Zitiervorschlag: Kopetzki, Grundrechtliche Aspekte der Biotechnologie am Beispiel des „therapeutischen Klonens“, in: Kopetzki/Mayer (Hrsg), Biotechnologie und Recht, Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Gesetzgebungspraxis und Rechtsanwendung, Band 11, Verlag Manz, Wien 2002, S. 15-66 [Aus technischen Gründen weicht der Seitenumbruch geringfügig von jenem des Originals ab.] Grundrechtliche Aspekte der Biotechnologie am Beispiel des „therapeutischen Klonens“ Christian Kopetzki I. Einleitung Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der Biotechnologie sind so vielfältig wie der Begriff der Biotechnologie selbst. Versteht man unter „Biotechnologie“ Verfahrensweisen und Techniken, die lebende Organismen zur Produktion nützlicher Substanzen einsetzen, dann spannt sich der thematische Bogen von der gentechnischen Herstellung von Arzneimitteln über bestimmte Methoden der Tierzucht bis hin zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung oder dem Klonen von embryonalen Stammzellen zur therapeutischen Gewebszüchtung. Es leuchtet ein, dass sich für dieses breite Feld an Sachverhalten keine einheitlichen verfassungsrechtlichen Aussagen treffen lassen.1) Die folgenden Überlegungen beschränken sich daher auf einen sehr engen, wenngleich aktuellen Schwerpunkt, nämlich auf die grundrechtliche Beurteilung2) der Gewinnung embryonaler Stammzellen zum Zweck des „thera1) Zu grundlegenden Verfassungsfragen der Gentechnologie vgl Huber/Stelzer, Öffentlich-rechtliche Rechtsfragen der Gentechnologie, in: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hrsg), Gentechnologie im österreichischen Recht (1991) 1 (23 ff); Schlag, Die Herausforderung der Biotechnologie an die österreichische allgemeine Grundrechtsdogmatik, ÖJZ 1992, 50. 2) Zur einfachgesetzlichen Rechtslage vgl den Beitrag von Miklos. Während die Verwendung befruchteter Eizellen gem § 9 Abs 1 FMedG zu forschenden oder therapeutischen Zwecken untersagt ist, steht das „therapeutische Klonen“ – mangels eines hinreichend begründbaren Verbots – de lege lata jedenfalls nicht unter Strafsanktion: Das Verbot von Eingriffen an entwicklungsfähigen Zellen gem § 9 Abs 1 FMedG bezieht sich wegen der eindeutigen Legaldefinition des § 1 Abs 3 FMedG nur auf „befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen“; dies trifft – mangels Befruchtung – bei der Methode des Kerntransfers von vornherein nicht zu. Auch § 9 Abs 1 FMedG letzter Satz, der dieses Manipulationsverbot auf sämtliche Keimzellen (Eizellen und Samenzellen) ausdehnt, steht dem therapeutischen Klonen durch Kerntransfer nicht entgegen, weil dieses Verbot nur dann zum Tragen kommt, sofern diese Zellen „für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet werden sollen“. Eine analoge Anwendung auf entwicklungsfähige Zellen, die durch Kerntransfer gewonnen wurden, scheitert wegen der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung des FMedG nicht nur am klaren Wortlaut sowie dem strafrechtlichen Analogieverbot (vgl auch BTDrucksache 13/11263 v 26. 6. 1998), sondern auch daran, dass es an einer analogiefä- 16 Christian Kopetzki peutischen Klonens“.3) Dabei geht es – vereinfacht dargestellt – um die Übertragung des Zellkerns einer Körperzelle in eine entkernte weibliche Eizelle („Dolly-Methode“). Einige (wenige) der dadurch entstehenden Zellen entwickeln sich – mit Hilfe chemischer oder physikalischer Stimulation – wie ein befruchteter Embryo durch Zellteilung weiter. In der Folge sollen aus diesem entwicklungsfähigen Embryo in der Frühphase toti- bzw pluripotente embryonale Zellen entnommen werden, aus denen dann – möglicherweise – unterschiedliche Gewebsstrukturen zum Zweck des Gewebsersatzes ausdifferenziert werden können, die mit dem Zellspender (weitgehend) genetisch identisch sind4) und die daher keine immunologischen Abstoßungsreaktionen auslösen. Da diese Zellen zumindest in der Anfangsphase noch die Fähigkeit zur Bildung eines gesamten Organismus („Totipotenz“) besitzen, könnte durch Implantation des geklonten Embryos in eine Gebärmutter theoretisch auch ein neuer Mensch geboren werden. Die terminologische Unterscheidung zwischen „reproduktivem“ und „therapeutischem“ Klonen orientiert sich somit an der unterschiedlichen Zielsetzung und der weiteren Verwendung der Zellen. Im ersten Fall soll ein Mensch geklont, im zweiten Fall embryonale Zellen gezüchtet werden.5) II. Grundrechtliche Aspekte Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion über die Embryonenforschung im Allgemeinen und das „therapeutische Klonen“ im Besonderen steht die Frage nach den grundrechtlichen Rahmenbedingungen solcher Techniken. Während Eingriffe im Frühstadium embryonaler Entwicklung den einen als Angriff auf die Substanz der europäischen Menschenrechtstradition und als „Niederlage für die Menschheit“6) insgesamt erscheinen, sehen andere higen Lücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes fehlt: Der Gesetzgeber des FMedG wollte biomedizinische Techniken, die mit der menschlichen Fortpflanzung nichts zu tun haben, von einer Normierung im Rahmen des FMedG überhaupt ausnehmen (vgl RV 216 BlgNR 18. GP 10). Ohne hinreichende Begründung für die Ableitung eines Verbots des therapeutischen Klonens aus dem FMedG hingegen Eder-Rieder, Vorbem zu §§ 96-98 StGB, in WK2 (23. Lfg 2001) Rz 19; Harsieber, Geklont und verdammt? ÖÄZ 2001/4, 33; Prat, Stammzelltherapie aus ethischer Sicht, Imago hominis 2001/2, 121 (123). 3) Vgl Lanza et al, Human therapeutic cloning, Nature Medicine 5 (1999) 975; Cibelli et al, The first human embryo cloned, Scientific American 2002/1. 4) Wegen der in der entkernten Eizelle verbleibenden mitochondrialen DNA – sie macht einen quantitativ verschwindenden Bruchteil des Gesamtgenoms aus – stimmt die Erbinformation des Embryos nicht ganz mit jener des Zellspenders überein. 5) Noiville, Embryon humain et clonage, Revue générale de droit médical, Numéro spécial: La recherche sur l’Embryon: qualifications et enjeux (2000) 135 (137): „Il s’agit de cloner de cellules pour obtenir non plus des êtres humains, mais du matériel biologique“. 6) Vgl – unter Zitierung eines Vatikansprechers – Schönbauer, „Niederlage für die Menschheit“, Der Standard, 27. 11. 2001, 2. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 17 im Verbot der Embryonenforschung eine „unchristliche Perversion“ zu Lasten neuer Heilungschancen.7) Es erscheint daher lohnend, den grundrechtlichen Spielraum bei der Verwendung menschlicher Embryonen für Forschungs- und Therapiezwecke näher zu beleuchten. Dass die Grundrechte der medizinischen Forschung am Menschen oder der Gewinnung menschlicher Körpersubstanzen zu Zwecken Dritter enge Grenzen setzen, ist zunächst evident: Zentrale Bestimmungen grundrechtlichen Inhalts – etwa in der EMRK oder im UN-Weltpakt über bürgerliche und politische Rechte – verdanken ihre Entstehung nicht zuletzt den menschenverachtenden Wissenschaftspraktiken im Nationalsozialismus und richten sich schon von ihrer historischen Zielsetzung her nicht nur, aber jedenfalls auch gegen Missbräuche der medizinischen Forschung. Mögen die genauen grundrechtlichen Schranken im Detail mitunter noch unklar sein, so ist doch ihre systematische Verortung mit hinreichender Sicherheit auszumachen: Sie ergeben sich aus jenen Grundrechten, welche die menschliche Person und ihre Integrität schützen. Das sind im wesentlichen die Art 2, 3 und 8 EMRK. Zwangsweise Versuche werden überdies durch Art 7 Abs 2 des UN-Weltpaktes kategorisch verboten. Daraus lässt sich im Ergebnis eine Bindung der biomedizinischen Forschung an den Grundsatz des „informed consent“ und somit auch ein Verbot zwangsweiser Experimente ableiten.8) Unterhalb der Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art 3 EMRK und zur Lebensgefährdung (Art 2 EMRK) besteht zwar aufgrund des Gesetzesvorbehalts zu Art 8 EMRK ein gewisser Spielraum für Ausnahmen, doch sind die daraus erwachsenden Rechtfertigungsmöglichkeiten für „konsenslose“ Eingriffe am Menschen im öffentlichen Interesse sehr eng. Vereinfacht und pointiert formuliert: Die Menschenversuche des „Dritten Reichs“ sind nach heutigen rechtlichen Maßstäben selbstverständlich verfassungs- und völkerrechtswidrig. Für die verfassungsrechtlichen Grenzen der Forschung an bzw der Nutzung von Embryonen für therapeutische Zwecke lassen sich daraus nur dann tragfähige Schlussfolgerungen ziehen, wenn und soweit das vorgeburtliche Leben in der Frühphase der Entwicklung vom Schutzbereich der genannten (oder gleichgerichteter) Grundrechte erfasst wird (vgl unten A, B und C). Im Anschluss daran wird zu prüfen sein, ob es möglicherweise grundrechtliche Argumente für die Zulassung der Embryonenforschung bzw der Nutzung embryonaler Zellen gibt (D, E). Abschließend werden einige völkerrechtliche Rahmenbedingungen analysiert, die sich insb aus der Biomedizinkonvention des Europarates (MRB) ergeben könnten (III). Bevor auf die einzelnen Grundrechte näher einzugehen ist, sei vorausgeschickt, dass die Frage nach dem Beginn des verfassungsrechtlichen Lebens- 7) Lingens, Moralisch korrekte Zelle. Die Fristenlösungsdiskussion hat ein neues Kleid – die Fronten bleiben die alten, Profil v 28. 5. 2001, 144: „Ich behindere die Rettung von Menschen, indem ich die Rechtspersönlichkeit von Zellgebilden schütze“. 8) Zusammenfassend Kopetzki, Unterbringungsrecht I (1995) 396 ff. 18 Christian Kopetzki schutzes weder eine ethische9) oder religiöse10) noch eine naturwissenschaftliche Frage ist, sondern eine Frage der Verfassungsinterpretation. Dass diese – wie sich zeigen wird – zu erheblich anderen Ergebnissen führt als die herrschende deutsche Lehre, hat nicht nur mit unterschiedlichen Traditionen der Grundrechtsinterpretation,11) sondern auch mit einer abweichenden Verfassungsrechtslage zu tun. 9) Vgl zur (rechts)ethischen Beurteilung aus ganz unterschiedlichen Positionen und mit erwartungsgemäß divergierenden Ergebnissen zwischen strikter Ablehnung und weitgehender Bejahung der Embryonenforschung (in dieser Reihenfolge abnehmenden Schutzniveaus) statt vieler zB Naumann, Der Staat und die Heiligkeit des Lebens, Die Zeit Nr 26 v 21. 6. 2001, 9; Spaemann, Gezeugt und nicht gemacht, Die Zeit Nr 4 v 18. 1. 2001, 37; Hösle, Heilung um jeden Preis? Die Zeit Nr 10 v 1. 3. 2001, 36; Türcke, Der schmale Grat der Demut, Die Zeit Nr 7 v 8. 2. 2001; Körtner, Die Würde des Menschen – unantastbar? Über die rechtliche und moralische Stellung von Embryonen, in: ders, Unverfügbarkeit des Lebens (2001) 103; Schöne-Seifert, Von Anfang an? Die Zeit Nr 9 v 22. 2. 2001, 41; Merkel, Rechte für Embryonen? Die Zeit Nr 5 v 25. 1. 2001, 37; Bernat, Der menschliche Keim als Objekt des Forschers. Rechtsethische und rechtsvergleichende Überlegungen, in: Bender/Gassen/Platzer/ Seehaus (Hrsg), Eingriffe in die menschliche Keimbahn (2000) 57; Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar (1998) 297 ff; Kuhlmann, Politik des Lebens – Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie (2001) 61 ff. Zur Bedeutung dieses ethischen Pluralismus für die Rechtspolitik Huster, Bioethik im säkularen Staat, Z phil Forschung 55 (2001) 258. 10) Vgl dazu die nicht weniger vielfältigen Positionen der Religionsgemeinschaften zur Embryonenforschung, deren Palette von strikter Ablehnung (so die katholische: zB Deutsche Bischofskonferenz, Imago hominis 2001/2, 148) über Kompromiss- und Abwägungsbereitschaft (so die evangelische: zB Körtner, Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin [2001] 19 ff) bis hin zur moralischen Indifferenz hinsichtlich des frühen extrakorporalen embryonalen Lebens (so zB die jüdische Tradition: zB Rabbi Moshe Dovid Tendler, Stem Cell Research and Therapy: A Juedo-Biblical Perspective, in: US-National Bioethics Advisory Commission, Ethical Issues in Human Stem Cell Research III [2000] H-3) reicht. 11) Dazu Grimm, Die Fristenlösungsurteile in Österreich und Deutschland, JBl 1976, 74; vgl auch Luf, Menschenrechte, in: Korff ua (Hrsg), Lexikon der Bioethik II (1998) 679 (681). Zur methodischen Diskussion um „Schrankentheorie“ und „Werttheorie“ der Grundrechte auch Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529 = in: ders, Staat, Gesellschaft, Freiheit (1976) 221. Solche idealtypischen Polarisierungen sollten nicht vergessen lassen, dass „Grundrechtstheorien“ zwar gewisse methodische Vorverständnisse sichtbar machen, nicht jedoch eine für die „gesamte“ Grundrechtsordnung zutreffende Auslegungsanleitung bieten können. Die Frage nach der normativen Bedeutung bleibt für jedes Grundrecht gesondert zu beantworten. Sofern man auf ein grundrechtstheoretisches Bekenntnis dennoch nicht verzichten möchte: Die Auffassung von den Grundrechten als Eingriffsschranken und Rahmenordnung (zur Begründung Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, 457) ist in Österreich nicht nur vorherrschend, sondern beschreibt hinsichtlich der Freiheitsrechte auch am ehesten den dem österreichischen Verfassungsrecht adäquaten methodischen Zugang: statt vieler Korinek, Das Grundrecht der Freiheit der Erwerbsbetätigung als Schranke für die Wirtschaftslenkung, FS Wenger (1983) 243 (250); Öhlinger, Die Grundrechte in Österreich, EuGRZ 1982, 216 (224); Walter, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle in Österreich, in: Vogel (Hrsg), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 19 A. Recht auf Leben Nicht nur wegen der Ausstrahlungswirkung der deutschen Verfassungsdiskussion liegt der Schwerpunkt der grundrechtlichen Auseinandersetzung zum Thema „therapeutisches Klonen“ und „Embryonenforschung“ beim Recht auf Leben. Der aktuelle Diskurs bewegt sich dabei auch in Österreich auf argumentativen Pfaden, die seit den Auseinandersetzungen über den Schwangerschaftsabbruch in den siebziger Jahren und über das Fortpflanzungsmedizingesetz in den achtziger Jahren hinreichend ausgetreten sind: 1. Allgemeines Die zentrale Frage geht dahin, ob – und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt – auch ungeborenes menschliches Leben in den Schutzbereich des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Leben fällt. Was die positivrechtliche Grundlage dieses Rechts betrifft, so kann man sich im gegebenen Zusammenhang auf Art 2 EMRK beschränken: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt“ (Art 2 Abs 1 EMRK). Der Schutz des Lebens gem Art 63 Abs 1 des StV von Saint Germain12) stellt demgegenüber nur eine spezielle Ausformung des Gleichheitssatzes dar, ohne den sachlichen Schutzbereich des Lebensschutzes weiter zu ziehen.13) Außerdem erstreckt sich sein persönlicher Geltungsbereich nur auf „Einwohner“, was einer Ausdehnung auf Ungeborene schon sprachlich entgegensteht.14) Darüber hinaus enthält – abgesehen vom Verbot der Todesstrafe in Art 85 B-VG und im 6. ZPMRK – weder das B-VG noch das StGG 1867 ein eigenständiges Recht auf Leben. Versuche, etwa aus dem Recht auf persönliche Freiheit gem Art 8 StGG 1867 ein „stillschweigend vorausgesetztes“ Recht auf Leben abzuleiten,15) haben sich zurecht nicht durchgesetzt,16) weil Art 8 StGG (1971) 1 (17 ff); jüngst wieder ausführlich Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten (1997) 114 ff. Die österreichische Tradition der Grundrechtsinterpretation trägt – schon wegen ihrer skeptischen Haltung gegenüber dem Einfließen außerrechtlicher (insb moralischer) Wertungen – eher „positivistische“ Züge (vgl Walter ibid 2). Dass eine solche – der Beschreibung des positiven Rechts und nicht einer materialen Wesensschau verpflichtete – Rechtswissenschaft dennoch kein inhaltsleerer Formalismus, sondern immer auch Rechtsinhaltsbetrachtung (und insofern zwangsläufig Wertbetrachtung) sein muss, hat Winkler (Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen [1969]) nachdrücklich gezeigt. 12) Art 63 Abs 1 StV v Saint Germain: „Österreich verpflichtet sich, allen Einwohnern Österreichs ohne Unterschied der Geburt, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren.“ 13) MwN Kneihs, Das Recht auf Leben in Österreich, JBl 1999, 76. 14) Vgl schon VfSlg 7400/1974; Marschall, Grundsatzfragen der Schwangerschaftsunterbrechung im Hinblick auf die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Leben, JBl 1972, 497 (508); 548. 15) ZB Adamovich/Spanner, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts6 (1971) 521 f. 16) Dagegen zB Novak, Das Fristenlösungs-Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, EuGRZ 1975, 197 (198); Holoubek, Gewährleistungspflichten 311 f; Kneihs, JBl 1999, 76. Mit der Berufung auf die „Logik“ lässt sich ein solches 20 Christian Kopetzki unter dem Titel der „persönlichen Freiheit“ seit jeher nur die Bewegungsfreiheit schützt17) und auch das StGG insgesamt viel zu zersplittert und kompromisshaft ist, als dass es sich „über eine Sammlung von Einzelpositionen des Grundrechtsschutzes zu einer geschlossenen und umfassenden Wertordnung hochstilisieren ließe“.18) 2. Meinungsstand Die Antwort der österreichischen Höchstgerichte ist in diesem Punkt eindeutig: Nach übereinstimmender Auffassung des VfGH19) und des OGH20) bezieht sich der Schutzbereich des Art 2 EMRK nicht auf das ungeborene Leben. „Mensch“ iSd Art 2 EMRK ist nur der geborene Mensch. Ein großer Teil der Lehre folgt dieser Auffassung und lehnt die Anwendung des Art 2 EMRK auf vorgeburtliche Entwicklungsstadien ab.21) Andere Autoren nehmen eine mehr oder weniger weit gehende Einbeziehung ungeborenen Lebens in den Schutzbereich des Art 2 EMRK an, bejahen dies aber erst ab gewissen Recht nicht begründen, so aber Lewisch, Menschenwürde Forschungsinteresse preisgegeben? Der Staatsbürger 1988/3, 12 FN 10. 17) MwN Kopetzki, Unterbringungsrecht I 240 f. 18) Öhlinger, EuGRZ 1982, 224 f. 19) VfSlg 7400/1974. 20) OGH 25. 5. 1999, 1 Ob 91/99k, RdM 1999/23, 182. 21) Vgl mwN bereits Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention (1968) 47 (es läge „nicht der geringste Anhalt dafür vor, dass man bei Art 2 an den Schutz des nasciturus gedacht hat“); Pfeifer, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für Österreich, FS Hugelmann I (1959) 399 (424) („denn der Embryo ist noch kein fertiger Mensch“); Tretter, Art 2 MRK, in: Ermacora/ Nowak/ Tretter (Hrsg), Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte (1983) 83 (103 ff); Machacek, Das Recht auf Leben in Österreich, EuGRZ 1983, 453 (466); Rosenzweig, Drei Verfassungsgerichte zur Fristenlösung, FS Broda (1976) 231 (237 ff, 264 ff); Stolz, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme der Gentechnologie – die österreichische Sicht, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg), Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, Internationales Verwaltungsrecht (1988) 203 (210 f, insb 213); ders, Grundrechtsaspekte künstlicher Befruchtungsmethoden, in: Bernat (Hrsg), Lebensbeginn durch Menschenhand (1985) 109 (115 f); Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen künstlicher Fortpflanzung, in: Enquete zum Thema Familienpolitik und künstliche Fortpflanzung, 1985 (1986) 31 (38 f); Posch, Rechtsprobleme der medizinisch assistierten Fortpflanzung und Gentechnologie, GA 10. ÖJT 1988, I/5, 26 f; Kopetzki, Hirntod und Schwangerschaft, RdM 1994, 67 (75); Mayer, B-VG2 (1997) Art 2 MRK Anm I.1; Eder-Rieder, Die rechtlichen Grundlagen der medizinisch unterstützten Fortpflanzung, JAP 1998/99, 165 (170); Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz2 (1999) 57 („Das Leben ist geschützt von der Geburt bis zum Tod“); Dujmovits, Die EUGrundrechtscharta und das Medizinrecht, RdM 2001, 72 (74 f); Schulz, Schleichende Harmonisierung der Stammzellforschung in Europa? ZRP 2001, 526 (527); Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl 2001, 1 (3); wohl auch Feik, Der räumliche und persönliche Geltungsbereich der Grundrechte, ZÖR 1999/1, 19 (24); Melichar, Das Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes über die sogenannte „Fristenlösung“, FS Dordett (1976) 91 (100 f), sowie – wenngleich im Ergebnis unentschieden – Holoubek, Gewährleistungspflichten 315. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 21 Entwicklungsstadien, die zeitlich durchwegs nach der Nidation liegen.22) Eine – der herrschenden deutschen Verfassungsrechtslehre entsprechende – Ausdehnung des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes auf Embryonen in vitro innerhalb der ersten Entwicklungstage bzw -wochen ab dem Zeitpunkt der Befruchtung wird freilich ebenso vertreten.23) Die Straßburger Rechtsprechungsorgane – die zwar noch nicht zur Embryonenforschung,24) wiederholt aber im Kontext der Abtreibungsproblematik mit der Frage nach der Anwendbarkeit des Art 2 EMRK befasst wurden – haben sich bisher nicht für eine Ausdehnung des Art 2 EMRK auf den Ungeborenen ausgesprochen: Trotz eher vager – und nie entscheidungserheblicher – Andeutungen, dass die EMRK vielleicht auch einen gewissen Schutz des Fötus verbürge, wurde Beschwerden gegen die Zulassung des Schwangerschaftsabbruches seitens der EKMR nicht stattgegeben.25) In einem norwegischen Fall hat auch die „Fristenlösung“ – in concreto der nicht weiter begründungspflichtige Schwangerschaftsabbruch durch selbstbestimmte Entscheidung der Frau binnen 12 Wochen – der Überprüfung an Art 2 EMRK standgehalten.26) Die Argumentationslinie der EKMR erscheint allerdings nicht geradlinig und lässt Unsicherheit erkennen: Zunächst zog die EKMR aus der Umschreibung der persönlichen Schutzbereiches der Konventionsrechte durch die Worte „every22) Vgl zB Moser, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das bürgerliche Recht (1972) 133; Stolz in: Bernat, Lebensbeginn 116 (extrauterine Embryonen „sind vom Schutzbereich des Grundrechts auf Leben nicht erfasst“); Posch, 10. ÖJT 1988, I/5, 26 f; Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar2 (1996) Art 2 EMRK, Rz 3; Berka, Die Grundrechte (1999) Rz 368; ders, Lehrbuch Grundrechte (2000) 78; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)2 (1999) Rz 268 („nicht vom Moment der Befruchtung an“); Wildhaber, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 227 („von der Lebensfähigkeit an“); Voss, Rechtsfragen der Keimbahntherapie (2001) 178. 