SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
SWR2 Musikstunde
Filmmusik im 21. Jahrhundert –
Die dritte Generation (4)
Mit Thomas Rübenacker
Sendung:
27. Juli 2017
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung
und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 Musikstunde mit Thomas Rübenacker 24. Juli – 28. Juli 2017
Filmmusik im 21. Jahrhundert –
Die dritte Generation (4)
Signet
… mit Thomas Rübenacker. „Die dritte Generation“, das ist in dieser Woche die
Handvoll der talentiertesten Komponisten von Hollywood, nach den Pionieren und
den frühen Meistern die „Filmmusik des 21. Jahrhunderts“ - heute: Teil 4.
Dass ein guter Komponist nicht zwangsläufig auch ein guter Filmkomponist ist,
wissen wir spätestens seit Leonard Bernstein. Dessen einziger Score, „On The
Waterfront“ mit Marlon Brando, ist auf hohem Niveau – leider daneben. Dem Film nur
aufgepfropft, nicht ihn begleitend und (womöglich) illuminierend. Obwohl es um New
York geht, und da war Lennie zuhause. Ebenfalls ein Kind New Yorks ist Elliot
Goldenthal, ein Komponist von ähnlicher Diversifikation wie Bernstein. Zudem waren
beide Schüler von Aaron Copland, einem weiteren New Yorker, der allerdings ein
Händchen hatte für Filmmusik – obwohl er in erster Linie für den Konzertsaal
arbeitete. Ich hatte Ihnen aus Lennies „On The Waterfront“ ein New-York-Porträt
gespielt, das mit viel Schlagzeug und Jazzseele das Leinwandgeschehen nie so
recht traf; jetzt möchte ich mit einem New-York-Porträt Aaron Coplands beginnen,
das mit jedem Ton trifft, und es bedient sich sogar wesentlich der gleichen Mittel,
Schlagzeug und Jazz. Es entstammt dem Film „Something Wild“ von 1961, in der
Titelrolle Carroll Baker – und New York City, beide auf je eigene Art something wild.
Und Aaron Copland macht mit sehr wenig sehr viel …
MUSIK: (2:12)
Aaron Copland
Something Wild
Varèse-Sarabande VSD-6469 (LC 06083)
Aaron Copland, der Titel „Subway Jam“ aus seinem Score zu der New-YorkGeschichte „Something Wild“ von 1961.
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Doch nun zur „dritten Generation“, dem New Yorker Elliot Rosenthal, der wie
Bernstein Schüler von Aaron Copland war – und wie Copland „ein Händchen hat“ für
Filmmusik, obwohl auch er primär für den Konzertsaal arbeitet. Goldenthal wurde
1954 in Brooklyn geboren, als jüngster Sohn eines jüdischen Malermeisters und
einer katholischen Näherin. Brooklyn in jenen Tagen war noch das Zentrum des
amerikanischen Schmelztiegels, Elliots musikalische Früherziehung kann nur „global“
genannt werden. Sprach der Meister in einem Interview: „Um mich herum gab es
noch immer diese ganzen Traditionen … Das shtetl war noch präsent mit Klezmer
und schluchzender Geige, auf dem Akkordeon spielte man, völlig egal, Bach oder
Zigeunermusik, die Schotten und Iren brachten ihr gälisches Gefiddle, die Franzosen
ihre kunstvollen Bläserexerzitien. Ich habe (all das) später mal benutzt oder nicht
benutzt, wenn aber benutzt: dann es auch anverwandelt – Sie könnten mich als
Schmeltiegel bezeichnen!“ An anderer Stelle im selben Interview sagt Goldenthal:
„Ich höre eigentlich nie 'atonal' oder 'tonal', ich höre eher 'Melodie' oder
'Klangmasse'.“
Allerdings gelten Avantgarde-Techniken auch im heutigen Kino noch häufig als
Ausdruck geistiger Verwirrung – einer Schizophrenie beispielsweise, oder einer
anderen Halluzinatorik. Deshalb bekam Goldenthal auch immer wieder solche Filme
angeboten, z. B. „In Dreams“ von 1999, ein psychologischer Thriller, worin eine
Hausfrau erfahren muss, dass sie psychisch verlinkt ist mit einem Serienmörder,
durch ihre Träume: So kann sie seine Taten vorausbestimmen – und ergo, wenn
auch unter größter Lebensgefahr, sie verhindern. Annette Bening spielte die
Hauptrolle, Elliot Goldenthal schrieb den Score.
MUSIK: (7:28)
Elliot Goldenthal
In Dreams
Varèse-Sarabande VSD-6001 (LC 06083)
„Agitato Dolorosa“, der Haupttitel aus dem Film „In Dreams“, sowie „Claire's
Nocturne“, komponiert von Elliot Goldenthal.
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Wieder einmal steht das Atonale für das Kranke, das Verrückte; aber hier wird es so
klug eingesetzt wie sonst kaum.
Als New Yorker gilt der Künstler Goldenthal automatisch auch als Intellektueller.
