H.
Dreier (Hrsg), GG-Kommentar I (1996) Art 5 III (Wissenschaft) Rz 29 ff.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
53
und des Strebens nach neuer Erkenntnis willen.166) Da zukünftige Erfolgschancen nie verlässlich vorhergesehen werden können, und weil die Wissenschaftsgeschichte viel zu sprunghaft verläuft, als dass sich die Erkenntnismöglichkeiten von morgen aus dem gesicherten Erkenntnisstand von heute verlässlich „hochrechnen“ ließen,167) gehört zur Freiheit der Forschung immer auch,
dass die Tür ins Ungewisse und Unvorhersehbare offen bleibt.
Vor diesem Hintergrund ist nicht zweifelhaft, dass Forschung mit oder an
Embryonen oder embryonalen Stammzellen grundsätzlich dem Schutzbereich
der Wissenschaftsfreiheit unterfällt. Verbote oder Beschränkungen dieser Forschung greifen daher in das Grundrecht ein.
2. Grenzen der Forschungsfreiheit
Auch die Forschungsfreiheit ist nicht grenzenlos. Obwohl Art 17 StGG
unter keinem expliziten Gesetzesvorbehalt steht, werden von der Rsp des
VfGH und der Lehre „immanente“ Grundrechtsschranken anerkannt, die sich
insb aus anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern sowie aus „allgemeinen Gesetzen“ ergeben können. Unter der Voraussetzung eines hinreichenden öffentlichen Interesses kann der Gesetzgeber demnach die Wissenschaftsfreiheit beschränken, wenn und soweit dies zum Schutz eines anderen Rechtsgutes erforderlich ist und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.168) Verwehrt
sind ihm hingegen „spezifisch intentionale“ Eingriffe, also solche Beschränkungen, die intentional auf die Einengung der Wissenschaftsfreiheit gerichtet
sind.169) Diese bedürften zu ihrer Zulässigkeit der Rechtfertigung durch eine
unmittelbar aus der Verfassung ableitbare Schranke.170) Während solche gegenläufigen Verfassungsbestimmungen im Bereich der biomedizinischen Forschung an Menschen leicht auffindbar sind – zu denken ist insb an die Grundrechte von Probanden gem Art 2, 3, 8 MRK – und daher spezifische Restriktionen der Humanforschung unschwer zu begründen sind, fehlt es im Fall der
Embryonenforschung an nachvollziehbaren verfassungsrechtlichen „GegenGrundrechten“. Der Hinweis auf eine – die erwähnten Einzelgrundrechte
transzendierende – verfassungsimmanente Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit durch die „menschliche Würde“171) steht und fällt mit der verfassungsrechtlichen Verankerung eines solchen Grundsatzes.
Auf unser Thema übertragen heißt das: Dem Gesetzgeber steht es frei, die
Forschungsfreiheit zum Zweck des Embryonenschutzes einzuschränken, solange er dies in allgemeiner, verhältnismäßiger und in sich konsistenter Weise
So (für die BRD) zB Taupitz, NJW 2001, 3438.
Nachzulesen etwa bei Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1967); L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache
(1935). Vgl dazu auch Denninger, AK-GG Art 5 III/1 Rz 15.
168) Vgl VfSlg 1777/1949, 8136/1977, 13.978/1994; Berka, Grundrechte Rz 592
ff; Huber/Stelzer, Gentechnologie 26 ff.
169) VfSlg 8136/1977; 13.978/1994.
170) Berka, Grundrechte Rz 595. Ähnlich – wenngleich mit anderem Ergebnis – für
Deutschland Isensee, FS Hollerbach (2001) 250 ff.
171) Berka, Grundrechte Rz 595; ebenso schon Steiner, ÖJZ 1987, 516.
166)
167)
2
54
Christian Kopetzki
tut. Intentionale – also gezielte – Eingriffe in diese Freiheit müssten hingegen
durch ein „gegenläufiges“ Verfassungsrechtsgut begründet werden. Die damit
in den Vordergrund gerückte Unterscheidung zwischen zulässigen allgemeinen
Beschränkungen und besonders begründungspflichtigen „intentionalen“ Eingriffen stellt freilich ein heikles Unterfangen dar.172) Dennoch sprechen Gründe
für die Annahme, dass die derzeitigen Regelungen des Fortpflanzungsmedizingesetzes zumindest im Verdacht eines intentionalen Eingriffs stehen, weil
das FMedG gar keinen konsistenten – das Schutzgut „Embryo“ insgesamt
absichernden – Embryonenschutz verbürgt: Man denke nur an die maximal
einjährige Aufbewahrungsfrist für in-vitro-Embryonen gem § 17 FMedG, die
einem Vernichtungsgebot gleichkommt; dieses Schutzniveau wird noch viel
brüchiger, wenn man die strafgesetzlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruches in den Blick nimmt, in denen die Phase vor der Nidation überhaupt
nicht und die ersten drei Monate der Schwangerschaft so gut wie nicht geschützt sind. Im Gesamtkontext der Rechtsordnung ist § 9 FMedG daher weniger Ausdruck des Embryonenschutzes als eines umfassenden Forschungsverbotes, und die Erläuterungen stellen dieses Motiv auch unmissverständlich
klar.173)
Versteht man unter einem „intentionalen“ Eingriff jenen, der – als Gegenbegriff zum „allgemeinen Gesetz“ – nur das grundrechtlich geschützte,
nicht auch jedes andere Verhalten zum Gegenstand hat,174) so lässt sich zwar
entgegnen, dass § 9 FMedG neben Forschungseingriffen noch andere – etwa
diagnostische – Maßnahmen am Embryo in vitro verbietet: Die eindeutige
Absicht des Gesetzgebers, die – wenn auch nicht ausschließlich, so doch immerhin auch – auf ein Forschungsverbot abzielte, spricht aber eher für den
„intentionalen“ Charakter dieses Verbots als für eine nicht spezifisch intendierte „Nebenwirkung“175) eines allseitigen Substanzschutzes.176)
172) Zum Meinungsstand umfassend Pöschl/Kahl, Die Intentionalität – ihre Bedeutung und Berechtigung in der Grundrechtsjudikatur, ÖJZ 2001, 41.
