SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst Der belgische Kompromiss Ein König, drei Sprachen, sechs Parlamente Autoren: Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza Redaktion: Udo Zindel Regie: Andrea Leclerque Sendung: Freitag, 08.06.2012, 8.30 Uhr, SWR 2 _____________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Manuskripte für E-Book-Reader E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. Ab sofort gibt es auch die Manuskripte von SWR2 Wissen als E-Books für mobile Endgeräte im so genannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch so genannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books. http://www1.swr.de/epub/swr2/wissen.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de _____________________________________________________________ 1 Nationalhymne-Mix: Französisch / Niederländisch / Deutsch O Belgique, ô mère chérie, A toi nos coeurs, à toi nos bras ... Onze ziel en ons hart zijn u gewijd. Aanvaard ons hart en het bloed van onze adren... Groß und schön wirst Du immer leben Und der Wahlspruch Deiner unverbrüchlichen Einheit wird heißen: Für König, Recht und Freiheit! … Sprecherin: Französisch, Niederländisch, Deutsch – die belgische Nationalhymne wird in drei Sprachen gesungen, denn das belgische Königreich vereint drei Sprachgemeinschaften. Doch die Einheit des Staates wackelt mit jeder neuen politischen Krise. Vor allem die Auseinandersetzungen zwischen den Niederländisch sprechenden Flamen und den frankophonen Wallonen erschüttern das komplizierte belgische Staatsgebilde immer wieder. Die jüngste Krise hatte mit den Wahlen im Juni 2007 begonnen. 541 Tage blieb Belgien sogar ganz ohne Regierung. Erst im Dezember 2011 gelang es dem wallonischen Sozialistenführer Elio di Rupo, die Krise zu beenden und eine neue Mehrparteien-Regierung zu bilden. Doch keiner weiß, wie lange sie Bestand haben wird. Ansage: „Der Belgische Kompromiss – Ein König, drei Sprachen, sechs Parlamente“, eine Sendung von Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza. Sprecherin: Belgien ist heute ein föderaler Bundesstaat, aufgeteilt in drei kulturell und politisch weitgehend autonome Sprachgemeinschaften: in die französische und flämische, die beiden großen – und eine kleine deutsche. Alle drei haben eigene Parlamente mit gesetzgebender Kompetenz. Gleichzeitig gliedert sich Belgien in drei selbständige Wirtschaftsregionen mit weit reichenden Machtbefugnissen und ebenfalls eigenen politischen Kammern: das frankophone Wallonien, das Flämisch – oder genauer Niederländisch – sprechende Flandern und das zweisprachige Brüssel, wo man Französisch und Niederländisch spricht. Ein verwirrendes politisches Gebilde, dem zusätzlich noch das gesamtbelgische Parlament vorsteht. Und: Über allem wacht der König von Belgien, Albert II. Nach mehreren Staatsreformen, die das Land 1993 in einen föderalen Bundesstaat umgewandelt haben, ist Belgien bis heute ein kompliziertes Provisorium geblieben, das immer wieder auseinander zu brechen droht und einer grundlegenden Staatsreform harrt. Ein Konfliktherd – vor dem Hintergrund eines Jahrhunderte alten Sprachenkampfes im Herzen Europas. O-Ton – Jacques de Decker: Meine Mutter war schon in Brüssel geboren und hatte schon auf Französisch die Schule gefolgt. Sie war mehr französisch Sprechende als mein Vater, aber mein Vater war ein Kunstmaler, und er hatte an der Akademie in Brüssel gelehrt auf Französisch. Sie waren alle beide zweisprachig schon, aber ihre Familien, ihre Brunnen, waren alle flämisch. Sprecherin: 2 Jacques de Decker ist Jahrgang 1945 und französischsprachiger Belgier. Der Schriftsteller, Dramatiker und Journalist wurde in Brüssel geboren, wo er auch noch heute lebt. De