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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen - Manuskriptdienst
Der belgische Kompromiss
Ein König, drei Sprachen, sechs Parlamente
Autoren: Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Andrea Leclerque
Sendung: Freitag, 08.06.2012, 8.30 Uhr, SWR 2
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Nationalhymne-Mix: Französisch / Niederländisch / Deutsch
O Belgique, ô mère chérie,
A toi nos coeurs, à toi nos bras ...
Onze ziel en ons hart zijn u gewijd.
Aanvaard ons hart en het bloed van onze adren...
Groß und schön wirst Du immer leben
Und der Wahlspruch Deiner unverbrüchlichen Einheit wird heißen:
Für König, Recht und Freiheit! …
Sprecherin:
Französisch, Niederländisch, Deutsch – die belgische Nationalhymne wird in drei
Sprachen gesungen, denn das belgische Königreich vereint drei
Sprachgemeinschaften. Doch die Einheit des Staates wackelt mit jeder neuen
politischen Krise. Vor allem die Auseinandersetzungen zwischen den Niederländisch
sprechenden Flamen und den frankophonen Wallonen erschüttern das komplizierte
belgische Staatsgebilde immer wieder. Die jüngste Krise hatte mit den Wahlen im Juni
2007 begonnen. 541 Tage blieb Belgien sogar ganz ohne Regierung. Erst im Dezember
2011 gelang es dem wallonischen Sozialistenführer Elio di Rupo, die Krise zu beenden
und eine neue Mehrparteien-Regierung zu bilden. Doch keiner weiß, wie lange sie
Bestand haben wird.
Ansage:
„Der Belgische Kompromiss – Ein König, drei Sprachen, sechs Parlamente“, eine
Sendung von Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza.
Sprecherin:
Belgien ist heute ein föderaler Bundesstaat, aufgeteilt in drei kulturell und politisch
weitgehend autonome Sprachgemeinschaften: in die französische und flämische, die
beiden großen – und eine kleine deutsche. Alle drei haben eigene Parlamente mit
gesetzgebender Kompetenz. Gleichzeitig gliedert sich Belgien in drei selbständige
Wirtschaftsregionen mit weit reichenden Machtbefugnissen und ebenfalls eigenen
politischen Kammern: das frankophone Wallonien, das Flämisch – oder genauer
Niederländisch – sprechende Flandern und das zweisprachige Brüssel, wo man
Französisch und Niederländisch spricht. Ein verwirrendes politisches Gebilde, dem
zusätzlich noch das gesamtbelgische Parlament vorsteht. Und: Über allem wacht der
König von Belgien, Albert II.
Nach mehreren Staatsreformen, die das Land 1993 in einen föderalen Bundesstaat
umgewandelt haben, ist Belgien bis heute ein kompliziertes Provisorium geblieben, das
immer wieder auseinander zu brechen droht und einer grundlegenden Staatsreform
harrt. Ein Konfliktherd – vor dem Hintergrund eines Jahrhunderte alten
Sprachenkampfes im Herzen Europas.
O-Ton – Jacques de Decker:
Meine Mutter war schon in Brüssel geboren und hatte schon auf Französisch die Schule
gefolgt. Sie war mehr französisch Sprechende als mein Vater, aber mein Vater war ein
Kunstmaler, und er hatte an der Akademie in Brüssel gelehrt auf Französisch. Sie
waren alle beide zweisprachig schon, aber ihre Familien, ihre Brunnen, waren alle
flämisch.
Sprecherin:
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Jacques de Decker ist Jahrgang 1945 und französischsprachiger Belgier. Der
Schriftsteller, Dramatiker und Journalist wurde in Brüssel geboren, wo er auch noch
heute lebt. De Decker ist Sekretär der Königlichen Akademie für Sprache und Literatur
der Französischen Gemeinschaft Belgiens und publiziert in französischer Sprache.
O-Ton – Jacques de Decker:
Wenn ich zur Schule gehen sollte, wenn ich sechs geworden bin, hatten Sie eigentlich
nicht die Wahl. In Schaerbeek, das war ein Teil von Brüssel, gab es auf diesen
Augenblick sechsmal mehr französische Schulen als flämische, und natürlich die Eltern
dachten, ich werde mein Kind in eine französische Schule schicken, nicht um
Französisch zu lernen, aber einfach, um in einer besseren Schule zu sein.
