Manuskript radioWissen SENDUNG: 07.06.2017 9.05 Uhr / B2 AUFNAHME: STUDIO: PHILOSOPHIE, ETHIK Ab 9. Schuljahr TITEL: Ernst Cassirer Selbstbefreiung durch Kultur AUTOR: Daniela Remus REDAKTION: Bernhard Kastner REGIE: Martin Trauner TECHNIK: Susanne Harasim SPRECHER: Erzählerin Katja Bürkle Zitator (Cassirer) Oliver Nägele Zitatorin (Toni Cassirer) Beate Himmelstoß VA Zitator Friedrich Schloffer VA Zuspielungen: Birgit Recki, Philosophin, Universität Hamburg; Ralf Konersmann, Philosoph, Universität Kiel _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 MUSIK II CD92190 002 Zitator/Cassirer: „Ich denke von der Bedeutung und der Würde des akademischen Lehramts zu hoch, als daß ich dieses Amt ausüben könnte zu einer Zeit, in der mir, als Juden, die Mitarbeit an der deutschen Kulturarbeit bestritten oder in der sie mir, durch gesetzliche Maßnahmen, in irgendeiner Hinsicht geschmälert oder verkürzt wird. Die Arbeit, die ich bisher innerhalb der Fakultät leisten durfte, beruhte darauf, daß ich als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt war. (S. 207/208) Erzählerin: Schreibt der Philosoph Ernst Cassirer am 27. April 1933 an den Dezernenten der Hamburger Universität. Er sah sich zu diesem Brief genötigt, weil die Hamburger Zeitungen berichtet hatten, der renommierte Hochschullehrer habe sich aus gesundheitlichen Gründen von seiner Arbeit beurlauben lassen. Dieser Lüge wollte Cassirer entgegentreten: Zitator/Cassirer: „Ich habe daher in meinem Gesuch (…) ausdrücklich nicht um eine Beurlaubung von meinen Vorlesungen und Übungen, sondern um eine Enthebung von allen Amtspflichten gebeten. Musik aus Was diese Lösung für mich bedeutet, darüber wird es keiner Worte bedürfen.” (S. 208) MUSIK Theme from "Schindler's List" C1416250 013 MUSIK The ultimator (4) ATMO Marschieren C1590980 104 _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Musiken und Atmo aus Take 1 (O-Ton Recki) L: 0, 20 Cassirer hatte die Erfahrung des zunehmenden Antisemitismus in der organisierten Studentenschaft an der Hamburgischen Universität und das hat ihn und seine Frau dann, als tatsächlich deutlich wurde, dass die NSDAP die politische Regierung in Deutschland übernehmen würde, gar nicht lange zögern lassen … Erzählerin: Beschreibt Birgit Recki, Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg, die Situation im Frühjahr 1933 für den jüdischen Gelehrten. MUSIK Two or three things CD701140 006 Take 2 (O-Ton Recki) … es war ihnen klar, selbst wenn man noch nicht genau weiß, welche Formen die Ausgrenzung, die Diskriminierung, die Unterdrückung annehmen würde, auf jeden Fall würde etwas dabei herauskommen, wodurch man sich als Bürger zweiter Klasse wiederfinden würde. _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 Erzählerin: Der 59-jährige Philosoph machte sich keine Illusionen darüber, wie es in Deutschland nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten weitergehen würde. Und sollte damit tragischerweise Recht behalten Musik aus MUSIK III CD921900 003 Erzählerin: Ernst Cassirer wird am 28. Juli 1874 in Breslau geboren. Er ist das älteste von insgesamt sechs Kindern einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie. Zur weitverzweigten aber eng vernetzten Familie Cassirer gehört z.B. auch der Kunsthändler Paul Cassirer, der Verleger Bruno Cassirer, die Schauspielerin Tilla Durieux oder Rilkes Gönnerin Eva Cassirer. Dem bildungsbürgerlichen Selbstverständnis der Familie entsprechend, geht Ernst Cassirer nach dem Abitur nach Berlin, um dort zu studieren. Auf Wunsch des Vaters zunächst Jura, ein Fach, das ihn aber offenbar nur mäßig interessiert. Und ihn im Hinblick auf seine Zukunft ratlos macht, wie er damals in einem Brief schreibt: Zitator/Cassirer: „Ich bin also mit meiner jetzigen Lebensweise ganz zufrieden, aber wie soll die Sache weiter werden, das ist die Frage! Was fange ich mit den Ferien an, wo bleibe ich im nächsten Semester? Wohin also? Nach Breslau?” (S. 133/Bauschinger) Musik aus Erzählerin: Wissbegierig probiert Ernst Cassirer nach dem Ausflug in die Jurisprudenz andere Fächer aus. Zum Beispiel Deutsche Literatur: Dazu geht er