Decker ist Sekretär der Königlichen Akademie für Sprache und Literatur der Französischen Gemeinschaft Belgiens und publiziert in französischer Sprache. O-Ton – Jacques de Decker: Wenn ich zur Schule gehen sollte, wenn ich sechs geworden bin, hatten Sie eigentlich nicht die Wahl. In Schaerbeek, das war ein Teil von Brüssel, gab es auf diesen Augenblick sechsmal mehr französische Schulen als flämische, und natürlich die Eltern dachten, ich werde mein Kind in eine französische Schule schicken, nicht um Französisch zu lernen, aber einfach, um in einer besseren Schule zu sein. Sprecherin: Auch für den belgischen Schriftsteller Geert van Istendael stand als Kind nicht seine flämische Muttersprache sondern zunächst einmal Französisch auf dem Stundenplan. O-Ton – Geert van Istendael: Das Französische war die gehobene Sprache, die bessere Sprache, die Sprach der Oberschicht. Und meine Mutter hat immer gesagt: Erstmal Französisch lernen, nicht die Muttersprache, erst mal Französisch lernen. Haben wir auch gemacht, wenn wir aus Holland zurückgekommen sind, und wenn ich ein kleiner Junge war, hat man mir doch manchmal gesagt: sale petit flamend, schmutziger kleiner Flame. Sprecherin: Geert van Istendael wurde 1947 in Brüssel geboren und verbrachte nach einem fünfjährigen Aufenthalt in den Niederlanden Kindheit und Jugend im flämischen Löwen, wo er auch studierte. Deutschen Lesern wurde van Istendael durch seinen 2007 erschienenen Essayband „Mijn Duitsland“ – mein Deutschland – bekannt. Seit 1980 lebt der weltoffene Belgier wieder in Brüssel. O-Ton – Geert van Istendael: In die Kleinstadt Löwen, die damals noch ziemlich zweisprachig war, in der Primarschule gab’s eigentlich in einer Schule zwei Abteilungen, eine für uns und eine für die Besseren, die sprachen Französisch damals. Die Stadt war ganz zweisprachig ausgeschildert. Und in den besseren Läden sprach man Französisch. Meine Mutter hatte immer Schwierigkeiten, ganz, auf natürliche Weise zu sagen zum Beispiel „geschiedenis“, Geschichte, sagte sie nie, „histoire“ sagte sie und „aardrijkkunde“, das heißt Geographie auf Deutsch, „géographie“ sagte sie. Und das war für sie felsenfest, Französisch war die bessere Sprache. Sprecherin: Im Osten Belgiens, in Eupen – heute die Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft – wuchs Freddy Derwahl auf, ebenfalls Schriftsteller und Journalist. Die so genannten Ostkantone kamen nach dem Ersten Weltkrieg zu Belgien. Zuvor waren die Gebiete um Eupen, Malmedy und St. Vith Teil des Königreichs Preußen und des Deutschen Kaiserreiches gewesen. O-Ton – Freddy Derwahl: Die Sprache war natürlich in der Familie einsprachig, deutsch, und mit einigen Brüchen danach immer mehr französisch, weil, wir lebten ja damals doch hier im Sog der Wallonie. Und man darf nicht vergessen, dass es hier in der Nachkriegszeit aus 3 politischen Gründen nicht so sehr gewünscht war, wenn man so sehr auf die deutsche Sprache pochte, und so war das alles auch ein Seiltanz. Sprecherin: Freddy Derwahl ist Jahrgang 1946 und lebt in seiner Geburtsstadt Eupen, rund 20 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Derwahl schreibt in deutscher Sprache. O-Ton – Freddy Derwahl: Ich hatte immer mehr den Eindruck, dass ich hier, dass das zwar das Land meiner Muttersprache war, aber nicht das Vaterland, dass da ein sehr sensibler Unterschied gemacht wird. Wir hatten Geographie-Unterricht und mussten dann auch so Nebenflüsse auf Französisch lernen, die wir gar nicht kannten, und ich stellte fest, dass unsere Gegend oder wie man heute sagt, Gemeinschaft, in diesem Buch gar nicht vorkam. Und ich fand das also echt unverschämt, aber noch mehr bedauerlich. Das war wieder so ein Hinweis des Unwillkommenseins. Und