Sprecherin:
Auch für den belgischen Schriftsteller Geert van Istendael stand als Kind nicht seine
flämische Muttersprache sondern zunächst einmal Französisch auf dem Stundenplan.
O-Ton – Geert van Istendael:
Das Französische war die gehobene Sprache, die bessere Sprache, die Sprach der
Oberschicht. Und meine Mutter hat immer gesagt: Erstmal Französisch lernen, nicht die
Muttersprache, erst mal Französisch lernen. Haben wir auch gemacht, wenn wir aus
Holland zurückgekommen sind, und wenn ich ein kleiner Junge war, hat man mir doch
manchmal gesagt: sale petit flamend, schmutziger kleiner Flame.
Sprecherin:
Geert van Istendael wurde 1947 in Brüssel geboren und verbrachte nach einem
fünfjährigen Aufenthalt in den Niederlanden Kindheit und Jugend im flämischen Löwen,
wo er auch studierte. Deutschen Lesern wurde van Istendael durch seinen 2007
erschienenen Essayband „Mijn Duitsland“ – mein Deutschland – bekannt. Seit 1980 lebt
der weltoffene Belgier wieder in Brüssel.
O-Ton – Geert van Istendael:
In die Kleinstadt Löwen, die damals noch ziemlich zweisprachig war, in der
Primarschule gab’s eigentlich in einer Schule zwei Abteilungen, eine für uns und eine
für die Besseren, die sprachen Französisch damals. Die Stadt war ganz zweisprachig
ausgeschildert. Und in den besseren Läden sprach man Französisch. Meine Mutter
hatte immer Schwierigkeiten, ganz, auf natürliche Weise zu sagen zum Beispiel
„geschiedenis“, Geschichte, sagte sie nie, „histoire“ sagte sie und „aardrijkkunde“, das
heißt Geographie auf Deutsch, „géographie“ sagte sie. Und das war für sie felsenfest,
Französisch war die bessere Sprache.
Sprecherin:
Im Osten Belgiens, in Eupen – heute die Hauptstadt der Deutschsprachigen
Gemeinschaft – wuchs Freddy Derwahl auf, ebenfalls Schriftsteller und Journalist. Die
so genannten Ostkantone kamen nach dem Ersten Weltkrieg zu Belgien. Zuvor waren
die Gebiete um Eupen, Malmedy und St. Vith Teil des Königreichs Preußen und des
Deutschen Kaiserreiches gewesen.
O-Ton – Freddy Derwahl:
Die Sprache war natürlich in der Familie einsprachig, deutsch, und mit einigen Brüchen
danach immer mehr französisch, weil, wir lebten ja damals doch hier im Sog der
Wallonie. Und man darf nicht vergessen, dass es hier in der Nachkriegszeit aus
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politischen Gründen nicht so sehr gewünscht war, wenn man so sehr auf die deutsche
Sprache pochte, und so war das alles auch ein Seiltanz.
Sprecherin:
Freddy Derwahl ist Jahrgang 1946 und lebt in seiner Geburtsstadt Eupen, rund 20
Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Derwahl schreibt in deutscher Sprache.
O-Ton – Freddy Derwahl:
Ich hatte immer mehr den Eindruck, dass ich hier, dass das zwar das Land meiner
Muttersprache war, aber nicht das Vaterland, dass da ein sehr sensibler Unterschied
gemacht wird. Wir hatten Geographie-Unterricht und mussten dann auch so
Nebenflüsse auf Französisch lernen, die wir gar nicht kannten, und ich stellte fest, dass
unsere Gegend oder wie man heute sagt, Gemeinschaft, in diesem Buch gar nicht
vorkam. Und ich fand das also echt unverschämt, aber noch mehr bedauerlich. Das war
wieder so ein Hinweis des Unwillkommenseins. Und das Allerstärkste war dann, als
Fußballfan sehr niedriger Klassen tingelten wir dann hier so über die Plätze mit unserer
Mannschaft und sobald das Spiel dann heftiger wurde, beschimpfte man uns als Boche,
also als dreckiger Deutscher, das war das französische Schimpfwort in der
Zwischenkriegszeit für Deutsche.