23) ZB – wenn auch nicht immer ausdrücklich zu extrakorporalen Embryonen – Marschall, JBl 1072, 508 ff; Waldstein, Rechtserkenntnis und Rechtsprechung. Bemerkungen zum Erkenntnis des VfGH über die Fristenlösung, JBl 1976, 505; 574 (576); ders, Das Menschenrecht zum Leben (1982) 36 ff; Groiss/ Schantl/ Welan, Der verfassungsrechtliche Schutz des menschlichen Lebens, ÖJZ 1978, 1 ff; Lewisch, Der Staatsbürger 1988/3, 12; ders, Leben und sterben lassen. Zur Frage verbrauchender Experimente an Embryonen, ÖJZ 1990, 133 (141); ders, Das Recht auf Leben (Art 2 EMRK) und Strafgesetz, FS Platzgummer (1995) 381 (394 ff); Schlag, Verfassungsrechtliche Aspekte der künstlichen Fortpflanzung (1991) 105 ff; ders, In-vitro-Fertilisation und Lebensrecht, in: IMABE (Hrsg), Der Status des Embryos (1989) 117 (118); Piskernigg, Die Selbsthilferegelung des ABGB (1999) 280 ff. In diese Richtung auch Peukert, Human Rights in international law and the protection of unborn human beings, FS Wiarda 1988, 511 (517); Jacqué, La Convention européenne des droits de l’homme et la bioéthique, in: Furkel/Jung (Hrsg), Bioethik und Menschenrechte (1993) 3 ff. Widersprüchlich Ermacora, Grundriss Menschenrechte Rz 206, 216, 218. 24) Einschlägige Entscheidungen sind bisher nicht ersichtlich: Vgl Harris/ O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights (1995) 42 FN 11. 25) MwN Frowein/Peukert, Art 2 EMRK Rz 3; Harris/O’Boyle/Warbrick, Convention 41 ff. 26) EKMR Appl 17.004/90, DR 73 (1992) 155. 22 Christian Kopetzki one“ bzw „toute personne“ in der EMRK im Allgemeinen sowie in Art 2 EMRK im Speziellen den Schluss, dass nur Geborene, nicht hingegen vorgeburtliche Entwicklungsstadien umfasst seien.27) In der Folge hat die EKMR dann jedoch die Frage nach dem Schutz für den Ungeborenen noch einmal unter dem Aspekt der staatlichen Schutzpflicht und des Begriffs „Leben“ iSd Art 2 EMRK aufgeworfen und insofern unbeantwortet gelassen, indem sie – eventualiter – selbst für den Fall einer extensiven Auslegung des Lebensbegriffs eine Verletzung des Art 2 im Hinblick auf die Rechtsposition der Mutter verneint hat. Der EGMR hat sich zur Frage des vorgeburtlichen Lebensschutzes bisher nicht explizit geäußert. Die Entscheidung im Fall Open Door, in der das irische Verbot der Verbreitung von Informationen über die Möglichkeit von Schwangerschaftsunterbrechungen im Ausland als Verstoß gegen Art 10 EMRK qualifiziert wurde, deutet aber eher darauf hin, dass der Gerichtshof den nasciturus nicht als von Art 2 EMRK geschützt ansah.28) Dem von der irischen Regierung vorgebrachten Argument, die Rechtfertigung des Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit iSd Art 10 Abs 2 EMRK ergebe sich neben dem Schutz der „Moral“ auch aus dem Schutz der „Rechte anderer“ – nämlich des Ungeborenen –, schloss sich der EGMR nicht an, indem er die irische Gesetzgebung ausschließlich unter dem Aspekt des Schutzes der „Moral“ thematisiert und letztlich als unverhältnismäßig beurteilt hat.29) Auch an anderer Stelle ließ der EGMR erkennen, dass er die Frage nach dem Beginn des Lebensschutzes letztlich für eine „Glaubensfrage[n] über die Natur des menschlichen Lebens“ hält, in der die EMRK mangels eines gesamteuropäischen Minimalkonsenses keine Position beziehen könne.30) 27) EKMR Appl 8416/79, DR 19, 244 (249 f): „... both the general usage of the term ‚everyone‘ (‚toute personne‘) in the Convention (...) and the context in which this term is employed in Article 2 (...) tend to support the view that it does not include the unborn“; bestätigend EKMR, Appl 17.004/90, DR 73, 155 (166 f). 28) In diesem Sinn auch die Kritik von Lewisch, FS Platzgummer (1995) 395 FN 27, wonach dem EGMR „der Lebensschutz kein Anliegen ist“. 29) EGMR, Fall Open Door (Z 61 ff), EuGRZ 1992, 484 (487). Ob sich der Begriff „andere“ auch auf das Ungeborene erstreckt, wurde zwar offen gelassen (Z 63). Da der EGMR diese Rechtfertigungsmöglichkeit aber nicht weiter verfolgte, obwohl die (unter dem Aspekt des Schutzes der Moral abschlägig entschiedene) Verhältnismäßigkeitsprüfung im Licht des alternativen Schutzgutes „Rechte anderer“ durchaus zu einem abweichenden Ergebnis und damit zur Rechtfertigung der irischen Gesetzgebung führen hätte können, muss wohl angenommen werden, dass der EGMR die Anwendbarkeit des Eingriffszieles „Schutz der Rechte anderer“ im konkreten Fall nicht in Betracht zog. Anders die dissenting opinion von Matscher und Blayney, EuGRZ 1992, 491. 30) EGMR, Open Door (Z 68), EuGRZ 1992, 484 (488): Der EGMR anerkenne, „dass die nationalen Behörden in Fragen der Moral einen weiten Beurteilungsspielraum besitzen und dies insbesondere in einem Bereich wie dem vorliegenden, welcher Glaubensfragen über die Natur des menschlichen Lebens betrifft. Wie der Gerichtshof früher bemerkt hatte, ist es nicht möglich, in der rechtlichen und sozialen Ordnung der Vertragsparteien eine einheitliche europäische Moralkonzeption zu finden ...“. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 23 3. Zur Auslegung des Art 2 EMRK Mit der höchstgerichtlichen Judikatur zu Art 2 EMRK könnte man die Frage nach den grundrechtlichen Schranken des therapeutischen Klonens bzw des Embryonenschutzes aus der Sicht des Art 2 EMRK für entschieden halten. Eine dogmatische Analyse kann sich mit diesem Verweis auf die „herrschende Ansicht“ freilich nicht begnügen: Gerade das Fristenlösungserkenntnis hat bekanntlich nicht nur wegen der inhaltlichen Kernaussage,31) sondern auch wegen bedenklicher Ausführungen zur grundrechtlichen Schutzrichtung und zur Interpretation der EMRK Kritik erfahren.32) Allerdings erlauben die methodischen Ungereimtheiten der verfassungsgerichtlichen Begründung noch nicht den Umkehrschluss auf die Richtigkeit der Gegenmeinung. So folgt etwa aus der – vieldiskutierten – Frage nach der Schutzrichtung und der Intensität staatlicher Schutzpflichten noch nichts für die inhaltlichen und zeitlichen Grenzen des Lebensschutzes. Denn dabei geht es nicht um den Adressaten des in Art 2 EMRK verankerten Schutzgebotes, sondern um den Kreis der berechtigten Grundrechtsträger bzw – in objektivrechtlicher Hinsicht – um die Auslegung des im Begriff „Leben“ angesprochenen sachlichen Schutzbereiches.33) In diesen Punkten hat, wie im Folgenden zu zeigen ist, die Rechtsprechung des VfGH aber nach wie vor überwiegende Gründe für sich – wenngleich man auch ein Vierteljahrhundert nach dem Fristenlösungserkenntnis nicht behaupten kann, dass hier „die Interpretation der einschlägigen Verfassungsnormen mit zwingender Notwendigkeit zu einem einzig richtigen Ergebnis führt“.34) Dazu statt aller und mwN nur Groiss/Schantl/Welan, ÖJZ 1978, 1. Für viele zB Novak, Das Fristenlösungs-Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, EuGRZ 1975, 197; Pernthaler, Entscheidungsbesprechung, JBl 1975, 316 ff; Spanner, Die Bedeutung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes für das Zivilrecht, JBl 1978, 286 ff; Grimm, JBl 1976, 74 ff; zusammenfassend Lewisch, FS Platzgummer (1995) 382 ff. 33) Im Hinblick auf die Auslegung des Art 2 EMRK ist daher zu bezweifeln, dass das Interpretationsergebnis des VfGH ausschließlich auf ein bestimmtes („klassischliberales“) Grundrechtsverständnis zurückzuführen ist (so aber für viele Grimm, JBl 1976, 74 ff; Zipf, WK Vorbem §§ 96-98 StGB, Rz 12). Denn erstens hat der VfGH in VfSlg 7400/1974 die (überholte) These von der ausschließlich staatsgerichteten Eingriffsabwehr zu Art 2 EMRK gar nicht vertreten. Und zweitens hat die Frage, gegen wen sich ein Grundrecht richtet und ob es neben staatlichen Abwehransprüchen auch Schutzpflichten verbürgt, zunächst nichts damit zu tun, welche Bedeutung jene Begriffe aufweisen, die den sachlichen („life“) bzw persönlichen („everyone“) Schutzbereich umschreiben bzw wann dieser Schutz beginnt. Die Problematik der Auslegung des sachlichen und persönlichen Schutzbereiches stellt sich – unabhängig von allgemeinen grundrechtstheoretischen Erwägungen – immer in der selben Weise, gleichgültig ob es um unmittelbar staatsgerichtete Eingriffsabwehr oder um die Ableitung staatlicher Schutzpflichten gegen Eingriffe Privater geht. Aus der Bejahung positiver Schutzpflichten ergibt sich daher auch nichts für die Frage nach der Reichweite des „grundrechtlich geschützten Rechtsgutes“ (so aber offenbar Grimm, JBl 1976, 79). 34) Koller, Theorie des Rechts (1992) 202. 31) 32) 24 Christian Kopetzki a) Der Wortlaut des Art 2 EMRK aa) Grundrechtssubjektivität von Embryonen? Maßgeblich für die Auslegung des Art 2 EMRK ist die „übliche Bedeutung, die den Begriffen des Vertrages in ihrem Zusammenhang und unter Berücksichtigung seines Zieles und Zweckes beizulegen ist“.35) Geht man vom Wortlaut des Art 2 EMRK aus, so kann dem VfGH und der EKMR nicht entgegen getreten werden, wenn sie die Umschreibung des persönlichen Schutzbereiches durch die Begriffe „everyone“ bzw „toute personne“ nach dem – jedenfalls in der Rechtssprache – üblichen Wortsinn nur auf (geborene) Personen beziehen.36) Nur die der Jurisdiktion der Vertragsstaaten „unterstehenden Personen“ (Art 1 EMRK) sind Träger der Konventionsrechte. Die Gleichsetzung des Begriffs „Mensch“ – oder in anderen Grundrechten: der Begriffe „jedermann“ oder „Person“ – mit dem Geborenen ist im Übrigen keine Besonderheit des Art 2 EMRK, weil auch die einfachgesetzliche Rechtsordnung37) die Rechtsfähigkeit (und den daran anknüpfenden Schutz der Person) in aller Regel den Geborenen vorbehält: „Mensch“ bzw „Person“ bezeichnen im Zivil- und Strafrecht durchwegs nicht das embryonale Leben: Gerade weil der nasciturus beispielsweise keine „Person“ iSd § 16 ABGB38) oder kein „anderer“ iSd strafrechtlichen Tötungsdelikte (§§ 75 ff StGB)39) ist, finden sich im einfachgesetzlichen Recht ergänzende Sonderbestimmungen, die den Lebensschutz teilweise – und in eingeschränktem Ausmaß – auf den Ungeborenen erstrecken (vgl §§ 96 ff StGB, § 22 ABGB).40) Wäre der Embryo vom zivilrechtlichen Personsbegriff mitumfasst, dann bedürfte es der Fiktion 35) Vgl 31 Abs 1 WVK. Dazu – auch zur Bedeutung der WVK für die Auslegung der EMRK – zuletzt zB EGMR 4. 4. 2000, Litwa, Appl 26.629/95 (Z 57 ff). Allgemein zur Auslegung der EMRK Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rz 7. Die Aussage in VfSlg 7400/1974, wonach bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge das gemeinsam Gewollte im Sinne des „gemeinsamen Minimums“ zugrunde zu legen sei, entspricht bei normsetzenden Verträgen wie der EMRK nicht dem aktuellen Stand von Lehre und Rsp. 36) VfSlg 7400/1974; EKMR, Appl 8416/79, DR 19, 244 (249 f); EKMR, Appl 17.004/90, DR 73, 155 (166 f). Zu den zeitlichen Grenzen der Grundrechtssubjektivität Kopetzki, Organgewinnung zu Zwecken der Transplantation (1988) 52 ff. Vgl auch Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights (1995) 42 FN 13: „the textual evidence supports this interpretation“. Auch in der Rsp des Amerikanischen Supreme Court wird der Begriff „Person“ nur auf Geborene bezogen: dazu Brugger, A Constitutional Duty to Outlaw Abortion? A Comparative Analysis of the American and German Abortion Decisions, JbÖR 36 (1987) 49 (insb 54). 37) Nicht nur die österreichische: vgl etwa für die BRD nur § 1 (d)BGB. Näher Eichler, Personenrecht (1983) 105 ff: „Der vorgeburtliche Zustand ist nach allgemeiner Anschauung erst der des ‚Menschwerdens‘, noch nicht der Zustand des ‚Menschseins‘.“ 38) Zum Beginn der vollen Rechtsfähigkeit mit der Geburt Aicher in: Rummel, ABGB I3 (2000) § 16 Rz 5. 39) Moos, WK Vorbem § 75 Rz 8 ff („Entstehung des Rechtsguts des menschlichen Lebens durch die Geburt“). 40) MwN Holoubek, Gewährleistungspflichten 314 f mwN. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 25 des § 22 ABGB („werden als Geborene angesehen“) gar nicht.41) Diese klaren Differenzierungen zwischen „Personen“ und vorgeburtlichen Lebensstadien zeigen hinreichend, dass die Rechtsordnung keinen umfassenden – beide Fälle in gleicher Weise einschließenden – Lebensschutz kennt bzw dass dann, wenn der Schutzbeginn vor der Geburt angesetzt werden soll, dies ausdrücklich normiert wird.42) Wie die historische Entwicklung des Abtreibungsverbots zeigt, ist ein den Geborenen vergleichbarer umfassender Lebensschutz des Ungeborenen auch in der Rechtsgeschichte kaum je verwirklicht gewesen.43) Aus diesem Befund eines auf Geborene eingeschränkten persönlichen Geltungsbereiches folgt bei wörtlicher Auslegung, dass der Ungeborene iSd Art 2 EMRK nicht Grundrechtsträger im Sinne eines subjektiven verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts ist. Ihm fehlt die „Grundrechtsfähigkeit“.44) bb) Verweisung auf nationales Recht? Ganz unbestreitbar ist dies freilich nicht: So könnte man etwa die Auffassung vertreten, dass Art 2 EMRK den Beginn der (Grund-)Rechtsfähigkeit nicht abschließend festlegt, sondern insofern auf die nationale Festlegung der Rechtsfähigkeit verweist.45) Mit der Autonomie der Konventionsbegriffe und dem Gebot einer vom nationalen Recht unabhängigen Auslegung stünde dies 41) Zutreffend Machacek, 10. ÖJT 1988, II/5, 142; zur zivilrechtlichen Differenzierung zwischen „Mensch“ und „Leibesfrucht“ Wolff in: Klang2 I/1 (1964) 155. Zeiller (Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I [1811] 122) sprach von einer „Rechtsdichtung“ des Gesetzgebers. 42) Das trifft mitunter auch auf Grundrechte zu: vgl in diesem Sinn auch Art 4 AMRK: „Jedermann hat das Recht auf Achtung seines Lebens. Dieses Recht wird gesetzlich geschützt und gilt im Allgemeinen vom Augenblick der Empfängnis an (...).“ 43) Dazu Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn. Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots (1988); ders, Vom Wert und Unwert der pränatalen Menschenwürde, JZ 1989, 279 (283 ff). Die Schutzwürdigkeit werdenden Lebens wird aus der Perspektive der Rechtsordnung „seit jeher ... als geringerwertig eingestuft“: Zipf, WK Vorbem zu §§ 96-98 StGB, Rz 5 mwN. Gegen die Übertragung ethischer und religiöser Vorstellungen von der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens auf die Rechtsordnung Schmoller, in: Triffterer, StGB-Kommentar, Vorbem §§ 96-98 StGB, Rz 19 ff, insb 22. 44) Ebenso für die BRD zB J. Ipsen, Der „verfassungsrechtliche Status“ des Embryos in vitro, JZ 2001, 989 (994); Denninger, in: Alternativ-Kommentar zum GG für die BRD2 (1989) vor Art 1 Rz 35; Manssen, Staatsrecht I Grundrechtsdogmatik (1995) Rz 115; anders etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar I (1996) Art 2 II Rz 25 (jeweils mwN zum strittigen Meinungsstand). 45) In diesem Sinn schon Marschall, JBl 1972, 508. Dafür könnte immerhin sprechen, dass Art 2 EMRK auf das „Recht“ jedes „Menschen“ auf sein Leben Bezug nimmt und damit einen Grundrechtsträger vorausgesetzt, der für eine Zurechnung des subjektiven Rechts auf Leben überhaupt erst in Betracht kommt. Die Schutzentfaltung des Art 2 EMRK würde dann – da die EMRK die Grenzen der Rechtsfähigkeit selbst nicht ausdrücklich definiert – von der nationalen Zuerkennung der Rechtsfähigkeit abhängen. Hinsichtlich der Rechtsfähigkeit von juristischen Personen wird eine solche Sichtweise wohl auch allgemein akzeptiert, da sich diese Frage erst vor dem Hintergrund des innerstaatlichen (zB Gesellschafts-)Rechts beurteilen lässt. Vgl – zum Eigentum – auch Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 38 f. 26 Christian Kopetzki nicht grundsätzlich im Widerspruch,46) solange man im Auge behält, dass der Umfang eines derartigen Definitionsspielraumes aus teleologischen Gründen sehr eng sein müsste und die Zuerkennung des Personenstatus an alle lebenden (geborenen) Menschen zum unverrückbaren – und ihrerseits autonom zu bestimmenden – „Wesensgehalt“ der Konvention gehört.47) Auch eine solche Deutung des konventionsrechtlichen Personsbegriffs als Verweisung auf die nationale Rechtsfähigkeit könnte allerdings nicht dazu führen, dass die (mit der Lebendgeburt aufschiebend bedingte) Zuerkennung der Rechtsfähigkeit ab der Empfängnis durch § 22 ABGB im Kontext des Art 2 EMRK die volle Grundrechtssubjektivität hinsichtlich des Rechts auf Leben auch für jene extrakorporalen Embryonen nach sich zieht, die für andere Zwecke als jene der Fortpflanzung verwendet werden sollen: Bei diesen wird nämlich die – in § 22 ABGB für die Zuerkennung der Rechtsfähigkeit aufgestellte – Bedingung der Lebendgeburt nie erfüllt. Angesichts des Programmcharakters des § 22 und seiner Konkretisierungsbedürftigkeit durch andere Bestimmungen der Rechtsordnung wäre überdies zu veranschlagen, dass jedenfalls die frühe embryonale Phase in vitro nach österreichischem Recht insgesamt – weder nach § 22 ABGB noch nach dem FMedG – einen absoluten Substanzschutz genießt48) – ganz abgesehen davon, dass es bei den durch Kerntransfer erzeugten Embryonen bereits an einer „Empfängnis“ iSd § 22 ABGB fehlt.49) Doch unabhängig von der strittigen Auslegung des § 22 ABGB – eine den Gesetzgeber bindende verfassungsrechtliche Schranke aus Art 2 EMRK lässt sich auf dem Umweg über § 22 ABGB schon deshalb nicht begründen, weil der normative Anknüpfungspunkt für eine subjektive Rechtssphäre des nasciturus im ABGB seinerseits zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht. Eine gesetzliche Erlaubnis der Embryonenforschung würde sowohl auf § 22 ABGB als auch auf Art 2 EMRK durchschlagen und die nationale Rechtsordnung derart verändern, dass die Verweisung des Art 2 EMRK ins Leere ginge. 46) Grundsätzlich ablehnend gegen einen solchen Rückgriff auf den nationalen Personenbegriff (zu Art 2 MRK) aber VfSlg 7400/1974; Tretter, Artikel 2 MRK, in: Ermacora/Nowak/Tretter (Hrsg), Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, 1983, 83 (120). 47) Selbstverständlich hätten daher – was nachdrücklich hervorzuheben ist – die Vertragsstaaten keine Definitionsmacht darüber, bestimmten Personengruppen den Status als Grundrechtssubjekt abzusprechen. In den Randbereichen des Lebensbeginns und des Lebensendes wäre die Annahme eines solchen Konkretisierungsspielraumes aber vertretbar, weil und es sofern gerade in diesen Grenzfällen an einem gemeinsamen europäischen Standard fehlt. 48) Manche nehmen im Hinblick auf die §§ 96 ff StGB und § 17 FMedG sogar eine weitgehende materielle Derogation des § 22 ABGB an: Piskernigg, Selbsthilferegelung 277; für eine teleologische Reduktion des § 22 ABGB unter Ausschluss des extrauterinen Embryonen zB Posch, 10. ÖJT 1988, I/5, 81 ff. Zur begrenzten Leistungsfähigkeit des § 22 ABGB für extrauterine Embryonen Aicher in: Rummel, ABGB I3 § 22 Rz 2; Posch in: Schwimann, ABGB I2 (1997) § 22 Rz 4. 49) Die „Empfängnis“ iSd § 22 ABGB ist mit der Befruchtung gleichzusetzen: Posch in: Schwimann, ABGB2 I § 22 Rz 1. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 27 cc) Überschießende Schutzpflichten? Schwerer wiegt der Einwand, dass die Beschränkung des persönlichen Schutzbereiches auf Geborene („everyone“) einen darüber hinaus reichenden sachlichen Schutzbereich („life“) noch nicht zwingend ausschließe.50) Davon dürfte auch die EKMR ausgehen, wenn sie dem Embryo zwar die Grundrechtssubjektivität abspricht, die Frage nach dem Schutzumfang des Art 2 EMRK aber dann – wenn auch ohne klares Ergebnis – ein weiteres Mal unter dem Titel des Lebensbegriffs des Art 2 EMRK erörtert.51) Aus dieser Perspektive könnte eine objektive staatliche Schutzpflicht zugunsten des nasciturus selbst dann angenommen werden, wenn man diesem keine (eigene) Grundrechtsfähigkeit zuspricht. Für eine solche Dissoziation zwischen Grundrechtsträgern und objektiver Schutzpflicht fehlt hier aber ein tauglicher Anhaltspunkt: Denn wenn Art 2 EMRK „Menschen“ das Recht „auf das Leben“ gewährleistet, so deutet nichts darauf hin, dass der sachliche Schutzbereich „Leben“ den Kreis der vom persönlichen Anwendungsbereich erfassten Grundrechtsträger („everyone“) überschreitet, ohne dass es für diese Feststellung noch einer Auseinandersetzung mit dem Lebensbegriff des Art 2 EMRK bedürfte. Art 2 EMRK schützt nicht das „Leben“, sondern das einem Menschen zugeordnete Recht auf Leben. Die Begriffe „everyone“, „right“ und „life“ sind wechselseitig aufeinander bezogen, und die objektiven Grundrechtswirkungen reichen nicht weiter als das Grundrecht selbst.52) Die Formulierung des Art 2 EMRK liegt daher durchaus auf der Linie des in Österreich überwiegenden Grundrechtsverständnisses, wonach die „objektive“ Schutzwirkung der Grundrechte im System des Verfassungsrechts nicht über den personellen Geltungsbereich hinaus geht: Die Grundrechte schützen keine – von subjektiven Rechten losgelöste – „abstrakten“ Werte, sondern individuelle Grundrechtspositionen,53) und wo diese nicht 50) In diese Richtung van Dijk/van Hoof, Convention 218. Nach der insb in der BRD herrschenden Auffassung kann die objektive Funktion eines Grundrechts über die subjektive Funktion hinausgehen, vgl nur Murswiek in: Sachs, GG-Kommentar (1996) Art 2 GG Rz 16. Derartige Ausstrahlungswirkungen werden bei manchen Grundrechten etwa für die Zeit nach dem Tod diskutiert, wenngleich man hier unschwer von einer Folgewirkung eines dem Lebenden zustehenden subjektiven Rechts ausgehen kann (vgl zu Art 8 EMRK etwa Kopetzki, Organgewinnung zu Zwecken der Transplantation [1988] 56). 