Vorlesung_6 HP online Herm\374

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Diese Materialien sind eine Ergänzung zu euren eigenen Mitschriften und kein Skriptum. Diese
Nachlese ist kein Ersatz für eure Mitschriften, sondern lediglich ein Zusatz! Es handelt sich um ein
Protokoll mündlicher Rede und ist außerhalb der VO Politische Theorien nicht zitationsfähig.
30. November 2006 (6. Vorlesungseinheit)
Hermeneutik als geistes- (und sozial-)wissenschaftliche Methode
Hermeneutik ist die Theorie und Praxis des expliziten Verstehens sowie der Auslegung und
Interpretation.
"Verstehensleistungen sind immer nötig, wenn es um von Menschen geschaffene Strukturen,
Gegenstände, Symbole – also um die Deutung einer menschlichen Welt – geht, und sie
können prinzipiell misslingen." (Jung 2002)
Was verstanden werden kann, ist immer sinnhaft, also auf Sinn bezogen. Sinnhaft sind
Handlungen (und jede Handlung ist sinnhaft - deshalb muss sie nicht sinnvoll sein),
sprachliche Äußerungen, Riten, Institutionen etc., weil sie sich im Raum eines durch sozial
gültige Regeln erzeugten Sinns abspielen – dies ist mit "objektivem Sinn" gemeint.
Subjektiver Sinn: dasjenige, was eine Person zum Ausdruck bringen möchte
Sinnverstehen hat stets die elementare Struktur, dass etwas als etwas verstanden wird: eine
Lautfolge als sprachliche Äußerung; eine Reihe von Körperbewegungen als zielgerichtete
Handlung, … (z.B.: "Traumdeutung" von Sigmund Freud: Klassiker der psychoanalytischen
Hermeneutik: das scheinbar Sinnfreie, die Phantasmagorien der Träume, als Ausdruck
psychischer Bedürfnisse verstehbar zu machen, also der sinnhaften Welt zu integrieren)
Hermeneutik im engeren Sinne ist also ein Verfahren der Auslegung und Erklärung
(Interpretation) von Texten, im weiteren Sinne versteht man darunter die Produktion eines
Verständnisses für Sinnzusammenhänge in Lebensäußerungen unterschiedlicher Art (z.B. in
Kunstwerken, Handlungen oder historischen Ereignissen).
Zentral ist jedenfalls die Frage nach dem Sinn, also das Verstehen von Bedeutung.
Im Kontext der Philosophie steht Hermeneutik auch für eine Methode des Verstehens des
gesamten menschlichen Daseins (vgl. Existenzphilosophie). "Verstehen ist ein menschlicher
Grundvollzug mit der elementaren Struktur 'etwas als etwas auffassen', eine Sache in ihrem
Sinn verstehen." (Jung 2002)
Die Bezeichnung Hermeneutik verweist auf den griechischen Götterboten HERMES, der den
Menschen göttliche Botschaften und den Göttern des Olymps Nachrichten von den Menschen
überbringen sollte. Er betätigte sich als "Vermittler" zwischen Irdischem und Überirdischem.
hermeneuein (griech.): auslegen, erklären, dolmetschen, übersetzen; weiters auch:
verstehen, deuten, interpretieren, explizieren, darlegen
Hermeneutik ist eine Methodologie, die vor allem in den Geistes- und Kulturwissenschaften
angewendet wird.
Nach einer These Wilhelm Diltheys ist Hermeneutik auf
das "Verstehen" von in Kulturdokumenten und Lebensäußerungen manifestiertem
Sinn ausgerichtet, und dies im Gegensatz zu Methodologien der Naturwissenschaften,
die auf "Erklärung" sinnfreier Naturphänomene abzielen (Dilthey 1883, 1910).
-1-
Geschichte der Hermeneutik
Im antiken Griechenland: hermeneutische Reflexion der Epen, Mythen und Gedichtzyklen
Homers (8. Jh. v. Chr.) und Hesiods (7. Jh. v. Chr.). Ilias und Odyssee: einerseits:
Dichtungen, die die kulturelle Identität der gesamten antiken Welt prägten; zugleich:
anthropomorphe Göttergestalten und moralisch fragwürdige Heldengestalten, die sich
rationaler Reflexion in ihrem Wortsinn nach nur schwer einfügen ließen. Philosophen wie
Xenophanes verwarfen sie als unwahr und unmoralisch. Andere entwickelten
Deutungsverfahren, mit denen die moralische und theologische Anstößigkeit dieser Texte
weginterpretiert werden sollte. Zielsetzung also apologetisch: die Wahrheit und Geltung der
identitätsstiftenden Texte durch Interpretation retten. Es galt, zwischen den (öfters
anstößigen) Worten und ihrem tiefen, Sinn zu differenzieren.
Unterscheidung zwischen "Literalsinn" (wörtlicher Sinn) und tieferem, eigentlichen, zunächst
verborgenen Sinn (seit dem 1. Jh. n. Chr. als "allegorischer Sinn" bezeichnet)1
Philo von Alexandrien (1. Jh. n. Chr.) entwickelt die "Allegorese" (Kombination der Begriffe
Allegorie und Exegese): zielt auf Erschließung eines tieferen Sinns, der im Wortsinn bildhaft
verkleidet sei. Problem: wie kann nicht-willkürlich zwischen wörtlich und allegorisch zu
verstehenden Texten unterschieden werden? Bsp: Hohelied: Wortsinn: erotische Dichtung,
Begehren, Lust, Schönheitsempfinden; allegorischer Sinn: Verhältnis von Christus zu seiner
Kirche.