Sprecherin:
Der belgische Staat entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Napoleon
geschlagen war und die Siegermächte Preußen, Österreich-Ungarn, Großbritannien
und Russland ihre Macht- und Einflussgebiete in Europa neu aufteilten. Dabei
beschlossen sie auf dem Wiener Kongress 1815 die Zwangsvereinigung der seit der
Reformation getrennten Königreiche der nördlichen, protestantischen Niederlande und
der südlichen, katholischen Niederlande, wo Flamen und Wallonen zusammenleben.
Das neue Staatsgebilde wurde fortan „Vereinigte Niederlande“ genannt. Unter der
despotischen Regentschaft von Wilhelm I. von Oranien kommt es zu heftigen religiösen,
wirtschaftlichen und sprachlichen Konflikten.
Musik:
Oper „Die Stumme von Portici“, 3. Akt: Duett „Amour sacré de la patrie“
Sprecherin:
Als am 25. August 1830 im Brüsseler Théatre de la Monnaie Aubers Oper „Die
Stumme von Portici“ in den 3. Akt geht und die heilige Liebe zum Vaterland beschworen
wird, stürzt das Publikum plötzlich wie auf ein geheimes Zeichen auf die Straße und
schließt sich einer Demonstration von Arbeitern und bewaffneter Bürgerwehr an. Der
Protest gilt Wilhelm I. von Oranien, dem verhassten calvinistischen König. Es ist der
Beginn eines gemeinsamen Volksaufstandes der katholischen Flamen und der liberal
denkenden Wallonen.
Der Volksaufstand führt mit Hilfe der Franzosen am 4. Oktober 1830 zur Proklamation
der Unabhängigkeit des südlichen Landesteiles, der sich nach alter römischer
Namensgebung Belgae – Belgien nennt. Das neue Staatsgebiet wird nicht nur eine
konstitutionelle, parlamentarische Monarchie, sondern auch ein Nationalstaat zweier
Sprach- und Kulturgruppen. Mehr als ein Jahrhundert lang wird allerdings versucht,
kulturelles Einheitsbewusstsein allein auf Grundlage der französischen Sprache zu
entwickeln, erzählt der flämische Schriftsteller Geert van Istendael:
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O-Ton – Geert Van Istendael:
„On parle le flamend aux animaux et domestiques“ – „man spricht Flämisch mit den
Tieren und mit den Knechten“ – in dieser Reihenfolge, das ist nicht schön, nicht. Die
sagten einfach: Die haben keine Sprache, die haben 70 Sprachen, die verstehen
einander nicht und so weiter sagten sie das. Besonders: Flämisch und Holländisch
waren grundverschiedene Sprachen, was natürlich falsch ist. Das ist nicht so. Die
Österreicher sprechen auch deutsch, das ist eine Sprache. Wir haben eine Grammatik,
ein Wörterbuch, aber das waren so die Argumente.
Sprecherin:
Flandern, Mitte des 19. Jahrhunderts eine verarmte Agrarregion, wird französisiert,
obwohl das einfache Volk kaum Französisch spricht und versteht. Über Jahrzehnte
bleibt Französisch, die Sprache der Bourgeoisie, die Amtssprache. Dem
Niederländischen wird der Status einer vollwertigen Kultursprache verweigert. Flämisch,
ein Dialekt des Niederländischen, gilt als minderwertig.
O-Ton – Jacques De Decker:
Dann fängt an um 1835/1840 schon die so genannte flämische Bewegung, und die
flämische Bewegung, darin findet man erst und vor allem Intellektuellen und die meisten
sind natürlich französischsprechend, aber sie kennen noch die flämische Kultur und sie
sind davon überzeugt, dass natürlich die Flamen das Recht haben, ihre eigene Sprache
zu sprechen und zu verteidigen. Aber es wird sehr lange dauern.