51) ZB EKMR Appl 8416/79, DR 19, 249 f. 52) Auch für Art 2 EMRK trifft daher die Formulierung von Schmidt-Jortzig, Systematische Bedingungen der Garantie unbedingten Schutzes der Menschenwürde, DÖV 2001, 925 [928], zu: „Rechnet also eine Bezugsgröße nicht zum grundrechtlich personellen Schutzbereich ‚Mensch‘, erstrecken sich auch die institutionellen Gehalte von objektiver Ausstrahlung und staatlicher Schutzpflicht nicht auf sie“. Ähnlich schon Rosenzweig, FS Broda 253, 262 ff. 53) Eingehend und mwN Holoubek, Gewährleistungspflichten 243 ff, insb 246. Zur – zurecht – fehlenden Rezeption der deutschen Lehre von der „objektiven grundrechtlichen Wertordnung“ in Österreich vgl die Hinweise in FN 138. Hier, und nicht in der Frage der Schutzrichtung, liegt wohl der entscheidende Unterschied zur herrschenden deutschen Lehre. Auch jene Autoren, die in Österreich einen verfassungsrechtli- 28 Christian Kopetzki mehr oder noch nicht gegeben sind, endet auch die grundrechtlich begründbare Schutzpflicht des Staates. b) Systematische Aspekte aa) Schutzbereich und Ausnahmekatalog Aus systematischer Sicht fällt zunächst auf, dass Art 2 EMRK – im Gegensatz zu Art 6 des UN-Weltpaktes – keine Ausnahme von der Vollstreckung der Todesstrafe an Schwangeren vorsieht, was – wollte man den Art 2 auch auf das ungeborene Leben beziehen – immerhin ein Wertungswiderspruch wäre.54) Dazu kommt, dass der detaillierte Katalog prinzipiell zulässiger Tötungshandlungen des Art 2 Abs 2 in seiner Ausrichtung auf polizeiliche Standardmaßnahmen (Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung, Durchführung einer Festnahme etc) ausschließlich auf Geborene anwendbar ist. Der Schwangerschaftsabbruch ist unter diesen Ausnahmen nicht erwähnt, obwohl es sich dabei um ein seit jeher umstrittenes und bei der Formulierung der EMRK daher wohl kaum „übersehenes“ Thema handelt.55) Das lässt allerdings unterschiedliche Deutungen zu. Zum einen könnte man aus dem Fehlen jeglicher Erwähnung des Schwangerschaftsabbruchs in Art 2 Abs 2 EMRK den Schluss ziehen, dass das vorgeburtliche Leben auch vom Schutzbereich des Art 2 Abs 1 nicht erfasst wird. Würde der Schutzbereich auch das ungeborene Leben einschließen, so hätte dies – so im wesentlichen die Position des VfGH – einen unbedingten Schutz des Ungeborenen zur Folge. Da aber viele Konventionsstaaten einen Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen zulassen, ohne dass dies in Art 2 Abs 2 EMRK berücksichtigt wurde und auch kein Staat einen einschlägigen Vorbehalt erklärt hat, deutet dies darauf hin, dass das ungeborene Leben im Schutzbereich nicht enthalten ist.56) Zu einem ganz anderen Ergebnis gelangt, wer eine systematische Gesamtbetrachtung des Art 2 EMRK und daher jeden Rückschluss von den Grundrechtsschranken auf den Schutzbereich ablehnt: Dann folgt aus der Nichterwähnung der Abtreibung in den Grundrechtsschranken auch nichts für die Auslegung des Schutzbereichs. So meint etwa Lewisch, dass die auschen Lebensschutz ab der Befruchtung bejahen, argumentieren letztlich – mehr oder weniger bewusst – auf dem Boden einer grundrechtlichen „Werttheorie“, indem sie den Schutz „menschlichen Lebens“ als „Wertentscheidung“ von der individuellen Grundrechtsberechtigung abkoppeln (paradigmatisch zB Schlag, Fortpflanzung 98 ff; Lewisch, FS Platzgummer 381 ff); kritisch dagegen mwN Holoubek, Gewährleistungspflichten 126 ff (insb 131 f), 139 ff, 246. 54) Velu/Ergec, La Convention Européenne des Droits de l’Homme (1990) 175. 55) Vgl (aus der Entstehungszeit der EMRK) Fleisch, Die Regelung des Abtreibungsproblems in den Strafgesetzen der Gegenwart, ÖJZ 1955, 584; 605. 56) Vgl neben VfSlg 7400/1974 schon Pfeifer, FS Hugelmann 424. Die grundsätzliche Vereinbarkeit des Schwangerschaftsabbruches mit Art 2 EMRK wurde auch anlässlich der parlamentarischen Beratung der EMRK nicht in Zweifel gezogen: Abg Weiß, StProtNR 8. GP, 63. Sitzung 2945. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 29 schließlich staatsgerichteten Eingriffstatbestände des Abs 2 mit der aus Art 2 Abs 1 erster Satz abzuleitenden staatlichen Schutzpflicht gegenüber Eingriffen Privater „gar nichts zu tun“ haben.57) Man dürfe daher aus dem Fehlen des Schwangerschaftsabbruches im staatsgerichteten Ausnahmekatalog nicht auf den Ausschluss des Ungeborenen aus der allgemeinen Schutzgewährleistung des Art 2 1. Satz schließen,58) weil sich die Abtreibungsfrage in der Staatsrichtung ohnehin nicht stelle. Das beantwortet zwar immer noch nicht die zentrale Frage nach dem Umfang des Schutzbereiches. Sobald man aber das ungeborene Leben in den Schutzumfang des Art 2 Abs 1 einbezieht, folgt daraus eine grundsätzliche – und durch die Schranken des Art 2 Abs 2 in keiner Weise strukturierte bzw eingeschränkte – Schutzpflicht des Staates zugunsten des nasciturus. Konsequenterweise beurteilt Lewisch daher die „Fristenlösung“ als Verstoß gegen Art 2 EMRK. Welche Indikationen und Motive des Schwangerschaftsabbruches aus dieser Perspektive überhaupt noch einer grundrechtlichen Rechtfertigung zugänglich sind, ergibt sich dann erst aus einer umfassenden Abwägung mit anderen Rechtsgütern bzw Grundrechten, die je nach Autor unterschiedlich ausfällt.59) bb) Zur Bedeutung der Ausnahmen für den Schutzbereich Die für eine systematische Auslegung weichenstellende Frage geht also dahin, ob der vom VfGH gezogene Rückschluss aus dem Ausnahmenkatalog des Art 2 2. Satz und Abs 2 EMRK auf die Grenzen des sachlichen Schutzbereiches nach Art 2 1. Satz zulässig ist oder ob, wie Lewisch meint, die einzelnen Teile des Art 2 EMRK völlig isoliert von einander auszulegen sind. Bei näherer Betrachtung hat die Auffassung des VfGH die besseren Gründe für sich: Dass staatliche Schutzpflichten für das Verhältnis zwischen Privaten lediglich dem Art 2 Abs 1 1. Satz zuzuordnen und die übrigen Bestimmungen des Art 2 auf staatliche Maßnahmen beschränkt sind, trifft gewiss zu. Es ist aber nicht ersichtlich, weshalb wegen dieser unterschiedlichen Schutzrichtung der Ausnahmekatalog des Abs 2 nicht zur Auslegung des Schutzbereiches bzw der Reichweite einer Schutzpflicht gem Art 2 Abs 1 1. Satz EMRK herangezogen werden dürfte. Welche Bedeutung grundrechtliche Schrankenvorbehalte für die Beurteilung staatlicher Schutzpflichten haben, wirft zwar manche Zweifelsfragen auf.60) Die kategorische Auffassung, die materiellen Eingriffsziele in einem Gesetzesvorbehalt gelten ausschließlich in 57) Lewisch, FS Platzgummer 391, 395. Man dürfe den Art 2 EMRK „gerade nicht ‚in seinem Zusammenhang‘ sehen“ (ibid 396). 58) In diesem Sinn Lewisch, FS Platzgummer (1995) 382 ff. 59) So möchte etwa Lewisch nur die Fristenregelung, nicht jedoch andere „sachgerechte“ Indikationsfälle ausschließen (FS Platzgummer 396), während Holoubek (Gewährleistungspflichten 317 ff) die – von ihm freilich nur als Prämisse angenommene – Schutzpflicht zugunsten des Embryos auch mit dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren (Art 8 EMRK) für abwägbar hält und er daher keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Fristenregelung hat. 60) Vgl Murswiek in: Sachs, GG-Kommentar (1996) Art 2 Rz 24 ff; Holoubek, Gewährleistungspflichten 251 ff, 292 ff. 30 Christian Kopetzki der Staatsrichtung, ist aber in dieser Allgemeinheit nicht überzeugend. Jedenfalls bei primären – an den Gesetzgeber adressierten – Schutzpflichten ist anzunehmen, dass die Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen Dritter – dh von Unterlassungen des Gesetzgebers, diese zu verbieten – den materiellen Anforderungen an die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe entsprechen müssen.61) Staatliche Schutzpflichten sind kein grundrechtsdogmatisches aliud, sondern konsequent zu Ende gedachte Eingriffsverbote.62) Das trifft auch für Art 2 EMRK zu, dessen erster Satz nicht losgelöst von den nachfolgenden Bestimmungen interpretiert werden darf.63) Das hat zur Folge, dass der Gesetzgeber auch bei Erfüllung seiner Schutzpflichten keine Eingriffe Privater in das Leben erlauben darf, die er gem Art 2 Abs 2 EMRK selbst nicht setzen dürfte.64) Die von Lewisch angeführte unterschiedliche historische Herkunft der einzelnen Teile des Art 2 EMRK steht einem solchen systematischen Argument schon deshalb nicht entgegen, weil die entstehungszeitliche Auslegung gerade bei völkerrechtlichen Normen nicht zu einer Verdrängung systematischer Gesichtspunkte führen kann.65) So gesehen erscheint der Rückschluss des VfGH von der mangelnden Berücksichtigung des Schwangerschaftsabbruches in Art 2 Abs 2 EMRK auf eine restriktive Auslegung des Schutzbereiches und der Schutzpflichten nach Art 2 Abs 1 also durchaus zulässig. 61) Murswiek in: Sachs Art 2 GG Rz 27. „Die Pflicht, Eingriffe Dritter zu verbieten, die sich nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen, ist das Äquivalent der Pflicht, staatliche Eingriffe zu unterlassen“ (Murswiek, ibid Rz 29). Ähnlich zu Art 8 EMRK Forder, Legal Protection under Article 8 ECHR: Marckx and beyond, Netherlands International Law Review 1990, 162 (172 ff), dort insb gegen die These, wonach Art 8 Abs 2 EMRK bei der Beurteilung der positiven Schutzpflichten irrelevant sei; im gleichen Sinn Holoubek, Gewährleistungspflichten 265 f FN 414; Wildhaber/ Breitenmoser, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 6 ff, 55 ff. Auf die Frage, ob die Ausnahmen des Art 2 Abs 2 EMRK der Tatbestands- oder der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind, kommt es in diesem Kontext nicht an. 62) Funk, Ein Grundrecht auf Schutz der Gesundheit? JRP 1994, 68 (73). 63) Holoubek, Gewährleistungspflichten 289; Kneihs, JBl 1999, 82 f. 64) Vgl Remmelink, The legal position on euthanasia in the Netherlands in the light of Article 2 of the ECHR, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber (Hrsg), Protecting Human Rights: The European Perspective. Studies in memory of Rolv Ryssdal (2000) 1157 (1167). Daher ist auch die gesetzliche Regelung der Notwehr zwischen Privaten an Art 2 Abs 2 EMRK zu messen: so zutreffend Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar Art 2 Rz 2 und 11, die die materiellen Gründe des Art 2 Abs 2 auch auf staatliche Schutzpflichten beziehen; ebenso – wenn auch nur mittelbar – Kneihs, JBl 1999, 82 f. Anders Lewisch, FS Platzgummer 388 ff mwN. Dass bei der Umsetzung dieser Schutzpflichten auf der Ebene der Vollziehung und bei der Wahl des dafür einzusetzenden Instrumentariums ein weiter Beurteilungsspielraum besteht, ist eine andere Frage. 65) Vgl Art 31, 32 WVK. Die von Lewisch (FS Platzgummer 383) betonte Rezeption des Art 2 Abs 1 erster Satz EMRK aus den Entwürfen zu Art 6 IPBPR spricht eher dafür als dagegen, dass der Begriff „Mensch“ in diesem Kontext ebenfalls nur den Geborenen meint. Denn auch Art 6 IPBPR bezieht den Begriff „Mensch“ bzw „human being“ nicht auf das ungeborene Leben (vgl in und bei FN 75). Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 31 cc) Abwägungsfähigkeit des Lebensschutzes nach Art 2 EMRK? Gegen eine Abkoppelung der Schutzpflichten von den Eingriffstatbeständen des Art 2 EMRK spricht aber noch eine weitere Überlegung: Gerade weil Art 2 EMRK – deutlicher als andere Grundrechte – eine staatliche Schutzpflicht statuiert, vermag es nicht zu überzeugen, über den Ausnahmekatalog und die dort explizit vorgesehenen Güterabwägungen hinausgehende Abwägungsgesichtspunkte zuzulassen, nur weil die Lebensbedrohung von Privaten ausgeht. Die Struktur des Schrankenvorbehalts zeigt, dass in das Recht auf Leben – anders als nach Art 2 GG – nur in engen, klar umrissenen Fällen eingegriffen werden darf: Art 2 verfügt nicht über den in der EMRK ansonsten gebräuchlichen elastischen Gesetzesvorbehalt, der Einschränkungen ganz allgemein zugunsten bestimmter Ziele zulässt. Auch immanente Schranken sind nicht anerkannt.66) Art 2 EMRK darf nicht einmal im Krieg oder im öffentlichen Notstand suspendiert werden (Art 15 Abs 2 EMRK). Der Schutz des Lebens ist in Art 2 EMRK also vergleichsweise „abwägungsfest“ konzipiert. Er erlaubt keinerlei Unterscheidung und Abstufung nach Wert oder Qualität des Lebens,67) auch nicht nach einem – wie auch immer zu bestimmenden – „Lebensinteresse“. Diese in der EMRK vorgenommene Unterscheidung zwischen absolut eingriffsfesten Rechten (wie zB dem Folterverbot) bzw solchen Rechten, die – wie Art 2 und 5 EMRK – lediglich punktuelle, klar umschriebene Ausnahmefälle zulassen und (eher als Prinzipien formulierten) Rechten, die je nach Abwägungsergebnis anderen Interessen oder Gütern weichen müssen, sollte auch in der Horizontalrichtung nicht verwischt werden. Ein Grundrecht, in das vom Staat nur in engen und taxativen Ausnahmefällen eingegriffen werden darf, behält seinen rigiden Charakter auch dort, wo es um den staatlichen Schutz vor privaten Eingriffen geht. Hält man somit daran fest, dass Art 2 EMRK für die Annahme eines – nach welchen Kriterien immer – abgestuften Lebensschutzes keinen Raum lässt, so bestätigt dies die Auffassung des VfGH: Wollte man den ersten Satz des Art 2 auch auf das ungeborene Leben beziehen, so liefe dies angesichts der strikten und abwägungsfeindlichen Gesamtkonzeption des Art 2 auf einen wenn schon nicht absoluten, so doch derart starken Schutz des Ungeborenen hinaus, dass allenfalls bei vitalen Bedrohungen der Schwangeren eine Durchbrechung begründbar wäre. Ein solches Ergebnis ist auf systematischer Ebene nicht von vornherein auszuschließen. Die damit verbundene Konsequenz einer weitreichenden Verfassungswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruches wird man dem Art 2 EMRK aber unter Einbeziehung anderer Interpretationsgesichtspunkte nicht unterstellen dürfen: Bei dieser Deutung wären – abgesehen von einer strengen vitalen Indikation – die meisten europäischen Rechtsordnungen wegen ihres mehr oder weniger weitgehenden Abtreibungsrechts kon- 66) 67) Kneihs, JBl 1999, 79 mwN. Kneihs, JBl 1999, 78 mwN. 32 Christian Kopetzki ventionswidrig,68) was unter Beachtung der Entstehungsgeschichte (unten c) und eines europäischen Standards bei der Auslegung der EMRK (unten d) nicht anzunehmen ist. Plausibler ist somit die Auffassung, dass das pränatale Leben für sich genommen vom Schutzbereich des Art 2 EMRK nicht erfasst wird.69) Die These eines in der Horizontalwirkung abgestuften und abwägbaren Lebensschutzes gem Art 2 EMRK zieht schließlich auch den Vorwurf auf sich, dass jede zusätzliche ungeschriebene Differenzierung oder „immanente Grundrechtsschranke“ dem Lebensschutz insgesamt schadet: Denn wenn man – immerhin entgegen dem Wortlaut des Art 2 EMRK – einmal Relativierungen und Abwägungen mit kollidierenden Rechten zuungunsten des Lebens beim Ungeborenen zulässt, dann ist nicht auszuschließen, dass diese Relativierung auch beim Geborenen vorgenommen und das Leben gegen andere – in Art 2 Abs 2 EMRK nicht erwähnte – Güter abgewogen wird. Zurecht hat daher Machacek davor gewarnt, dass die postulierte immanente Grundrechtsschran68) Ebenfalls verfassungswidrig wäre die Zerstörung von Embryonen, wie sie in Gestalt (behördlich genehmigter) nidationshemmender Verhütungsmittel oder als Nebenwirkung von Techniken der Reproduktionsmedizin täglich hingenommen wird. Weiters müsste man dann auch eine grundrechtliche Schutzpflicht zugunsten jener Embryonen annehmen, die nach Ablauf der Einjahresfrist des § 17 FMedG nicht mehr länger aufbewahrt werden dürfen. Der gängige Einwand, es sei eben ein Unterschied, ob man die Abtreibung in einer mütterlichen Konfliktsituation erlaubt oder aber die Verwendung von in-vitro Embryonen zu Forschungszwecken, verfängt zumindest auf der verfassungsrechtlichen Ebene nicht: Art 2 EMRK anerkennt weder den mütterlichen Entscheidungskonflikt noch Forschungs-, Heil- oder sonstige Interessen als legitime Tötungsgründe an, ganz abgesehen davon, dass das einfachgesetzliche Recht die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruches nicht von einem „Konflikt“ abhängig macht (näher Schmoller, Vorbem §§ 96-98 StGB Rz 23 ff, insb Rz 31). Wer dem Selbstbestimmungsrecht der Frau hinreichendes Gewicht zubilligt, um einen Eingriff in das Leben zu rechtfertigen, der hat bereits akzeptiert, dass das Lebensrecht unter bestimmten Voraussetzungen gegenüber gewichtigen Drittinteressen weichen muss, und es wäre nicht einzusehen, weshalb Gesundheitsinteressen Dritter nicht ein ähnliches Gewicht aufweisen könnten wie die Selbstbestimmung und Lebensplanung einer Schwangeren, zumal beide Interessensphären letztlich im Schutzbereich desselben gegenläufigen Grundrechts (Art 8 EMRK) angesiedelt sind. Wäre der Embryo tatsächlich Träger oder zumindest Schutzgut des Grundrechts auf Leben, dann wäre er in beiden Konstellationen davor geschützt, irgendwelchen Abwägungen mit Konfliktsituationen Dritter, die er in keiner Weise zu verantworten hat, weichen zu müssen (zutreffend daher auch für Österreich R. Merkel, Die Abtreibungsfalle, Die Zeit Nr 25, 13. 6. 2001, 42). Mit dem Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Straflosigkeit und Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruches (dagegen im Hinblick auf § 97 Abs 1 Z 2 2. Fall StGB nun auch OGH RdM 1999/23; mwN Bernat, Unerwünschtes Leben, unerwünschte Geburt und Arzthaftung, FS Krejci II [2001] 1041 [1068 f]) lassen sich solche Wertungswidersprüche nicht bereinigen. 69) Daraus folgt keine gänzliche verfassungsrechtliche Schutzlosigkeit des nasciturus, weil dieser – abgesehen von den aus dem Gleichheitssatz erfließenden zusätzlichen Differenzierungsgeboten – in der Regel am grundrechtlichen Schutz der Mutter teilhat (näher Holoubek, Gewährleistungspflichten 315). Nach der hier vertretenen Auffassung richtet sich dieser grundrechtliche Schutz aber nicht zugleich gegen die Mutter, und er besteht auch nicht für extrakorporale Embryonen. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 33 ke, welche zur einer Rechtfertigung indizierter Abtreibungen führe, auch die Tötung von Menschen in „Indikationsfällen“ rechtfertigen könnte.70) Allgemeiner formuliert: Die Stärkung der Gewährleistungsextensität ist nur um den Preis einer Schwächung der Gewährleistungsintensität zu haben.71) c) Entstehungsgeschichte Die restriktive Auslegung des VfGH wird auch durch die Entstehungsgeschichte des Art 2 EMRK gestützt: Wie schon erwähnt, wurde der für die Ableitung staatlicher Schutzpflichten maßgebliche erste Satz des Art 2 Abs 1 EMRK aus Formulierungen der zeitgleich beratenen Entwürfe zum UNWeltpakt (IPBPR) übernommen, es fand also eine gewisse textliche Anknüpfung an Art 6 des Weltpaktes statt.72) Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Frage nach dem Beginn des grundrechtlichen Lebensschutzes in den Verhandlungen zum Art 6 IPBPR ausführlich diskutiert, dort jedoch einschränkend beantwortet wurde: Aus dessen Entstehungsgeschichte ergibt sich nämlich, dass das werdende Leben gerade nicht erfasst werden sollte. Die Initiative vieler Staaten, den Lebensschutz – vergleichbar dem Art 4 Abs 1 AMRK73) – bereits mit der Empfängnis beginnen zu lassen, wurde unter Hinweis auf die zu unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen nicht verwirklicht. 74) Damit steht im Einklang, dass die zu Art 6 IPBPR herrschende Lehre den Schutz des Lebens erst mit der Geburt75) oder (nach anderen Auffassungen) 70) Machacek, EuGRZ 1983, 466. Denn wer den Embryo zum „würdebegabten“ Menschen erhebt und sich gleichzeitig mit fristgebundenen Indikationen abfindet, die dessen Tötung erlauben, findet sich „in genau den Niederungen wieder, in die [er] [...] um gar keinen Preis gelangen wollte: In die der Vernichtung unwerten Lebens“ (Jerouschek, JZ 1989, 284, an die Adresse des BVerfG). 71) Jestaedt, Die Grundrechtsrevolution frisst ihre Kinder, JRP 2000, 99 (106). 72) Tretter, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Art 2 MRK 103 ff; Stolz, in: Mellinghoff/Trute, Leistungsfähigkeit 212 f. Zur Entstehungsgeschichte des Art 2 EMRK näher Ramcharan, The Drafting History of Article 2 of the European Convention on Human Rights, in: Ramcharan (Hrsg), The Right to Life in International Law (1985) 57. 73) Art 4 Abs 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) (Übersetzung aus EuGRZ 1980, 435): „Jedermann hat das Recht auf Achtung seines Lebens. Dieses Recht wird gesetzlich geschützt und gilt im Allgemeinen vom Augenblick der Empfängnis an. Niemand darf willkürlich getötet werden“. Im Übrigen hat auch die weite Formulierung der AMRK Auslegungsdivergenzen hinsichtlich des Schutzes ungeborenen Lebens nicht verhindern können: vgl nur Shelton, Abortion and the right to life in the inter-american System: The Case of „Baby Boy“, HRLJ 1981, 309; Desch, The Concept and Dimensions of the Right to Life, ZÖR 36 (1985/86) 77 (94 ff). 