das Allerstärkste war dann, als Fußballfan sehr niedriger Klassen tingelten wir dann hier so über die Plätze mit unserer Mannschaft und sobald das Spiel dann heftiger wurde, beschimpfte man uns als Boche, also als dreckiger Deutscher, das war das französische Schimpfwort in der Zwischenkriegszeit für Deutsche. Sprecherin: Der belgische Staat entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Napoleon geschlagen war und die Siegermächte Preußen, Österreich-Ungarn, Großbritannien und Russland ihre Macht- und Einflussgebiete in Europa neu aufteilten. Dabei beschlossen sie auf dem Wiener Kongress 1815 die Zwangsvereinigung der seit der Reformation getrennten Königreiche der nördlichen, protestantischen Niederlande und der südlichen, katholischen Niederlande, wo Flamen und Wallonen zusammenleben. Das neue Staatsgebilde wurde fortan „Vereinigte Niederlande“ genannt. Unter der despotischen Regentschaft von Wilhelm I. von Oranien kommt es zu heftigen religiösen, wirtschaftlichen und sprachlichen Konflikten. Musik: Oper „Die Stumme von Portici“, 3. Akt: Duett „Amour sacré de la patrie“ Sprecherin: Als am 25. August 1830 im Brüsseler Théatre de la Monnaie Aubers Oper „Die Stumme von Portici“ in den 3. Akt geht und die heilige Liebe zum Vaterland beschworen wird, stürzt das Publikum plötzlich wie auf ein geheimes Zeichen auf die Straße und schließt sich einer Demonstration von Arbeitern und bewaffneter Bürgerwehr an. Der Protest gilt Wilhelm I. von Oranien, dem verhassten calvinistischen König. Es ist der Beginn eines gemeinsamen Volksaufstandes der katholischen Flamen und der liberal denkenden Wallonen. Der Volksaufstand führt mit Hilfe der Franzosen am 4. Oktober 1830 zur Proklamation der Unabhängigkeit des südlichen Landesteiles, der sich nach alter römischer Namensgebung Belgae – Belgien nennt. Das neue Staatsgebiet wird nicht nur eine konstitutionelle, parlamentarische Monarchie, sondern auch ein Nationalstaat zweier Sprach- und Kulturgruppen. Mehr als ein Jahrhundert lang wird allerdings versucht, kulturelles Einheitsbewusstsein allein auf Grundlage der französischen Sprache zu entwickeln, erzählt der flämische Schriftsteller Geert van Istendael: 4 O-Ton – Geert Van Istendael: „On parle le flamend aux animaux et domestiques“ – „man spricht Flämisch mit den Tieren und mit den Knechten“ – in dieser Reihenfolge, das ist nicht schön, nicht. Die sagten einfach: Die haben keine Sprache, die haben 70 Sprachen, die verstehen einander nicht und so weiter sagten sie das. Besonders: Flämisch und Holländisch waren grundverschiedene Sprachen, was natürlich falsch ist. Das ist nicht so. Die Österreicher sprechen auch deutsch, das ist eine Sprache. Wir haben eine Grammatik, ein Wörterbuch, aber das waren so die Argumente. Sprecherin: Flandern, Mitte des 19. Jahrhunderts eine verarmte Agrarregion, wird französisiert, obwohl das einfache Volk kaum Französisch spricht und versteht. Über Jahrzehnte bleibt Französisch, die Sprache der Bourgeoisie, die Amtssprache. Dem Niederländischen wird der Status einer vollwertigen Kultursprache verweigert. Flämisch, ein Dialekt des Niederländischen, gilt als minderwertig. O-Ton – Jacques De Decker: Dann fängt an um 1835/1840 schon die so genannte flämische Bewegung, und die flämische Bewegung, darin findet man erst und vor allem Intellektuellen und die meisten sind natürlich französischsprechend, aber sie kennen noch die flämische Kultur und sie sind davon überzeugt, dass natürlich die Flamen das Recht haben, ihre eigene Sprache zu sprechen und zu verteidigen. Aber es wird sehr lange dauern. Sprecherin: Ende des 19. Jahrhunderts wird Niederländisch dem Französischen als Amtssprache gleichgestellt. Doch nur wenige belgische Beamte und