173) RV 216 BlgNR 18. GP 20. Ein intentionaler Eingriff läge auch dann vor,
wenn der Gesetzgeber etwa die Embryonenforschung zu bestimmten Forschungszielen
zulassen würde, weil dies ebenfalls auf einen inhaltlichen Eingriff in den Kern der
Forschungsfreiheit (und nicht auf einen allgemeinen Embryonenschutz) hinausläuft, zu
dem auch die freie Wahl des Forschungszieles gehört. Ebenfalls intentionalen Charakter hätten spezifische Genehmigungsvorbehalte (Stelzer, Gentechnologie 30).
174) In diesem Sinn Pöschl/Kahl, ÖJZ 2001, 47.
175) Würde man – wie die ältere Rsp des VfGH – nur solche Regelungen als intentional qualifizieren, die gezielt und ausschließlich in die Wissenschaftsfreiheit eingreifen („um ... zu behindern“), dann enthielte auch § 9 FMedG keinen „intentionalen“
Eingriff. Gegen dieses Verständnis spricht aber, dass Maßnahmen, deren einziges Ziel
die Grundrechtsbeschränkung ist, ohnehin willkürlich wären (vgl Pöschl/Kahl, ÖJZ
2001, 49). Auch der VfGH hat etwa in VfSlg 11.737/1988 das Erfordernis einer Arbeitsbewilligung für Opernsänger als nicht intentionalen Eingriff in die Kunstfreiheit
gedeutet, weil die Beschränkung der Kunstfreiheit nicht das Ergebnis einer entsprechenden spezifischen Zielsetzung des Gesetzgebers, sondern lediglich eine reflexartige
Nebenwirkung der Norm war (zum Ganzen Pöschl/Kahl, ÖJZ 2001, 51). Auf § 9
FMedG übertragen schlägt diese Unterscheidung zwischen „spezifisch intendierten“
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
55
Die Rechtfertigung derartiger intentionaler Eingriffe – und nicht die Zulassung der Embryonenforschung – bedürfte somit einer spezifisch verfassungsrechtlichen Begründung:177) Diese ist in der humanmedizinischen Forschung ohne weiteres möglich, weil die Wissenschaftsfreiheit hier durch die
Grundrechte der Patienten limitiert ist. Da jedoch ein auch nur annähernd vergleichbarer verfassungsrechtlicher Schutz in der frühen Embryonalphase nicht
begründbar ist, tendiert die verfassungsrechtliche Perspektive eher zu einer
begrenzten Zulassung als zu einem völligen Verbot derartiger Techniken. Die
Tendenz, Forschung auf den bloßen Verdacht hin zu unterbinden, dass sie in
Zukunft möglicherweise unerwünschte Auswirkungen haben oder auf ethische
Bedenken stoßen könnte, ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen,178)
zumal auch die möglichen Forschungsziele der Embryonenforschung ihrerseits
eine gewisse grundrechtliche Legitimation unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes für sich beanspruchen können (unten E).
E. Schutzpflichten zugunsten der Gesundheitsvorsorge
Verfassungsrechtliche Argumente für die Zulassung der Embryonenforschung könnten sich schließlich auch aus staatlichen Schutzpflichten zugunsten neuer Therapieverfahren ergeben, die möglicherweise einmal aus embryonalen Stammzellen entwickelt werden. Wenngleich ein verfassungsrechtliches
Individualrecht auf „Gesundheit“ nicht besteht,179) lassen sich Schutzpflichten
Eingriffen bzw „reflexartigen“ Begleitwirkungen eher zugunsten eines intentionalen
Eingriffs aus.
176) Auch für § 9 FMedG trifft daher die (auf das deutsche Embryonenschutzgesetz) gemünzte Formulierung von Kirschfeld zu, es handle sich in Wahrheit um eine
Regelung „zur Verhinderung von Forschung und Diagnostik an Embryonen“: Kirschfeld, Wann beginnt der Mensch, ein Mensch zu sein? SZ Nr 265 v 17./18. 11. 2001 (SZ
am Wochenende II).
177) Ipsen, JZ 2001, 996.
178) Gegen die vorschnelle Deduktion forschungsfeindlicher rechtlicher Verbote
aus ethischen Prämissen überzeugend Ipsen, JZ 2001, 995 f; vgl auch Taupitz, NJW
2001, 3436; Kuhlmann, Politik des Lebens 92. Auch die Forderung, die Embryonenforschung vom Nachweis der „Hochrangigkeit“ der Forschungsziele abhängig zu machen
(mwN bei Kuhlmann, Politik des Lebens 84), ist zumindest aus der Sicht des Art 17
StGG bedenklich: Denn soweit der Forschung – wie bei der Forschung an Embryonen
in vitro – keine verfassungsrechtlichen Schranken entgegen stehen, kommt dies wegen
der Vorgabe bestimmter Forschungsrichtungen einem unzulässigen intentionalen Eingriff gleich. Und wenn es einen verfassungsrechtlichen Embryonenschutz aus dem
Grundrecht auf Leben bzw einem Grundsatz der Menschenwürde gäbe, wären diese
Verfassungsrechtsgüter wegen ihres rigiden und abwägungsfeindlichen Schutzes einer
substanzvernichtenden Preisgabe zugunsten Forschungsinteressen völlig entzogen: Ein
Verfassungsanspruch auf Wahrung der Würde ist einer Relativierung durch kollidierende Rechtsgüter nicht zugänglich: Isensee, FS Hollerbach (2001) 253.
179) Öhlinger, Ein Menschenrecht auf Gesundheit? FS Schwarz (1991) 767 ff; vorsichtig bejahend Funk, JRP 1994, 72 ff; Holoubek, Gewährleistungspflichten 245 f (dort
auch zur – allerdings verneinten – Frage einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht
zugunsten künftiger Generationen).