Philos Lösungen: A: Brüche und Absurditäten und Aporien eines Textes sind vom Autor
(Gott) bewusst gesetzte Zeichen, dass ein wörtliches Verstehen nicht möglich ist; B: nur eine
kleine Gruppe Auserwählter ist zur Ausübung der Allegorese fähig massiv elitäre Tendenz,
und Entwertung des Textes
dualistische Hintergrundmetaphysik: Verhältnis Literalsinn (unmittelbarer Text) allegorischer Sinn (wahre Bedeutung) analog zum Verhältnis Körper - Seele; das
Entscheidende dabei: die geistige, vernunftbegabte Seele bzw. der verborgene, durch
Allegorese zu erschließende Sinn.
"Der Geist zählt, nicht der Buchstabe." eine Deutungsmaxime, die bis heute nachwirkt
(einerseits leuchtet ein, dass der Geist, der Gesamtzusammenhang, die Grundideen, die
Aussageabsicht eines Textes den Primat vor einem ängstlichen Kleben an Worten haben
sollte; andrerseits sind die Buchstaben eines Textes der einzige Weg zu seinem Sinn)
Aristoteles in seiner Schrift Peri hermeneias (lat. 'De interpretatione'): Analyse der
allgemeinsten Strukturmerkmale des Sprachverstehens und der Entstehung von
Bedeutungen. Er begründete damit den sprachphilosophisch und zeichentheoretisch
1
Methode der sachgerechten Auslegung: es gibt einen einzigen, womöglich von Gott verbürgten Sinn
des ausgelegten Textes, so ist das Ziel die Beseitigung von abweichenden Lesarten. Verstehen ist also
Einverständnis mit einem normativ vorgegebenen Textsinn. – Wenn man die metaphysiche oder
religiöse Überzeugung fallen lässt, erscheint der Prozess der Auslegung als offen und unhintergehbar
(dennoch kann zwischen richtiger und falscher Interpretation unterschieden werden). Wahrheit ist nur
durch Interpretation hindurch erreichbar und nicht mehr kraft höherer Einsicht: die philosophische
Hermeneutik entsteht.
-2-
orientierten Strang hermeneutischer Reflexion. Verhältnis von Gemeintem, Gesagtem und
Bezeichnetem. ein Ansatz, der nicht auf Mythenauslegung zielte
Zu einer eigentlichen "Disziplin" wurde die Hermeneutik in der frühen christlichen Kirche an
der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert. Neben die Exegese trat nun die Hermeneutik als
selbständige Kunst der Kommentierung der Bibel. Im Laufe der Bemühungen, die "Worte
Gottes" richtig auszulegen, hat sich dann die Hermeneutik als Methode verselbständigt.
Augustinus (354-430): de doctrina christiana: Bibel sei prinzipiell klar und verständlich,
Hermeneutik habe sich auf die sog. dunklen Stellen zu konzentrieren. Für diese werden
Standards des Verstehens entwickelt, teils technischer (Wichtigkeit ausreichender
Sprachkenntnisse, Vertrautheit mit den im Text vorausgesetzten faktischen Verhältnissen
und historischen Begebenheiten), teils 'existenzieller' (richtige Einstellung der Interpreten:
Glaube, Hoffnung, Liebe) Art: Liebe ist im doppelten Sinne wichtig: a: Interpret muss von ihr
erfüllt sein, um den Text richtig zu verstehen; b: der Text wird nur richtig verstanden, wenn
er den Leser in der Haltung der Liebe zu Gott und den Menschen bestärkt
dunkle Stellen sollen ausgehend von verständlichen Parallelstellen interpretiert werden, also
aus ihrem Zusammenhang heraus
Unterscheidung inneres Wort – äußeres Wort (von Gadamer aufgegriffen): ursprünglich sei
Denken und Sprechen ein innerer Vorgang 'im Herzen', der sich noch gar nicht in bestimmter
Sprache abspiele. Dieses 'verbum interius' äußere sich in realen Gegenständen und Texten
dann in unvollkommener Weise, z.B. als griechischer oder lateinischer Satz, bleibt aber
wegen der materiellen Bindung hinter dem eigentlich Gemeinten zurück.
Bei Augustinus fand die Hermeneutik der Kirchenväter ihren Höhepunkt und Abschluss.
Augustinus integrierte antike Rhetorik, Neuplatonismus und christliche Dogmatik zu einem
einheitlichen Interpretationssystem.
Wegen der Auffassung, dass die Bibel und klassische antike Texte besonderen
Wahrheitsgehalt aufweisen, zu dem es vorzudringen gilt, stellte sich die Hermeneutik die
Aufgabe, Methoden und Regeln zur korrekten Auslegung theologischer, aber auch klassischhumanistischer Texte zu entwickeln (mittelalterliche "Scholastik"). Es ging hier um die
Suche nach der "richtigen" Auslegung/Interpretation, also um die Suche nach Wahrheit.
Bis in die Renaissance wies die Hermeneutik einen stetig dogmatischen Charakter auf.
Glaube an die besondere Autorität antiker Autoren und den einen, überlegenen Sinn ihrer
Schriften waren kennzeichnend.