Angestellte sprechen Niederländisch oder wollen es lernen. Zudem können sie bei der Erledigung ihrer Amtsgeschäfte die Sprache frei wählen. Teils aus Tradition und Bequemlichkeit, teils aus sozialer Überheblichkeit entscheiden sie sich fast immer für Französisch. Erst durch die Sprachgesetzgebung von 1932 kommt es zu einem grundlegenden Wandel: Flandern wird zu einem einsprachigen Landesteil. Sprecherin: Nach 1945 kämpfen die Flamen um eine geographisch festgelegte Sprachgrenze, die bislang noch durch umstrittene Sprachzählungen in den Städten und Gemeinden ermittelt wird. Je nach ihrer Mehrheitssprache werden Kommunen entweder der französischen oder niederländischen Sprachgemeinschaft zugerechnet. Zum Zankapfel werden insbesondere die Randgebiete der Hauptstadt Brüssel. Ursprünglich meist flämisch, werden mehrere Vororte durch eine starke Zuwanderung französischsprachiger Brüsseler frankophon. Die Flamen befürchten, dass ihre Sprache zurückgedrängt wird. Archiv-Atmo: Kundgebung , Redner für ein eigenständiges Flandern (aus: Zeitzeichen vom 01.09.1978): „Lat de Fandrich net langer warte…“ Sprecherin: Die massiven flämischen Proteste führen Anfang der 60er Jahre zu einer heftigen Krise. Unter enormem politischen Druck beschließt das Parlament 1963 eine dauerhafte territoriale Sprachgrenze. So wird Belgien, grob gesprochen, aufgeteilt in einen nördlichen, flämischen Teil, der Niederländisch spricht, und einen südlichen, 5 wallonischen Teil, der Französisch spricht. Brüssel erhält als zweisprachige Region einen Sonderstatus. Mit der Sprachgrenze ist der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen aber keineswegs gelöst. An der Katholischen Universität Löwen kommt es Ende der 60er Jahre zu einer dramatischen Eskalation. Archiv-Atmo: Studenten-Kundgebung, Löwen (aus Zeitzeichen 15.Dez. 65): „Walen buiten, Walen buiten… Leuven flams, leuven flams… Wallonen raus, Wallonen raus… Löwen den Flamen, Löwen den Flamen …“ Sprecherin: Die international renommierte Hochschule liegt auf flämischem Gebiet unweit von Brüssel. Trotz territorialer Sprachgrenze sind hier nach wie vor flämische und wallonische Studenten eingeschrieben. Doch die Flamen fühlen sich von der wachsenden Zahl wallonischer Kommilitonen zurückgedrängt und fordern immer vehementer den Abzug französischsprachiger Professoren und Studenten. Auch die Schriftsteller Freddy Derwahl und Geert van Istendael studierten damals in Löwen. O-Ton – Geert van Istendael: Für die belgischen Verhältnisse war es ziemlich brutal. Es war mit Steinen geschmissen, und die Professoren sind mitgegangen mit den Studenten. Das ist auch eigenartig. Nicht weil die Professoren linksradikale Leute waren wie in Berkeley, aber die waren für die flämische Emanzipation, das war es eigentlich. Sprecherin: Anfang 1968 wird die Spaltung der Katholischen Universität Löwen politisch beschlossen. Südlich von Löwen, auf dem Gebiet der Wallonie, wird für die Frankophonen eine neue, moderne Universitätsstadt aus dem Boden gestampft, „Louvain-la-Neuve“, das neue Löwen. Bei der Aufteilung der 1,3 Millionen Bände aus der Zentralbibliothek einigt man sich überraschend problemlos: Bücher mit ungerader Registriernummer bleiben in Löwen, die anderen kommen zur neu gegründeten französischsprachigen „Université Catholique de Louvain“. O-Ton – Geert van Istendael: Die Französischsprachigen, das hab ich nachher gehört von meinen Freunden in der Wallonie und im französischsprachigen Brüssel, waren sehr traumatisiert davon. Die sagten, die Flamen sind Rassisten, das ist auch nicht so, natürlich. Und die haben nicht verstanden, dass es endgültig vorbei war mit der französischen Sprache in den flämischen Provinzen. Sprecherin: Mit dem Streit um die Universität Löwen beginnt die Spaltung der belgischen Parteien, zunächst der mehrheitlich regierenden Christdemokraten. Während ihr flämischer Flügel die Universitätsspaltung befürwortet, stellt sich die wallonische Fraktion strikt dagegen. Premierminister Paul van den Boeynants vermag den Streit nicht mehr zu schlichten. Seine Regierung tritt zurück. 