Sprecherin:
Ende des 19. Jahrhunderts wird Niederländisch dem Französischen als Amtssprache
gleichgestellt. Doch nur wenige belgische Beamte und Angestellte sprechen
Niederländisch oder wollen es lernen. Zudem können sie bei der Erledigung ihrer
Amtsgeschäfte die Sprache frei wählen. Teils aus Tradition und Bequemlichkeit, teils
aus sozialer Überheblichkeit entscheiden sie sich fast immer für Französisch. Erst durch
die Sprachgesetzgebung von 1932 kommt es zu einem grundlegenden Wandel:
Flandern wird zu einem einsprachigen Landesteil.
Sprecherin:
Nach 1945 kämpfen die Flamen um eine geographisch festgelegte Sprachgrenze, die
bislang noch durch umstrittene Sprachzählungen in den Städten und Gemeinden
ermittelt wird. Je nach ihrer Mehrheitssprache werden Kommunen entweder der
französischen oder niederländischen Sprachgemeinschaft zugerechnet. Zum Zankapfel
werden insbesondere die Randgebiete der Hauptstadt Brüssel. Ursprünglich meist
flämisch, werden mehrere Vororte durch eine starke Zuwanderung
französischsprachiger Brüsseler frankophon. Die Flamen befürchten, dass ihre Sprache
zurückgedrängt wird.
Archiv-Atmo:
Kundgebung , Redner für ein eigenständiges Flandern (aus: Zeitzeichen vom
01.09.1978): „Lat de Fandrich net langer warte…“
Sprecherin:
Die massiven flämischen Proteste führen Anfang der 60er Jahre zu einer heftigen Krise.
Unter enormem politischen Druck beschließt das Parlament 1963 eine dauerhafte
territoriale Sprachgrenze. So wird Belgien, grob gesprochen, aufgeteilt in einen
nördlichen, flämischen Teil, der Niederländisch spricht, und einen südlichen,
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wallonischen Teil, der Französisch spricht. Brüssel erhält als zweisprachige Region
einen Sonderstatus.
Mit der Sprachgrenze ist der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen aber keineswegs
gelöst. An der Katholischen Universität Löwen kommt es Ende der 60er Jahre zu einer
dramatischen Eskalation.
Archiv-Atmo:
Studenten-Kundgebung, Löwen (aus Zeitzeichen 15.Dez. 65): „Walen buiten, Walen
buiten… Leuven flams, leuven flams… Wallonen raus, Wallonen raus… Löwen den
Flamen, Löwen den Flamen …“
Sprecherin:
Die international renommierte Hochschule liegt auf flämischem Gebiet unweit von
Brüssel. Trotz territorialer Sprachgrenze sind hier nach wie vor flämische und
wallonische Studenten eingeschrieben. Doch die Flamen fühlen sich von der
wachsenden Zahl wallonischer Kommilitonen zurückgedrängt und fordern immer
vehementer den Abzug französischsprachiger Professoren und Studenten. Auch die
Schriftsteller Freddy Derwahl und Geert van Istendael studierten damals in Löwen.
O-Ton – Geert van Istendael:
Für die belgischen Verhältnisse war es ziemlich brutal. Es war mit Steinen
geschmissen, und die Professoren sind mitgegangen mit den Studenten. Das ist auch
eigenartig. Nicht weil die Professoren linksradikale Leute waren wie in Berkeley, aber
die waren für die flämische Emanzipation, das war es eigentlich.
Sprecherin:
Anfang 1968 wird die Spaltung der Katholischen Universität Löwen politisch
beschlossen. Südlich von Löwen, auf dem Gebiet der Wallonie, wird für die
Frankophonen eine neue, moderne Universitätsstadt aus dem Boden gestampft,
„Louvain-la-Neuve“, das neue Löwen.
Bei der Aufteilung der 1,3 Millionen Bände aus der Zentralbibliothek einigt man sich
überraschend problemlos: Bücher mit ungerader Registriernummer bleiben in Löwen,
die anderen kommen zur neu gegründeten französischsprachigen „Université
Catholique de Louvain“.
O-Ton – Geert van Istendael:
Die Französischsprachigen, das hab ich nachher gehört von meinen Freunden in der
Wallonie und im französischsprachigen Brüssel, waren sehr traumatisiert davon. Die
sagten, die Flamen sind Rassisten, das ist auch nicht so, natürlich. Und die haben nicht
verstanden, dass es endgültig vorbei war mit der französischen Sprache in den
flämischen Provinzen.