Erst mit der Reformation entsteht wieder eine grundlegend neue Ausgangslage für
hermeneutisches Denken. Martin Luther (1483-1546): Selbst-Verständlichkeit der Bibel, ohne
ein sie verbindlich auslegendes Lehramt; die offenkundige Vieldeutigkeit der Texte damit
aber nicht geklärt der Lutheraner Matthias Flacius (1520-1575) entwickelt ein
entsprechende hermeneutisches Handbuch
ab 15. und 16. Jh verändert insbesondere die Erfindung des Buchdrucks die Wahrnehmung
des Interpretierens und Verstehens: Bücher und Texte aller Art, bis dahin selten und
unerschwinglich, werden rasch in großer Zahl verfügbar
-3-
Die Hermeneutik fand als Regelkanon zunächst vor allem in der Theologie, später aber auch in der
Rechtswissenschaft Anwendung.
Viele Gesellschaften pflegen Verhaltensnormen, die friedliches Zusammenleben sichern sollen, sowie
die Absicherung von (historisch entstandenen) Kräfteverhältnissen zwischen gesellschaftlichen
Gruppen zu verschriftlichen, sie als Texte zu fixieren, die Gesetze genannt werden. Diese
Gesetzestexte beanspruchen universelle Geltung, sie sollen alle möglichen Zweifels-, Streit- und
Konfliktfälle erfassen. Das kann aber nicht wirklich funktionieren, zumal - wie John Locke schon im 18.
Jahrhundert bemerkt hatte - viel mehr Dinge, Situationen oder Fälle als Wörter bzw. Gesetze
existieren. Die soziale Wirklichkeit ist wesentlich komplexer und vielfältiger als gedankliche und
sprachliche Abstraktionen von ihr.
Im deutschen Rechtsraum hatte man sich daher, in der Traditionslinie des Römischen Rechts und der
eigenen Philosophie ("Deutscher Idealismus"), dafür entschieden, ein möglichst aufgefächertes,
notwendig abstraktes System normativer Begriffe zu entwickeln. Erst in der Praxis der Rechtsprechung
wäre zu befinden, ob eine konkrete Situation unter eine spezifische abstrakte Norm zu "subsumieren"
ist.
Diese Vorstellung erweckt den Anschein einer logischen Operation. Tatsächlich handelt es sich hierbei
aber um einen hermeneutischen Vorgang, um die sich vorsichtig herantastende Auslegung eines
Gesetzes im Hinblick auf einen konkreten Tatbestand - eine Anwendung des Gesetzes, die als
plausibel akzeptiert wird (oder auch nicht).
Dafür können verschiedene Interpretationshilfen von Nutzen sein: Gesetzeskommentare, Fall- und
Entscheidungssammlungen, umfangreiche Fachliteratur und schließlich die Ausrichtung der
Rechtspraxis an der "herrschenden Meinung", also an jener Interpretation, die sich - aus welchen
Gründen auch immer - durchgesetzt hat.
Der zentrale hermeneutische "Ort" in allen Streitfällen ist der Straf- oder Zivilprozess: Vor Gericht wird
in einem (mehr oder weniger) geregelten Verfahren geprüft, ob der gegenständliche Fall in den
Geltungsbereich einer gesetzlichen Norm fällt oder nicht. Dabei dürfen von rechtskompetenten
Rollenträgern, z.B. von den Rechtsanwälten streitender Zivilparteien, konkurrierende (und jeweils
interessengeleitete) Interpretationen vorgetragen werden. Der oder die Richter entscheiden den
"Streit der Interpretationen" (Paul Ricoeur, 1974), sie verfügen über eine seitens des staatlichen
Gewaltmonopols garantierte Interpretationsmacht.
Manchmal setzt sich allerdings der "Streit der Interpretationen" innerhalb der Gerichtshierarchie fort
("Rechtszug", "Stufenbau der Rechtsordnung"). Im modernen rechtsstaatlichen Verfahren wird die
Gefahr "falscher" Interpretationen durch Institutionalisierung eines mehrstufigen Verfahrens reduziert.
Die Rechtsdeutung einer Instanz kann also bestritten werden und ist gegebenenfalls zu revidieren. In
jedem Fall aber ist es Ziel der Rechtssprechung, dem (notgedrungen) unspezifisch bleibenden
Gesetzestext eine eindeutige Auslegung, Anwendung bzw. Konkretisierung zu sichern.
Ein Problem der Rechtsdeutung ist freilich jenes der "Historizität" von Rechtsregelungen: die Norm als
spezifischer Ausdruck eines konkreten historischen Kontextes, das Hinfälligwerden geregelter
Sachverhalte auf Grund sozialen Wandels.
Gesetzestexte müssen daher "angepasst" werden an sich ändernde soziale Verhältnisse, sie müssen
ergänzt, verändert, "novelliert" werden, um die Vielfalt der Fälle, aber auch neuartige Fälle zu
erfassen.
Anders als in der theologischen Hermeneutik hilft es in der Rechtsprechung nur wenig, alte
Formulierungen auf neue Situationen anzuwenden: Das würde dem Gebot der Eindeutigkeit und
Sachangemessenheit zuwiderlaufen.
-4-
Aufklärungshermeneutik
Weitgehend unabhängig von der Theologie gibt es in Humanismus, Renaissance und
Aufklärung einen breiten Strom hermeneutischen Denkens, dem es auf den Spuren von
Aristoteles' Peri hermeneia um die allgemeinen Strukturen des Sprachverstehens in seiner
wirklichkeitserschließenden Kraft ging, nicht vorrangig um die rechte Bibelauslegung.
Der Humanismus der Renaissance (15./16.Jhdt.) bemühte sich schließlich vorrangig darum,
nach den Wurzeln abendländischer Kultur zu suchen, die er aus antiken Texten zu
erschließen trachtete. Die Kunst der Auslegung von Texten wurde daher zentral.