nach Leipzig, Heidelberg und Berlin. Dann zieht er weiter nach München, studiert Philosophie, Psychologie, Mathematik und Experimentalphysik. Er ist ein gewissenhafter und _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 intellektuell ehrgeiziger junger Mann. Zurück in Berlin kommt es in einer Vorlesung des Soziologen Georg Simmel zum intellektuellen Erweckungserlebnis: Simmel zitiert und verweist auf Hermann Cohen und den Neukantianismus. Cassirer fühlt sich sofort angesprochen, besorgt sich Cohens Schriften und beschließt, nach Marburg zu gehen, um dort bei den damals sehr bekannten Neukantianern Hermann Cohen und Paul Natorp Philosophie zu studieren. MUSIK Fables CD701140 003 Zitator: ”Neukantianismus: Bezeichnung für viele und vielartige auf den Namen Kants bzw. des Kritizismus lautende philosophische Strömung des 19. Jahrhunderts, besonders in Deutschland; hier setzte der Neukantianismus aus Opposition gegen die spekulative Metaphysik des deutschen Idealismus einerseits, Ungenügen am Fehlen grundsätzlicher Begründung der Einzelwissenschaften andererseits nach 1860 ein.” (Philosophisches Wörterbuch, Kröner) Musik aus Erzählerin: Kants Erkenntnistheorie mit den neuen bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zusammenzubringen, das war, sehr vereinfacht ausgedrückt, das Interesse der Marburger Neukantianer. Und: Die Grenzen des menschlichen Erkennens auszuloten, durchaus unter Einbeziehung der Natur- und anderer Wissenschaften, das sollte fortan auch eins der Hauptthemen Ernst Cassirers sein: Take 3 (O-Ton Konersmann) Einerseits kann man Cassirers Philosophieren als eine Kritik des wissenschaftlichen Objektivismus lesen, durchaus, aber Kritik im Sinne von einer Anerkennung, einer echten Herausforderung für die Philosophie, die sich dieser Herausforderung gewachsen zeigen soll. _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Und zwar mit dem Anspruch – und das ist das Besondere für einen Philosophen – auf Augenhöhe mit den Naturwissenschaften zu sein. Ein Ansatz, den zuletzt Kant hatte einlösen können. Deshalb beschäftigt Cassirer sich mit Fragen der Experimentalphysik und verfolgt interessiert die Entdeckungen neuer chemischer Elemente. Dahinter steht die Absicht, der Philosophie erneut die Bedeutung zukommen zu lassen, die sie jahrhundertelang inne gehabt hatte. Take 5 (O-Ton Konersmann) Das ist eigentlich das Thema der Philosophie: Die Kommunikation zwischen dem, was in den Naturwissenschaften herausgefunden wird und dem Rest, diese Kommunikation auch zu organisieren. Ich glaube, dass sich Cassirer so die Philosophie vorgestellt hat als eine Moderatorin, aber eine kluge Moderatorin, die weiß, wovon sie redet. Erzählerin: Bereits drei Jahre nach seiner Ankunft in Marburg promoviert Ernst Cassirer über die Erkenntnistheorie Descartes‘ wenige Jahre später schreibt er seine _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 7 Habilitation. Die zwar ausgezeichnet, aber von keiner Universität angenommen wird. Cassirer führt daraufhin, jahrelang durchaus zufrieden mit seinem Los, das Leben eines Privatgelehrten. Er heiratet in der Zwischenzeit seine Cousine Toni Bondy, mit der ihn zeitlebens eine enge Vertrautheit verbindet, und wird Vater von drei Kindern. Finanzielle Sorgen plagen ihn nicht, seine weitverzweigte und wohlhabende Familie ermöglicht ihm das privilegierte Leben eines bürgerlichen Gelehrten. Cassirer macht sich durch seine Arbeiten in der Welt der Wissenschaft einen Namen. Er wird nach Harvard eingeladen, bekommt dort ein Stellenangebot, das er ablehnt, hält Vorträge und arbeitet und schreibt. Sein Lehrer und Freund Hermann Cohen drängt ihn immer wieder, eine zweite Habilitationsschrift zu verfassen und den Sprung an die Universität zu wagen. Cassirer tut sich schwer damit, wie er in einem Brief an seine Frau 1906 schreibt: Zitator/Cassirer Es ist doch seltsam, mit welcher inneren Befangenheit ich an die Sache herangehe. Ich zweifele gar nicht , dass ich an der Lehrtätigkeit, wenn ich erst einmal mit ihre begonnen haben werde, große Freude haben werde; – für jetzt aber habe ich die schwersten Bedenken und Hemmungen in mir zu überwinden, um überhaupt nur die ersten Schritte zu tun.” (S. 99) Erzählerin: Der erneute Versuch ist erfolgreich: 1906 habilitiert sich Cassirer in Berlin. Danach sollten allerdings noch einmal viele Jahre vergehen, in denen er mit seiner Frau und den Kindern von großzügiger familiärer Unterstützung leben musste. Denn er erhält, wohl auch aufgrund seiner jüdischen Herkunft, kein Stellenangebot. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem Ernst Cassirer wegen Untauglichkeit als Zivilist teilgenommen hatte, bekommt er endlich eine Professur. ATMO (Hafen/Möwen) MUSIK VI CD921900 006 _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Hier erarbeitet er sich in der Folgezeit sein Hauptwerk, die dreibändige Philosophie der symbolischen Formen. Und hier wird er, wie Birgit Recki sagt, die Herausgeberin der gesammelten Werke Cassirers, zu einem der letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts: Musik aus Take 6 (O-Ton Recki) Das liegt allein schon daran, dass er unglaublich viele Studienfächer studiert hat (…) und Cassirer war als einer, der im Neukantianismus angefangen hat, ein großer selbstständiger Kantianer im 20. Jahrhundert, der tatsächlich auf den methodischen Grundlagen der kantischen Vernunftkritik eine Philosophie der Kultur entwickelt hat, mit dem Anspruch, den Menschen in seiner ganzen, komplexen, vielschichtigen Realität angemessen zu verstehen. MUSIK Fables CD701140 003 Erzählerin: Was ist der Mensch? Was macht ihn aus? Diese Frage hat der Franzose René Descartes zu Beginn des 17. Jahrhunderts erstmalig formuliert und damit eine _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 9 neue Phase des Philosophierens eingeläutet. Sie führte dazu, dass die spezifisch menschliche Erkenntnisfähigkeit ins Zentrum des philosophischen Interesses gestellt wurde. Bahnbrechend beschrieben hat sie später der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft. Musik aus Auch Ernst Cassirer will die Frage nach dem, was die menschliche Natur ausmacht, mit seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen beantworten. Aber er kommt jetzt, im Unterschied zu seiner Zeit bei den Neukantianern in Marburg, zu einem anderen Schluss als sein Vorbild Kant: Hatte der noch formuliert, die Vernunft sei die Bedingung für menschliche Reflexion, so sagt Cassirer jetzt: Die herausragende Fähigkeit des Menschen ist die, sich der Welt symbolisch anzunähern. Und das heißt: Durch Sprache, Kunst, Wissenschaft oder Religion. Also alles das, was wir unter dem Schlagwort Kultur zusammenfassen. Cassirer bezeichnet den Menschen deshalb als Animal Symbolicum. Es ist spezifisch menschlich, sich der Welt durch Kultur zu nähern, sie zu benennen, zu ordnen und damit letztendlich auch zu verstehen. Zitator/Cassirer: „Er kann sein Leben nicht leben, ohne es zum Ausdruck zu bringen. Die verschiedenen Arten dieses Ausdrucks bilden eine neue Sphäre. Sie besitzen ein Eigenleben, eine Art von Ewigkeit, in der sie die flüchtige Existenz des Einzelnen überdauern.” (S. 52, Recki) Erzählerin: Zugespitzt lässt sich sagen: Bei Cassirer leistet die Kultur das, was bei Kant die menschliche Vernunft leistet: Die Möglichkeit nämlich zu erkennen, inwieweit der Mensch als Teil der Natur, dieser selbst unterworfen und damit unfrei ist. So wie sich der Mensch bei Kant mithilfe der Vernunft von seinen natürlichen Trieben, Affekten und Sinneswahrnehmungen befreien kann, so gelingt ihm das, _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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In ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft, die Kraft, sich eine eigene ideale Welt zu errichten.” Take 7 (O-Ton Konersmann) Also sich in Anerkennung der Grenzen der Vernunft, das ist ja die berühmte KantFormulierung, die ja auch für Cassirer verbindlich war, dass schon Kant diesen Punkt aufzeigt, dass wir, wenn wir rational vorangehen, was ja völlig unstrittig ist, dass wir uns das Problem einhandeln, wie wir mit anderen Formen von Weltorientierung im weitesten Sinne umgehen, wo bleibt jetzt das Schöne? Wo bleiben die Fragen des Glaubens? Usw. die eben jenseits