Sprecherin:
Mit dem Streit um die Universität Löwen beginnt die Spaltung der belgischen Parteien,
zunächst der mehrheitlich regierenden Christdemokraten. Während ihr flämischer
Flügel die Universitätsspaltung befürwortet, stellt sich die wallonische Fraktion strikt
dagegen. Premierminister Paul van den Boeynants vermag den Streit nicht mehr zu
schlichten. Seine Regierung tritt zurück.
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Die Spaltung der Parteien verstärkt den Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen
weiter und schwächt den belgischen Einheitsstaat. Keine der großen Parteien ist mehr
landesweit aktiv – keine steht mehr in ganz Belgien zur Wahl. Nur die in der
zweisprachigen Region Brüssel lebenden Belgier können zwischen flämischen und
wallonischen Parteien entscheiden.
Belgische Politiker denken jetzt ernsthaft über eine tiefgreifende Reform nach, vom
Einheitsstaat zum föderalen Bundesstaat. 1969 ändern sie die Verfassung und teilen
das Land in drei autonome Kulturgemeinschaften auf. Fragen der Sprache und Bildung
können die Gemeinschaften fortan eigenständig entscheiden. Darüber hinaus werden
drei selbständige wirtschaftliche Regionen geschaffen: Flandern, die Wallonie und das
zweisprachige Brüssel.
Jetzt erhält auch die deutschsprachige Region im Osten der Wallonie den Status einer
eigenen Sprach- und Kulturgemeinschaft: das Gebiet der ehemaligen Kreise EupenMalmedy und St. Vith, die 1920 nach dem Friedensvertrag von Versailles vom
Deutschen Reich an Belgien abgetretenen worden waren. Amtierender
Ministerpräsident ist Karl-Heinz Lambertz.
O-Ton – Karl-Heinz Lambertz:
Also man hat jetzt nicht dieses Autonomiestatut für diese knapp 75.000 Menschen in
Ostbelgien erfunden, um der deutschsprachigen Minderheit einen besonderen Gefallen
zu tun, sondern sie ist die Konsequenz des Umbaus Belgiens in einen Bundesstaat,
wegen der Konflikte zwischen Flamen und Wallonen. Ohne diesen Konflikt und ohne
den Versuch, diesen Konflikt über den Einsatz bundesstaatlicher Strukturen in den Griff
zu bekommen, gäbe es natürlich die Deutschsprachige Gemeinschaft so wie wir sie
heute kennen nicht.
Atmo:
Drei-Sender-Mix ( RTBF, VRT, BRF)
Sprecherin:
Jede Volksgruppe vermittelt jetzt – oft populistisch und sehr zuschauer- und
zuhörerwirksam – in eigenen Fernseh- und Rundfunkanstalten ihre Meinung zum
Landes- und Weltgeschehen. Und Zeitungen sind eher kleinere regionale Publikationen
mit klarem Bezug zur jeweiligen Gemeinschaft.
O-Ton – Geert van Istendael:
Die Flamen lesen keine französischsprachigen Zeitungen mehr. Vorher ja, aber jetzt
nicht mehr. Und die Wallonen haben nie eine flämische Zeitung gelesen
O-Ton – Jacques De Decker:
Früher sagten die Flamen, es ist nicht so ein großes Problem, französisch zu sprechen,
weil sie nach der französischen Television guckten, weil sie die französische Film sahen
und die Chansons und so weiter. Das ist nicht mehr der Fall. Jetzt ist – wenn sie die
Kulturblätter in die Zeitungen sehen in Flamen, sehen sie, dass sie viel mehr wissen
über englische Kultur, selbst deutsche Kultur als auf französische Kultur.
Sprecherin:
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Die medialen Parallelwelten verengen den Blick, so dass sich die Regionen immer mehr
aus den Augen verlieren. Auch im Schulunterricht steht oft die regionale Gemeinschaft
mehr im Vordergrund als das gemeinsame Staatswesen.