In der Philosophie unterzog Spinoza die Bibel der Vernunftkritik, was zu einer
Unterscheidung zwischen Glaubens- und Vernunftwahrheiten führen sollte.
Mit der Aufklärung sind traditionelle Autoritäts-Vorstellungen aufgebrochen. Skepsis
gegenüber der Antike macht sich breit. Selbständigkeit des Denkens wurde nun beansprucht
(vgl. Kants Aufklärungsappell: Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!).
Allmählich wurde die historische Relativität von Kultur und individueller Existenz bewusster
und zu einem zentralen Thema der Philosophie.
Johann Konrad Dannhauser (1603-1666): prägt den Ausdruck "hermeneutica", verwendet
ihn bewusst als Titel für eine eigenständige Form des Wissens
Interpretieren muss die komplexen, schwer verständlichen Stellen zugänglich machen. 'Wahr'
und 'falsch' bezieht sich zunächst nicht auf den sachlichen Gehalt des Textes, sondern
darauf, was der Autor tatsächlich sagen wollte. Dies ist die Voraussetzung für jedes Urteil
über inhaltliche Wahrheitsansprüche. – Ziel des Verstehens ist die tatsächliche
Aussageabsicht des Autors.
Dannhauser systematisiert und vereinheitlicht die hermeneutischen Techniken (um den
'wahren Sinn' ermitteln zu können): "Kenntnis von Begriffsbestimmungen; Beachtung des
scopus, d.h. der Zielsetzung des Werks; Kenntnis des für die Autoren charakteristischen
Sprachgebrauchs; Beachtung der Analogie; Textkritik; genaue Untersuchung des
Vorangehenden und Folgenden." (Dannhauser, zit. n. Jung 2002)
Johann Martin Chladenius: erste deutschsprachige Hermeneutik: Einleitung zur richtigen
Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742): Sachverhalte sind nur durch
perspektivische Darstellung hindurch zugänglich, ohne diese Perspektivität gegen die
Wahrheit des Sachverhalts auszuspielen [also gegen radikalen Perspektivismus Nietzsches
('es gibt nur viele Interpretationen und keine Sachverhalte') und gegen radikalen
Objektivismus ('es gibt nur Tatsachen und jeweils eine einzige wahre Darstellung')]
Romantische Hermeneutik:
Friedrich Ast (1778-1841), Schüler Schellings, beschwört ununterbrochen den Geist des
klassischen Griechentums, den er als Gegengift gegen die in sich zerrissene Moderne sieht:
"Ohne Geist keine Hermeneutik"
Hermeneutischer Zirkel: Teilbedeutung und Gesamtbedeutung implizieren sich beim
Verstehen wechselseitig.
-5-
"Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist
des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen. […] Beide aber
sind nur mit- und durcheinander gesetzt, ebenso, wie das Ganze nicht ohne das
Einzelne, als sein Glied, und das Einzelne ohne das Ganze, als die Sphäre, in der es
lebt, gedacht werden kann. Keines ist also früher als das andere, weil beide sich
wechselseitig bedingen und an sich Ein harmonisches Leben sind."
Gleichzeitig weist Ast den Gedanken zurück, das Ganze (der Geist) könne durch die Folge der
Einzelerscheinungen erst entstehen. Der Geist ist für Ast immer schon da, so dass das
Zirkelproblem sich nur dem menschlichen Erkennen stellt. Die nachromantische und
nachidealistische Hermeneutik verwirft diesen Rückgriff auf einen schon vorhandenen
Gesamtsinn.
Ast betont (dennoch) die enorme Wichtigkeit des individuellen Geistes des Schriftstellers
"Das Verstehen und Erklären eines Werkes ist ein wahrhaftes Reproduzieren oder Nachbilden
des schon Gebildeten." (Ast)
Friedrich Schleiermacher (1768-1834) hat die Hermeneutik von normativen Voraussetzungen
abzulösen versucht. Er versuchte, eine allgemeine Methodenlehre des Verstehens fremder
sprachlicher Äußerungen zu schaffen. Im Rückgriff auf die Sprachlichkeit allen menschlichen
Denkens, Redens und Verstehens zeigte er die Vielseitigkeit der Hermeneutik auf.
Obwohl als Theologe mit historisch-philologischen Bibelinterpretationen vertraut, durchbrach
Schleiermacher den engen Rahmen der Philologie und entwickelte das Verstehen als einen in
und mit der Sprache sich vollziehenden Prozess, der schriftlich oder mündlich artikuliert wird.
Die Sprache als das "Allgemeine" und der Sprecher als das "Individuelle" sind miteinander
verflochten. Verstehen war für ihn vornehmlich Rekonstruktion/Reproduktion der sprachlichpsychischen Schaffenssituation des Autors durch den Interpreten.
Notwendig ist immer eine Verbindung von 'grammatischer' und 'psychologischer'
Interpretation: Gegenstand des Verstehens sind konkrete Äußerungen, die mithilfe
grammatikalischer Regeln hervorgebracht worden sind (gegen Zerrbild einer sog. 'EmpathieHermeneutik', die auf das Sich-Einfühlen von Seele zu Seele, auf ein methodisch unkontrolliertes
menschliches Tiefenverständnis setzt)
hermeneutische Spirale: aus dem Zirkel wird bei Schleiermacher eine offene Spirale aus
wiederholten Deutungsvorgängen, die immer revisionsbereit gehalten werden müssen. Dies
ergibt sich schon daraus, dass sich nicht definitiv bestimmen lässt, welcher Kontext, welches
Ganzes für ein adäquates Verständnis ausreicht.