74) Dazu Ramcharan, The Drafting History of Article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, in: Ramcharan (Hrsg), The Right to Life 42 (51, 54); Redelbach, Protection of the Right to Life by Law and by other means, in: Ramcharan (Hrsg), Right to Life 182 (198); Desch, ZÖR 36 (1985/86) 87 ff; mwN Nowak, UNOPakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll (1989) 130 f. 75) Statt vieler Nowak, UNO-Pakt 131; Desch, ZÖR 36 (1985/86) 88; Schwelb, The United Nations, the Council of Europe and Human Rights: Some Observations, RDH 1975, 505 (515): „the matter ist left to regulation by national law“. 34 Christian Kopetzki mit der Lebensfähigkeit annimmt,76) obwohl der persönliche Schutzbereich des Art 6 IPBPR im authentischen englischen Wortlaut durch den weiteren Begriff „human being“ statt „everyone“ umschrieben ist.77) Ähnliches gilt für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren Art 3 bei der Redaktion des Art 2 EMRK ebenfalls als Inspirationsquelle diente: Vorstöße, den Lebensschutz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ab der Befruchtung anzusetzen, wurden unter Hinweis auf die nationalen Regelungen des Schwangerschaftsabbruches abgelehnt.78) Die historische Perspektive spricht daher ebenfalls eher dafür, dass die Einbeziehung des ungeborenen Lebens in den Schutzbereich des Art 2 EMRK nicht beabsichtigt war bzw – was auf das gleiche hinausläuft – dass sich für diese Einbeziehung kein mehrheitsfähiger Konsens fand.79) So gesehen kann der vom VfGH erwähnte Umstand, dass kein Vertragsstaat der EMRK einen Vorbehalt zu Art 2 EMRK bezüglich der bestehenden nationalen Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch erklärt hat,80) sehr wohl als Indiz für ein gewisses Vorverständnis der Vertragsstaaten gedeutet werden. d) Bedeutungswandel und „europäischer Standard“ Text, Systematik und Entstehungsgeschichte der Konventionsbestimmung weisen also in die gleiche Richtung. Eine teleologische, an Ziel und Zweck der EMRK orientierte Auslegung könnte diesem Ergebnis nur dann entgegen gehalten werden, wenn man die aus der Präambel und Art 1 EMRK hervorleuchtenden Zielsetzungen – insb die wirksame Anerkennung der in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten sowie die Herstellung einer größeren Einigkeit unter den Vertragsstaaten – in gleicher Weise auf (geborene) Menschen und Ungeborene bezieht. An einer möglichst früh und umfassend einsetzenden Schutzpflicht bestünde dann kaum ein Zweifel. Doch ob die effektive Zusicherung der Konventionsrechte an alle „Personen“ (Art 1) tatsächlich auch den Embryo einschließt oder nicht, setzt bereits die Lösung jener strittigen Frage voraus, die mit dem teleologischen Argument beantwortet werden soll. Die Einbeziehung der Embryonalentwicklung ab der Befruchtung in den Kreis der „Menschen“ und „Personen“ ist nur unter Zugrundelegung eines ganz bestimmten Wertungshintergrundes selbstverständlich. Dieser versteht sich aber nicht von selbst.81) 76) Dinstein, The Right to Life, Physical Integrity, and Liberty, in: Henkin (Hrsg), The International Bill of Rights. The Covenant on Civil and Political Rights (1981) 114 (122). 77) Dazu Schwelb, RDH 1975, 515. 78) Vgl UN-Doc E/CN 4/AC 2/SR 3; dazu Velu/Ergec, Convention 175. 79) Näher Tretter, in: Ermacora/Nowak/Tretter 118 ff. 80) Dazu VfSlg 7400/1974; Guradze, 47; Melichar, FS Dordett (1976) 100. 81) Auch der Hinweis von Lewisch (FS Platzgummer 400 f) auf die Greuel der nationalsozialistischen Herrschaft oder auf den präpositiven Charakter des Lebensrechts als historisch-teleologische Wurzeln der EMRK geben über die eigentliche Kernfrage – nämlich die wertungsmäßige Gleichsetzung des geborenen mit dem ungeborenen Leben im Kontext des Art 2 EMRK – keine Auskunft. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 35 Soll der Hinweis auf Ziel und Zweck des konventionsrechtlichen Lebensschutzes nicht in einen Zirkel münden, muss daher danach gefragt werden, ob die Identifizierung von Mensch und Embryo – und damit die grundsätzliche Gleichbewertung des menschlichen Lebens ab der Befruchtung – von einem gemeinsamen europäischen Vorverständnis getragen ist. Dass die bisherigen Überlegungen eher das Gegenteil nahe legen, schließt keineswegs aus, dass möglicherweise eine „dynamische“ Interpretation des Art 2 EMRK zu einer Einbeziehung vorgeburtlicher Entwicklungsstadien führen könnte. Auch der mangelnde Konsens der Vertragspartner steht dem nicht entgegen, weil die entstehungszeitliche Auslegung bei völkerrechtlichen Verträgen bei weitem nicht jene Rolle spielt wie bei der Auslegung nationalen Rechts. Bei normativen Menschenrechtsverträgen tritt die Bedeutung des Willens der Vertragspartner noch weiter zugunsten einer objektiven und an einem „europäischen Standard“82) orientierten Auslegung zurück.83) Die Straßburger Organe haben wiederholt betont, dass die Konvention nicht vor dem Hintergrund des Verständnisses bei der Vertragsformulierung interpretiert werden darf. Bei unbestimmten Begriffen wie der „unmenschlichen“ Behandlung wird von der Rechtsprechung auch ein evolutiver Auslegungswandel in Betracht gezogen, da die EMRK als „living instrument“ nicht unabhängig von den jeweiligen Zeitumständen und Bedrohungen ausgelegt werden dürfe.84) Der Grundsatz der „dynamischen“ und „evolutiven“ Auslegung wird mitunter auch zur Begründung eines Embryonenschutzes in der EMRK ins Treffen geführt.85) Eine solche – sowohl den Text als auch den historischen Konsens transzendierende und daher an der Grenze zur Rechtsfortbildung angesiedelte – „extensive“ und „objektive“ Auslegung ist freilich nur dann und insoweit vertretbar, als sich ein solcher Wandel des Begriffs „Mensch“ oder zumindest eine weitgehende Gleichbewertung des geborenen mit dem ungeborenen Leben (insb der Embryonalphase in vitro) im Hinblick auf das grundrechtliche Schutzniveau auf einen nachvollziehbaren europaweiten Konsens stützen könnte. Zurecht wird hervorgehoben, dass derartige interpretative Fortentwicklungen noch nicht durch den bloßen Appell an den hohen Wert des geschützten 82) Dazu zB Korinek, Auf dem Weg zu einem europäischen Grundrechtsstandard, in: Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit (2000) 71. 83) MwN Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human rights treaties, FS Wiarda (1988) 65 (68 ff). 84) MwN Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rz 7; Bernhardt, FS Wiarda (1988) 69; Wildhaber/Breitenmoser, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 17 ff; Prebensen, Evolutive interpretation of the European Convention on Human Rights, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber (Hrsg), Protecting Human Rights: The European Perspective. Studies in memory of Rolv Ryssdal (2000) 1123. Als Beispiele für einen Wandel der Auslegung unter Hinweis auf geänderte und weiterentwickelte rechtliche Standards in den Mitgliedsstaaten der EMRK vgl statt aller die vom EGMR entschiedenen Fälle Tyrer, Serie A Nr 26 (Prügelstrafe als erniedrigende Bestrafung iSd Art 3), Marckx, Serie A Nr 31 (Rechtsbeziehung unehelicher Kinder zur Mutter), Dudgeon, Serie A Nr 45 (Straffreiheit homosexueller Beziehungen). 85) Jacqué, in: Furkel/Jung (Hrsg), Bioethik und Menschenrechte 2 ff. 36 Christian Kopetzki Rechtsguts oder an den Charakter der Konvention als „living instrument“ gerechtfertigt sind; vielmehr müssten sie sich „besonders behutsam und genau des Konsenses der europäischen Rechtsgemeinschaft vergewissern, wenn sie nicht dem Vorwurf einer ihnen nicht übertragenen allgemeinen rechtspolitischen Würdigung ausgesetzt werden sollen“.86) Ein hinreichender Konsens der europäischen Rechtsgemeinschaft kann jedoch in diesem Zusammenhang nicht – oder jedenfalls noch nicht – behauptet werden.87) Die jüngere europäische Rechtsentwicklung liefert keinen hinreichenden Anhaltspunkt für eine Erweiterung des Lebensschutzes, der – wäre er im Rechtsvergleich nachweisbar – als „europäischer Standard“ bei der Auslegung der EMRK zu berücksichtigen wäre. Im Gegenteil: Die Vielfalt der jüngeren Regelungen auf dem Gebiet der Biomedizin und des Embryonenschutzes in vitro hat – im Vergleich zum Schwangerschaftsabbruch88) – europaweit eher noch zugenommen. Strikte Schutznormen, die jeglichen Eingriff am Embryo in vitro ausschließen und daher insofern einen unbedingten „Lebensschutz“ verbürgen, stellen im europäischen Vergleich eher die Ausnahme als die Regel dar.89) Diese Divergenz der Auffassungen kommt nicht zuletzt wieder in der sachlich einschlägigen Konvention des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin aus 1997 zum Ausdruck, die – mangels Übereinstimmung der Vertragsstaaten – keinen konsequenten Embryonenschutz, insb kein Verbot der Embryonenforschung enthält.90) Die Biomedizinkonvention kann als Beleg dafür gelten, dass es für eine solche Ausdehnung des grundrechtlichen Lebensschutzes auf das Embryonalstadium nach wie vor keine gemeinsame Position im Rahmen der Europaratsstaaten gibt.91) Bestätigt wird dieser Befund durch 86) Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rz 11. Ähnlich Harris/ O’Boyle/Warbrick, Convention 8 f, wonach „a new social standard [must] have achieved sufficiently wide acceptance to affect the meaning of the Convention“; Bernhardt, FS Wiarda (1988) 70. Die bisherigen Beispiele einer „dynamischen Fortentwicklung“ in der Rsp des EGMR betreffen soweit ersichtlich durchwegs Sachverhalte, wo ein derartiger Konsens evident war. 87) Vgl (zur Frage, ob Art 2 EMRK auch das vorgeburtliche Stadium umfasse) mwN van Dijk/van Hoof, Convention 218 („On this point, however, there is no consensus at the national and the international level“). Zum Ganzen auch Mathieu, La vie en droit constitutionnel comparé. Eléments de réflexions sur un droit incertain, RIDC 1998/4, 1031. Zur Unergiebigkeit des Art 2 EMRK für den Embryonenschutz weiters Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz (1999) 204 ff. 88) Zur bunten Vielfalt der Rechtsordnungen hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruches vgl Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, 3 Bde (1988 ff); Wildhaber, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 228 ff. 89) Vgl die Hinweise in FN 123. Von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Schutzes ungeborenen Lebens kann daher auf europäischer Ebene nicht gesprochen werden: Grabenwarter, DVBl 2001, 3. 90) Vgl insb Art 18 MRB, dazu näher unten III. B. 91) Dazu nur Birnbacher, Bioethische Konsensbildung durch Recht? – Fragen an das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin, in: Taupitz (Hrsg), Die Bedeutung der Philosophie für die Rechtswissenschaft (2001) 51, insb 55 ff. Als Indiz für einen Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 37 die jüngste europäische Formulierung des Rechts auf Leben in Art 2 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union,92) dessen Übereinstimmung mit Art 2 EMRK ausdrücklich beabsichtigt war93) und der (daher) ebenfalls nicht auf das ungeborene Leben bezogen wird. Wenn – so Grabenwarter – „jeder Person“ das Recht gewährt wird, liegt die Annahme nahe, dass damit der Schutz ungeborenen Lebens ausgeklammert werden soll, zumal sich „aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten kein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Schutzes ungeborenen Lebens begründen lässt“.94) Unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer „evolutiven“ oder „dynamischen“ Interpretation kann somit eine vom Konventionstext, der Systematik und der Entstehungsgeschichte nicht gestützte Ausdehnung des Art 2 EMRK auf die gesamte Embryonalphase zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht begründet werden. Der Rekurs auf Art 2 EMRK erweist sich daher auch als ungeeignet, um den rechtspolitischen und moralischen Streit um den Status von Embryonen mit Hilfe eines durchschlagenden Verfassungsarguments zu schlichten, weil der aus Art 2 EMRK zu gewinnende Embryonenschutz seinerseits wieder auf einen europäischen Konsens angewiesen wäre. Die evolutive Weiterentwicklung der Konventionsbegriffe und ihre Ausdehnung auf Embryonen in vitro scheitert gerade am Mangel jenes Minimalkonsenses, der nach der Intention seiner Befürworter durch die Berufung auf das Lebensrecht der EMRK katalysiert werden soll. e) Sonderfall „therapeutisches Klonen“ Bei der grundrechtlichen Beurteilung des „therapeutischen Klonens“ kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Die – von der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch und die Fortpflanzungsmedizin gebahnte – Debatte um den Beginn des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes betraf die genaue zeitliche Terminisierung dieses Schutzes im Kontinuum der Embryonalentwicklung zwischen der Befruchtung und der Geburt eines menschlichen Individuums. Beim „therapeutischen Klonen“ geht es aber mitunter um Sachverhalte, die damit nicht mehr viel gemeinsam haben. Beim Kerntransfer in eine entkernte, unbefruchtete Eizelle zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen gibt es weder eine „Befruchtung“ noch zielt das Vorhaben auf das Erzeufehlenden europäischen Konsens wird man die MRB jedenfalls in Betracht ziehen dürfen, auch wenn ihre Berücksichtigung als Auslegungsmittel für solche Bestimmungen der EMRK (vgl Art 31 Abs 3 WVK), die strengere Schutznormen vorsehen, wegen Art 27 MRB abzulehnen wäre. Hier geht es gerade um die Frage, ob die EMRK solche höheren Standards überhaupt vorsieht. 92) Art 2 Abs 1 Grundrechte-Charta der EU, ABl C 364/1 (= EuGRZ 2000, 558): „Jede Person hat das Recht auf Leben“. 93) Vgl die Erläuterungen zu Art 2 der Charta, EuGRZ 2000, 558. Vgl auch Art 52 Abs 3 der Charta, wonach die Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie die entsprechenden Rechte in der EMRK. 94) Grabenwarter, DVBl 2001, 3; ebenso Benoit-Rohmer, La Charte des droits fondamentaux de l'Union européenne, Le Dalloz 2001, 1483 (1486); Dujmovits, RdM 2001, 74. 38 Christian Kopetzki gen eines Lebewesens ab. Die argumentative Nähe zum Recht auf Leben entsteht einzig und allein dadurch, dass die gewonnenen Zellverbände eine Totipotenz aufweisen und sich daher theoretisch – unter Hinzutreten aller möglicher Faktoren wie dem Zufall, technischer Manipulationen und insbesonders der Implantation in die Gebärmutter einer Frau – wieder zu einem neuen Menschen entwickeln könnten. Es bedarf also einer Reihe mehr oder weniger unwahrscheinlicher Zusatzprämissen, um den Bogen zwischen diesen totipotenten Zellen und einem künftigem Individuum zu spannen, wobei eine der entscheidenden Prämissen – die Implantation – bei den Szenarien des therapeutischen Klonens von vornherein nicht beabsichtigt ist. Wie Berka zutreffend schreibt, schützt die Verfassung aber nicht das menschliche Leben im Sinne der Gattungszugehörigkeit – was auch auf die unverschmolzenen Keimzellen95) und letztlich auf sämtliche humane vitale Zellen zuträfe – und daher auch nicht jedes „potenzielle“ oder künftige Leben, sondern das individuelle Leben eines „Menschen“.96) Nur vor diesem Hintergrund lässt sich erst begründen, weshalb das Leben des Menschen im grundrechtlichen Sinn bereits mit dem irreversiblen Hirntod (und nicht erst mit dem Absterben der letzten menschlichen Zelle im Organismus) endet.97) Es sprechen daher selbst dann, wenn man der hier vertretenen engen Auslegung des Art 2 EMRK die Gefolgschaft versagt, gute Gründe dafür, auch den Beginn des Lebens als grundrechtliches Schutzgut im Kontext des Rechts auf Leben jedenfalls nicht vor dem Beginn der Hirnentwicklung anzusetzen.98) Dazu kommt noch, dass sich das gebräuchliche „Potenzialitätsargument“ spätestens dann ad absurdum führt, sobald es in Zukunft vielleicht möglich wird, somatische Zellen durch Entdifferenzierung und Reprogrammierung wieder in einen embryonalen „Urzustand“ zurückzuversetzen. Denn dann ist „potenziell“ jede somatische Körperzelle99) „mögliches“ und „künftiges“ menschliches Leben, und man müsste sich bereits bei kleinen körperlichen Eingriffen nicht nur um die Rechtssphäre des Spenders, sondern auch um eine Rechtfertigung hinsichtlich des Körpermaterials nach Art 2 EMRK Gedanken machen. Verfassungsrechtlich begründbar sind solche Überspannungen der Grundrechtsordnung mit Sicherheit nicht.100) 95) Vgl H. Markl, Der Mensch ist moralisch großzügig geschneidert, Süddeutsche Zeitung v 31. 10./1. 11. 2001, 19: „Das ‚menschliche Leben‘ beginnt keineswegs mit der Verschmelzung von menschlichen Ei- und Samenzellen, denn auch die unverschmolzenen Gameten sind menschlich“. 96) Berka, Grundrechte Rz 368; ders, Lehrbuch Grundrechte 78 Rz 212. 97) MwN Kopetzki, Organgewinnung 51 ff; Weber, Transplantationsrecht – ein Problemaufriss, in: Barta/Weber, Rechtsfragen der Transplantationsmedizin in Europa (2001) 13 (15). 98) Markl, Süddeutsche Zeitung 31. 10./1. 11. 2001, 19: „Es ist die gleiche Logik, die personales Leben mit dem Hirntod enden lässt, die seinen Beginn an ein funktionsfähiges Gehirn knüpft“. Diese Parallele wurde auch zu § 22 ABGB längst vertreten: vgl zB Posch, 10. ÖJZ I/5, 81; zustimmend Schick, 10. ÖJT 1988, II/5, 24 ff. 99) Und das heisst: jedes „vollgeschneuzte Taschentuch“ (H. Schuh, Aus Hirn ward Herz. Zum neuesten Schöpfungsakt der Organzüchter, Die Zeit Nr 24/2000). 100) Wie hier im Ergebnis und mwN Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, 929. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 39 f) Ergebnis Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass nach ganz herrschender Auffassung jedenfalls das Stadium der frühen embryonalen Entwicklung vor der Nidation – sei es in vivo oder in vitro – nicht dem verfassungsrechtlichen Lebensschutz gem Art 2 EMRK unterliegt. Das ergibt sich im Einklang mit dem VfGH und dem OGH bereits aus der Unanwendbarkeit des Art 2 EMRK auf das ungeborene Leben insgesamt. Doch selbst wenn man dieser – nach wie vor umstrittenen – Auffassung nicht folgt, würde der Beginn des grundrechtlichen Lebensschutzes nach überwiegender Lehre nicht vor den Nidation einsetzen.101) Umso weniger stehen unbefruchtete totipotente Zellen unter dem Schutz der Verfassung. B. Menschenwürde Der zweite zentrale Einwand gegen die Embryonenforschung und das therapeutische Klonen stützt sich auf den Grundsatz der Menschenwürde. Allerdings kennt die österreichische Bundesverfassung einen solchen Grundsatz nicht explizit (bzw nur in sachlich nicht einschlägigen Zusammenhängen wie dem Schutz der persönlichen Freiheit gem Art 1 Abs 4 PersFrG).102) Die einzige in Betracht kommende positivrechtliche Verankerung enthält Art 3 EMRK, der im systematischen Umfeld des Folterverbotes auch jede Art der unmenschlichen und erniedrigenden Strafe und Behandlung verpönt. Dieses Verbot „unmenschlicher Behandlung“ verbürgt gewiss einen spezifischen Schutz der Menschenwürde. Eine dem Art 1 GG vergleichbare umfassende verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde lässt sich daraus aber nicht gewinnen.103) Denn auch wenn man Art 3 EMRK mit Stolz „als eine gewissermaßen 101) Und selbst wenn man den Schutzbeginn des Art 2 EMRK mit der Befruchtung ansetzen wollte: Jene Güterabwägung zu Lasten des Ungeborenen, die – obgleich in Art 2 Abs 2 EMRK nicht positiviert – nach Meinung mancher zu einer grundsätzlichen Zulässigkeit nicht vital indizierter Schwangerschaftsabbrüche in Indikationsfällen (zB Lewisch, FS Platzgummer 396) führt, müsste dann zumindest im Prinzip auch zugunsten anderer grundrechtlich geschützter Rechte – etwa der Forschungsfreiheit oder dem Lebens- und Gesundheitsschutz Dritter – möglich sein. Vgl auch FN 68. 102) Vgl Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 33; Huber/Stelzer, Gentechnologie 23; Öhlinger, Verfassungsrecht4 (1999) Rz 748; Kopetzki, Organgewinnung zu Zwecken der Transplantation (1988) 44, 46; Berka, Lehrbuch Grundrechte 81 Rz 218; Weber, Transplantationsrecht, in: Barta/Weber, Transplantationsmedizin 14; Novak, Fortpflanzungsmedizingesetz und Grundrechte, in: Bernat (Hrsg), Die Reproduktionsmedizin am Prüfstand von Recht und Ethik (2000) 62 (64). Weitere Nachweise zum (kontroversiellen) Meinungsstand bei Kopetzki, Unterbringungsrecht I (1995) 403. Gegenmeinungen sprechen von einem auch der österreichischen Verfassung „zugrundeliegenden“ Gedanken der Menschenwürde (zB Loebenstein, Die Zukunft der Grundrechte im Lichte der künstlichen Fortpflanzung des Menschen, JBl 1987, 694 [699]). 