6 Die Spaltung der Parteien verstärkt den Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen weiter und schwächt den belgischen Einheitsstaat. Keine der großen Parteien ist mehr landesweit aktiv – keine steht mehr in ganz Belgien zur Wahl. Nur die in der zweisprachigen Region Brüssel lebenden Belgier können zwischen flämischen und wallonischen Parteien entscheiden. Belgische Politiker denken jetzt ernsthaft über eine tiefgreifende Reform nach, vom Einheitsstaat zum föderalen Bundesstaat. 1969 ändern sie die Verfassung und teilen das Land in drei autonome Kulturgemeinschaften auf. Fragen der Sprache und Bildung können die Gemeinschaften fortan eigenständig entscheiden. Darüber hinaus werden drei selbständige wirtschaftliche Regionen geschaffen: Flandern, die Wallonie und das zweisprachige Brüssel. Jetzt erhält auch die deutschsprachige Region im Osten der Wallonie den Status einer eigenen Sprach- und Kulturgemeinschaft: das Gebiet der ehemaligen Kreise EupenMalmedy und St. Vith, die 1920 nach dem Friedensvertrag von Versailles vom Deutschen Reich an Belgien abgetretenen worden waren. Amtierender Ministerpräsident ist Karl-Heinz Lambertz. O-Ton – Karl-Heinz Lambertz: Also man hat jetzt nicht dieses Autonomiestatut für diese knapp 75.000 Menschen in Ostbelgien erfunden, um der deutschsprachigen Minderheit einen besonderen Gefallen zu tun, sondern sie ist die Konsequenz des Umbaus Belgiens in einen Bundesstaat, wegen der Konflikte zwischen Flamen und Wallonen. Ohne diesen Konflikt und ohne den Versuch, diesen Konflikt über den Einsatz bundesstaatlicher Strukturen in den Griff zu bekommen, gäbe es natürlich die Deutschsprachige Gemeinschaft so wie wir sie heute kennen nicht. Atmo: Drei-Sender-Mix ( RTBF, VRT, BRF) Sprecherin: Jede Volksgruppe vermittelt jetzt – oft populistisch und sehr zuschauer- und zuhörerwirksam – in eigenen Fernseh- und Rundfunkanstalten ihre Meinung zum Landes- und Weltgeschehen. Und Zeitungen sind eher kleinere regionale Publikationen mit klarem Bezug zur jeweiligen Gemeinschaft. O-Ton – Geert van Istendael: Die Flamen lesen keine französischsprachigen Zeitungen mehr. Vorher ja, aber jetzt nicht mehr. Und die Wallonen haben nie eine flämische Zeitung gelesen O-Ton – Jacques De Decker: Früher sagten die Flamen, es ist nicht so ein großes Problem, französisch zu sprechen, weil sie nach der französischen Television guckten, weil sie die französische Film sahen und die Chansons und so weiter. Das ist nicht mehr der Fall. Jetzt ist – wenn sie die Kulturblätter in die Zeitungen sehen in Flamen, sehen sie, dass sie viel mehr wissen über englische Kultur, selbst deutsche Kultur als auf französische Kultur. Sprecherin: 7 Die medialen Parallelwelten verengen den Blick, so dass sich die Regionen immer mehr aus den Augen verlieren. Auch im Schulunterricht steht oft die regionale Gemeinschaft mehr im Vordergrund als das gemeinsame Staatswesen. O-Ton – Jacques De Decker: Jetzt haben die französischen Kinder und die flämische Kinder nicht mehr dieselbe Geschichte, und es gibt ein Unterschied, was man im Süden und im Norden liest und gebraucht als Schulbücher. Und die Schulbücher jetzt in Flandern sind Geschichten von Flandern und nicht so mehr Geschichten von Belgien. Sprecherin: Vor allem die flämische Seite fordert immer wieder die endgültige Trennung. Am äußersten rechten Rand der flämischen Parteien