56
Christian Kopetzki
zugunsten einer Gewährleistung oder zumindest der Nichtverhinderung des
Zugangs zu sozialen und therapeutischen Leistungen jedenfalls im Prinzip aus
Art 2 und 8 EMRK begründen.180) Den Staaten wird hierbei allerdings ein sehr
weiter Beurteilungsspielraum zugestanden, ob, wie weit und mit welchen
rechtstechnischen Mitteln sie diesen Schutz ausgestalten möchten. Vor dem
Hintergrund der derzeitig noch bestehenden Unsicherheiten über die Bewertung von Techniken wie dem therapeutischen Klonen wäre daher jede Aussage
darüber, welche staatlichen Maßnahmen geboten sind, verfrüht. Sobald allerdings konkrete und nicht auf andere Weise erzielbare Heilungschancen durch
den Einsatz embryonaler Stammzellen realistisch zu erwarten sind, wäre jedes
Verbot, das dem Einzelnen den Zugang zu dieser Methode verwehrt, als Eingriff in Art 8 Abs 1 EMRK anzusehen und bedürfte einer Rechtfertigung im
Lichte der Eingriffsziele des Art 8 Abs 2 EMRK.181) Gegen ein absolutes Verbot der Gewinnung und Verwendung embryonaler Stammzellen bestünden
dann erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, die nur durch den Nachweis
entkräftet werden könnten, dass ein solches Verbot zum Schutz der „Moral“ –
im Sinne eines gesellschaftlichen Mindestkonsenses – unbedingt erforderlich
im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK wäre.
III. Völkerrechtliche Aspekte: Die Biomedizinkonvention des
Europarates
Während sich internationale Regelungen für die Biomedizin im Allgemeinen und die Biotechnologie im Besonderen bisher meist – wenn überhaupt – auf Empfehlungen und Deklarationen beschränkten, denen eine verbindliche normative Kraft fehlt,182) liegt mit der Biomedizinkonvention des
180) MwN Berka, Grundrechte Rz 375; Funk, JRP 1994, 73; Kopetzki, Unterbringungsrecht I 420; Wildhaber/Breitenmoser, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler
Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 258 f. Das gilt
insb gegenüber kranken und behinderten Menschen: vgl Funk, Menschenrechte – behinderte Menschen – Österreichische Bundesverfassung, in: Fetka-Einsiedler/Förster
(Hrsg), Diskriminiert? Zur Situation der Behinderten in unserer Gesellschaft (1994) 63
(70 ff).
181) Zur Qualifikation des Einsatzes bestimmter (hier: reproduktionsmedizinischer)
Behandlungsmethoden als Eingriff in Art 8 Abs 1 EMRK vgl VfSlg 15.632/1999 =
RdM 2000/1; dazu kritisch zB Novak in: Bernat (Hrsg), Reproduktionsmedizin 62 ff.
182) Vgl etwa die vielfältigen Resolutionen und Empfehlungen des Europarates
oder privater Vereinigungen wie des Weltärztebundes. Beispiele für verbindliche Regelungen finden sich hingegen im europäischen Gemeinschaftsrecht: vgl zB RL 98/44/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen
Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl L 213/13 vom 30. 7. 1998; RL
2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die
Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl L 121/34 vom 1. 5. 2001.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
57
Europarates183) und dem (ersten) Zusatzprotokoll zum Verbot des Klonens von
Menschen184) ein völkerrechtlich verbindliches Regelwerk für zwar nicht alle,
aber doch zentrale Bereiche der Medizin vor.
Obgleich Österreich diese Konvention bisher weder unterzeichnet noch
ratifiziert hat, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welche
völkerrechtlichen – und im Fall einer Transformation im Verfassungsrang:185)
welche verfassungsrechtlichen – Bindungen ein österreichischer Beitritt für
den Bereich des Embryonenschutzes und des therapeutischen Klonens nach
sich ziehen würde:
A.
Allgemeines
Die Ratifikation der MRB im Verfassungsrang würde einen neuartigen
Katalog von verfassungsgesetzlich gewährleisteten (Grund)Rechten schaffen,
die in ihrer Konkretisierungsdichte weit über den allgemein gehaltenen und
nicht medizinspezifischen Schutzbereich der Rechte der EMRK hinaus ginge.
Da sich der Regelungswille der MRB ganz offenkundig nicht auf die Staatsrichtung beschränkt, sondern auf jegliche Anwendung der Biomedizin in der
Gesellschaft abzielt, muss – auch wenn man eine Drittwirkung der MRB im
Verhältnis zwischen Privaten eher skeptisch beurteilt186) – jedenfalls eine umfassende staatliche Schutzpflicht zur Umsetzung der Konvention inter privatos
angenommen werden:187) Die Vertragsstaaten sind zur effektiven Implementierung (Art 1 Abs 2 MRB) sowie zur Gewährleistung eines geeigneten Rechtsschutzes gegen Verletzungen der in der Konvention verankerten Rechte und
Grundsätze (Art 23 MRB) verhalten. Es spricht daher nichts dagegen, den
Maßstab der einzelnen Konventionsbestimmungen auch an privates Verhalten
(zB eines forschenden Unternehmens) anzulegen, wenngleich die unmittelbare
183) Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human
Rights and Biomedicine (European Treaty Series Nr 164); abgedruckt samt Erläuterndem Bericht in HRLJ 1997, 135. Die Konvention ist am 1. 12. 1999 völkerrechtlich in Kraft getreten. Derzeit haben 30 Staaten unterzeichnet, davon 11 ratifiziert.
184) Additional Protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and
Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine,
on the Prohibition of Cloning of Human Beings (European Treaty Series Nr 168). Das
Zusatzprotokoll ist am 1. 3. 2001 völkerrechtlich in Kraft getreten.
185) Für eine Ratifikation auf Verfassungsstufe iSd Art 50 Abs 3 B-VG spricht,
dass die Konvention als Fortentwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention
konzipiert ist und es sich daher – materiell gesehen – um einen „verfassungsergänzenden“ Staatsvertrag handelt.
186) Gegen eine Drittwirkung der Konventionsrechte spricht, dass sich die verpflichtende Wirkung gem Art 1 MRB ausschließlich an die Vertragsstaaten richtet. Aus
der weithin nichtstaatlichen Zuordnung der normierten Sachverhalte folgt nicht zwingend ein Wechsel des Grundrechtsadressaten.
187) Anderenfalls hätten die Rechte der Konvention kaum einen Anwendungsbereich mehr, da sich die erfassten Sachverhalte – nämlich die Ausübung der Medizin –
ganz überwiegend im nichtstaatlichen Bereich abspielen.