Normalerweise würde man nicht sagen: Was ist er, Filmkomponist? Aha, ein
Intellektueller! Aber in den USA gehört beides zusammen, jedenfalls, wenn man aus
New York kommt. Nun, Goldenthal kommt aus New York – und er ist trotzdem ein
Intellektueller! Zwar hieß einer seiner Lehrer Aaron Copland, aber seine wichtigste
Quelle war: John Corigliano. Obwohl er Händevoll Filmmusiken komponiert hat,
kennt man seinen Namen besser in den Opernhäusern von New York, Los Angeles
und Santa Fé. Schließlich: Seine Lebenspartnerin seit Jahrzehnten heißt Julie
Taymor, berühmt für ihre „dekonstruierten“ Inszenierungen der klassischen
Shakespeare-Stücke. Dass ihn ein Kritiker mal the thinking man's composer genannt
hat, freut Rosenthal ganz besonders: Auch Arnold Schönberg wurde so genannt, als
er in Hollywood sein Exil antrat. Kein Wunder also, dass ein Gipskonterfei
Goldenthals Arbeitszimmer dominiert: Das von Arnold Schönberg.
Allerdings muss ein Regisseur, der Goldenthal engagiert, nicht notwendigerweise
erwarten, einen 12-Ton-Score vor den Latz geknallt zu bekommen. Der Komponist
übernimmt auch mainstream- Filme, und wiewohl er sich dafür nicht verleugnet,
klingt er auch nicht plötzlich wie Frank De Vol. Ein Beispiel: „Interview With The
Vampire“ von 1994, besetzt mit Tom Cruise und Brad Pitt nicht gerade ein arthouseFilm. Der Titel „Libera Me“ rekurriert auf den gleichnamigen der lateinischen Messe,
„Befreie mich!“ (nämlich: von den Sünden) – eine Assoziation, die auch auf Vampire
zutreffen kann, auf Wesen, die qualvolle Jahrhunderte lang in Sünde leben.
MUSIK: (2:47)
E. Goldenthal
Interview With The Vampire
Geffen GED 24719 (LC 7266)
„Libera me“, Befreie mich von den Sünden, zutreffend auf alle Menschen, besonders
aber auf Vampire. Elliot Goldenthal komponierte den Titel für den Film „Interview
With The Vampire“.
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Gerade „Interview With The Vampire“ ist musikstilistisch, nennen wir es mal:
reichhaltig. Sozusagen vom Gregorianischen Choral bis zur Dodekaphonie. Mir
allerdings gefällt ganz besonders, in welch düster-farbiger Spätromantik der
Komponist sich suhlen kann – Ausweis eines echten Pluralismus' in der Musik (die
Amis würden sagen: von Katholizität), wie er in Deutschland nur Anfang des 20.
Jahrhunderts herrschte, danach trennten die Nazis in entartet bzw. wohlgeartet, und
in den Fünfzigerjahren rief Darmstadt Musik als Staatsreligion aus: Wer nicht „seriell“
komponierte, versündigte sich wie der DDR-Bürger, der die Doktrin in Frage stellte.
Nun, die USA hatten mit dem Pluralismus nie Probleme, aber bei Filmkomponisten
gehört umfassende Bildung und Métierbeherrschung zum Rüstzeug. Einer der
klügsten, Franz Waxman, sagte mal: „Das Wichtigste für den Filmkomponisten ist es
zu wissen, wo und bei wem er sich rasch 'bedienen' kann. Er muss praktisch alle
vorhandene Musik in den Fingerspitzen haben oder sich in ein, zwei Stunden
aneignen können. Er muss das können, weil ja auch seine Bühne, das Kino, genau
das ständig tut: Sich Geschichten anzueignen aus dem reichen Fundus der
Weltliteratur.“ Dieses Zitat hat Elliot Goldenthal, schwarz-gold gerahmt, ebenfalls in
seinem Arbeitszimmer. Hier kommen, auch aus „Interview With The Vampire“, das
üppig-spätromantische „Lamento der Madeleine“, dann „Claudia's Allegro Agitato“.
MUSIK: (7:47)
E. Goldenthal
Interview With The Vampire
Geffen GED 24719 (LC 7266)
„Lamento der Madeleine“ und „Claudia's Allegro Agitato“ aus dem Film „Interview
With The Vampire“, komponiert von Elliot Goldenthal.
Goldenthal war eigentlich immer Oscar-Material. Er vertonte schöne, anspruchsvolle
Filme, und er tat's mit Musik, die viele seiner Kollegen nicht verstanden – beinahe
eine Garantie auf die Goldstatuette. Sein großes Vorbild war nicht Aaron Copland,
sondern der Japaner Toru Takemitsu, der auch mit größer Souveränität die
Gattungen wechselte: Filmmusik oder Oper, für Takemitsu gab es nur, wie für Kurt
Weill, „gute“ Musik oder „schlechte“. Ja, Goldenthal war Oscar-Material – dennoch
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dauerte es noch 23 Jahre, bis er Amerikas größten Preis nach Hause nehmen durfte.