103) Stelzer, Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1991) 171; Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 33; Zellenberg, Der grundrechtliche Schutz vor Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung – 40 Christian Kopetzki subsidiär wirkende Generalklausel“ in die Interpretation anderer Grundrechte einfließen lassen möchte,104) so könnte dieser „Einfluss“ nicht über das hinaus gehen, was der normative Gehalt des Art 3 EMRK (oder allenfalls noch in Betracht kommender anderer Grundrechte) für sich betrachtet abzudecken in der Lage ist.105) Art 3 EMRK ist kein allgemeines Auffangrecht, das den von anderen positivierten Grundrechten nicht abgedeckten „Menschenwürderest“ abschöpft.106) 1. Art 3 EMRK Ob bzw welche Folgerungen sich aus Art 3 EMRK für die embryonale Phase ziehen lassen, ist derzeit nicht einmal in Ansätzen ausgelotet. Manche Autoren bejahen zwar eine grundsätzliche Anwendung des Art 3 EMRK auf den Embryo,107) doch divergieren die daraus gezogenen Konsequenzen ganz beträchtlich: So beschränken etwa Öhlinger und Nowak den Schutz des Art 3 EMRK auf die Staatsrichtung, während sie eine grundrechtliche staatliche Schutzpflicht im Hinblick auf in-vitro-Embryonen im Ergebnis verneinen.108) Demgegenüber erblickt Lewisch in Art 3 EMRK ein Verbot der „verbrauchenden Embryonenforschung“.109) Vielfach wird der dem Ungeborenen durch Art 3 EMRK zugesprochene Schutz überdies unter die Bedingung der späteren Lebendgeburt gestellt,110) was der Bestimmung jegliche Relevanz nimmt, sobald der Eintritt dieser Bedingung nicht intendiert ist. a) Persönlicher und sachlicher Schutzbereich Wie schon bei Art 2 EMRK sind auch bei der Interpretation des Art 3 EMRK drei Ebenen auseinander zu halten: Die Frage nach der Schutzrichtung (Staat/Private), die Frage nach dem persönlichen Geltungsbereich („niemand“) und schließlich die Frage nach dem sachlichen Schutzbereich, insb nach den Kriterien einer „unmenschlichen Behandlung“. Art 3 EMRK, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Grund- und Menschenrechte in Österreich III (1997) 441 (455); Voss, Keimbahntherapie 178 f. 104) Stolz, in: Bernat (Hrsg), Lebensbeginn durch Menschenhand 113 ff (114); ders, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg), Leistungsfähigkeit 205 ff. 105) Zutreffend Stelzer, Wesensgehaltargument 171. So wohl auch Dujmovits, RdM 2001, 74, wonach staatlichen Eingriffen in die Würde des Menschen bereits durch spezifische andere Grundrechte begegnet werde. Viel weitergehend Steiner, Ausgewählte Rechtsfragen der Insemination und Fertilisation, ÖJZ 1987, 513 (516). 106) Villiger, EMRK Rz 277. 107) ZB Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Grund- und Menschenrechte III 449 mit Nachweisen zum Meinungsstand (FN 41); Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39. 108) Vgl Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39; wohl auch Stolz, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg), Leistungsfähigkeit 209. 109) Lewisch, Staatsbürger 1988/3, 12; ebenso Jacqué, La Convention européenne des droits de l’homme et la bioéthique, in: Furkel/Jung (Hrsg), Bioethik und Menschenrechte (1993) 1 (4 f); Posch, 10. ÖJT 1988, I/5, 78 f. 110) Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 41 Was die Schutzrichtung betrifft, so ist heute kaum mehr umstritten, dass Art 3 EMRK nicht nur gegen staatliche Eingriffe gerichtet ist, sondern in Verbindung mit der allgemeinen Zusicherung gem Art 1 EMRK auch staatliche Schutzpflichten für das Verhältnis zwischen Privaten enthält.111) Das besagt zwar nichts über die Reichweite und Intensität dieser Schutzpflicht, zeigt aber, dass man die Bedeutung des Art 3 EMRK für das vorliegende Thema nicht auf staatlich zurechenbare Handlungen beschränken darf. Hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereiches liegt jedoch auch in diesem Zusammenhang die Annahme nahe, dass Art 3 EMRK – wie alle anderen Konventionsrechte – seinem Wortlaut nach nur auf „Personen“ (arg „niemand“/„nul“/„no one“) anwendbar ist. Jene Argumente, die im Kontext des Art 2 EMRK für eine Einschränkung der Grundrechtssubjektivität auf Geborene skizziert worden sind, lassen sich daher im Kern auch auf die Begriffe „nul“ bzw „one“ in Art 3 EMRK übertragen.112) Was eine darüber hinausreichende Ausstrahlungswirkung über den Kreis der erfassten Grundrechtsträger betrifft, so wird man eine solche objektive Schutzpflicht hier insofern eher vertreten können, als Eingriffe am Embryo durchaus zu Zuständen führen könnten, die dann – nach der Geburt – für sich genommen als „unmenschliche Behandlung“ eines Grundrechtsträgers und somit als Verletzung des Art 3 EMRK zu qualifizieren wären.113) Die scheinbar über die subjektive Grundrechtsberechtigung hinaus gehende objektive Grundrechtswirkung lässt sich somit als Vorwirkung zur Abwehr künftiger Grundrechtsverletzungen Geborener deuten. Dies steht auch im Einklang mit der Rsp zu Art 3 EMRK, die nicht nur die tatsächliche „unmenschliche Behandlung“, sondern bereits einschlägige Bedrohungssituationen – somit also die Gefahr künftiger Eingriffe – als Verletzung des Art 3 einstuft.114) Eingriffe am Embryo, die nach der Geburt etwa zu Leidenszuständen führen würden, die ihrerseits dem Art 3 EMRK widersprechen, wären daher schon in der Embryonalphase gem Art 3 EMRK unzulässig. Für Manipulationen an Embryonen im Frühstadium, die nicht auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft abzielen, muss diese Begründung einer „Vorwirkung“ jedoch versagen. Es wäre damit aber auch unter dem Aspekt des sachlichen Schutzbereiches nichts zu gewinnen. In der Frage, welche Sachverhalte unter den Begriff der „unmenschlichen Behandlung“ zu subsumieren sind, eröffnet die Unbestimmtheit der Textierung hier zwar ebenso 111) Näher Kneihs, Grundrechte und Sterbehilfe (1998) 296 ff; Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Die Grundrechte in Österreich III 452 ff. In diesem Sinn nun ausdrücklich EGMR, Fall A, RJD 1998-VI, 2692 (Z 22 ff) (staatliche Schutzpflicht gegen eine Misshandlung durch Stiefvater). MwN auch Harris/O’Boyle/Warbrick, Convention 21, 57 f. 112) Vgl oben II.A.3. Anders wieder Marschall, JBl 1972, 509, der die Worte „niemand“/„nul“/„no one“ als Verweis auf die einfachgesetzliche Zuerkennung von Rechtspersönlichkeit deutet. Damit wird aber der Umfang des Embryonenschutzes nach Art 3 EMRK ohnehin an den einfachen Gesetzgeber delegiert und ein genuin verfassungsrechtlicher Würdeschutz in diesem Entwicklungsstadium verneint. 113) In diesem Sinn auch Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 39. 114) MwN Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Grund- und Menschenrechte III 467. 42 Christian Kopetzki beträchtliche Spielräume wie bei innerstaatlichen Menschenwürdeklauseln.115) Dennoch – oder gerade deshalb – waren die Straßburger Organe bisher bemüht, handhabbare Spruchformeln zu entwickeln, die den Schutzbereich des Art 3 EMRK konkretisieren. Legt man die bisherige Rsp zu Art 3 EMRK zugrunde, so ergeben sich keine Anhaltspunkte, die – auch ohne Bezug zu späteren Entwicklungsstadien – für eine Ausdehnung des Art 3 EMRK auf das frühe embryonale Leben fruchtbar gemacht werden könnten. Ein Blick auf Lehre und Rechtsprechung zum sachlichen Schutzbereich des Art 3 EMRK zeigt vielmehr, dass es sich beim Folterverbot und beim Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung um Tatbestandsmerkmale handelt, die im wesentlichen nach dem Schweregrad der zugefügten Leiden abgestuft werden.116) Auch die Rsp des VfGH liegt auf dieser Linie: Danach verstößt ein (staatlicher) Akt gegen Art 3 EMRK, wenn ihm eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Missachtung des Betroffenen „als Person“ zu eigen ist.117) Wie auch immer man die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Tatbeständen des Art 3 und die dafür erforderlichen Intensitätsschwellen im Detail bewältigt, kann doch gesagt werden, dass Art 3 EMRK im Kern auf verletzte persönliche Interessen und auf die Zufügung von menschlichem Leid abstellt,118) mithin also auf Kriterien, deren Erfüllbarkeit möglicherweise in späteren Stadien der Schwangerschaft, nicht aber im frühen Embryonalstadium zur Debatte steht. Vor diesem Hintergrund hat auch die EKMR den Vorwurf einer Verletzung des Art 3 EMRK durch einen Schwangerschaftsabbruch mit dem Hinweis zurückgewiesen, es gäbe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dem Foetus Schmerz zugefügt wurde.119) Insb der enge systematische Zusammenhang zum Folterverbot spricht dagegen, den Schutzbereich des Art 3 EMRK auf Sachverhalte auszudehnen, die von vornherein nicht geeignet sind, künftiges Leid eines Grundrechtsträgers hervorzurufen. 115) Vgl auch Harris/O’Boyle/Warbrick, Convention 88: „The terms ‚inhuman‘ and ‚degrading‘ especially have no clear legal meaning and tend to be over-used in ordinary speech“. 116) Berka, Grundrechte Rz 380. 117) Vgl statt aller VfSlg 10.661/1985, 12.258/1990 etc. 118) MwN Zellenberg, in: Machacek/Pahr/Stadler, Die Grundrechte III 466 („geistiges und/oder physisches Leiden von nicht bloß geringfügigem Ausmaß“); zum individuellen Leid als entscheidende Eintrittsschwelle in Art 3 EMRK vgl auch Frowein/ Peukert, Art 3 EMRK Rz 2; Velu/Ergec, Convention 201; Harris/O’Boyle/ Warbrick, Convention 61 f. Auch die Rsp des EGMR zur „unmenschlichen Behandlung“ stellt maßgeblich auf die Zufügung von Schmerzen und Leid ab: mwN zB EGMR 26. 10. 2000, Fall Kudla, Appl 30.210/96 (Z 91); 7. 6. 2001, Fall Papon, Appl 64.666/01; mwN Céré, Entscheidungsbesprechung, Le Dalloz 2001/29, 2336 (2337 f) („seuil de gravité de souffrance essuyé par un individu“). Der Begriff der Folter stellt eine spezielle Ausprägung der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung dar: mwN EGMR 23. 5. 2001, Fall Denizci et al, Appl 25.316-21/94 (Z 383). 119) EKMR, Appl 17.004/90, DR 73, 155 (169): „The Commission has not been presented with any material which could substantiate the applicant’s allegation of pain inflicted upon the foetus (...). ... [T]he Commission does not find that the case discloses any appearence of a violation of Article 3 of the Convention.“ Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 43 b) Bedeutungswandel und „europäischer Standard“ Dieser Befund schließt zwar, ebenso wie bei Art 2 EMRK, nicht aus, dem Art 3 EMRK bei entsprechend „dynamischer“ Interpretation im Lichte aktueller biotechnologischer Bedrohungen einen darüber hinausgehenden Schutz für das frühe Embryonalstadium zu unterstellen – gerade die unbestimmten Formulierungen des Art 3 gaben in der Judikatur wiederholt Anlass zu „dynamischen“ Interpretationsansätzen.120) Auch bei Art 3 EMRK ist aber zu bedenken, dass eine dynamische Weiterentwicklung des Schutzbereiches nur vor dem Hintergrund eines europaweiten Wandels der Wertanschauungen bewerkstelligt werden könnte.121) Wie bereits erwähnt fehlt es auf dem Boden der derzeitigen europäischen Rechtsentwicklung aber gerade im Hinblick auf Embryonen in vitro an einem hinreichend abgesicherten Minimalkonsens, der eine solche Auslegung legitimieren könnte.122) Denn immerhin sind Techniken wie die Präimplantationsdiagnose, die „verbrauchende“ Embryonenforschung oder das therapeutische Klonen in vielen europäischen Ländern – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß – zulässig.123) Rigorose Verbote, wie sie etwa das FMedG enthält, sind eher für die deutschsprachigen Staaten kennzeichnend. Die Biomedizinkonvention des Europarates und ihr nur sehr schwach ausgeprägter Embryonenschutz (vgl Art 18) belegen, dass es an einem konsistenten „europäischen Standard“ dieses Schutzes mangelt. Der Umstand, dass Art 26 MRB sogar Ausnahmen vom Verbot der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken zulässt, sofern dies nur zum Schutz der öffentlichen Gesundheit notwendig ist, zeigt, dass von einem europäischen Standard des Verbots der Embryonenforschung aus Gründen der Menschenwürde nicht die Rede sein kann.124) MwN Harris/O’Boyle/Warbrick, Convention 8. Zu diesem Aspekt der „dynamischen“ Auslegung vgl oben II.A.3.d. 122) Vgl Grillet, L’Europe face au clonage humain: Problèmes et perspectives juridiques, Médecine & Droit 49 (2001) 1 (6): „une situation encore en pleine évolution“. 123) Vgl zB die Übersicht bei H.-G. Koch, Fortpflanzungsmedizin im europäischen Rechtsvergleich, Aus Politik und Zeitgeschichte B 27/2001, 44 (49 ff); ders, Fortpflanzungsmedizin im europäischen Rechtsvergleich, in: BMJ (Hrsg), Fortpflanzungsmedizin – Ethik und Rechtspolitik, Schriftenreihe des BMJ Bd 105 (2001) 45 (65 ff); McCall Smith/Revel, The Use of Embryonic Stem Cells In Therapeutic Research, Report of the International Bioethics Committee der UNESCO v 6. 4. 2001, BIO-7/00/GT-1/2; Manuel, Les solutions retenues dans les différents Etats européens, Revue générale de doit médical, Numéro spécial: La recherche sur l’Embryon (2000) 149; Puppinck, Human Cloning Regulation in Europe, The American Center for Law and Justice, CFJD Memo 3. 9. 2001 (www.aclj.org/ cloning/coning_cfjd_europe.asp); Taupitz, Der rechtliche Rahmen des Klonens zu therapeutischen Zwecken, NJW 2001, 3433 (3439 f); Grillet, Médecine & Droit 49 (2001) 6 f; Voss, Keimbahntherapie 179 f. 124) Vgl Gabolde/Hors, Utilisation aux fins de greffe de cellules et tissues humains d’origine foetale ou embryonnaire, Médecine & Droit 44 (2000) 1 (3): „aucune disposition autorisant ou interdisant la recherche sur l’embryon n’existe actuellement dans les textes adoptés par la Conseil de l‘Europe“; Schulz, ZRP 2001, 527. Teilt man diese Auslegung des Art 3 EMRK nicht, dann müsste man zum Ergebnis kommen, dass die Vertragsstaaten der MRB mit Art 18 iVm 26 MRB eine Norm geschaffen haben, die 120) 121) 44 Christian Kopetzki 2. Menschenwürdegarantien im Landesverfassungsrecht Ausdrückliche Verankerungen des Grundsatzes der Menschenwürde finden sich mitunter in landesverfassungsrechtlichen Regelungen.125) Bei der Suche nach verfassungsrechtlichen Schranken der Embryonenforschung und der Gewinnung embryonaler Stammzellen zu therapeutischen Zwecken lässt sich daraus aber nichts gewinnen. Soweit es sich dabei nämlich – was auf die Herstellung therapeutisch nützlicher Substanzen jedenfalls zutrifft – um eine in die Regelungskompetenz des Bundes fallende Angelegenheit handelt, scheidet das Landesverfassungsrecht als Maßstab aus, weil dieses aus kompetenzrechtlichen Gründen keine Determinante für die Erzeugung oder Vollziehung von Bundesrecht abgeben kann. Landesverfassungsrechtliche Grundrechtsbestimmungen binden nur die Landesgesetzgebung und die Landesvollziehung.126) Außerdem dürften landesverfassungsrechtliche Regelungen wegen Art 99 BVG den Geltungsumfang der eher liberalistisch konzipierten bundesverfassungsrechtlich geregelten Grundrechte – zB der Forschungsfreiheit – nicht beschränken.127) 3. Menschenwürde als ungeschriebenes Prinzip der Bundesverfassung? a) Die Entscheidung VfSlg 13.635/1993 Die Auffassung, wonach auch dem B-VG ein Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde zugrunde liege, scheint durch eine jüngere Entscheidung des VfGH gestützt zu werden: In VfSlg 13.635/1993 hat der Gerichtshof unter Berufung auf Bydlinski „entsprechend den allgemeinen Wertungsgrundsätzen unserer Rechtsordnung“ ein allgemeines Prinzip der „Personen- und Menschenwürde“ bejaht. Im Schrifttum wurde dieses Erkenntnis als Ansatz für einen ungeschriebenen Grundsatz der Menschenwürde gedeutet.128) Im Kontext des konkreten Falles ging es bei dieser Berufung auf die Menschenwürde allerdings nicht um eine verfassungsrechtliche Aussage, sondern um ein zusätzliches, an der Grenze zum obiter dictum angesiedeltes Argument, um einer Bestimmung der Chemikalienverordnung die gesetzliche Deckung zu verleihen, die ein – im Text des ChemikalienG nicht eindeutig enthaltenes – Beweisverwertungsverbot für Versuche an Menschen vorsah. Das Menschenwürdeargument hatte von seiner argumentativen Funktion her dem Art 3 EMRK zwar nicht logisch widerspricht, deren Ausnahmen zugunsten der Embryonenforschung aber von den Vertragsstaaten wegen Art 3 EMRK nicht ausgenützt werden dürften. Näher liegt die Annahme, die nachfolgende Praxis der Vertragsstaaten gem Art 31 Abs 3 WVK ihrerseits bei der Auslegung der EMRK oder zumindest bei der Bestimmung des europäischen Standards zu veranschlagen, vgl FN 91. 125) MwN Demmelbauer, ÖGZ 1993/9, 19 f. 126) Stelzer, Die Quellen der Grundrechte, ZÖR 1999, 9 (15). 127) Berka, Lehrbuch Grundrechte 15 Rz 40; Kopetzki, Unterbringungsrecht I 296 in und bei FN 1920. 128) Stelzer, ZÖR 1999, 15 f; wohl auch Novak in: Bernat (Hrsg), Reproduktionsmedizin 72; Berka, Grundrechte Rz 376 ff. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 45 einen einfachgesetzlichen – weil gesetzesvertretenden – Stellenwert: Die Berufung auf die „Menschenwürde“ substituierte die gesetzliche Grundlage.129) Hätte der VfGH dem Grundsatz der Menschenwürde tatsächlich Verfassungsrang zugeschrieben, dann liefe dies auf die Bejahung einer verfassungsunmittelbaren, der Konkretisierung durch den nach der Kompetenzverteilung zuständigen parlamentarischen Gesetzgeber enthobenen Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde hinaus, die von der Verwaltung ohne Dazwischentreten eines einfachen Gesetzes umzusetzen wäre. Eine solche Deutung sollte man dem VfGH freilich nicht unterstellen: Sie widerspräche nämlich dem in der Verfassungsrechtslehre bislang anerkannten Grundsatz, dass auch verfassungs- bzw grundrechtliche Schutzpflichten erst über den Umweg einfachgesetzlicher Ausgestaltung zu Eingriffen in die Rechtssphäre des Einzelnen ermächtigen130) bzw zu unmittelbar anwendbaren Verhaltensnormen führen können.131) Schutzpflichten rechtfertigen noch keinen gesetzesfreien Eingriff.132) Der Mangel einer gesetzlichen Deckung lässt sich auch nicht durch den Verweis auf allgemeine Wertungsgrundsätze kompensieren, weil damit unter dem Aspekt der gesetzlichen Konkretisierungspflicht nichts zu gewinnen ist.133) 129) VfSlg 13.635/1993: Entsprechend „den allgemeinen Wertungsgrundsätzen unserer Rechtsordnung“ sei es – „auch ohne besondere gesetzliche Anordnung“ – zulässig, die Berücksichtigung der Ergebnisse von Versuchen am Menschen durch entsprechende Beweisverwertungsverbote zu beschränken. Dazu Stelzer, ZÖR 1999, 16. 130) Vgl dazu für viele Walter/Mayer, Grundriss Verfassung Rz 1329; Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 742; Kopetzki, Art 1 PersFrG Rz 55, in: Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht III (im Druck); ders, Unterbringungsrecht, Bd 2, 958; U. Davy, Versammlungsschutz und Meinungsfreiheit, JAP 1990/91, 197; Holoubek, Die Struktur der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, 1997, 38. Ebenso für die BRD zB Murswiek in: Sachs, Art 2 GG Rz 26. 131) Gegen ein direkt aus den Grundrechten abgeleitetes Verbot für bestimmte Handlungen (Privater) mit eingehender Begründung Holoubek, Gewährleistungspflichten 131 ff. Auch für Österreich gilt daher uneingeschränkt, dass grundrechtliche Schutzpflichten keine unmittelbaren Rechtswirkungen zugunsten oder zulasten des Bürgers entfalten: Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates (1983) 42. 132) Isensee, Grundrecht auf Sicherheit 43: „Die grundrechtliche Legitimität ersetzt nicht die Legalität“. 133) Dass gerade der – in der Rsp des VfGH erstmalige und daher „unvorhersehbare“ – Rückgriff auf einen ebenso ungeschriebenen wie unbestimmten Begriff wie jenen der Menschenwürde dafür herhalten muss, die im Legalitätsprinzip angesprochene Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Verwaltungshandelns zu substituieren, ist schon für sich genommen schwer nachzuvollziehen. Denkt man die Argumentationslinie des VfGH zu Ende, so würde dies der Verwaltung einen gesetzlich undeterminierten Entscheidungsspielraum praeter legem eröffnen, sobald sie sich nur auf die „Menschenwürde“ beruft. „Wo aber die Staatsgewalt sich unter Berufung auf höhere Werte für legitimiert hält, Menschen an etwas zu hindern, was zu verbieten ihr kein Gesetz erlaubt, da ist Gefahr im Verzug“ (Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung, Transit 21 [2001] 172 [176]). Nicht weniger missverständlich sind die inhaltlichen Aussagen des VfGH zur Menschenwürdegarantie: Die These, Versuche am Menschen seien „auch mit dessen Zustimmung zwangsläufig“ mit einem Eingriff in die 46 Christian Kopetzki Nichts legt also die Annahme nahe, dass der vom VfGH im Wege einer Art Gesamtanalogie gewonnene Rechtsgrundsatz der Menschenwürde im Verfassungsrang stehe bzw dass dem Gerichtshof eine solche Aussage zugesonnen werden darf.134) Im Erkenntnis ging es weder um die Begründung eines solchen verfassungsrechtlichen Grundsatzes, noch wäre ein solcher im entscheidungserheblichen Kontext von Menschenversuchen überhaupt nötig gewesen, da das Selbstbestimmungsrecht, die körperliche Integrität und die Gesundheit von Versuchspersonen auf grundrechtlicher Ebene durch die bestehenden Garantien (insb der Art 2, 3 und 8 EMRK) hinreichend und ohne Rekurs auf ungeschriebene Wertungsgrundsätze geschützt sind. b) Menschenwürde und grundrechtliche „Wertordnung“ Gegen die Annahme eines ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der Menschenwürde spricht also nicht nur, dass es dafür keinerlei – über die Positivierung von Einzelgrundrechten hinausgehenden – Ansatzpunkte im Verfassungstext gibt, sondern auch, dass das B-VG mit seinem formellen Verfassungsbegriff, der ausdrücklichen Bezeichnungspflicht für Bundesverfassungsrecht (Art 44 Abs 1 B-VG), der Zurückhaltung bei inhaltlichen Zielsetzungen zugunsten organisatorischer und verfahrensbezogener „Spielregeln“ für den politischen Willensbildungsprozess, dem Fehlen eines in sich homogenen Grundrechtskataloges135) und der Reduktion von „Grundrechten“ auf den strukturellen Gehalt eines „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts“136) für derartige Begründungsansätze wenig Platz lässt. Im österreichischen Verfassungsrecht fehlt eine Analogiegrundlage für die Anerkennung ungeschriebener Rechte im Wege der Rechtsfortbildung.137) Die in Deutschland weit verbreitete – und im Lichte des Grundgesetzes möglicherweise anders zu beurteilende – Auffassung, wonach die Grundrechte Ausdruck einer umfassenden „Wertordnung“ seien, die letztlich auf alle neuen Regelungsprobleme (auch und gerade im Bereich der Biomedizin) eine Antwort geben, die der Gesetzgeber nur mehr zu konkretisieren habe, lässt sich auf die österreichische Verfassungsordnung nicht übertragen.138) Die Weiterentwicklung des verfassungsMenschenwürde verbunden, ist in ihrer überschießenden Tendenz fragwürdig und zeigt, auf welch glatten Boden sich der VfGH mit der Berufung auf das Menschenwürdeargument begeben hat. 134) Eine solche Deutung findet sich auch bei Stelzer (ZÖR 1999, 16), Berka (Grundrechte Rz 376 ff) und R. Novak (in: Bernat, Reproduktionsmedizin 64, 72) nicht. Weitergehend nun wohl Stelzer, Verfassungsrechtliche Grenzen des Eingriffs in Rechte oder Vertragsverhältnisse, DRdA 2001, 508 (517); Müller, Neue Ermittlungsmethoden und das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung, EuGRZ 2002, 546 (547). 