der Grenze der Vernunft liegen,wenn Sie das so rekonstruieren, dann kommen sie irgendwann zu dem Kulturbegriff. Erzählerin: Sagt Ralf Konersmann, Philosophieprofessor an der Universität Kiel. Take 8 (O-Ton Konersmann) Und während nun die Ethnologie und die Anthropologie auch empirischen, demoskopischen, statistischen Verfahrensweisen zuneigt, versucht die Kulturphilosophie sozusagen aus dem Inneren der Philosophie heraus, Kulturphänomene zu beschreiben, mit einem eigenen Zugang zu diesem ganzen Feld. MUSIK VI CD921900 006 _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 11 Erzählerin: Und dieses Vorhaben gelingt Cassirer nach Meinung seiner Zeitgenossen ausgesprochen gut. Der Kulturphilosoph wird international gefeiert, eingeladen, ausgezeichnet. In einem Brief an seine Frau Toni schreibt er: Zitator/Cassirer: Gestern abend bei überfülltem Saal der Vortrag; heute früh eine Fahrt nach Scheveningen Besichtigung der Stadt, der Rembrandts im Museum und um 1 Uhr ein Frühstück bei dem deutschen Gesandten. In einer Stunde reise ich nah Leyden ab. Aber es geht alles vortrefflich – und ich spüre gar nicht, daß es so etwa wie Nerven oder Ermüdung gibt…” Erzählerin: Der Erfolg, die Anerkennung hält an, Cassirer ist interdisziplinär vernetzt, korrespondiert mit fast allen Denkern und Forschern, die zur damaligen Zeit wegweisend sind, so wie beispielsweise auch mit Albert Einstein. Musik aus Take 9 (O-Ton Konersmann) Ich glaube, was viele Zeitgenossen v.a. an Cassirer interessiert hat, ist der Versuch Cassirers auf seriöse Weise aus der Verengung herauszukommen, die der Kantianismus der Philosophie auferlegt hat, als er jeden philosophischen Gedanken durch das Nadelöhr der Erkenntnistheorie pressen wollte. Erzählerin: Im Frühjahr 1929 erfährt der Philosoph schließlich eine Art von öffentlichem Ritterschlag: Ernst Cassirer wird zum Rektor der Hamburger Universität gewählt, als einer der ersten jüdischen Wissenschaftler in Deutschland. MUSIK II CD921900 002 _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 12 Erzählerin: Aber parallel zu diesem Aufstieg und der Achtung, die der Gelehrte in der Welt der Wissenschaft erlebt, verändert sich die politisch-gesellschaftliche Situation in Deutschland. Die Weltwirtschaftskrise wirft ihre Schatten voraus, das Geld verliert an Wert, immer mehr Menschen verarmen, und die politischen Auseinandersetzungen werden rücksichtsloser und rauer. In diesem aufgeheizten Klima nimmt Ernst Cassirer im Frühjahr 1929 an den Internationalen Hochschulkursen in Davos teil. Seine Frau Toni schreibt dazu in ihren Erinnerungen: Zitatorin/Toni Cassirer: „Die Hochschulkurse fanden in einem feudalen Schweizer Hotel statt, und viele Gelehrte aus Frankreich, Italien, Holland. Österreich und dem ganzen Deutschland waren erschienen. Auf Heideggers merkwürdige Erscheinung waren wir ausdrücklich vorbereitet worden, seine Ablehnung jeder gesellschaftlichen Konvention war uns bekannt, ebenso seine Feindschaft gegen die Neukantianer, besonders gegen Cohen. Musik aus MUSIKAKZENT Theme from "Schindler's List" C1416250 013 Auch seine Neigung zum Antisemitismus war uns nicht fremd.” Erzählerin: Cassirer und der aufstrebende Freiburger Philosoph Martin Heidegger diskutieren in Davos über philosophische Grundsatzfragen. Zwei Denker, zwei Generationen, zwei Welten: Der arrivierte Kulturphilosoph als Vertreter des städtischen Bildungsbürgertums auf der einen Seite, der unkonventionelle Existenzialist und begeisterte Naturmensch auf der anderen Seite. Die Sympathie der Studenten ist bei diesem Workshop klar verteilt, sagt Birgit Recki, und damit wegweisend für die _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Das passte nicht zusammen: Take 11 (O-Ton Recki) Dazu gehörte auch, dass Cassirer in allem immer betont hat, der Mensch ist eigentlich frei in der Kultur, weil die Kultur das Medium ist, in dem er etwas aus sich und seinen Verhältnissen macht, während Heidegger die Kultur als ein Medium der Uneigentlichkeit begreifen wollte, als lauter artifizielle Dinge, die dem Menschen nur den eigentlichen Blick auf sich selbst verstellen. MUSIK Two or three