Und es war ein gar nicht mal so spektakulärer Film, ein eher ins Innenleben der
Titelheldin hineininszeniertes labor of love, Regie von Goldenthals Partnerin Julie
Taymor: „Frida“, ein Porträt der surrealistischen mexikanischen Malerin Frida Kahlo.
Salma Hayek, die sich damit einen Lebenstraum erfüllte, spielte diese Ikone der
Kunst und des Schmerzes. In einem Interview sagte sie:
„Latina-Frauen in Hollywoodfilmen sind entweder Kindermädchen,
Gärtnerinnen oder Köchinnen. Zu etwas anderem sind sie überhaupt nicht
geboren … Ich wollte mit der 'Schmerzensmutter' Frida Kahlo zeigen, dass
das überhaupt nicht stimmte. Aber anfangs gab es überhaupt kein Interesse in
Hollywood, weil kein Mensch Frida kannte oder von ihr gehört hatte.Dann,
1990, wurde eines ihrer Bilder bei Sotheby's ersteigert für 1,5 Millionen Dollar
– und plötzlich riss man sich um sie. Plötzlich gab es so viele mögliche Fridas,
inklusive Madonna und Meryl Streep, dass wieder keiner an meiner
interessiert war!“
Nun, der Rest ist Geschichte. Hayek setzte sich durch, und das American Film
Institute wählte „Frida“ zu einem der wichtigsten Filme des Jahres 2002:
„Frida ist ein Film über Kunst, und er ist selbst ein Kunstwerk. Seine innovative
Bildsprache nimmt uns mit in den Kopf des Künstlers, und wir werden daran
erinnert, dass Kunst am schönsten zu uns spricht, wenn sie sich bewegt,
atmet und auf einer großen Leinwand stattfindet, wie nur das Kino sie zur
Verfügung hat.“
„Frida“ erhielt zwei Academy Awards, zwei Oscars: einen vergleichsweise
unwichtigen für das beste Make-up – und einen für den besten Original-Score,
verfertigt von Elliot Goldenthal.
Es beginnt mit dem surrealen Bildtitel „Fließendes Bett“, dann folgt „Selbstporträt mit
offenem Haar“, schließlich „Brennendes Bett“.
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MUSIK: (9:07)
E. Goldenthal
Frida
UMG Soundtracks 474 150-2 (LC 12216)
Elliot Goldenthal, drei Titel aus dem biopic „Frida“.
Wenn Sie einmal Trivial Pursuit spielen oder im Fernsehen beim Quiz „Wer weiß
denn sowas?“ mitmachen, sollte die Frage auftauchen „Welcher Komponist war
Brigadegeneral der Armee seines Heimatlandes?“, antworten Sie getrost: Gabriel
Yared und Libanon.
Yared wurde 1949 in Beirut geboren, er studierte Musik dort, in Basilien und zuletzt
Europa – „aber am meisten habe ich mir immer selber beigebracht. Meine Lehrer
würden sagen: 'Nun, wie löst du dieses Problem?' oder 'Was fällt dir dazu ein,hm?',
und spätestens am Tag darauf hätte ich die Lösung präsentiert … So kommt man
natürlich auch weiter.“ Gabriel Yard ist berühmt dafür, dass er den Godard-Film
„Sauve qui peut (la vie)“ vertonte, ohne auch nur ein Bild davon gesehen zu haben,
allein aus einem „Bauchgefühl“, das sich durch verschiedene Aussagen zum Film
formte. Angeblich soll er heute noch so komponieren: sich weigern, den Film selbst
zu sehen, ihn lediglich in Gesprächen kennenlernend.
MUSIK: (5:05)
Gabriel Yared
Possession
RCA/BMG 09026 63882 2 (LC 00316)
Nein, das war nicht Bellini, nicht Verdi, auch nicht Puccini – sondern Gabriel Yared.
Der Libanese komponierte als Haupttitel des Films „Possessed“ eine italienische
Opernarie, weil er überzeugt war, man könne „Besessenheit“ nicht besser
ausdrücken! Der Tenor Ramón Vargas sang.
Die Geschichte des Films übrigens, stammt von Charles Dickens – dieses herrliche
Buch „Große Erwartungen“! Eine schöne Frau, Miss Havisham, wird noch am Altar
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düpiert, indem ihr Bräutigam sie verlässt – woraufhin sie sich eingräbt in ihrem fürs
Fest geschmückten Haus und nie wieder etwas verändert. Ihren Hass auf die
Männer will sie auf subtilere Weise befriedigen: Ein junges Mädchen, eine rare
Schönheit, wohnt bei ihr und soll allen Männern, die zu Besuch kommen, die Köpfe
verdrehen – bevor sie sie dann auf grausamste Weise selber im Stich lässt. Hier
noch der Endtitel des Films, besetzt mit Gwyneth Paltrow als Racheengel.
MUSIK: (3:27)
Gabriel Yared
Possession
RCA/BMG 09026 63882 2 (LC 00316)
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