135) Öhlinger, EuGRZ 1982, 224 f; Jabloner, Verfassungsrechtliche Grundordnung und historisch erste Verfassung, JRP 2001, 34 (41). 136) Dazu Stelzer, Die Entwicklung der Grundrechte und ihr Einfluss auf die Textierung von Grundrechtsdokumenten, ZÖR 1999, 3 (6). 137) Statt aller Stelzer, ZÖR 1999, 6. 138) Für eine umfassende grundrechtstheroretische Diskussion vgl Holoubek, Gewährleistungspflichten 76 ff, 126 ff; gegen eine Rezeption der deutschen „Werttheorie“ Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 47 rechtlichen Rechtsbestandes zur Anpassung an neue Situationen ist dem Verfassungsgesetzgeber vorbehalten.139) Es ist daher auch nicht Aufgabe der Verfassungsinterpretation, durch den „Ausbau“ vorhandener Bestimmungen eine dem deutschen Grundgesetz „vergleichbare Menschenwürdeklausel zu erarbeiten“.140) Dazu kommt, dass die Funktion des Menschenwürdearguments gerade bei Fragen moderner Technologien typischerweise nicht in erster Linie auf die Begründung subjektiver Rechte abzielt (da hiefür meist die bestehenden Grundrechte ausreichen), sondern auf die Legitimation neuer Verbote, die ohne Rekurs auf die Menschenwürde bedenklich scheinen könnten.141) Das Erkenntnis VfSlg 13.635/1993 macht hier keine Ausnahme. Aus grundrechtsdogmatischer Sicht hat man es mit Ableitungen neuer staatlicher Schutzpflichten aus der Menschenwürdegarantie zu tun, wobei diese Schutzpflichten dann als systematische Gewährleistungsschranken gegenüber liberalen Abwehrrechten in Anschlag gebracht werden. Auf diese Weise gerät die – nicht durch eine Bestimmung des positiven Verfassungsrechts abgedeckte – Berufung auf die Menschenwürde in ein Spannungsverhältnis zu gegenläufigen Freiheitsrechten und damit auch zum liberalen Prinzip der Bundesverfassung. Besonders deutlich wird diese antiliberale Stoßrichtung beim Versuch von Schlag, auf der Grundlage einer hierarchischen Rangordnung der Grundrechte die „Vorrangigkeit staatlicher Schutzpflichten vor individuellen Freiheitsrechten“ nachzuweisen und andere „Freiheiten und Grundrechte“ immer dann zurücktreten zu lassen, „wo Person, Leben und Integrität so gefährdet sind, dass die Menschenwürde ... verletzt wird“.142) Sobald das der Rechts- und Grundrechtsordnung zugrunde liegende Menschenbild überschritten werde, kehre sich die Freiheitsvermutung („Alles was nicht verboten ist, ist erlaubt“) um („Alles was nicht erlaubt ist, bleibt verboten“).143) Diese Argumentation schon Korinek, FS Wenger 250; Öhlinger, EuGRZ 1982, 224; ders, Verfassungsrecht Rz 693; Walter/Mayer, Grundriss Verfassung, Rz 1325; Rosenzweig, FS Broda 264 ff; anders hingegen zB Pernthaler, Grundrechtsdogmatik und allgemeine Staatslehre, FS Ermacora (1988) 605 (607 ff). Kritisch aus deutscher Sicht zB Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders, Staat, Gesellschaft, Freiheit (1976) 232 ff; H. Dreier in: Dreier, GG-Kommentar I, Art 1 I Rz 62, 99. Vgl gegen die Umdeutung von Grundrechten in Grundwerte weiters R. Spaemann, Transit 21 (2001) 172 ff; Michalski, Politik und Werte, Transit 21 (2001) 208. 139) Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: ders, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit 243 (275). 140) So jedoch Steiner, ÖJZ 1987, 516. 141) Zur „Menschenwürde“-Garantie als primäre Quelle von Verboten zB Augustin, Rechtliche Regelungen für Stammzelltherapien, ZSR 2001, 163 (165 f). Kritisch zB Ipsen, JZ 2001, 995, wonach „in Deutschland ... allzu oft gesetzliche Verbote im Vordergrund [stehen], die sich besonders guten Gewissens erlassen lassen, wenn sie als verfassungsrechtlich geboten ausgegeben werden können“. 142) Schlag, ÖJZ 1992, 54; ders, Fortpflanzung 100 f. 143) Schlag, 10. ÖJT 1988, II/5, 103. Ansätze in diese Richtung schon bei Ermacora, Grundriss Menschenrechte Rz 1190, wonach „unnatürliche Vorgänge durch das Recht ausdrücklich erlaubt werden“ müssten. Damit wird das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip – also die Beweislast des Staates, der die Freiheit beschränkt (mwN 48 Christian Kopetzki leidet nicht nur an der Schwierigkeit, eine solche Rangordnung positivrechtlich zu begründen;144) sie führt letztlich auch dazu, dass die differenzierten Grundrechtsverbürgungen der Verfassung jederzeit durch den Appell an ein unbestimmtes „Menschenbild“ überspielt und aus ihrer primär subjektiv-rechtlichen Abwehrrichtung in eine Pflichtenbindung umfunktioniert werden können. Die damit einhergehende und durch die hochgradige Unbestimmtheit der Menschenwürdeklausel noch akzentuierte Verschiebung der Letztentscheidungskompetenz vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber zum Verfassungsgerichtshof erscheint schließlich auch unter dem Aspekt der Gewaltentrennung problematisch: Der Streit um Existenz, Sinn und Funktion einer verfassungsrechtlichen Menschenwürdeklausel mündet – wendet man den Blick aus den Höhen symbolischer Staatszielbestimmungen in die Niederungen staatlicher Funktionsabläufe – am Ende in die Frage, wer in Zukunft über die anstehenden „biopolitischen“ Jahrhundertfragen entscheiden soll: Das Parlament oder das Höchstgericht.145) c) Rechtsstaat ohne „Menschenwürde“? Selbstverständlich liegt jeder Rechts- und Verfassungsordnung eine bestimmte Vorstellung vom Menschen zugrunde. Dieses „Menschenbild“ ist, nicht anders als die „Menschenwürde“, Leitidee, Motor und moralische Legitimation der europäischen Grundrechtsentwicklung bis hin zur Biomedizinkonvention des Europarates und zur EU-Grundrechtscharta:146) Es ist die Überschrift zu jenem Text, den die Menschenrechte darstellen. Der gesamte Grundrechtskatalog ist Ausdruck und Fortentwicklung dieser Würdeidee, und es sind nicht zuletzt die einzelnen Grundrechte, in denen sie sich manifestiert. Zurecht wird daher auch gesagt, dass „grundsätzlich alle Grundrechte Teilinhalte der Menschenwürde gewährleisten“. 147) Daraus folgt allerdings nicht, dass die „Menschenwürde“ ein eigenes, zu den anderen Rechten hinzutretendes Recht oder verfassungsrechtliches „Schutzgut“ ist, und auch nicht, dass es de constitutione ferenda sinnvoll wäre, Schlink, EuGRZ 1984, 467) – auf den Kopf gestellt. Rechtfertigungspflichtig ist dann nicht mehr der Freiheitseingriff, sondern der Freiheitsgebrauch. Zurecht kritisch Isensee, Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution, FS Hollerbach (2001) 243 (249 f). 144) Zurecht weist Morscher, EuGRZ 1990, 470, darauf hin, dass sich für die Annahme „abgestufter grundrechtlicher Bedeutungsschichten“ im Sinne einer Hierarchie der Grundrechte im österreichischen Verfassungsrecht kein Anhaltspunkt findet. 145) Zu diesem gewaltentrennenden Aspekt (auch im Hinblick auf die Judikaturunterschiede zwischen VfGH und BVerfG) zB Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: ders, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit 243 (261 ff); Isensee, Vom Stil der Verfassung, Nordrein-Westfälische Akademie der Wissenschaften (1999) 7 (64 ff). Vgl schon Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929) 30 (70). 146) Vgl die programmatische Bestimmung des Art 1 MRB; dazu Mathieu, Bioéthique et droits fondamentaux. Quelles réponses au niveau européen, REDP 13 (2001) 695 (697 ff). Ähnlich die Präambel und Art 1 der EU-Grundrechtscharta. 147) Berka, Grundrechte Rz 378. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 49 sie zu einem solchen zu machen. Gerade in jenen Bereichen, in denen der rettende Griff zur Menschenwürde nahe zu liegen scheint, weil entweder ein allgemeiner Wertkonsens fehlt und/oder die Zuordenbarkeit zu „herkömmlichen“ Grundrechten versagt, wird auch die Menschenwürdegarantie ihre regulative Aufgabe kaum erfüllen können. Ihre Offenheit bringt es mit sich, dass die interpretatorischen Ableitungen ebenso vielfältig sind wie jene moralischen Positionen, durch deren Brille sie gelesen wird. Führt man sich die Spannweite der Menschenwürdediskussion vor Augen, wie sie beispielsweise in Deutschland zur Frage der Reproduktionstechnologien, der Embryonenforschung und des therapeutischen Klonens geführt wird, so drängt sich der ernüchternde Eindruck auf, dass dieser Grundsatz – zumindest in den hier interessierenden Grenzbereichen der Biomedizin – keinen ausreichend konsentierten Bedeutungskern aufweist, der halbwegs eindeutige normative Antworten erlaubt und der in der Lage wäre, künftige Entscheidungen einigermaßen vorhersehbar zu strukturieren.148) Dieser Dissens wird zwar durch den Rückgriff auf gängige Würde-Formeln aus Religion oder Philosophie vordergründig verdeckt, er bricht aber bei der Konkretisierung im Einzelfall unvermindert wieder auf.149) Mit gutem Grund mehren sich daher auch in der deutschen Literatur Stimmen, die vor einem allzu „leichthändigen und vollmundigen“ Einsatz des Menschenwürdearguments warnen.150) Wo Rechtspositionen im geltenden Verfassungsrecht hinreichend abgesichert sind, bedürfen sie keiner „Immunisierung durch Fundamentalbegründungen aus dem Wesen des Menschen“,151) 148) Zur kontroversen Auslegung der Menschenwürdegarantie im deutschen GG zusammenfassend Luf, in: Korff (Hrsg), Lexikon der Bioethik II 681 f; zum Beginn des grundrechtlichen Lebensschutzes mwN Isensee, FS Hollerbach (2001) 252. 149) Die mangelnde Steuerungskraft der „Menschenwürde“ in bioethischen Grenzfragen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass viele Rechtsordnungen einen Schutz der Menschenwürde verfassungsrechtlich festgeschrieben haben (mwN Schulze-Fielitz in: H. Dreier (Hrsg), GG-Kommentar I (1996) Art 2 II GG Rz 5), dass jedoch nichts desto weniger die konkrete Anwendung des Menschenwürdearguments auf den „Status“ des Embryo zu völlig abweichenden Ergebnissen führt; vgl Simon, Human Dignity as a regulative Instrument for Human Genome Research, in: Mazzoni (Ed), Etica della Ricerca biologica, 39 (41). Das gemeinsame Bekenntnis zum Rechtsgrundsatz der Menschenwürde wird offenbar zur Projektionsfläche unterschiedlicher Weltanschauungen und Wertauffassungen. Für Menschenwürdeklauseln gilt hier nichts anderes als für andere hochgradig unbestimmte Wertformeln, weil die damit verbundenen „Auffassungen miteinander konkurrieren und einander vielfach ausschließen und weil ihre Vertreter den Beweis dafür schuldig bleiben müssen, dass nur ihr Wertkonzept mit der Wertformel gemeint sein kann. Dem jeweiligen Konzept nach hat nur eines von ihnen in der ‚Leerformel’ Platz; der allgemeinen Sprachkonvention nach jedoch viele. Daher sind subjektive Werturteile und freie Wertungen an der Tagesordnung. Politische Auseinandersetzungen spielen sich dann nicht mehr im Vorfeld des Rechtes ab; sie werden unzulässiger- und unnötigerweise mitten in das positive Recht getragen“ (Winkler, Wertbetrachtung 28). 150) Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, 925; in diesem Sinn zB schon Vitzthum, Gentechnologie und Menschenwürdeargument, ZRP 1987, 33; Isensee, FS Hollerbach (2001) 247; mwN Kopetzki, Unterbringungsrecht I 407. Differenzierend Luf, in: Korff (Hrsg), Lexikon der Bioethik II 682. 151) Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AÖR 1993, 353. 50 Christian Kopetzki und wo dies nicht der Fall ist, helfen auch letztere nicht viel. Die geringe Halbwertszeit der mit dem Würdegrundsatz mitunter verbundenen Wertvorstellungen, die sich exemplarisch an den Diskussionen über die Reproduktionsmedizin ablesen lässt,152) führt vielmehr zu einem Einfließen der jeweils mehrheitsfähigen Wertauffassungen, oder – wie Böckenförde in ähnlichem Zusammenhang anmerkte – zu einem „Positivismus der Tageswertungen“ und letztlich zu einem Zurücktreten spezifisch juristischer zugunsten – wechselnder – rechtsethischer Begründungsansätze.153) Eine eher dem normativen Gehalt der Verfassung als dem Bekenntnis zu einer „objektiven Wertordnung“ verpflichtete Verfassungsinterpretation vermag hingegen die Erinnerung wach zu halten, dass die Funktion der Grundrechte gerade auch darin liegt, dass sie ihre Rechtswirkungen für den Einzelnen „vielfach gerade gegen die jeweils herrschenden Werturteile der Zeit entfalten“.154) C. Gleichheitssatz Aus diesem spärlichen grundrechtlichen Befund folgt nicht, dass gesetzliche Regelungen des Embryonenschutzes verfassungsrechtlich überhaupt nicht determiniert wären. Maßgebliche Bindungen künftiger Rechtspolitik ergeben sich im wesentlichen aus dem Gleichheitssatz, sofern man diesen – wie der VfGH und die herrschende Lehre – auch als allgemeines Sachlichkeitsgebot begreift.155) Zwar ergibt sich aus dem Gleichheitssatz keine staatliche Handlungspflicht. Neue gesetzliche Regelungen können jedoch auf ihre Sachlichkeit überprüft werden. Der erforderliche Maßstab für die – wertende 156) – Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Differenzierungen kann dabei aus dem bestehenden Normenbestand – einschließlich der bereits bestehenden Regelungen zur Fortpflanzungsmedizin und zum Schwangerschaftsabbruch – und aus allgemeinen Grundsätzen der Rechtsordnung gewonnen werden, die sich als Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der „Sachlichkeit“ neuer 152) Kaum eine der heute weltweit praktizierten reproduktionsmedizinischen Methoden ist bisher dem (mitunter vorübergehenden) Verdikt der Grundgesetzwidrigkeit entgangen, so etwa auch nicht – nach der hL der sechziger Jahre – die heterologe Insemination (mwN Giesen, Heterologe Insemination – ein neues legislatorisches Problem? FamRZ 1981, 413). 153) Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders, Recht, Staat, Freiheit (1991) 67 (90); ders, Grundrechtstheorie 232 ff, dort auch zur Frage der verfassungsadäquaten Methodenwahl im Staatsrecht. Zur gebotenen Trennung ethischer und verfassungsrechtlicher Argumente nun wieder Ipsen, JZ 2001, 989. Zum breiten und dynamischen Spektrum bioethischer Aussagen Birnbacher, in: Taupitz (Hrsg), Die Bedeutung der Philosophie für die Rechtswissenschaft (2001) 51 ff. 154) Vgl nur Walter, in: Vogel (Hrsg), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle 20; Walter/Mayer, Grundriss Verfassung Rz 1325. 155) Anderenfalls freilich ließe sich der persönliche Geltungsbereich des Art 7 BVG nicht auf die embryonale Phase erstrecken, weil der Begriff „Bundesbürger“ (Art 7 Abs 1 B-VG) nur Geborene erfasst. 156) Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 762. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 51 Regelungen anbieten und die Abweichungen unter einen erhöhten Begründungszwang stellen. 157) Schon unter diesem Aspekt dürfte also die Geburt keine scharfe Zäsur zwischen dem vollen Lebensschutz und einer gänzlichen Preisgabe jeglichen Schutzes sein. Vielmehr bedürfte es differenzierender und abgestufter Regelungen, welche der schrittweisen Entwicklung des menschlichen Lebens vom totipotenten Embryonalstadium der Blastozyste bis hin zu einem bereits lebens- und empfindungsfähigen Fötus unmittelbar vor dem Ende der Schwangerschaft einen ebenso abgestuften und kontinuierlich wachsenden Rechtsschutz an die Seite stellen. Auf welche Abstufungskriterien es dabei im einzelnen ankommt und wie diese zu gewichten sind, kann und braucht hier nicht annähernd ausgelotet werden.158) Einleuchtend ist aber wohl, dass die ersten Tage eines extrakorporalen Keims vor der Nidation – sei er nun durch Befruchtung oder durch Kerntransfer entstanden – eher am unteren Ende der Skala rechtlicher Schutzbedürftigkeit anzusiedeln wären, und sohin eine Abwägung mit anderen Rechtspositionen und Interessen – auch der Forschungsfreiheit – ebenso möglich wie geboten wäre. Unzutreffend wäre es jedenfalls, ein durchgehendes einheitliches Schutzniveau während der gesamten Entwicklungsdauer mit dem Argument zu postulieren, das werdende menschliche Leben sei während seiner gesamten Dauer keinerlei Differenzierungen zugänglich und somit ein „Gleiches“ iSd des Gleichheitssatzes:159) Denn dies trifft – wie die Ausführungen zum Grundrecht auf Leben gezeigt haben – weder vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Bewertung noch vor dem Hintergrund der einfachgesetzlichen Rechtslage auf dem Gebiet des Embryonenschutzes zu.160) Bei der Beurteilung des „therapeutischen Klonens“ kommt noch hinzu, dass hier jene Argumente brüchig werden, die in der rechtsethischen Diskussion ansonsten – mit mehr oder weniger Überzeugungskraft – für die Schutzbedürftigkeit des frühen Embryonalstadiums ins Treffen geführt werden: Weder hat man es bei einem mit Kerntransfer erzeugten totipotenten embryonalen Zellverband mit dem Beginn einer selbstgesteuerten kontinuierlichen Entwicklung zum Menschen zu tun (weil eine solche weder intendiert ist noch ohne aktives Zutun Dritter – nämlich der Implantation – zustande kommen könnte), noch liegt aus genetischer Sicht ein neues und in seiner Individualität einmaliges Genom vor (weil das Kerngenom mit jenem des Zellspenders im wesentli157) Zu diesem Gedanken eines allgemeinen Ordnungssystems vgl schon Antoniolli, Gleichheit vor dem Gesetz, ÖJZ 1956, 646 (647); Korinek, Gedanken zur Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, FS Melichar (1983) 39 (46 ff). 158) Anknüpfungspunkte für Differenzierungen wären etwa – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – das Entwicklungsstadium, die Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs oder die Empfindungsfähigkeit der Leibesfrucht. In eine allgemeine Sachlichkeitsprüfung des Embryonenschutzes müsste mittelbar auch das explizite Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen (Art 7 Abs 1 B-VG) einfließen. 159) Vgl dagegen schon VfSlg 7400/1974. 160) Vgl wieder §§ 96 ff StGB (zum fehlenden Strafrechtsschutz für Embryonen in vitro: Schmoller, Vorbem §§ 96-98 StGB, Rz 26 ff); § 17 FMedG. 52 Christian Kopetzki chen identisch ist). Und schließlich überzeugt auch das Potenzialitätsargument nicht, weil die Entwicklung zu einem geborenen Menschen weder beabsichtigt ist noch ohne Hinzutreten zusätzlicher – unwahrscheinlicher und ebenfalls nicht intendierter – Prämissen ablaufen könnte. D. Freiheit der Wissenschaft Auf der anderen Seite des grundrechtlichen Beurteilungsrahmens steht zunächst die Freiheit der Wissenschaft (Art 17 StGG). Darunter fällt im wesentlich die Freiheit der – nicht nur der universitären161) – Forschung.162) 1. Schutzumfang der Forschungsfreiheit Diese umfasst nach Lehre und Rsp unter anderem die Befugnis, wissenschaftliche Untersuchungen vorzunehmen und ihre Ergebnisse zu veröffentlichen,163) wobei der Begriff der „Wissenschaft“ im wesentlichen prozedural und nicht inhaltlich zu bestimmen ist: Wissenschaftliche Forschung ist jede Gewinnung wissenschaftlicher Aussagen im Wege der Erkenntnis, also nach sachlichen, objektiven und nachprüfbaren Gesichtspunkten.164) Kennzeichnend für die Zuordnung zum grundrechtlichen Schutzbereich ist somit die Einhaltung bestimmter methodischer Standards, nicht jedoch eine materielle Vorbewertung des Forschungsgegenstandes.165) Insofern ist auch der Wissenschaftsbegriff des Art 17 – ähnlich wie der Kunstbegriff des Art 17a StGG – inhaltlich offen konzipiert: Er schließt etwa die Erzielung von Forschungsergebnissen ein, die für bestimmte gesellschaftliche Gruppen schockierend, aus heutiger Sicht nutzlos oder ethisch bedenklich sind. Die Forschungsfreiheit wird folglich auch nicht durch den Einwand obsolet, es gäbe zu umstrittenen Forschungszielen gleich wirksame Alternativen. Art 17 StGG schützt die Freiheit der Wissenschaft nicht wegen bestimmter und vorweg glaubhaft zu machender „positiver“ Erfolge, sondern gerade auch um der wissenschaftlichen Neugier 161) Das Grundrecht steht jedermann zu: VfSlg 8136/1977; Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 924. 162) Vgl schon Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte (1963) 469; Huber/Stelzer, Gentechnologie 26. 163) VfSlg 3068/1956; Öhlinger, Verfassungsrecht, Rz 923. 164) Zum Begriff der wissenschaftlichen Forschung vgl Wenger/Winkler, Die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre (1974) 70 ff; Rebhahn, Weisungen im Universitätsbereich (1982) 24; Wielinger, Die Freiheit der Wissenschaft in Österreich, EuGRZ 1982, 289 mwN; Berka, Grundrechte Rz 587 ff. Ähnlich VfSlg 3191/1957 („das Aufsuchen neuer Erkenntnisse oder die Festigung älterer Erkenntnisse auf einem bestimmten Wissensgebiet“). 165) Wenger/Winkler, Freiheit der Wissenschaft 73: „Nur ein solcher formalisierter oder formeller Wissenschaftsbegriff ist sowohl mit dem Wortlaut als auch mit dem erkennbaren Sinn der Freiheitsgarantie des Art 17 StGG vereinbar“. Zu dieser Offenheit des Wissenschaftsbegriffs als „Verfahrensbegriff“ vgl auch die deutsche Lehre zu Art 5 III GG, mwN zB Denninger in AK-GG2 I (1989) Art 5 III/I Rz 13 ff; Pernice in: H. Dreier (Hrsg), GG-Kommentar I (1996) Art 5 III (Wissenschaft) Rz 29 ff. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 53 und des Strebens nach neuer Erkenntnis willen.166) Da zukünftige Erfolgschancen nie verlässlich vorhergesehen werden können, und weil die Wissenschaftsgeschichte viel zu sprunghaft verläuft, als dass sich die Erkenntnismöglichkeiten von morgen aus dem gesicherten Erkenntnisstand von heute verlässlich „hochrechnen“ ließen,167) gehört zur Freiheit der Forschung immer auch, dass die Tür ins Ungewisse und Unvorhersehbare offen bleibt. Vor diesem Hintergrund ist nicht zweifelhaft, dass Forschung mit oder an Embryonen oder embryonalen Stammzellen grundsätzlich dem Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit unterfällt. Verbote oder Beschränkungen dieser Forschung greifen daher in das Grundrecht ein. 2. Grenzen der Forschungsfreiheit Auch die Forschungsfreiheit ist nicht grenzenlos. Obwohl Art 17 StGG unter keinem expliziten Gesetzesvorbehalt steht, werden von der Rsp des VfGH und der Lehre „immanente“ Grundrechtsschranken anerkannt, die sich insb aus anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern sowie aus „allgemeinen Gesetzen“ ergeben können. Unter der Voraussetzung eines hinreichenden öffentlichen Interesses kann der Gesetzgeber demnach die Wissenschaftsfreiheit beschränken, wenn und soweit dies zum Schutz eines anderen Rechtsgutes erforderlich ist und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.168) Verwehrt sind ihm hingegen „spezifisch intentionale“ Eingriffe, also solche Beschränkungen, die intentional auf die Einengung der Wissenschaftsfreiheit gerichtet sind.169) Diese bedürften zu ihrer Zulässigkeit der Rechtfertigung durch eine unmittelbar aus der Verfassung ableitbare Schranke.170) Während solche gegenläufigen Verfassungsbestimmungen im Bereich der biomedizinischen Forschung an Menschen leicht auffindbar sind – zu denken ist insb an die Grundrechte von Probanden gem Art 2, 3, 8 MRK – und daher spezifische Restriktionen der Humanforschung unschwer zu begründen sind, fehlt es im Fall der Embryonenforschung an nachvollziehbaren verfassungsrechtlichen „GegenGrundrechten“. Der Hinweis auf eine – die erwähnten Einzelgrundrechte transzendierende – verfassungsimmanente Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit durch die „menschliche Würde“171) steht und fällt mit der verfassungsrechtlichen Verankerung eines solchen Grundsatzes. Auf unser Thema übertragen heißt das: Dem Gesetzgeber steht es frei, die Forschungsfreiheit zum Zweck des Embryonenschutzes einzuschränken, solange er dies in allgemeiner, verhältnismäßiger und in sich konsistenter Weise So (für die BRD) zB Taupitz, NJW 2001, 3438. Nachzulesen etwa bei Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1967); L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935). Vgl dazu auch Denninger, AK-GG Art 5 III/1 Rz 15. 168) Vgl VfSlg 1777/1949, 8136/1977, 13.978/1994; Berka, Grundrechte Rz 592 ff; Huber/Stelzer, Gentechnologie 26 ff. 169) VfSlg 8136/1977; 13.978/1994. 170) Berka, Grundrechte Rz 595. Ähnlich – wenngleich mit anderem Ergebnis – für Deutschland Isensee, FS Hollerbach (2001) 250 ff. 171) Berka, Grundrechte Rz 595; ebenso schon Steiner, ÖJZ 1987, 516. 166) 167) 2 54 Christian Kopetzki tut. Intentionale – also gezielte – Eingriffe in diese Freiheit müssten hingegen durch ein „gegenläufiges“ Verfassungsrechtsgut begründet werden. Die damit in den Vordergrund gerückte Unterscheidung zwischen zulässigen allgemeinen Beschränkungen und besonders begründungspflichtigen „intentionalen“ Eingriffen stellt freilich ein heikles Unterfangen dar.172) Dennoch sprechen Gründe für die Annahme, dass die derzeitigen Regelungen des Fortpflanzungsmedizingesetzes zumindest im Verdacht eines intentionalen Eingriffs stehen, weil das FMedG gar keinen konsistenten – das Schutzgut „Embryo“ insgesamt absichernden – Embryonenschutz verbürgt: Man denke nur an die maximal einjährige Aufbewahrungsfrist für in-vitro-Embryonen gem § 17 FMedG, die einem Vernichtungsgebot gleichkommt; dieses Schutzniveau wird noch viel brüchiger, wenn man die strafgesetzlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruches in den Blick nimmt, in denen die Phase vor der Nidation überhaupt nicht und die ersten drei Monate der Schwangerschaft so gut wie nicht geschützt sind. Im Gesamtkontext der Rechtsordnung ist § 9 FMedG daher weniger Ausdruck des Embryonenschutzes als eines umfassenden Forschungsverbotes, und die Erläuterungen stellen dieses Motiv auch unmissverständlich klar.173) Versteht man unter einem „intentionalen“ Eingriff jenen, der – als Gegenbegriff zum „allgemeinen Gesetz“ – nur das grundrechtlich geschützte, nicht auch jedes andere Verhalten zum Gegenstand hat,174) so lässt sich zwar entgegnen, dass § 9 FMedG neben Forschungseingriffen noch andere – etwa diagnostische – Maßnahmen am Embryo in vitro verbietet: Die eindeutige Absicht des Gesetzgebers, die – wenn auch nicht ausschließlich, so doch immerhin auch – auf ein Forschungsverbot abzielte, spricht aber eher für den „intentionalen“ Charakter dieses Verbots als für eine nicht spezifisch intendierte „Nebenwirkung“175) eines allseitigen Substanzschutzes.176) 172) Zum Meinungsstand umfassend Pöschl/Kahl, Die Intentionalität – ihre Bedeutung und Berechtigung in der Grundrechtsjudikatur, ÖJZ 2001, 41. 173) RV 216 BlgNR 18. GP 20. Ein intentionaler Eingriff läge auch dann vor, wenn der Gesetzgeber etwa die Embryonenforschung zu bestimmten Forschungszielen zulassen würde, weil dies ebenfalls auf einen inhaltlichen Eingriff in den Kern der Forschungsfreiheit (und nicht auf einen allgemeinen Embryonenschutz) hinausläuft, zu dem auch die freie Wahl des Forschungszieles gehört. Ebenfalls intentionalen Charakter hätten spezifische Genehmigungsvorbehalte (Stelzer, Gentechnologie 30). 174) In diesem Sinn Pöschl/Kahl, ÖJZ 2001, 47. 175) Würde man – wie die ältere Rsp des VfGH – nur solche Regelungen als intentional qualifizieren, die gezielt und ausschließlich in die Wissenschaftsfreiheit eingreifen („um ... zu behindern“), dann enthielte auch § 9 FMedG keinen „intentionalen“ Eingriff. Gegen dieses Verständnis spricht aber, dass Maßnahmen, deren einziges Ziel die Grundrechtsbeschränkung ist, ohnehin willkürlich wären (vgl Pöschl/Kahl, ÖJZ 2001, 49). Auch der VfGH hat etwa in VfSlg 11.737/1988 das Erfordernis einer Arbeitsbewilligung für Opernsänger als nicht intentionalen Eingriff in die Kunstfreiheit gedeutet, weil die Beschränkung der Kunstfreiheit nicht das Ergebnis einer entsprechenden spezifischen Zielsetzung des Gesetzgebers, sondern lediglich eine reflexartige Nebenwirkung der Norm war (zum Ganzen Pöschl/Kahl, ÖJZ 2001, 51). Auf § 9 FMedG übertragen schlägt diese Unterscheidung zwischen „spezifisch intendierten“ Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 55 Die Rechtfertigung derartiger intentionaler Eingriffe – und nicht die Zulassung der Embryonenforschung – bedürfte somit einer spezifisch verfassungsrechtlichen Begründung:177) Diese ist in der humanmedizinischen Forschung ohne weiteres möglich, weil die Wissenschaftsfreiheit hier durch die Grundrechte der Patienten limitiert ist. Da jedoch ein auch nur annähernd vergleichbarer verfassungsrechtlicher Schutz in der frühen Embryonalphase nicht begründbar ist, tendiert die verfassungsrechtliche Perspektive eher zu einer begrenzten Zulassung als zu einem völligen Verbot derartiger Techniken. Die Tendenz, Forschung auf den bloßen Verdacht hin zu unterbinden, dass sie in Zukunft möglicherweise unerwünschte Auswirkungen haben oder auf ethische Bedenken stoßen könnte, ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen,178) zumal auch die möglichen Forschungsziele der Embryonenforschung ihrerseits eine gewisse grundrechtliche Legitimation unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes für sich beanspruchen können (unten E). E. Schutzpflichten zugunsten der Gesundheitsvorsorge Verfassungsrechtliche Argumente für die Zulassung der Embryonenforschung könnten sich schließlich auch aus staatlichen Schutzpflichten zugunsten neuer Therapieverfahren ergeben, die möglicherweise einmal aus embryonalen Stammzellen entwickelt werden. Wenngleich ein verfassungsrechtliches Individualrecht auf „Gesundheit“ nicht besteht,179) lassen sich Schutzpflichten Eingriffen bzw „reflexartigen“ Begleitwirkungen eher zugunsten eines intentionalen Eingriffs aus. 176) Auch für § 9 FMedG trifft daher die (auf das deutsche Embryonenschutzgesetz) gemünzte Formulierung von Kirschfeld zu, es handle sich in Wahrheit um eine Regelung „zur Verhinderung von Forschung und Diagnostik an Embryonen“: Kirschfeld, Wann beginnt der Mensch, ein Mensch zu sein? SZ Nr 265 v 17./18. 11. 2001 (SZ am Wochenende II). 177) Ipsen, JZ 2001, 996. 178) Gegen die vorschnelle Deduktion forschungsfeindlicher rechtlicher Verbote aus ethischen Prämissen überzeugend Ipsen, JZ 2001, 995 f; vgl auch Taupitz, NJW 2001, 3436; Kuhlmann, Politik des Lebens 92. Auch die Forderung, die Embryonenforschung vom Nachweis der „Hochrangigkeit“ der Forschungsziele abhängig zu machen (mwN bei Kuhlmann, Politik des Lebens 84), ist zumindest aus der Sicht des Art 17 StGG bedenklich: Denn soweit der Forschung – wie bei der Forschung an Embryonen in vitro – keine verfassungsrechtlichen Schranken entgegen stehen, kommt dies wegen der Vorgabe bestimmter Forschungsrichtungen einem unzulässigen intentionalen Eingriff gleich. Und wenn es einen verfassungsrechtlichen Embryonenschutz aus dem Grundrecht auf Leben bzw einem Grundsatz der Menschenwürde gäbe, wären diese Verfassungsrechtsgüter wegen ihres rigiden und abwägungsfeindlichen Schutzes einer substanzvernichtenden Preisgabe zugunsten Forschungsinteressen völlig entzogen: Ein Verfassungsanspruch auf Wahrung der Würde ist einer Relativierung durch kollidierende Rechtsgüter nicht zugänglich: Isensee, FS Hollerbach (2001) 253. 179) Öhlinger, Ein Menschenrecht auf Gesundheit? FS Schwarz (1991) 767 ff; vorsichtig bejahend Funk, JRP 1994, 72 ff; Holoubek, Gewährleistungspflichten 245 f (dort auch zur – allerdings verneinten – Frage einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht zugunsten künftiger Generationen). 56 Christian Kopetzki zugunsten einer Gewährleistung oder zumindest der Nichtverhinderung des Zugangs zu sozialen und therapeutischen Leistungen jedenfalls im Prinzip aus Art 2 und 8 EMRK begründen.180) Den Staaten wird hierbei allerdings ein sehr weiter Beurteilungsspielraum zugestanden, ob, wie weit und mit welchen rechtstechnischen Mitteln sie diesen Schutz ausgestalten möchten. Vor dem Hintergrund der derzeitig noch bestehenden Unsicherheiten über die Bewertung von Techniken wie dem therapeutischen Klonen wäre daher jede Aussage darüber, welche staatlichen Maßnahmen geboten sind, verfrüht. Sobald allerdings konkrete und nicht auf andere Weise erzielbare Heilungschancen durch den Einsatz embryonaler Stammzellen realistisch zu erwarten sind, wäre jedes Verbot, das dem Einzelnen den Zugang zu dieser Methode verwehrt, als Eingriff in Art 8 Abs 1 EMRK anzusehen und bedürfte einer Rechtfertigung im Lichte der Eingriffsziele des Art 8 Abs 2 EMRK.181) Gegen ein absolutes Verbot der Gewinnung und Verwendung embryonaler Stammzellen bestünden dann erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, die nur durch den Nachweis entkräftet werden könnten, dass ein solches Verbot zum Schutz der „Moral“ – im Sinne eines gesellschaftlichen Mindestkonsenses – unbedingt erforderlich im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK wäre. III. Völkerrechtliche Aspekte: Die Biomedizinkonvention des Europarates Während sich internationale Regelungen für die Biomedizin im Allgemeinen und die Biotechnologie im Besonderen bisher meist – wenn überhaupt – auf Empfehlungen und Deklarationen beschränkten, denen eine verbindliche normative Kraft fehlt,182) liegt mit der Biomedizinkonvention des 180) MwN Berka, Grundrechte Rz 375; Funk, JRP 1994, 73; Kopetzki, Unterbringungsrecht I 420; Wildhaber/Breitenmoser, in: Golsong ua (Hrsg), Internationaler Kommentar zur EMRK (1986 ff, 2. Lieferung 1992) Art 8 EMRK Rz 258 f. Das gilt insb gegenüber kranken und behinderten Menschen: vgl Funk, Menschenrechte – behinderte Menschen – Österreichische Bundesverfassung, in: Fetka-Einsiedler/Förster (Hrsg), Diskriminiert? Zur Situation der Behinderten in unserer Gesellschaft (1994) 63 (70 ff). 181) Zur Qualifikation des Einsatzes bestimmter (hier: reproduktionsmedizinischer) Behandlungsmethoden als Eingriff in Art 8 Abs 1 EMRK vgl VfSlg 15.632/1999 = RdM 2000/1; dazu kritisch zB Novak in: Bernat (Hrsg), Reproduktionsmedizin 62 ff. 182) Vgl etwa die vielfältigen Resolutionen und Empfehlungen des Europarates oder privater Vereinigungen wie des Weltärztebundes. Beispiele für verbindliche Regelungen finden sich hingegen im europäischen Gemeinschaftsrecht: vgl zB RL 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl L 213/13 vom 30. 7. 1998; RL 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl L 121/34 vom 1. 5. 2001. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 57 Europarates183) und dem (ersten) Zusatzprotokoll zum Verbot des Klonens von Menschen184) ein völkerrechtlich verbindliches Regelwerk für zwar nicht alle, aber doch zentrale Bereiche der Medizin vor. Obgleich Österreich diese Konvention bisher weder unterzeichnet noch ratifiziert hat, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welche völkerrechtlichen – und im Fall einer Transformation im Verfassungsrang:185) welche verfassungsrechtlichen – Bindungen ein österreichischer Beitritt für den Bereich des Embryonenschutzes und des therapeutischen Klonens nach sich ziehen würde: A. Allgemeines Die Ratifikation der MRB im Verfassungsrang würde einen neuartigen Katalog von verfassungsgesetzlich gewährleisteten (Grund)Rechten schaffen, die in ihrer Konkretisierungsdichte weit über den allgemein gehaltenen und nicht medizinspezifischen Schutzbereich der Rechte der EMRK hinaus ginge. Da sich der Regelungswille der MRB ganz offenkundig nicht auf die Staatsrichtung beschränkt, sondern auf jegliche Anwendung der Biomedizin in der Gesellschaft abzielt, muss – auch wenn man eine Drittwirkung der MRB im Verhältnis zwischen Privaten eher skeptisch beurteilt186) – jedenfalls eine umfassende staatliche Schutzpflicht zur Umsetzung der Konvention inter privatos angenommen werden:187) Die Vertragsstaaten sind zur effektiven Implementierung (Art 1 Abs 2 MRB) sowie zur Gewährleistung eines geeigneten Rechtsschutzes gegen Verletzungen der in der Konvention verankerten Rechte und Grundsätze (Art 23 MRB) verhalten. Es spricht daher nichts dagegen, den Maßstab der einzelnen Konventionsbestimmungen auch an privates Verhalten (zB eines forschenden Unternehmens) anzulegen, wenngleich die unmittelbare 183) Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine (European Treaty Series Nr 164); abgedruckt samt Erläuterndem Bericht in HRLJ 1997, 135. Die Konvention ist am 1. 12. 1999 völkerrechtlich in Kraft getreten. Derzeit haben 30 Staaten unterzeichnet, davon 11 ratifiziert. 184) Additional Protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine, on the Prohibition of Cloning of Human Beings (European Treaty Series Nr 168). Das Zusatzprotokoll ist am 1. 3. 2001 völkerrechtlich in Kraft getreten. 185) Für eine Ratifikation auf Verfassungsstufe iSd Art 50 Abs 3 B-VG spricht, dass die Konvention als Fortentwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention konzipiert ist und es sich daher – materiell gesehen – um einen „verfassungsergänzenden“ Staatsvertrag handelt. 186) Gegen eine Drittwirkung der Konventionsrechte spricht, dass sich die verpflichtende Wirkung gem Art 1 MRB ausschließlich an die Vertragsstaaten richtet. Aus der weithin nichtstaatlichen Zuordnung der normierten Sachverhalte folgt nicht zwingend ein Wechsel des Grundrechtsadressaten. 187) Anderenfalls hätten die Rechte der Konvention kaum einen Anwendungsbereich mehr, da sich die erfassten Sachverhalte – nämlich die Ausübung der Medizin – ganz überwiegend im nichtstaatlichen Bereich abspielen. 58 Christian Kopetzki rechtliche Bindung Privater erst durch Dazwischentreten eines – die staatliche Schutzpflicht umsetzenden – Gesetzes entstehen kann.188) Eine der Auswirkungen eines Beitritts könnte darin gesehen werden, dass durch eine Transformation der MRB – abgesehen von inhaltlichen Konflikten zwischen einzelnen Rechten der MRB und dem österreichischen Recht189) – ein Anpassungsdruck zur Schaffung präziserer und unmittelbar anwendbarer Regelungen insb dort entsteht, wo Österreich – in Anwendung des Art 26 Abs 1 MRB oder eines vergleichbaren Gesetzvorbehalts in anderen Bestimmungen – Beschränkungen einzelner Konventionsrechte vorsehen möchte. Legt man nämlich die Rechtsprechung zu den Gesetzesvorbehalten der EMRK (zB Art 8 Abs 2 EMRK) zugrunde, was wegen der systematischen Ähnlichkeit des Art 26 Abs 1 MRB nahe liegt, so bedürfte es hiefür hinreichend genauer und vorhersehbarer generell-abstrakter Normen. Zu deren Schaffung ist in Österreich aber grundsätzlich der parlamentarische Gesetzgeber und nicht das case law der Gerichte zuständig.190) Es wäre demnach nicht konventionskonform, beispielsweise eine Ausnahme vom Einsichtsrecht in die Krankengeschichte (vgl Art 10 Abs 3 MRB) oder die fremdnützige Knochenmarksspende zwischen Minderjährigen (vgl Art 20 Abs 2 MRB) ausschließlich auf das Schrifttum, auf einzelfallbezogene Gerichtsentscheidungen, behördliche Erlässe oder gar auf eine „ständige Praxis“ zu gründen. Auf diesen Aspekt wird im Zusammenhang mit der Beurteilung des „therapeutischen Klonens“ noch näher zurückzukommen sein. Schon an dieser Stelle ist aber festzuhalten, dass dieser Befund – in Abhängigkeit von der gewählten Transformationstechnik – möglicherweise zu einer „Sperrwirkung“ einzelner Konventionsrechte führen kann: Sollte sich nämlich – entgegen der hier vertretenen Auffassung – der Standpunkt durchsetzen, dass die Garantien der MRB auf eine unmittelbare Drittwirkung angelegt sind, so bedürften nach einer generellen Transformation ins innerstaatliche Recht all jene von einem Verbotstatbestand erfassten Verhaltensweisen, die bisher nur deshalb zulässig sind, weil es an einer verbietenden Vorschrift fehlt, künftig einer expliziten gesetzlichen Erlaubnis: Dies namentlich dann, wenn der betreffende Sachverhalt vom Schutzbereich eines der Konventionsrechte erfasst ist und zur Begründung seiner Zulässigkeit auf eine – den Gesetzesvorbehalt des Art 26 MRB ausschöpfende – gesetzliche Regelung angewiesen wäre. Die Konsequenz wäre, dass sich im Schutzbereich einer MRB188) Bei einer generellen Transformation auf einfachgesetzlicher Stufe könnte sich aber möglicherweise auch die Auffassung durchsetzen, dass jedenfalls die von ihrem Inhalt her unmittelbar anwendbaren Regelungen der Konvention dann eine direkte Wirksamkeit zwischen Privaten entfalten. Hier eröffnen sich in der Zukunft mannigfaltige Fragen, die an die Anfangsphase der Implementierung der Europäischen Menschenrechtskonvention erinnern. 189) Dazu ausführlich Kopetzki, Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin und das österreichische Recht, in: Taupitz (Hrsg), Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regelung? (2001) (im Druck). 190) Nachweise bei Kopetzki, Unterbringungsrecht I 278 ff. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 59 Bestimmung das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip umkehren würde:191) Die Erlaubnis eines bestimmten Verhaltens wäre nicht mehr Folge mangelnder Regelung, sondern bedürfte der gesetzlichen Zulassung. Das gilt in abgeschwächter Weise auch dann, wenn man eine unmittelbare Drittwirkung verneint: Bei dieser Deutung würden sich aus der MRB zwar keine drittwirkenden Verbote ergeben; die Vertragsstaaten wären aber ebenso verhalten, Durchbrechungen einzelner Konventionsrechte im Sinne des Art 26 MRB gesetzlich abzusichern, wenn sie die Erlaubtheit des Verhaltens in konventionskonformer Weise aufrecht erhalten wollen. B. Biomedizinkonvention, Embryonenforschung und therapeutisches Klonen Die MRB enthält eine Reihe von Bestimmungen, die für die Biotechnologie von Relevanz sein können. Genannt seien etwa die Regelungen über den Schutz von Personen, die in biomedizinische Forschungsvorhaben einbezogen werden (Art 16 f), über die Verwendung und Kommerzialisierung von Körpersubstanzen (Art 20 f) oder über prädiktive Gentests (Art 12). Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Für den Problemkreis des „therapeutischen Klonens“ sind vor allem die Art 13 und 18 MRB sowie das erste Zusatzprotokoll zum Klonen eine nähere Prüfung wert: 1. Art 13 MRB – Interventionen ins menschliche Genom Gem Art 13 MRB darf eine Intervention, die auf die Veränderung des menschlichen Genoms gerichtet ist, nur zu präventiven, diagnostischen oder therapeutischen Zwecken und nur dann vorgenommen werden, wenn sie nicht darauf abzielt, eine Veränderung des Genoms von Nachkommen herbeizuführen. Wäre die Technik des „therapeutischen Klonens“ mit einer intentionalen „Veränderung des Genoms von Nachkommen“ verbunden, so wäre sie gem Art 13 MRB verboten. Dieses Verbot könnte auch gem Art 26 MRB nicht durchbrochen werden, da Art 13 zu den eingriffsfesten Bestimmungen iSd Art 26 Abs 2 zählt. Im Schrifttum wurde mitunter die Auffassung vertreten, dass bereits die Entfernung des Zellkerns aus einer menschlichen Eizelle als (iSd Art 13) verpönter „Keimbahneingriff“ zu qualifizieren ist, da es sich um eine Manipulation am menschlichen Genom handle.192) Auch könnte die Frage aufgeworfen 191) Zu dieser Abkehr neuerer Grundrechtstexte vom liberalen Abwehrrechtsdenken – am Beispiel der EU-Grundrechtecharta – Schmitz, JZ 2001, 840. 