58
Christian Kopetzki
rechtliche Bindung Privater erst durch Dazwischentreten eines – die staatliche
Schutzpflicht umsetzenden – Gesetzes entstehen kann.188)
Eine der Auswirkungen eines Beitritts könnte darin gesehen werden, dass
durch eine Transformation der MRB – abgesehen von inhaltlichen Konflikten
zwischen einzelnen Rechten der MRB und dem österreichischen Recht189) –
ein Anpassungsdruck zur Schaffung präziserer und unmittelbar anwendbarer
Regelungen insb dort entsteht, wo Österreich – in Anwendung des Art 26
Abs 1 MRB oder eines vergleichbaren Gesetzvorbehalts in anderen Bestimmungen – Beschränkungen einzelner Konventionsrechte vorsehen möchte.
Legt man nämlich die Rechtsprechung zu den Gesetzesvorbehalten der EMRK
(zB Art 8 Abs 2 EMRK) zugrunde, was wegen der systematischen Ähnlichkeit
des Art 26 Abs 1 MRB nahe liegt, so bedürfte es hiefür hinreichend genauer
und vorhersehbarer generell-abstrakter Normen. Zu deren Schaffung ist in
Österreich aber grundsätzlich der parlamentarische Gesetzgeber und nicht das
case law der Gerichte zuständig.190) Es wäre demnach nicht konventionskonform, beispielsweise eine Ausnahme vom Einsichtsrecht in die Krankengeschichte (vgl Art 10 Abs 3 MRB) oder die fremdnützige Knochenmarksspende
zwischen Minderjährigen (vgl Art 20 Abs 2 MRB) ausschließlich auf das
Schrifttum, auf einzelfallbezogene Gerichtsentscheidungen, behördliche Erlässe oder gar auf eine „ständige Praxis“ zu gründen. Auf diesen Aspekt wird im
Zusammenhang mit der Beurteilung des „therapeutischen Klonens“ noch näher
zurückzukommen sein.
Schon an dieser Stelle ist aber festzuhalten, dass dieser Befund – in Abhängigkeit von der gewählten Transformationstechnik – möglicherweise zu
einer „Sperrwirkung“ einzelner Konventionsrechte führen kann: Sollte sich
nämlich – entgegen der hier vertretenen Auffassung – der Standpunkt durchsetzen, dass die Garantien der MRB auf eine unmittelbare Drittwirkung angelegt sind, so bedürften nach einer generellen Transformation ins innerstaatliche
Recht all jene von einem Verbotstatbestand erfassten Verhaltensweisen, die
bisher nur deshalb zulässig sind, weil es an einer verbietenden Vorschrift fehlt,
künftig einer expliziten gesetzlichen Erlaubnis: Dies namentlich dann, wenn
der betreffende Sachverhalt vom Schutzbereich eines der Konventionsrechte
erfasst ist und zur Begründung seiner Zulässigkeit auf eine – den Gesetzesvorbehalt des Art 26 MRB ausschöpfende – gesetzliche Regelung angewiesen
wäre. Die Konsequenz wäre, dass sich im Schutzbereich einer MRB188) Bei einer generellen Transformation auf einfachgesetzlicher Stufe könnte sich
aber möglicherweise auch die Auffassung durchsetzen, dass jedenfalls die von ihrem
Inhalt her unmittelbar anwendbaren Regelungen der Konvention dann eine direkte
Wirksamkeit zwischen Privaten entfalten. Hier eröffnen sich in der Zukunft mannigfaltige Fragen, die an die Anfangsphase der Implementierung der Europäischen Menschenrechtskonvention erinnern.
189) Dazu ausführlich Kopetzki, Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin und das österreichische Recht, in: Taupitz (Hrsg), Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regelung? (2001) (im Druck).
190) Nachweise bei Kopetzki, Unterbringungsrecht I 278 ff.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
59
Bestimmung das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip umkehren würde:191) Die
Erlaubnis eines bestimmten Verhaltens wäre nicht mehr Folge mangelnder
Regelung, sondern bedürfte der gesetzlichen Zulassung. Das gilt in abgeschwächter Weise auch dann, wenn man eine unmittelbare Drittwirkung verneint: Bei dieser Deutung würden sich aus der MRB zwar keine drittwirkenden
Verbote ergeben; die Vertragsstaaten wären aber ebenso verhalten, Durchbrechungen einzelner Konventionsrechte im Sinne des Art 26 MRB gesetzlich
abzusichern, wenn sie die Erlaubtheit des Verhaltens in konventionskonformer
Weise aufrecht erhalten wollen.
B.
Biomedizinkonvention, Embryonenforschung und
therapeutisches Klonen
Die MRB enthält eine Reihe von Bestimmungen, die für die Biotechnologie von Relevanz sein können. Genannt seien etwa die Regelungen über den
Schutz von Personen, die in biomedizinische Forschungsvorhaben einbezogen
werden (Art 16 f), über die Verwendung und Kommerzialisierung von Körpersubstanzen (Art 20 f) oder über prädiktive Gentests (Art 12). Darauf kann hier
nicht eingegangen werden. Für den Problemkreis des „therapeutischen Klonens“ sind vor allem die Art 13 und 18 MRB sowie das erste Zusatzprotokoll
zum Klonen eine nähere Prüfung wert:
1. Art 13 MRB – Interventionen ins menschliche Genom
Gem Art 13 MRB darf eine Intervention, die auf die Veränderung des
menschlichen Genoms gerichtet ist, nur zu präventiven, diagnostischen oder
therapeutischen Zwecken und nur dann vorgenommen werden, wenn sie nicht
darauf abzielt, eine Veränderung des Genoms von Nachkommen herbeizuführen. Wäre die Technik des „therapeutischen Klonens“ mit einer intentionalen
„Veränderung des Genoms von Nachkommen“ verbunden, so wäre sie gem
Art 13 MRB verboten. Dieses Verbot könnte auch gem Art 26 MRB nicht
durchbrochen werden, da Art 13 zu den eingriffsfesten Bestimmungen iSd
Art 26 Abs 2 zählt.
Im Schrifttum wurde mitunter die Auffassung vertreten, dass bereits die
Entfernung des Zellkerns aus einer menschlichen Eizelle als (iSd Art 13) verpönter „Keimbahneingriff“ zu qualifizieren ist, da es sich um eine Manipulation am menschlichen Genom handle.192) Auch könnte die Frage aufgeworfen
191) Zu dieser Abkehr neuerer Grundrechtstexte vom liberalen Abwehrrechtsdenken – am Beispiel der EU-Grundrechtecharta – Schmitz, JZ 2001, 840.