Bei Schleiermacher wird das Gebiet der Hermeneutik auch inhaltlich erweitert und umfasst
nun alle Texte oder Geistesprodukte - und nicht nur besonders ausgewählte, "klassische",
"autoritative" oder "heilige" Schriften. Auch der Kontext des Autors wird wichtig, ebenso wie
ein Verständnis des "Zeitgeistes".
Mit dieser Erweiterung verliert die Hermeneutik ihre traditionelle Beziehung zu Texten als
Wahrheitsvermittler. Stattdessen werden diese als Ausdruck der Psyche, des Lebens und der
geschichtlichen Epoche des Verfassers aufgefasst.
-6-
Schleiermacher radikalisiert die Problematisierung des Verstehens: "das Missverstehen ergibt
sich von selbst, und Verstehen muss auf jedem Punkt gesucht und gewollt werden" – also
nicht mehr: das meiste ist verständlich, ein Problem wären nur die dunklen Stellen…
Die überragende Bedeutung Schleiermachers für die Geschichte der Hermeneutik lag bislang
auch in der (verfälschenden) Geschichtsschreibung Diltheys begründet; zugleich wurde dabei
Schleiermachers Hermeneutik auf ein psychologisches Verfahren der Nachbildung von
Individualität reduziert – und damit die Kluft zwischen sprachorietierter Regelhermeneutik
und psychologisierender Einfühlungshermeneutik vertieft. Tatsächlich war jedoch für
Schleiermacher beides gleich bedeutend.
"Schleiermacher rückt das Verhältnis von Text und Kontext, Teil und Ganzem, Individuellem
und Allgemeinem ins Zentrum der Hermeneutik. Gegenstand des Verstehens sind konkrete
Ausdrucksgestalten, in denen von allgemeinen Ausdrucksmitteln ein spezifischer Gebrauch
gemacht worden ist, den es zu verstehen gilt. Diese Betonung des Spezifischen, historisch
Konkreten ist im 19. Jahrhundert vor allem im sog. Historismus aufgenommen und
weitergeführt worden. Gegen den Anspruch der sich rapide entwickelnden Naturwissenschaften,
die Wirklichkeit im Ganzen durch Erfassung allgemeiner, die menschliche Geschichte
übergreifender Gesetzmäßigkeiten zu erschließen, wurde im Historismus herausgestellt, dass
alles menschliche Verhalten nur aus einem Kontext verständlich wird. Was historisch geworden
ist, hätte sich auch anders entwickeln können." (Jung 2002)
Von Wilhelm Dilthey (1833-1911) und Martin Heidegger (1889-1976) wurden die
Methodenlehren des Textverstehens zu Theorien ausgebaut, die den Vollzug des Verstehens
als das charakteristisch Menschliche verstehen.
Angeregt durch die Ideen Schleiermachers wollte Wilhelm Dilthey mit dem Programm
einer Psychologie, die das Verstehen fremder seelischer Äußerungen sichern sollte, die
historischen Geisteswissenschaften methodologisch fundieren.
Zentral wird der Begriff der Hermeneutik bei Wilhelm Dilthey auch, weil er zwischen
"Erklären" und "Verstehen" differenziert. Während die Naturwissenschaften bestrebt sind,
"positiv" erkennbare Gegebenheiten der Welt von außen zu erklären, sei es Aufgabe der
Geisteswissenschaften, die "Erscheinungen" der Welt von innen zu verstehen. 'Innen'
meint hier nicht (nur) die Innenwelt des interpretierenden Individuums, sondern vor allem
die Tatsache, dass wir als geschichtliche und gesellschaftliche Wesen uns quasi innerhalb des
zu interpretierenden Gegenstandes befinden (dieser Gegenstand uns jedenfalls nicht
vollständig äußerlich ist).
"So sehr ihn [= Dilthey] auch selber das Streben nach Objektivität in den Geisteswissenschaften
beseelte, er konnte nicht davon abstrahieren, dass das erkennende Subjekt, der verstehende
Historiker, seinem Gegenstand, dem geschichtlichen Leben, nicht einfach gegenübersteht,
sondern von der gleichen Bewegung geschichtlichen Lebens getragen wird. Insbesondere in
seinen späteren Jahren hat Dilthey daher mehr und mehr der idealistischen
Identitätsphilosophie Gerechtigkeit widerfahren lassen, weil im idealistischen Begriff des Geistes
die gleiche substantielle Gemeinsamkeit zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Du,
gedacht war, wie sie in seinem eigenen Begriff des Lebens lag." (Gadamer WM II, 388)
Dilthey entwickelt also das Konzept einer "geisteswissenschaftlichen Methodik" in
Abgrenzung zur "naturwissenschaftlichen Methodik" und ihren offensichtlichen Erfolgen.
Diltheys Bestreben, eine universelle Methodik der auf "geschichtlichen Seelenvorgängen"
-7-
beruhenden Geisteswissenschaften zu entwickeln und diese abzugrenzen von Gegenständen
und Arbeitsweisen der Naturwissenschaften, hat nachhaltigen Einfluss ausgeübt.