kocht der extremistische „Vlaams Belang“ sein rassistisches Süppchen. In Flandern erreicht diese Partei bei regionalen Wahlen bis zu 24 Prozent der Stimmen und stellt in manchen Städten und Gemeinden die Mehrheitspartei. Doch nirgendwo konnten die Extremisten bislang Positionen in politischer Verantwortung besetzen. Denn seit 1991 haben sich alle bürgerlichen Parteien Belgiens verpflichtet, keine Koalition mit dem rechtsradikalen „Vlaams Belang“ einzugehen: der so genannte „cordon sanitaire“, eine Art politischer Sperrgürtel. Ausländische Medien beschwören gerne die Popularität flämischer Extremisten. Doch Marc Swyngedouw, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Löwen, kommt bei seinen Wählerumfragen zu höchst überraschenden Ergebnissen. O-Ton – Marc Swyngedouw, darüber Übersetzer: „Wat moeten we dan vaststellen, … steun voor een onafhankelijk Vlaanderen.“ Wir haben festgestellt, dass wir seit 1991 einen nationalistischen Wähleranteil von höchstens neun Prozent in Flandern haben. Wenn Sie fragen: „Finden Sie es wichtig, dass Flandern unabhängig wird?“, dann liegt die Zustimmung bei höchstens vier Prozent. Mit anderen Worten: Es gibt bei den Flamen keine populäre Bewegung für ein unabhängiges Flandern. Sprecherin: Das jahrzehntelang als Bauernland verachtete Flandern hat sich längst aus dem wirtschaftlichen und kulturellen Abseits emporgearbeitet. Bis Anfang der 60er Jahre sicherte vor allem der reiche frankophone Süden mit seiner blühenden Kohle- und Stahlindustrie den Wohlstand Belgiens. Doch nach dem Niedergang der Schwerindustrie sind vor allem die fortschrittlichen Städte des flämischen Nordens zum Motor von Belgiens Wirtschaft geworden. Rund sieben Milliarden Euro fließen heute jährlich an Unterstützung aus dem prosperierenden Flandern in die marode Wallonie. O-Ton – Jacques De Decker: Den Profil einen Flamen ist jetzt moderner als der Profil des Wallonen, weil sie mehr Mittel haben, weil sie mehr reisen, das ist das Paradoxe. Die Flamen werden Weltbürger, wenn sie genug Geld haben, um in die ganze Welt zum reisen, was die Wallonen nicht tun. /…/ Sie sollten glücklich sein, warum sind die Flamen nicht glücklicher? Sprecherin: Dennoch sehen viele trotz der heftigen Auseinandersetzung zwischen Flamen und Wallonen auch eine große Verbundenheit der beiden Sprach- und Volksgruppen. Ein gemeinsames belgisches Lebensgefühl: das ist weit mehr als der beidseitige Genuss 8 von Abteibier und Fritten, mehr auch als weltweite Exportschlager wie zum Beispiel die Kriminalromane von Georges Simenon, die berühmten Tim und Struppi Comics oder die gemeinsame Bewunderung von Adolphe Sax, dem belgischen Erfinder des Saxophons. Jacques de Decker meint: O-Ton – Jacques De Decker: Für mich ist das erste und vor allem, es ist sehr wichtig, Lifestyle. Zwischen dem flämischen und wallonischen Lifestyle sehen Sie keinen so großen Unterschied. Der Style, the way of life ist derselbe, und heutzutage ist vielleicht die Kultur viel mehr als nur die schöne Künste. Sprecherin: Jean Paul Detaille, ehemaliger Wirtschafts- und Handelsattaché der Wallonie, und Professor Marc Swyngedouw glauben auch, dass die historisch gewachsene Tradition von Flamen und Wallonen nach wie vor große Bedeutung hat. O-Ton – Jean Paul Detaille: Die Flamen so wie die Wallonen sind Lebensgenießer, die sind einfache Menschen, die sind eher, ja, kompromissbereit, die sind nicht kompliziert, die bezeichnen sich selbst sehr oft im Unterschied zu den, zwischen Anführungszeichen, „gehassten“ Calvinisten aus dem Norden, die beschreiben sich also als B u r g u n d e r. Und für ein Flame ein Burgunder zu sein, das heißt nicht nur, ein Burgunderwein trinken, das heißt „quelqu’un qui aime la manière de vivre la bourguignonne“, das teilen einfach also mit einem hohen Level an Unkompliziertheit und an Spontaneität, das teilen absolut fast also eins zu eins die Flamen und die Wallonen. [O-Ton – Marc Syngedouw, darüber Übersetzer: „Ik denk dat de eenheden veel … cultuur, we hebben niet de protestante cultuur.