192) In diesem Sinn – zum reproduktiven Klonen – Winter, The Cornerstones for a
Prohibition of Cloning Human Beings laid down in the European Convention on Human Rights and Biomedecine, EJHL 1997, 189 (191): Danach ändere der Kerntransfer
in entkernte Oozyten den Großteil der genetischen Information und sei daher eine
„modification of the genome of any descendants“ iSd Art 13 MRB. Ebenso ders, Europäisches Protokoll zum Verbot des Klonens menschlicher Lebewesen, in: Winter/ Fenger/ Schreiber (Hrsg), Genmedizin und Recht (2001) 79 (82).
60
Christian Kopetzki
werden, ob nicht das Austauschen des Eizellkerns gegen einen somatischen
Zellkern einen Keimbahneingriff darstellt: Dabei wird zwar nicht qualitativ –
im Sinne einer gezielten inhaltlichen Modifikation des Genoms – in die Keimbahn eingegriffen; den kompletten Austausch des einen Kerngenoms gegen ein
anderes könnte man aber möglicherweise ebenso als „Veränderung des Genoms“ deuten, zumal wegen der in der Eizelle verbleibenden mitochondrialen
DNA gar nicht das gesamte genetische Material ersetzt wird.
Gegen eine Subsumtion des therapeutischen Klonens unter Art 13 MRB
spricht allerdings, dass – träfe sie zu – dann bereits Art 13 MRB die Grundlage
eines Verbots sowohl des therapeutischen als auch des reproduktiven Klonens
mittels Kerntransfer darstellen würde. Das Zusatzprotokoll über das Verbot
des Klonens wäre bei dieser Auslegung überflüssig. So gesehen liegt es näher,
den Begriff der „Veränderung des Genoms“ nur auf gezielte qualitative Manipulationen der genetischen Information, nicht hingegen auf den Wechsel des
(insofern unveränderten) Kerngenoms193) zu beziehen. Der Text des Art 13
bringt dieses Intentionalitätskriterium auch hinreichend zum Ausdruck (arg
„auf die Veränderung ... gerichtet ist“).194)
Auch ein – durch Art 13 MRB verbotener – Keimbahneingriff, also eine
Veränderung des Genoms von „Nachkommen“ („descendants“), findet beim
therapeutischen Klonen nicht statt: Eine genetische Manipulation an Keimzellen, die außerhalb jedes Fortpflanzungszwecks stattfindet und bei der eine
Fortpflanzung gar nicht intendiert ist, betrifft keine „Nachkommen“, weil sich
dieser Begriff nur auf Geborene, nicht jedoch auf Keimzellen oder Embryonalzellen beziehen lässt.195) In diesem Sinn wird auch im Erläuternden Bericht
hervorgehoben, dass genetische Veränderungen an Keimzellen in vitro unbeschadet des Art 13 MRB grundsätzlich zulässig bleiben sollen.196)
Das Verbot des Art 13 MRB ist somit auf den Kerntransfer zum Zweck
der Erzeugung embryonaler Stammzellen in vitro zu therapeutischen Zwecken
nicht anwendbar.
193) Taupitz, NJW 2001, 3439. In diesem Sinn definiert auch Art 1 Abs 2 des ZP
über das Verbot des Klonens ein „genetisch identisches“ Lebewesen als solches, das
mit einem anderen Lebewesen „dasselbe Kerngenom gemeinsam hat“. Differenzen
hinsichtlich der mitochondrialen DNA (bei identischem Kerngenom) werden im Kontext der MRB also offenbar nicht als „Veränderung“ des Genoms qualifiziert.
194) Unbestritten ist dies freilich nicht: Für eine Ableitung des Klonverbotes aus
Art 13 MRB zB die Parlamentarische Versammlung des Europarates, Opinion Nr
202/1997: „Thus, this article implicitly forbids cloning of human beings“.
195) Taupitz, NJW 2001, 3439; Iliadou, Forschungsfreiheit 217.
196) Vgl Z 91 des Erläuternden Berichts: „Medical research aiming to introduce
genetic modifications in spermatozoa or ova which are not for procreation is only
permissible if carried out in vitro with the approval of the appropriate ethical or
regulatory body“.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
61
2. Art 18 MRB: Embryonenforschung und Verbot der Erzeugung von
Embryonen für Forschungszwecke
a) Allgemeines
Gem Art 18 Abs 1 MRB hat die Rechtsordnung einen angemessenen
Schutz des Embryos zu gewährleisten, sofern sie Forschungen an Embryonen
in vitro zulässt. Die Erzeugung vom Embryonen zu Forschungszwecken ist
hingegen gem Art 18 Abs 2 MRB unzulässig.
Lässt man einmal die Frage beiseite, was man sich unter einem „angemessenen Schutz“ bei der Embryonenforschung vorstellen soll, so ergeben
sich aus Art 18 MRB zunächst zwei klare Aussagen: Zum ersten ist die Forschung an Embryonen nicht untersagt,197) wenngleich gute Gründe dafür sprechen, dass jede „verbrauchende“ – mit der Zerstörung des Embryos einhergehende – Forschung dem Schutzversprechen des Art 18 Abs 1 MRB zuwider
läuft.198) Und zum zweiten verbietet Art 18 Abs 2 zwar die Erzeugung von
Embryonen in vitro zu Forschungszwecken, nicht hingegen die Verwendung
oder Erzeugung zu therapeutischen Zwecken,199) wie dies etwa bei der Stammzellgewinnung zur Gewebszüchtung der Fall wäre. Dennoch wird man aus
Art 18 Abs 2 MRB dann und insofern ein mittelbares Verbot des therapeutischen Klonens ableiten müssen, als die Technik des Kerntransfers und die
Entwicklung künftiger Therapiemethoden wohl nur über den Umweg der Forschung – und somit unter Inkaufnahme der Erzeugung von Embryonen zu
Forschungszwecken – erreicht werden kann.