192) In diesem Sinn – zum reproduktiven Klonen – Winter, The Cornerstones for a Prohibition of Cloning Human Beings laid down in the European Convention on Human Rights and Biomedecine, EJHL 1997, 189 (191): Danach ändere der Kerntransfer in entkernte Oozyten den Großteil der genetischen Information und sei daher eine „modification of the genome of any descendants“ iSd Art 13 MRB. Ebenso ders, Europäisches Protokoll zum Verbot des Klonens menschlicher Lebewesen, in: Winter/ Fenger/ Schreiber (Hrsg), Genmedizin und Recht (2001) 79 (82). 60 Christian Kopetzki werden, ob nicht das Austauschen des Eizellkerns gegen einen somatischen Zellkern einen Keimbahneingriff darstellt: Dabei wird zwar nicht qualitativ – im Sinne einer gezielten inhaltlichen Modifikation des Genoms – in die Keimbahn eingegriffen; den kompletten Austausch des einen Kerngenoms gegen ein anderes könnte man aber möglicherweise ebenso als „Veränderung des Genoms“ deuten, zumal wegen der in der Eizelle verbleibenden mitochondrialen DNA gar nicht das gesamte genetische Material ersetzt wird. Gegen eine Subsumtion des therapeutischen Klonens unter Art 13 MRB spricht allerdings, dass – träfe sie zu – dann bereits Art 13 MRB die Grundlage eines Verbots sowohl des therapeutischen als auch des reproduktiven Klonens mittels Kerntransfer darstellen würde. Das Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens wäre bei dieser Auslegung überflüssig. So gesehen liegt es näher, den Begriff der „Veränderung des Genoms“ nur auf gezielte qualitative Manipulationen der genetischen Information, nicht hingegen auf den Wechsel des (insofern unveränderten) Kerngenoms193) zu beziehen. Der Text des Art 13 bringt dieses Intentionalitätskriterium auch hinreichend zum Ausdruck (arg „auf die Veränderung ... gerichtet ist“).194) Auch ein – durch Art 13 MRB verbotener – Keimbahneingriff, also eine Veränderung des Genoms von „Nachkommen“ („descendants“), findet beim therapeutischen Klonen nicht statt: Eine genetische Manipulation an Keimzellen, die außerhalb jedes Fortpflanzungszwecks stattfindet und bei der eine Fortpflanzung gar nicht intendiert ist, betrifft keine „Nachkommen“, weil sich dieser Begriff nur auf Geborene, nicht jedoch auf Keimzellen oder Embryonalzellen beziehen lässt.195) In diesem Sinn wird auch im Erläuternden Bericht hervorgehoben, dass genetische Veränderungen an Keimzellen in vitro unbeschadet des Art 13 MRB grundsätzlich zulässig bleiben sollen.196) Das Verbot des Art 13 MRB ist somit auf den Kerntransfer zum Zweck der Erzeugung embryonaler Stammzellen in vitro zu therapeutischen Zwecken nicht anwendbar. 193) Taupitz, NJW 2001, 3439. In diesem Sinn definiert auch Art 1 Abs 2 des ZP über das Verbot des Klonens ein „genetisch identisches“ Lebewesen als solches, das mit einem anderen Lebewesen „dasselbe Kerngenom gemeinsam hat“. Differenzen hinsichtlich der mitochondrialen DNA (bei identischem Kerngenom) werden im Kontext der MRB also offenbar nicht als „Veränderung“ des Genoms qualifiziert. 194) Unbestritten ist dies freilich nicht: Für eine Ableitung des Klonverbotes aus Art 13 MRB zB die Parlamentarische Versammlung des Europarates, Opinion Nr 202/1997: „Thus, this article implicitly forbids cloning of human beings“. 195) Taupitz, NJW 2001, 3439; Iliadou, Forschungsfreiheit 217. 196) Vgl Z 91 des Erläuternden Berichts: „Medical research aiming to introduce genetic modifications in spermatozoa or ova which are not for procreation is only permissible if carried out in vitro with the approval of the appropriate ethical or regulatory body“. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 61 2. Art 18 MRB: Embryonenforschung und Verbot der Erzeugung von Embryonen für Forschungszwecke a) Allgemeines Gem Art 18 Abs 1 MRB hat die Rechtsordnung einen angemessenen Schutz des Embryos zu gewährleisten, sofern sie Forschungen an Embryonen in vitro zulässt. Die Erzeugung vom Embryonen zu Forschungszwecken ist hingegen gem Art 18 Abs 2 MRB unzulässig. Lässt man einmal die Frage beiseite, was man sich unter einem „angemessenen Schutz“ bei der Embryonenforschung vorstellen soll, so ergeben sich aus Art 18 MRB zunächst zwei klare Aussagen: Zum ersten ist die Forschung an Embryonen nicht untersagt,197) wenngleich gute Gründe dafür sprechen, dass jede „verbrauchende“ – mit der Zerstörung des Embryos einhergehende – Forschung dem Schutzversprechen des Art 18 Abs 1 MRB zuwider läuft.198) Und zum zweiten verbietet Art 18 Abs 2 zwar die Erzeugung von Embryonen in vitro zu Forschungszwecken, nicht hingegen die Verwendung oder Erzeugung zu therapeutischen Zwecken,199) wie dies etwa bei der Stammzellgewinnung zur Gewebszüchtung der Fall wäre. Dennoch wird man aus Art 18 Abs 2 MRB dann und insofern ein mittelbares Verbot des therapeutischen Klonens ableiten müssen, als die Technik des Kerntransfers und die Entwicklung künftiger Therapiemethoden wohl nur über den Umweg der Forschung – und somit unter Inkaufnahme der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken – erreicht werden kann. Fraglich könnte allenfalls sein, ob der Begriff „Embryonen“ iSd Art 18 MRB neben den – zweifelsfrei erfassten – befruchteten Embryonen in vitro200) auch die durch Kerntransfer erzeugten totipotenten („entwicklungsfähigen“) Zellen einschließt, und zwar auch dann, wenn damit weder eine Entwicklung 197) Rudolff-Schäffer, Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarats vom 4. April 1997, in: Winter/Fenger/Schreiber (Hrsg), Genmedizin und Recht (2001) 63 (76). 198) So zB Mathieu, REDP 13 (2001) 704. Auch dies ist nicht unbestritten: vgl Bentert, Embryonenforschung, in: Korff ua (Hrsg), Lexikon der Bioethik I (1998) 560; Voss, Keimbahntherapie 181, wonach bereits die Beschränkung der Forschung auf einen Zeitraum bis 14 Tage nach der Befruchtung einen „angemessenen Schutz“ darstellen könnte. 199) Gabolde/Hors, Médecine & Droit 44 (2000) 3; Schulz, ZRP 2001, 527; anders Bubnoff, Schwerpunkte strafrechtlicher Harmonisierung in Europa unter Berücksichtigung der Orientierungsvorgaben aus der Grundrechtscharta 2000, ZeuS 2001, 165, wonach Art 18 MRB „jede fremdnützige künstliche Befruchtung einer menschlichen Eizelle“ verbiete. 200) Sowohl die Überschrift zu Art 18 (arg Embryonen „in vitro“) als auch die Entstehungsgeschichte zeigen, dass unter dem Begriff „Embryo“ auch sehr frühe Entwicklungsstadien umfasst werden sollten. Versuche, den Schutzbeginn erst ab dem 14. Tag anzusetzen, konnten sich nicht durchsetzen: vgl Steering Committee on Bioethics (CDBI), Preparatory Work on the Convention, CDBI/INF (2000) 1, 82 ff; Busnelli, Vor der Geburt, quid iuris, FS Deutsch (1999) 495 (498); Iliadou, Forschungsfreiheit 217 f. 62 Christian Kopetzki zu einer Schwangerschaft in Gang gesetzt wird noch eine solche Entwicklung überhaupt beabsichtigt ist. Dies lässt sich bejahen, wenn man das entscheidende Merkmal eines „Embryos“ bereits in der Möglichkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln – also in seiner theoretischen „Potenzialität“ – erblickt, unabhängig von der dahinter stehenden Intention, der Wahrscheinlichkeit und den dafür notwendigen Zusatzprämissen (wie etwa der Implantation). Mitunter wurde allerdings auch vorgeschlagen, entwicklungsfähige Zellen, die nicht durch Befruchtung entstanden sind und die außerhalb jedes teleologischen Kontextes zur menschlichen Reproduktion stehen, von vornherein nicht dem Begriff des „Embryos“ zuzuordnen.201) Lehnt man eine solche Auslegung hingegen als semantischen Taschenspielertrick ab, dann stünde das therapeutische Klonen durch Kerntransfer zumindest insofern im Konflikt mit Art 18 MRB, als es dabei im Vorstadium der Entwicklung anwendungsfähiger therapeutischer Verfahren zwangsläufig zu Forschungseingriffen an eigens zu diesem Zweck erzeugten Embryonen kommt. b) Gesetzesvorbehalt Die Frage der Zulässigkeit solcher Manipulationen mit Embryonen bzw ihrer Erzeugung zu Forschungszwecken ist damit allerdings noch nicht abschließend beantwortet, weil Art 18 MRB nicht absolut gewährleistet ist. Da Art 18 MRB von einer Anwendung des Gesetzesvorbehalts gem Art 26 Abs 2 nicht ausgeschlossen wird,202) können auch die Garantien des Art 18 Abs 2 durch innerstaatliche Gesetze eingeschränkt werden, sofern dies zB zum Schutz der öffentlichen Gesundheit notwendig ist.203) Hier zeigt sich die schon erwähnte rechtsstaatliche Tragweite dieses Gesetzesvorbehalts: Während das „therapeutische Klonen“ bzw die Erzeugung vom Embryonen durch Kerntransfer zum Zweck der Stammzellgewinnung nach derzeitiger Rechtslage als zulässig anzusehen ist,204) dürfte dieser Freiraum – da es sich um eine Durchbrechung des allgemeinen Verbots des Art 18 handelt – nach einem Beitritt zur MRB nur mehr nach Maßgabe besonderer Gesetze iSd Art 26 MRB aufrecht- 201) Vgl in diese Richtung wohl Koch, Zum Status des Embryos in vitro aus rechtlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Moser/Peter (Hrsg), 1. Österreichische Bioethik-Konferenz (Report) (2001) 52 (58) Vgl auch Taupitz, NJW 2001, 3439. 202) Der Vorschlag, auch Art 18 in die Liste der eingriffsfesten Artikel des Art 26 Abs 2 MRB aufzunehmen, fand im CDBI keine Mehrheit: vgl Steering Committee on Bioethics (CDBI), Preparatory Work on the Convention, CDBI/INF (2000) 1, 112. 203) Dass – wie mitunter gesagt wird – die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken durch Art 18 MRB kategorisch verboten sei, trifft also nicht zu. Allerdings wird die „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ iSd Art 26 Abs 1 MRB ähnlich streng auszulegen sein wie in den Gesetzesvorbehalten der EMRK; es bedarf also des Nachweises eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“ (mwN Wildhaber/Breitenmoser, in: Golsong ua [Hrsg], Internationaler Kommentar zur EMRK [1986 ff, 2. Lieferung 1992] Art 8 EMRK Rz 711 ff), das vor dem Hintergrund der Rechtslage in den übrigen Europaratsstaaten zu beurteilen ist. 204) Vgl FN 2. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 63 erhalten werden, die überdies den strengen materiellen Kriterien des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts zu entsprechen hätten. Im Fall einer Ratifikation der Biomedizinkonvention im Verfassungsrang durch Österreich würde sich übrigens die – angesichts des ebenso unberechtigten wie verbreiteten Misstrauens gegenüber der Konvention205) – beinahe paradoxe Situation ergeben, dass der Beitritt zu einer Stärkung des innerstaatlichen Embryonenschutzes führen würde: Denn auf der einen Seite wäre Österreich trotz des in Art 18 nur rudimentär ausgeprägten Schutzes nicht gehindert, ein weitergehendes Schutzniveau aufrechtzuerhalten oder einzuführen (Art 27 MRB); der Beitritt könnte also rechtlich nie zu einer Verschlechterung des Embryonenschutzes führen. Auf der anderen Seite würde ein im Verfassungsrang stehender Art 18 MRB aber genau jenen (wenngleich spärlichen) Ansatz zu einem Verfassungsauftrag zugunsten des Embryonenschutzes in das österreichische Recht einführen, den die geltende Bundesverfassung gerade nicht enthält. 3. Erstes Zusatzprotokoll zur MRB: Verbot des Klonens Gem Art 1 des – von Österreich ebenfalls nicht ratifizierten – 1. Zusatzprotokolls zur Biomedizinkonvention ist jede Intervention verboten, die darauf gerichtet ist, „ein menschliches Lebewesen zu erzeugen, das mit einem anderen lebenden oder toten menschlichen Lebewesen genetisch identisch ist“. Der Ausdruck „menschliches Lebewesen, das mit einem anderen menschlichen Lebewesen ‚genetisch identisch‘ ist, bedeutet gem Art 1 Abs 2 des 1. ZPMRB ein menschliches Lebewesen, das mit einem anderen menschlichen Lebewesen dasselbe Kerngenom gemeinsam hat. Art 1 des 1. ZPMRB beinhaltet jedenfalls ein Verbot des „reproduktiven“ Klonens. Ob auch die Herstellung von Embryonen durch Kerntransfer aus adulten Zellen zur Gewinnung genetisch (weitgehend) identer embryonaler Stammzellen ausgeschlossen werden sollte, ist nach dem Text nicht ganz eindeutig und hängt davon ab, was man unter einem „menschlichen Lebewesen“ 205) Vgl etwa die gegen einen Beitritt gerichtete Entschließung des Tiroler Landtages vom 7. 5. 1998. Ähnlich negative politische Signale liegen aus Kärnten, der Steiermark und Salzburg vor. Vgl weiters die parlamentarischen Entschließungsanträge der Grünen 551/A (E) 20. GP betreffend Nicht-Ratifizierung der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin; 303/UEA 20. GP betreffend die Einbeziehung des Nationalrates vor der Ratifizierung der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin; 554/A (E) 20. GP betreffend Überprüfung der Verfassungskonformität der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin. Zur rechtspolitischen Diskussion eines österreichischen Beitritts mwN Baumgartner, Convention on Human Rights and Biomedicine, BUKO INFO 4/97, 16; Schwimmer, Die Biomedizin-Konvention des Europarates, BUKO INFO 1/1998, 17; Körtner, Die ethische Dimension der Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin, RdM 1998, 106; Kopetzki, Rechtspolitik der Zukunft – Medizinrecht, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg), Rechtspolitik der Zukunft – Zukunft der Rechtspolitik. Texte zur Rechtspolitik 3 (1999) 221 (270 ff); ders, Strittiges Konsenspapier. Der rechtsstaatliche Gewinn durch die Ratifizierung der Biomedizinkonvention des Europarates überwiegt ihre Mängel, Die Furche Nr 45 v 8. 11. 2001, 19. 64 Christian Kopetzki („human being“) versteht. Bezieht man den Begriff „human being“ auch auf das frühe Embryonalstadium, dann wäre das „therapeutische Klonen“ völkerrechtlich verboten, wobei dieses Verbot – anders als Art 18 MRB – auch nicht durchbrochen werden dürfte, weil das Zusatzprotokoll keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Der Erläuternde Bericht deutet allerdings darauf hin, dass man den Begriff „human being“ an seinen „Rändern“ nicht exakt festlegen, sondern der Konkretisierung durch die einzelnen Vertragsstaaten überlassen wollte.206) Auch der Umstand, dass der Embryonenschutz und die Verwendung embryonaler Zellen zu anderen als zu Fortpflanzungszwecken Regelungsgegenstand eines weiteren Zusatzprotokolls werden soll,207) lässt den Schluss zu, dass das Klonen von Embryonalzellen für andere Zwecke als jene der Fortpflanzung nicht in den Anwendungsbereich des Zusatzprotokolls fällt.208) Zusammenfassend kann man daher festhalten, dass weder auf der Ebene des Europarates209) noch in anderen internationalen Normen210) ein absolutes völkerrechtliches Verbot des therapeutischen Klonens besteht. Die im Vorfeld der therapeutischen Verwendung erforderliche Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken bedürfte allerdings einer dem Gesetzesvorbehalt des Art 26 MRB entsprechenden innerstaatlichen Regelung. 206) Explanatory Report to the Protocol, DIR/JUR (98) 7, Z 6: „... it was decided to leave it to domestic law to define the scope of the expression ‚human being‘ for the purposes of the application of the present Protocol“; dazu auch Schulz, ZRP 2001, 527; Voss, Keimbahntherapie180 f. Wie wenig aussagekräftig der Begriff „human being“ für die Frage des Beginns des grundrechtlichen Lebensschutzes ist, zeigt etwa auch die Verwendung in Art 6 IPBPR, wo mit „human being“ nur das geborene Leben gemeint ist (vgl Schwelb, RDH 1975, 515, sowie oben bei FN 77). 207) Explanatory Report to the Protocol, DIR/JUR (98) 7, Z 2; Schulz, ZRP 2001, 527. 208) Gabolde/Hors, Médecine & Droit 44 (2000) 3; Deloffre-Vye, Le droit pénal des lois de bioéthique, Révue générale de droit médical 2001/5, 91 (120); Düwell, Ethische Überlegungen anlässlich der „Konvention für Menschenrechte und Biomedizin“ des Europarates und der „Allgemeinen Erklärung zum menschlichen Genom und den Menschenrechten“ der UNESCO, in: Bender/Gassen/Platzer/Seehaus (Hrsg), Eingriffe in die menschliche Keimbahn (2000) 83 (88); anders wohl Augustin, ZSR 2001, 176 FN 52, wonach das ZP jede Art des Klonens verbiete. Auch das Europäische Parlament, Entschließung 7. 9. 2000, lehnte eine Unterscheidung zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen ab und verurteilte beide als Verstoß gegen die Politik der EU (EuGRZ 2000, 495). Dass hier nichts desto weniger Unsicherheiten verbleiben dürften, zeigt freilich die anlässlich der Unterzeichnung des ZP vorsichtshalber abgegebene interpretative Erklärung der Niederlande, wonach der Begriff „human being“ nur auf Geborene bezogen werde: Vgl die interpretative Erklärung vom 29. 4. 1998: „In relation to Article 1 of the Protocol, the Government of the Kingdom of the Netherlands declares that it interprets the term „human being“ as referring exclusively to a human individual, i.e. a human being who has been born“. 209) Gabolde/Hors, Médecine & Droit 44 (2000) 3. 210) Auch die – rechtlich unverbindliche – Allgemeine Erklärung des UNESCO über das menschliche Genom und Menschenrechte vom 11. 11. 1997 verbietet in ihrem Art 11 lediglich das reproduktive Klonen. Grundrechtliche Aspekte des therapeutischen Klonens 65 4. Exkurs: Art 3 EU-Charta Nichts anderes gilt für die (rechtlich noch unverbindliche) Grundrechtscharta der Europäischen Union,211) die in ihrem Art 3 nur das reproduktive Klonen ausschließt. Mit dieser ausdrücklichen Bezugnahme auf das „reproduktive“ Klonen wird einer interpretativen Ausweitung auf das „therapeutische“ Klonen der Boden entzogen. 212) Bei der Würdigung der Rechtsfolgen aus der EU-Charta ist überdies zu beachten, dass die Charta – selbst bei Aufnahme ins Primärrecht – mangels einer einschlägigen Gemeinschaftskompetenz keinen allgemeinen Grundrechtskatalog der Union und ihrer Mitgliedstaaten darstellt: Denn gem Art 51 Abs 1 gilt die Charta nur für die Organe und Einrichtungen der Union sowie für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der „Durchführung des Rechts der Union“; ihr inhaltlicher Geltungsanspruch ist also begrenzt.213) Eine unmittelbare grundrechtliche Drittwirkung, die etwa Privaten das reproduktive Klonen verbieten würde, kann vor diesem Hintergrund wohl nicht angenommen werden,214) wenngleich einige der medizinspezifischen Artikel der Charta weniger auf die Schaffung subjektiver Rechte als auf die Normierung umfassender „drittwirkender“ Verbote abzielen dürften.215) Ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen eine solche Bestimmung für die staatliche Forschung bzw über den Umweg staatlicher Schutzpflichten für den privaten Wissenschaftsbereich haben würde, muss derzeit als weitgehend offen bezeichnet werden. Die Antwort hängt maßgeblich davon ab, welche Intensität der in Art 51 geforderte Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen muss und ob es dafür bereits genügt, dass die verpönte Tätigkeit (hier: des Klonens) in Ausübung einer Grundfreiheit (zB der Dienstleistungsfreiheit) erfolgt.216) IV. Fazit Die verfassungs- und völkerrechtlichen Determinanten, die den Spielraum bei der künftigen Rechtspolitik hinsichtlich der Gewinnung und Verwendung embryonaler Stammzellen bzw des „therapeutischen Klonens“ begrenzen, sind also recht dünn und, sofern überhaupt begründbar, eher „forschungs- und the211) ABl C 364/1 vom 18. 12. 2000. Für weiterführende europarechtliche Aspekte der Embryonenforschung vgl Iliadou, Forschungsfreiheit 226 ff. 212) Dujmovits, Die EU-Grundrechtscharta und das Medizinrecht, RdM 2001, 72 (77). 213) Vgl statt vieler Schmitz, Die EU-Grundrechtscharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, 833 (835). 214) Dujmovits, RdM 2001, 81 mwN. 215) Schmitz, JZ 2001, 840. 216) Dazu Dujmovits, RdM 2001, 82 f. Grundsätzlich und mwN Öhlinger, Die Europäische Grundrechtscharta und ihr Verhältnis zur Bundesverfassung, in: Duschanek/ Griller (Hrsg), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza (2002) 225 (229 f). 66 Christian Kopetzki rapiefreundlich“. Insofern gilt für den Umgang mit embryonalen Stammzellen heute nichts anderes als für manche – ethisch ebenfalls sensible – biotechnologische Themenfelder der jüngeren Vergangenheit wie etwa die Reproduktionsmedizin oder die Gentechnik, bei denen sich die Grundrechte ebenfalls „als wenig aussagekräftig“217) erwiesen haben. Auch hier schützen die Grundrechte „eher die Entwicklung neuer Technologien, als dass sie den Gesetzgeber dazu verpflichten, Schutzvorkehrungen zu treffen“.218) Erst ein Beitritt Österreichs zur Biomedizinkonvention des Europarates würde den völkerrechtlichen – und bei einer Ratifikation als verfassungsergänzenden Staatsvertrag auch den verfassungsrechtlichen – Bezugsrahmen etwas verdichten. Die rechtspolitische und ethische Auseinandersetzung wird dadurch gewiss nicht leichter, weil sich der Rekurs auf vermeintlich feste verfassungsrechtliche Bastionen wie die „Menschenwürde“ oder das „Recht auf Leben“ als wenig tragfähig erweist und die unterschiedlichen moralischen, theologischen und gesundheitspolitischen Positionen weitgehend ohne „grundrechtliche Rückendeckung“ vorgetragen und ausgeglichen werden müssen. Aus staatsrechtlicher Perspektive erscheint die Frage der Embryonenforschung und des therapeutischen Klonens daher als das, was sie im Kern schon immer war: Nämlich als primär ethisches, religiöses und rechtspolitisches und weniger als verfassungsrechtliches Problem. 217) Vgl zur Reproduktionsmedizin Öhlinger/Nowak, Grundrechtsfragen 42; Ermacora, Grundriss Menschenrechte Rz 1188. 218) Huber/Stelzer, Gentechnologie 45.