“ Ich glaube, dass die Gemeinsamkeiten wichtiger sind. Stellt man die Wallonen vor die Wahl, sich für Frankreich oder Belgien zu entscheiden, votieren sie eindeutig für Belgien. Ebenso eindeutig fällt die Entscheidung der Flamen für Belgien aus, wenn sie vor die Alternative Belgien oder Niederlande gestellt werden.Wir sind auch ein katholisches Land, wir haben keine protestantische Kultur.] Sprecherin: Dass die Gemeinsamkeiten zwischen Flamen und Wallonen tiefer verankert sind als vielfach angenommen, dafür spricht auch die Bewältigung der großen Regierungskrise, die nach den Wahlen im Juni 2007 begann und die die Einheit Belgiens vor eine nie da gewesenen Zerreißprobe stellte. Flamen und Wallonen bekämpften sich bis aufs Blut. Die Regierungen wurden gewechselt wie die Unterhemden, und schließlich blieb das Land 541 Tage ohne Regierung. Aber das Leben ging weiter wie zuvor. Belgien schaffte es sogar, in dieser Zeit turnusgemäß für ein halbes Jahr den Vorsitz in der EU zu übernehmen und die Geschicke der Union souverän zu lenken. Ende 2011 war der neue sozialistische Ministerpräsident Elio Di Rupo dann in der Lage, eine sechs Parteien umfassende Regierung aus Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen zu bilden. Geduldiges Krisenmanagement gehört in Belgien längst zur politischen Kultur. Immer wieder kommt es zu zähen Verhandlungen, die oft wie halsbrecherisches Vabanque erscheinen. Dabei hat sich auf der politischen Bühne kunstvoll und instinktsicher der so genannte „belgische Kompromiss“ entwickelt. 9 O-Ton – Geert van Istendael: Belgien ist ein Kompromiss natürlich. Wissen Sie, in beiden Brüsseler Sprachen, Mundarten, sagt man „non peut-etre“, „(niederl.)“, das bedeutet „nein-vielleicht“ und was bedeutet das? Das bedeutet „ja“. Und wenn man endgültig „ja“ sagt, hat man Bürgerkrieg. Nein, man sagt „nein-vielleicht“. Es gibt Auswege, es gibt auch vielleicht andere Lösungen. Und das ist natürlich der wichtige Unterschied und eigentlich auch die Würdigkeit dieses Landes: wir haben Zündstoff für zehn Bürgerkriege und machen keinen Bürgerkrieg. O-Ton – Marc Syngedouw, darüber Übersetzer: „De Compromis Belge is een … dat proces gekend te hebben.“ Der Belgische Kompromiss ist eine Notwendigkeit, eine sehr bedeutende Errungenschaft. Ich denke, wir sind das einzige Land der Welt, das es geschafft hat, einen Einheitsstaat, einen französischsprachigen Einheitsstaat in einen sehr föderalen Staat umzuwandeln, und das ohne einen einzigen Toten. Musik: Nationalhymne-Mix: Französisch / Niederländisch / Deutsch Sprecherin: Womöglich markiert Belgiens Blick in den Abgrund nach 2007 einen tiefgreifenden Wendepunkt für Flamen und Wallonen – hin zu gemeinsamen Lebensentwürfen. Vielleicht ist der so genannte „belgische Kompromiss“ mit seiner ergebnisorientierten Vieldeutigkeit inzwischen nicht nur in die politische Kultur eingeschrieben, sondern auch in die Mentalität vieler Belgier. Er ist eine vorzügliches Vehikel, aus der Not eine Tugend zu machen. Und aus dieser Tugend eine Überlebens-Kunst. Auch, wenn nicht jeder immer alles versteht. O-Ton – Karl-Heinz Lambertz: Und das kann man nur, wenn man was sehr Kompliziertes macht, was keiner so richtig versteht, und das dann mit so viel Hintertürchen versehen ist, das aber dann funktioniert, und dann kann jeder sagen, er hat Recht behalten. Musik: Nationalhymne-Mix: Französisch / Niederländisch / Deutsch **.**.**.**.** 10