Fraglich könnte allenfalls sein, ob der Begriff „Embryonen“ iSd Art 18
MRB neben den – zweifelsfrei erfassten – befruchteten Embryonen in vitro200)
auch die durch Kerntransfer erzeugten totipotenten („entwicklungsfähigen“)
Zellen einschließt, und zwar auch dann, wenn damit weder eine Entwicklung
197) Rudolff-Schäffer, Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des
Europarats vom 4. April 1997, in: Winter/Fenger/Schreiber (Hrsg), Genmedizin und
Recht (2001) 63 (76).
198) So zB Mathieu, REDP 13 (2001) 704. Auch dies ist nicht unbestritten: vgl
Bentert, Embryonenforschung, in: Korff ua (Hrsg), Lexikon der Bioethik I (1998) 560;
Voss, Keimbahntherapie 181, wonach bereits die Beschränkung der Forschung auf
einen Zeitraum bis 14 Tage nach der Befruchtung einen „angemessenen Schutz“ darstellen könnte.
199) Gabolde/Hors, Médecine & Droit 44 (2000) 3; Schulz, ZRP 2001, 527; anders
Bubnoff, Schwerpunkte strafrechtlicher Harmonisierung in Europa unter Berücksichtigung der Orientierungsvorgaben aus der Grundrechtscharta 2000, ZeuS 2001, 165,
wonach Art 18 MRB „jede fremdnützige künstliche Befruchtung einer menschlichen
Eizelle“ verbiete.
200) Sowohl die Überschrift zu Art 18 (arg Embryonen „in vitro“) als auch die Entstehungsgeschichte zeigen, dass unter dem Begriff „Embryo“ auch sehr frühe Entwicklungsstadien umfasst werden sollten. Versuche, den Schutzbeginn erst ab dem 14. Tag
anzusetzen, konnten sich nicht durchsetzen: vgl Steering Committee on Bioethics
(CDBI), Preparatory Work on the Convention, CDBI/INF (2000) 1, 82 ff; Busnelli, Vor
der Geburt, quid iuris, FS Deutsch (1999) 495 (498); Iliadou, Forschungsfreiheit 217 f.
62
Christian Kopetzki
zu einer Schwangerschaft in Gang gesetzt wird noch eine solche Entwicklung
überhaupt beabsichtigt ist. Dies lässt sich bejahen, wenn man das entscheidende Merkmal eines „Embryos“ bereits in der Möglichkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln – also in seiner theoretischen „Potenzialität“ – erblickt,
unabhängig von der dahinter stehenden Intention, der Wahrscheinlichkeit und
den dafür notwendigen Zusatzprämissen (wie etwa der Implantation). Mitunter
wurde allerdings auch vorgeschlagen, entwicklungsfähige Zellen, die nicht
durch Befruchtung entstanden sind und die außerhalb jedes teleologischen
Kontextes zur menschlichen Reproduktion stehen, von vornherein nicht dem
Begriff des „Embryos“ zuzuordnen.201) Lehnt man eine solche Auslegung
hingegen als semantischen Taschenspielertrick ab, dann stünde das therapeutische Klonen durch Kerntransfer zumindest insofern im Konflikt mit Art 18
MRB, als es dabei im Vorstadium der Entwicklung anwendungsfähiger therapeutischer Verfahren zwangsläufig zu Forschungseingriffen an eigens zu diesem Zweck erzeugten Embryonen kommt.
b) Gesetzesvorbehalt
Die Frage der Zulässigkeit solcher Manipulationen mit Embryonen bzw
ihrer Erzeugung zu Forschungszwecken ist damit allerdings noch nicht abschließend beantwortet, weil Art 18 MRB nicht absolut gewährleistet ist. Da
Art 18 MRB von einer Anwendung des Gesetzesvorbehalts gem Art 26 Abs 2
nicht ausgeschlossen wird,202) können auch die Garantien des Art 18 Abs 2
durch innerstaatliche Gesetze eingeschränkt werden, sofern dies zB zum
Schutz der öffentlichen Gesundheit notwendig ist.203) Hier zeigt sich die schon
erwähnte rechtsstaatliche Tragweite dieses Gesetzesvorbehalts: Während das
„therapeutische Klonen“ bzw die Erzeugung vom Embryonen durch Kerntransfer zum Zweck der Stammzellgewinnung nach derzeitiger Rechtslage als
zulässig anzusehen ist,204) dürfte dieser Freiraum – da es sich um eine Durchbrechung des allgemeinen Verbots des Art 18 handelt – nach einem Beitritt zur
MRB nur mehr nach Maßgabe besonderer Gesetze iSd Art 26 MRB aufrecht-
201) Vgl in diese Richtung wohl Koch, Zum Status des Embryos in vitro aus rechtlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Moser/Peter (Hrsg), 1. Österreichische Bioethik-Konferenz (Report) (2001) 52 (58) Vgl auch Taupitz, NJW 2001, 3439.
202) Der Vorschlag, auch Art 18 in die Liste der eingriffsfesten Artikel des Art 26
Abs 2 MRB aufzunehmen, fand im CDBI keine Mehrheit: vgl Steering Committee on
Bioethics (CDBI), Preparatory Work on the Convention, CDBI/INF (2000) 1, 112.
203) Dass – wie mitunter gesagt wird – die Erzeugung von Embryonen zu
Forschungszwecken durch Art 18 MRB kategorisch verboten sei, trifft also nicht zu.
Allerdings wird die „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ iSd Art 26
Abs 1 MRB ähnlich streng auszulegen sein wie in den Gesetzesvorbehalten der EMRK;
es bedarf also des Nachweises eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“ (mwN
Wildhaber/Breitenmoser, in: Golsong ua [Hrsg], Internationaler Kommentar zur EMRK
[1986 ff, 2. Lieferung 1992] Art 8 EMRK Rz 711 ff), das vor dem Hintergrund der
Rechtslage in den übrigen Europaratsstaaten zu beurteilen ist.
204) Vgl FN 2.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
63
erhalten werden, die überdies den strengen materiellen Kriterien des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts zu entsprechen hätten.