Dilthey versuchte allerdings, den universellen Anspruch der Hermeneutik, die Methode aller
Geisteswissenschaften zu sein, auch zu begründen. Hermeneutik war für ihn "Kunstlehre des
Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen". Grundlage der Interpretation ist nicht
mehr die subjektive Schaffenssituation des Autors, sondern die z.B. in der Idee oder im
Kunstwerk dauerhaft fixierte Lebensäußerung. Der Interpret versteht möglicherweise mehr
und anderes im Text als der Autor. Die "Totalität des Lebens", wie sie etwa in
Autobiographien zum Ausdruck kommt, stellt Diltheys "Modellfall" dar. Sowohl der Autor wie
auch der Interpret erscheinen Dilthey als historische Wesen. Er nimmt also die
"Geschichtlichkeit des Verstehens" in den Blick.
Im 20. Jahrhundert versucht der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) mit seiner
"Hermeneutik der Faktizität" eine Neuformulierung hermeneutischen Verstehens.
Auslegendes Verstehen ist nicht mehr auf sprachliche Äußerungen reduziert. Es kommt bei
ihm zur Ausdehnung des Verstehensanspruchs vom Textverstehen auf ein Seinsverstehen:
Verstehen gilt Heidegger als Grundstruktur menschlichen Daseins, das sich auf Möglichkeiten
des In-der-Welt-Seins hin entwirft. In der Ausbildung solchen Verstehens spielt das
Vorverständnis eine zentrale Rolle (Heidegger 1927).
Bei Heidegger bleibt Hermeneutik also nicht auf eine Methode der Geisteswissenschaften
beschränkt. Bei ihm erhält der Begriff Hermeneutik eine umfassende Bedeutung. Nicht nur
unser Wissen über Texte und geistige Produkte, sondern alles Wissen beruht auf Verstehen,
das durch Auslegung unseres Wissens artikuliert wird. Im alltäglichen Handeln versteht sich
menschliches Dasein darauf, in seiner Welt zu sein und sich handelnd zu ihr zu verhalten,
ohne dass dies dem Menschen immer auch bewusst wäre ("Vor-Struktur des Verstehens").
Verstehen ist kein psychischer Akt, sondern eine pragmatische Erschließung der Welt.
Handeln ist immer Sinnverstehen und Interpretieren. Philosophie muss bei diesem Verstehen
ansetzen und wird dadurch zur Hermeneutik.
Es ging Heidegger auch um die epistemologische Frage der Objektivität – und damit um eine
Positivismuskritik: wir erkennen nichts unmittelbar und unvermittelt, sondern
notwendigerweise immer schon aus einem bestimmten Vorverständnis heraus, mit einem
vorstrukturierten Begriffs- oder Verstehensapparat.
Die hermeneutische Philosophie wird zu einer Lehre von der Historizität des Menschen, d.h.
zu der Lehre, dass sich der Mensch als ein In-der-Welt-Seiender "immer schon" in
Verstehenssituationen befindet, die er in einem geschichtlichen Verstehensprozess auslegen
und korrigieren muss.2
Geprägt von diesem seinsgeschichtlichen Denken weitet auch Hans-Georg Gadamer
(1900-2002) den Begriff der Hermeneutik aus. Das Verstehen der humanistischen Tradition
erfolgt gemäß Gadamer (1960) unter dem Einfluss ihrer eigenen Wirkungsgeschichte. Die
historischen Geisteswissenschaften würden sich über Strukturen hermeneutischer Erfahrung
2
Ob und – wenn ja – in welcher Weise Heideggers Philosophie mit seiner (zumindest zeitweise NSnahen) politischen Einstellung verknüpft ist, ist weiterhin Gegenstand heftiger Debatte: vgl. dazu
jüngst die Rezension des Philosophie-Historikers Kurt Flasch (Flasch 2005).
-8-
verständigen, die vom methodologischen Selbstbewusstsein dieser Wissenschaften unter der
Oberfläche verborgen sind.
Kennzeichnend für diese Strukturen sind
•
die durch und durch sprachliche Verfasstheit unserer Weltorientierung
•
eine Vorurteilsabhängigkeit allen Verstehens
•
ein Verstehen, das nicht Handlung erkennender Subjektivität ist, sondern "Einrücken in
ein Überlieferungsgeschehen", in dem der Horizont der Gegenwart mit demjenigen der
Vergangenheit verschmilzt.
"Wir erinnern daran, dass Verstehen, was einer sagt, keine Einfühlungsleistung ist, die
das Seelenleben des Redenden errät. Gewiss gehört zu allem Verstehen, dass das
Ausgesprochene durch okkasionelle Sinnergänzung seine Bestimmtheit gewinnt. Aber
diese Bestimmtheit durch die Situation und den Zusammenhang, die eine Rede zur
Totalität des Sinnes ergänzt und das Gesagte erst gesagt sein lässt, kommt nicht dem
Sprechenden, sondern dem Ausgesprochenen zu." (Gadamer 1990, 493)
Nicht nur unser Wissen über Texte und geistige Produkte, sondern alles Wissen beruht auf
Verstehen, das in einer Auslegung unseres Wissens erläutert wird. Gadamers Anliegen ist es,
die Kluft zwischen den "Denkkulturen" der Natur- und der Geisteswissenschaften zu
überbrücken.