things CD701140 006 MUSIK Theme from "Schindler's List" C1416250 013 Erzählerin: Der unerfreuliche und philosophisch betrachtet unergiebige Disput in Davos hinterlässt Spuren. Denn atmosphärisch kehrt Heidegger in der Wahrnehmung der Teilnehmer als Denker der Zukunft aus der Schweiz zurück, Cassirer dagegen als Repräsentant der Vergangenheit. Von heute aus betrachtet wirkt dieses Davoser Treffen und das vernichtende Urteil Heideggers über Cassirer wie ein düsterer Vorbote der NS-Diktatur. _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 14 Musiken aus Erzählerin: Zunächst aber macht Cassirer, zurück in Hamburg, weiter wie bisher, voller Elan, mit ungetrübtem Arbeitseifer. Das Klima an der Universität aber verschlechtert sich Schritt für Schritt, die liberalen, demokratischen Kräfte geraten in die Defensive. Obwohl die Hamburger Universität als liberale Reformhochschule gegründet worden war, mit einem hohen Anteil von jüdischen und liberalen Professoren, sind auch hier Hochschullehrer, Mitarbeiter und Studenten anfällig für national-völkisches Gedankengut. MUSIK Theme from "Schindler's List" C1416250 013 ATMO Eisenbahn Nachdem Hitler Ende Januar 1933 von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, zweifelt Ernst Cassirer nicht mehr an der weiteren unheilvollen Entwicklung. Musik und Atmo aus MUSIK II CD921900 002 Erzählerin: Mitte März 1933 reist das Ehepaar Cassirer nach Österreich und in die Schweiz, um die Geschehnisse in Deutschland zunächst zu beobachten. Ende April kehren sich noch einmal für wenige Tage nach Hamburg zurück, um sich von ihren Freunden zu verabschieden. Damals schreibt Ernst Cassirer den Brief, in dem er seinen Amtsverzicht mit der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten erklärt: _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 15 Zitator/Cassirer: „Ich habe daher in meinem Gesuch ausdrücklich nicht um eine Beurlaubung von meinen Vorlesungen und Übungen, sondern um eine Enthebung von allen Amtspflichten gebeten. Was diese Lösung für mich bedeutet, darüber wird es keiner Worte bedürfen.” Musik aus Erzählerin: Am 2. Mai verlässt der international hoch geachtete Ernst Cassirer gemeinsam mit seiner Frau das Land für immer. Erst gehen sie nach Schweden, danach in die USA. Ein dramatischer Bruch nicht nur im Leben des Denkers, der 1945 im USamerikanischen Exil stirbt, sondern auch für die Rezeption seiner Philosophie. Denn nach 1945 war Ernst Cassirer in der Nachkriegsphilosophie so gut wie nicht präsent. Das Diktum der NS-Zeit, Cassirer sei ein jüdischer Neukantianer gewesen, antideutsch und wenig originell, wirkte auf verheerende Weise nach. Hinzu kommt, dass sich keiner für den Gelehrten einsetzte, wie Birgit Recki schildert: Take (O-Ton Recki) Er hatte eine Reihe von Schülern, die selbst in der Philosophie erfolgreich waren, darunter z.B. sein letzter Hamburger Assistent Joachim Ritter, der dann in der Nachkriegsphilosophie ein großes Schuloberhaupt geworden ist. Und Ritter hatte offensichtlich nicht das geringste Interesse an seinen großen Lehrer, dem er sehr viel verdankt hat, zu erinnern, und vielleicht auf diese Weise dazu beizutragen, dass dieses Werk angemessen gelesen und gewürdigt wird. MUSIK Fables CD701140 003 _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 16 Erzählerin: Erst in den 1980er Jahren ist der Kulturphilosoph Ernst Cassirer wiederentdeckt worden. Maßgeblichen Einfluss darauf hatte die Veröffentlichung seiner gesammelten Werke durch die Hamburger Philosophieprofessorin Birgit Recki. Seither wird immer deutlicher, dass Cassirer mit seinem umfangreichen und auch umfassenden kulturphilosophischen Ansatz weitaus mehr war als ein Antipode zum Existenzialisten Heidegger. Sondern dass er im besten Sinn des Wortes als Philosoph der Aufklärung zu verstehen ist, der mit seiner humanistischen Kulturphilosophie gerade in unruhigen politischen Zeiten, hochgradig aktuell ist. Musik aus _________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2017 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800-5900222 (kostenfrei); Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de