Im Fall einer Ratifikation der Biomedizinkonvention im Verfassungsrang
durch Österreich würde sich übrigens die – angesichts des ebenso unberechtigten wie verbreiteten Misstrauens gegenüber der Konvention205) – beinahe paradoxe Situation ergeben, dass der Beitritt zu einer Stärkung des innerstaatlichen
Embryonenschutzes führen würde: Denn auf der einen Seite wäre Österreich
trotz des in Art 18 nur rudimentär ausgeprägten Schutzes nicht gehindert, ein
weitergehendes Schutzniveau aufrechtzuerhalten oder einzuführen (Art 27
MRB); der Beitritt könnte also rechtlich nie zu einer Verschlechterung des
Embryonenschutzes führen. Auf der anderen Seite würde ein im Verfassungsrang stehender Art 18 MRB aber genau jenen (wenngleich spärlichen) Ansatz
zu einem Verfassungsauftrag zugunsten des Embryonenschutzes in das österreichische Recht einführen, den die geltende Bundesverfassung gerade nicht
enthält.
3. Erstes Zusatzprotokoll zur MRB: Verbot des Klonens
Gem Art 1 des – von Österreich ebenfalls nicht ratifizierten – 1.
Zusatzprotokolls zur Biomedizinkonvention ist jede Intervention verboten, die
darauf gerichtet ist, „ein menschliches Lebewesen zu erzeugen, das mit einem
anderen lebenden oder toten menschlichen Lebewesen genetisch identisch ist“.
Der Ausdruck „menschliches Lebewesen, das mit einem anderen menschlichen
Lebewesen ‚genetisch identisch‘ ist, bedeutet gem Art 1 Abs 2 des 1. ZPMRB
ein menschliches Lebewesen, das mit einem anderen menschlichen Lebewesen
dasselbe Kerngenom gemeinsam hat.
Art 1 des 1. ZPMRB beinhaltet jedenfalls ein Verbot des „reproduktiven“
Klonens. Ob auch die Herstellung von Embryonen durch Kerntransfer aus
adulten Zellen zur Gewinnung genetisch (weitgehend) identer embryonaler
Stammzellen ausgeschlossen werden sollte, ist nach dem Text nicht ganz eindeutig und hängt davon ab, was man unter einem „menschlichen Lebewesen“
205) Vgl etwa die gegen einen Beitritt gerichtete Entschließung des Tiroler Landtages vom 7. 5. 1998. Ähnlich negative politische Signale liegen aus Kärnten, der Steiermark und Salzburg vor. Vgl weiters die parlamentarischen Entschließungsanträge der
Grünen 551/A (E) 20. GP betreffend Nicht-Ratifizierung der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin; 303/UEA 20. GP betreffend die Einbeziehung des Nationalrates vor
der Ratifizierung der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin; 554/A (E) 20. GP
betreffend Überprüfung der Verfassungskonformität der Menschenrechtskonvention zur
Biomedizin. Zur rechtspolitischen Diskussion eines österreichischen Beitritts mwN
Baumgartner, Convention on Human Rights and Biomedicine, BUKO INFO 4/97, 16;
Schwimmer, Die Biomedizin-Konvention des Europarates, BUKO INFO 1/1998, 17;
Körtner, Die ethische Dimension der Menschenrechtskonvention des Europarates zur
Biomedizin, RdM 1998, 106; Kopetzki, Rechtspolitik der Zukunft – Medizinrecht, in:
Holoubek/Lienbacher (Hrsg), Rechtspolitik der Zukunft – Zukunft der Rechtspolitik.
Texte zur Rechtspolitik 3 (1999) 221 (270 ff); ders, Strittiges Konsenspapier. Der
rechtsstaatliche Gewinn durch die Ratifizierung der Biomedizinkonvention des Europarates überwiegt ihre Mängel, Die Furche Nr 45 v 8. 11. 2001, 19.
64
Christian Kopetzki
(„human being“) versteht. Bezieht man den Begriff „human being“ auch auf
das frühe Embryonalstadium, dann wäre das „therapeutische Klonen“ völkerrechtlich verboten, wobei dieses Verbot – anders als Art 18 MRB – auch nicht
durchbrochen werden dürfte, weil das Zusatzprotokoll keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Der Erläuternde Bericht deutet allerdings darauf hin, dass man den
Begriff „human being“ an seinen „Rändern“ nicht exakt festlegen, sondern der
Konkretisierung durch die einzelnen Vertragsstaaten überlassen wollte.206)
Auch der Umstand, dass der Embryonenschutz und die Verwendung embryonaler Zellen zu anderen als zu Fortpflanzungszwecken Regelungsgegenstand
eines weiteren Zusatzprotokolls werden soll,207) lässt den Schluss zu, dass das
Klonen von Embryonalzellen für andere Zwecke als jene der Fortpflanzung
nicht in den Anwendungsbereich des Zusatzprotokolls fällt.208)
Zusammenfassend kann man daher festhalten, dass weder auf der Ebene
des Europarates209) noch in anderen internationalen Normen210) ein absolutes
völkerrechtliches Verbot des therapeutischen Klonens besteht. Die im Vorfeld
der therapeutischen Verwendung erforderliche Erzeugung von Embryonen zu
Forschungszwecken bedürfte allerdings einer dem Gesetzesvorbehalt des
Art 26 MRB entsprechenden innerstaatlichen Regelung.
206) Explanatory Report to the Protocol, DIR/JUR (98) 7, Z 6: „... it was decided to
leave it to domestic law to define the scope of the expression ‚human being‘ for the
purposes of the application of the present Protocol“; dazu auch Schulz, ZRP 2001, 527;
Voss, Keimbahntherapie180 f. Wie wenig aussagekräftig der Begriff „human being“ für
die Frage des Beginns des grundrechtlichen Lebensschutzes ist, zeigt etwa auch die
Verwendung in Art 6 IPBPR, wo mit „human being“ nur das geborene Leben gemeint
ist (vgl Schwelb, RDH 1975, 515, sowie oben bei FN 77).
207) Explanatory Report to the Protocol, DIR/JUR (98) 7, Z 2; Schulz, ZRP 2001,
527.