Hermeneutik in den Sozialwissenschaften
Jürgen Habermas (1967 und 1971) hat erörtert, welche Bedeutung Gadamers Hermeneutik
für die Selbstreflexion empirisch-analytischer Handlungswissenschaften haben kann, in
denen es ebenfalls um die Erforschung des Sinnverstehens geht. Habermas kam zur Ansicht,
dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem "sinnverstehenden Sozialwissenschaftler"
und seinen "Objekten", nämlich den zu verstehenden Handlungen, ihren Ergebnissen und
Akteuren. Von sozialwissenschaftlicher Relevanz ist eine Hermeneutik, die geeignet ist, den
Sozialwissenschaften in der Reflexion auf grundlegende Voraussetzungen ihrer Forschung
eine orientierende Perspektive zu vermitteln. Zugleich kritisierte Habermas Gadamers
teilweise unkritische Haltung gegenüber unserem geschichtlichen Vorverständnis. Weiters
verwies Habermas darauf, dass Hermeneutik (und 'verstehende Soziologie') dazu tendiere,
den "objektiven Zusammenhang, aus dem soziale Handlungen allein begriffen werden
können", auf Sprache zu reduzieren, und dabei Strukturen und Prozesse ökonomischer und
politischer Art ignoriere (Habermas 1971).
Systematik: Hermeneutische Methodologien, Formen der Hermeneutik
Die beiden hermeneutischen Grundeinstellungen, die auf Platon und Aristoteles zurückgehen,
haben in verschiedenen Typen hermeneutischer Methodologie bzw. "Hermeneutiken" ihren
Niederschlag gefunden: dogmatische und zetetische Hermeneutik. (Diese
Unterscheidung stammt von dem griechischen Arzt und Philosoph Sextus Empiricus.)
Die dogmatische (autoritätsgebundene, schulmäßig oder fachlich eingeschränkte)
Hermeneutik ist die Methodologie des interpretierenden Umganges mit institutionell
-9-
geprägten "autoritativen" Texten und Dokumenten. Zu diesen gehören "heilige" Schriften
(die Bibel, der Koran, der Talmud usw.) oder geltende Gesetzestexte.
Die zetetische (forschende) Hermeneutik ist aus der dogmatischen entstanden. Sie
verdankt sich der Kritik an der Verengung des Blickwinkels der dogmatischen Ausleger
heiliger Schriften, der Gesetze und klassischer Autoritäten. Da eine kritische, forschende
Einstellung im modernen Wissenschaftssystem als einzig angemessene gilt, bestehen
Widerstände gegen die Verwendung schon des Terminus "dogmatisch" im Zusammenhang
wissenschaftstheoretischer Erörterungen, daher wird jede Art von Auslegung für eine
"forschende" gehalten.
Die zetetische Hermeneutik setzt voraus, dass grundsätzlich alles Textmaterial, darin
eingeschlossen auch dogmatische Texte, und darüber hinaus auch alle Arten von
Kulturdokumenten, in ihren Gegenstandsbereich fallen.
Ebenso setzt sie voraus, dass alle Dokumentarten in ihrem Zeichenvorrat schon bestimmten
Sinn und Bedeutung enthalten, den es in der jeweiligen Interpretation "auszuschöpfen" und
mittels "Interpretation" wiederzugeben, zu "rekonstruieren" gelte.
Prinzipien der zetetischen Hermeneutik:
•
Interdisziplinarität: Das bedeutet, dass das zum zetetischen Verstehen notwendige
Wissen grundsätzlich aus allen jeweils einschlägigen Disziplinen gleichsam
zusammengeholt werden muss. Die/der wirkliche "Gelehrte" muss in der Lage sein, auch
über ihre/seine Fachgrenzen hinaus "Vorwissen" aufzunehmen und sich für ihre/seine
Verstehensbemühung zunutze zu machen.
•
Sie ist Wahrheitskriterien unterworfen. Das heißt, dass nur die Resultate zetetischer
Interpretation (und nicht: 'Eingeweiht-Sein', 'Nähe zum Autor' oder dgl.) als (vorläufig)
wahr3, falsch oder gegebenenfalls auch als wahrscheinlich gekennzeichnet werden
können.
•
Nachvollziehbarkeit: Die Kriterien der Interpretation (des "hermeneutischen Zirkels")
müssen offengelegt werden, ebenfalls offengelegt werden muss das Vorverständnis von
Begriffen.
•
Wissenschaftlichkeit der Methodenverwendung und der Einbettung der vorgeschlagenen
Interpretation in den Kontext des einschlägigen interdisziplinären Wissens.
•
Revidierbarkeit: Die prinzipielle Möglichkeit der Revidierbarkeit bzw. Widerlegbarkeit der
hermeneutischen Interpretation muss gegeben sein.
•
Setzt man beim zetetisch zu interpretierenden Dokument historisch und systematisch
beschränkten Sinngehalt voraus, so dass – wie Kant schon bemerkte – in der Regel "der
Autor besser verstanden werden kann, als er sich selbst verstanden hat".
3
Es kann prinzipiell keine absolute und für alle Zeiten gültige Interpretation geben.
- 10 -
Regeln der Interpretation
Die Kanons bzw. Regeln der zetetischen Hermeneutik sind nicht unumstritten. Die
Verabsolutierung des einen oder anderen Kanons unter Vernachlässigung anderer bestimmt
nachhaltig die Kontroversen über das, was eigentlich Hermeneutik sei.
Manche Autoren – wie etwa Hans-Georg Gadamer – gehen davon aus, dass es überhaupt
keine Regeln geben könne, da forschendes Interpretieren u.a. eine Sache der "künstlerischen"
Intuitionen sei.