208) Gabolde/Hors, Médecine & Droit 44 (2000) 3; Deloffre-Vye, Le droit pénal
des lois de bioéthique, Révue générale de droit médical 2001/5, 91 (120); Düwell,
Ethische Überlegungen anlässlich der „Konvention für Menschenrechte und Biomedizin“ des Europarates und der „Allgemeinen Erklärung zum menschlichen Genom und
den Menschenrechten“ der UNESCO, in: Bender/Gassen/Platzer/Seehaus (Hrsg),
Eingriffe in die menschliche Keimbahn (2000) 83 (88); anders wohl Augustin, ZSR
2001, 176 FN 52, wonach das ZP jede Art des Klonens verbiete. Auch das Europäische
Parlament, Entschließung 7. 9. 2000, lehnte eine Unterscheidung zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen ab und verurteilte beide als Verstoß gegen die Politik
der EU (EuGRZ 2000, 495). Dass hier nichts desto weniger Unsicherheiten verbleiben
dürften, zeigt freilich die anlässlich der Unterzeichnung des ZP vorsichtshalber abgegebene interpretative Erklärung der Niederlande, wonach der Begriff „human being“ nur
auf Geborene bezogen werde: Vgl die interpretative Erklärung vom 29. 4. 1998: „In
relation to Article 1 of the Protocol, the Government of the Kingdom of the Netherlands
declares that it interprets the term „human being“ as referring exclusively to a human
individual, i.e. a human being who has been born“.
209) Gabolde/Hors, Médecine & Droit 44 (2000) 3.
210) Auch die – rechtlich unverbindliche – Allgemeine Erklärung des UNESCO
über das menschliche Genom und Menschenrechte vom 11. 11. 1997 verbietet in ihrem
Art 11 lediglich das reproduktive Klonen.
Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens
65
4. Exkurs: Art 3 EU-Charta
Nichts anderes gilt für die (rechtlich noch unverbindliche) Grundrechtscharta der Europäischen Union,211) die in ihrem Art 3 nur das reproduktive
Klonen ausschließt. Mit dieser ausdrücklichen Bezugnahme auf das „reproduktive“ Klonen wird einer interpretativen Ausweitung auf das „therapeutische“
Klonen der Boden entzogen. 212)
Bei der Würdigung der Rechtsfolgen aus der EU-Charta ist überdies zu
beachten, dass die Charta – selbst bei Aufnahme ins Primärrecht – mangels
einer einschlägigen Gemeinschaftskompetenz keinen allgemeinen Grundrechtskatalog der Union und ihrer Mitgliedstaaten darstellt: Denn gem Art 51
Abs 1 gilt die Charta nur für die Organe und Einrichtungen der Union sowie
für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der „Durchführung des Rechts der
Union“; ihr inhaltlicher Geltungsanspruch ist also begrenzt.213) Eine unmittelbare grundrechtliche Drittwirkung, die etwa Privaten das reproduktive Klonen
verbieten würde, kann vor diesem Hintergrund wohl nicht angenommen werden,214) wenngleich einige der medizinspezifischen Artikel der Charta weniger
auf die Schaffung subjektiver Rechte als auf die Normierung umfassender
„drittwirkender“ Verbote abzielen dürften.215) Ob und gegebenenfalls welche
Auswirkungen eine solche Bestimmung für die staatliche Forschung bzw über
den Umweg staatlicher Schutzpflichten für den privaten Wissenschaftsbereich
haben würde, muss derzeit als weitgehend offen bezeichnet werden. Die Antwort hängt maßgeblich davon ab, welche Intensität der in Art 51 geforderte
Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen muss und ob es dafür bereits genügt, dass die verpönte Tätigkeit (hier: des Klonens) in Ausübung einer
Grundfreiheit (zB der Dienstleistungsfreiheit) erfolgt.216)
IV. Fazit
Die verfassungs- und völkerrechtlichen Determinanten, die den Spielraum
bei der künftigen Rechtspolitik hinsichtlich der Gewinnung und Verwendung
embryonaler Stammzellen bzw des „therapeutischen Klonens“ begrenzen, sind
also recht dünn und, sofern überhaupt begründbar, eher „forschungs- und the211) ABl C 364/1 vom 18. 12. 2000. Für weiterführende europarechtliche Aspekte
der Embryonenforschung vgl Iliadou, Forschungsfreiheit 226 ff.
212) Dujmovits, Die EU-Grundrechtscharta und das Medizinrecht, RdM 2001, 72
(77).
213) Vgl statt vieler Schmitz, Die EU-Grundrechtscharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, 833 (835).
214) Dujmovits, RdM 2001, 81 mwN.
215) Schmitz, JZ 2001, 840.
216) Dazu Dujmovits, RdM 2001, 82 f. Grundsätzlich und mwN Öhlinger, Die Europäische Grundrechtscharta und ihr Verhältnis zur Bundesverfassung, in: Duschanek/
Griller (Hrsg), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza (2002) 225
(229 f).
66
Christian Kopetzki
rapiefreundlich“. Insofern gilt für den Umgang mit embryonalen Stammzellen
heute nichts anderes als für manche – ethisch ebenfalls sensible – biotechnologische Themenfelder der jüngeren Vergangenheit wie etwa die Reproduktionsmedizin oder die Gentechnik, bei denen sich die Grundrechte ebenfalls „als
wenig aussagekräftig“217) erwiesen haben. Auch hier schützen die Grundrechte
„eher die Entwicklung neuer Technologien, als dass sie den Gesetzgeber dazu
verpflichten, Schutzvorkehrungen zu treffen“.218) Erst ein Beitritt Österreichs
zur Biomedizinkonvention des Europarates würde den völkerrechtlichen – und
bei einer Ratifikation als verfassungsergänzenden Staatsvertrag auch den verfassungsrechtlichen – Bezugsrahmen etwas verdichten.
Die rechtspolitische und ethische Auseinandersetzung wird dadurch gewiss nicht leichter, weil sich der Rekurs auf vermeintlich feste verfassungsrechtliche Bastionen wie die „Menschenwürde“ oder das „Recht auf Leben“
als wenig tragfähig erweist und die unterschiedlichen moralischen, theologischen und gesundheitspolitischen Positionen weitgehend ohne „grundrechtliche Rückendeckung“ vorgetragen und ausgeglichen werden müssen. Aus
staatsrechtlicher Perspektive erscheint die Frage der Embryonenforschung und
des therapeutischen Klonens daher als das, was sie im Kern schon immer war:
Nämlich als primär ethisches, religiöses und rechtspolitisches und weniger als
verfassungsrechtliches Problem.
217) Vgl zur Reproduktionsmedizin Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 42; Ermacora, Grundriss Menschenrechte Rz 1188.
218) Huber/Stelzer, Gentechnologie 45.
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