Um sich über die faktischen Regeln zu vergewissern, ist es auch heute noch sinnvoll, sich an
dem von Aristoteles für alle Forschung aufgestellten Schemata der sog. Vier Ursachen zu
orientieren, welches "Erklärungsgründe", d.h. auch Interpretationsargumente, in vier
verschiedenen Dimensionen aufzusuchen empfiehlt (vgl. dazu oben auch die von Johann
Konrad Dannhauser erstellten Regeln des Interpretierens!). Es gilt demnach
1. die "materiale" Textbasis eines zu interpetierenden Dokumentes bibliographisch und
kontextuell zu sichern,
2. die "formalen" Bedingungen der Textgestalt (Disposition, Gattungszugehörigkeit) und die
die Ausdrucksformen prägenden Ideen in ihrer grammatischen und logischen Form zu
eruieren,
3. den "Ursprung und die Herkunft" des Textes (ggf. von einem Autor, aus einer Schule,
aus einer Epoche) nach Anlass und Umständen seiner Entstehung und den Wirkfaktoren
bzw. Traditionen, die hierauf "Einfluss" ausübten, festzustellen, und
4. den Zweck bzw. die Intention eines Textes (man sagt allerdings meist: des Autors) zu
klären, wozu man sich bei älteren Texten der Einbeziehung der sog. Wirkungsgeschichte
bis auf das eigene gegenwärtige Interesse des Auslegers an seinem Text versichern
muss.
Methode der Hermeneutik: der "hermeneutische Zirkel"
Besagt, dass man beim Interpretieren aus dem Einzelnen und Besonderen das Allgemeine
und Ganze (Gesamtzusammenhang, Grundabsicht) erschließen und von da aus wieder das
Einzelne neu interpretieren müsse. Ziel der Hermeneutik ist es, vom Besonderen (dem
subjektiven Verstehen) zu einem objektiven Sinn-Verständnis zu gelangen. (Vgl. auch Ast
und Schleiermacher)
Der Ausdruck "hermeneutische Differenz" oder auch "Distanz" macht auf ein Grundproblem
aller sprachlichen Kommunikation wie auch reflektierter Interpretation aufmerksam: Was
verstanden bzw. gedeutet werden soll, ist zunächst fremd, distanziert, und muss erst im
Verstehens- bzw. Deutungsprozess "angeeignet" werden. Das ist immer eine Quelle für MissVerstehen, das – zusätzlich zu den Interpretationsmethoden und -regeln – durch Debatte
und Diskussion minimiert werden sollte.
Drei Komponenten der hermeneutischen Differenz:
•
linguistische Differenz: Verstehen und Auslegung setzen die Zugehörigkeit zur
Sprachgemeinschaft der jeweiligen Äußerung bzw. die spezifische Sprachkompetenz
- 11 -
voraus. Deshalb ist die Übersetzung von Werken in eine andere Sprache einerseits
Voraussetzung der Interpretation, aber auch selbst schon ein interpretierender Akt.
•
historische Differenz: bezeichnet die zeitliche Distanz zwischen Textproduktion und interpretation. Dies zeigt sich zum einen in sprachlicher Hinsicht z. B. durch veraltete
Wörter, Ausdrucksformen und Bedeutungsveränderung, zum anderen aber auch in
sachlicher Hinsicht, wie z.B. erklärungsbedürftige Fakten, Namen, Zusammenhänge.
•
poetologische/rhetorische Differenz: bezeichnet die Tatsache, dass unterschiedliche
Menschen differente rhetorische Mittel etc. benutzen (z.B. Fachausdrücke in
wissenschaftlichen Texten). Deren Funktion und Bedeutungspotential muss erkennen,
wer den Text verstehen und angemessen interpretieren will.
Appendix
Begriffe:
Methodologie
Forschungsansatz
Methode
(aus der 5. Einheit)
Hermeneutik
Interpretation
Wörtlicher Sinn (Literalsinn)
Allegorischer Sinn
Allegorese
Scholastik
Exegese
Humanismus (der Renaissance)
Hermeneutik der Rechtswissenschaften
Hermeneutische Techniken nach J.K. Dannhauser
Historizität
Aufklärung
Vertreter der Hermeneutik der Aufklärung und der Romantik
Verstehen – Erklären (aus Diltheys Sicht)
Dogmatische Hermeneutik
Zetetische Hermeneutik
Interdisziplinarität
Hermeneutischer Zirkel
Hermeneutische Spirale (Schleiermacher)
Hermeneutische Differenz
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Literatur:
In der Vorlesungseinheit 6 (30. November 2006) erwähnte bzw. verwendete Literatur in der
Reihenfolge der Nennung
•
Matthias Jung (2002): Hermeneutik zur Einführung. Hamburg.
•
Wilhelm Dilthey (1883): Einleitung in die Geisteswissenschaften. Frankfurt/Main 1959
•
Wilhelm Dilthey (1910): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften.
Frankfurt am Main, 3. Aufl. 1990
•
Martin Heidegger (1927): Sein und Zeit. Tübingen, 17. Aufl. 1993
•
Kurt Flasch (2005): Er war ein nationalsozialistischer Philosoph (Rezension zu: Emmanuel Faye
(2005): Heidegger, l'introduction du nazisme dans la philosophie. Paris). In: Süddeutsche Zeitung
Nr. 134 vom 14. Juni 2005, S. 16.
•
Paul Ricoeur (1974): Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt/Main (frz. Orig.: 1969)
•
Hans-Georg Gadamer (1960): Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik. Tübingen
•
Jürgen Habermas (1967): Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt/Main
•
Jürgen Habermas (1971): Zu Gadamers 'Wahrheit und Methode' und Der Universalitätsanspruch
der Hermeneutik. In: Karl-Otto Apel/ Claus v. Bormann/ Rüdiger Bubner/ Hans-Georg Gadamer/
Hans Joachim Giegel/ Jürgen Habermas (1971): Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt/Main.
45-56 und 120-159
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