O-Ton – Jacques De Decker:
Jetzt haben die französischen Kinder und die flämische Kinder nicht mehr dieselbe
Geschichte, und es gibt ein Unterschied, was man im Süden und im Norden liest und
gebraucht als Schulbücher. Und die Schulbücher jetzt in Flandern sind Geschichten von
Flandern und nicht so mehr Geschichten von Belgien.
Sprecherin:
Vor allem die flämische Seite fordert immer wieder die endgültige Trennung. Am
äußersten rechten Rand der flämischen Parteien kocht der extremistische „Vlaams
Belang“ sein rassistisches Süppchen. In Flandern erreicht diese Partei bei regionalen
Wahlen bis zu 24 Prozent der Stimmen und stellt in manchen Städten und Gemeinden
die Mehrheitspartei. Doch nirgendwo konnten die Extremisten bislang Positionen in
politischer Verantwortung besetzen. Denn seit 1991 haben sich alle bürgerlichen
Parteien Belgiens verpflichtet, keine Koalition mit dem rechtsradikalen „Vlaams Belang“
einzugehen: der so genannte „cordon sanitaire“, eine Art politischer Sperrgürtel.
Ausländische Medien beschwören gerne die Popularität flämischer Extremisten. Doch
Marc Swyngedouw, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Löwen,
kommt bei seinen Wählerumfragen zu höchst überraschenden Ergebnissen.
O-Ton – Marc Swyngedouw, darüber Übersetzer:
„Wat moeten we dan vaststellen, … steun voor een onafhankelijk Vlaanderen.“
Wir haben festgestellt, dass wir seit 1991 einen nationalistischen Wähleranteil von
höchstens neun Prozent in Flandern haben. Wenn Sie fragen: „Finden Sie es wichtig,
dass Flandern unabhängig wird?“, dann liegt die Zustimmung bei höchstens vier
Prozent. Mit anderen Worten: Es gibt bei den Flamen keine populäre Bewegung für ein
unabhängiges Flandern.
Sprecherin:
Das jahrzehntelang als Bauernland verachtete Flandern hat sich längst aus dem
wirtschaftlichen und kulturellen Abseits emporgearbeitet. Bis Anfang der 60er Jahre
sicherte vor allem der reiche frankophone Süden mit seiner blühenden Kohle- und
Stahlindustrie den Wohlstand Belgiens. Doch nach dem Niedergang der
Schwerindustrie sind vor allem die fortschrittlichen Städte des flämischen Nordens zum
Motor von Belgiens Wirtschaft geworden. Rund sieben Milliarden Euro fließen heute
jährlich an Unterstützung aus dem prosperierenden Flandern in die marode Wallonie.
O-Ton – Jacques De Decker:
Den Profil einen Flamen ist jetzt moderner als der Profil des Wallonen, weil sie mehr
Mittel haben, weil sie mehr reisen, das ist das Paradoxe. Die Flamen werden
Weltbürger, wenn sie genug Geld haben, um in die ganze Welt zum reisen, was die
Wallonen nicht tun. /…/ Sie sollten glücklich sein, warum sind die Flamen nicht
glücklicher?
Sprecherin:
Dennoch sehen viele trotz der heftigen Auseinandersetzung zwischen Flamen und
Wallonen auch eine große Verbundenheit der beiden Sprach- und Volksgruppen. Ein
gemeinsames belgisches Lebensgefühl: das ist weit mehr als der beidseitige Genuss
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von Abteibier und Fritten, mehr auch als weltweite Exportschlager wie zum Beispiel die
Kriminalromane von Georges Simenon, die berühmten Tim und Struppi Comics oder
die gemeinsame Bewunderung von Adolphe Sax, dem belgischen Erfinder des
Saxophons. Jacques de Decker meint:
O-Ton – Jacques De Decker:
Für mich ist das erste und vor allem, es ist sehr wichtig, Lifestyle. Zwischen dem
flämischen und wallonischen Lifestyle sehen Sie keinen so großen Unterschied. Der
Style, the way of life ist derselbe, und heutzutage ist vielleicht die Kultur viel mehr als
nur die schöne Künste.
Sprecherin:
Jean Paul Detaille, ehemaliger Wirtschafts- und Handelsattaché der Wallonie, und
Professor Marc Swyngedouw glauben auch, dass die historisch gewachsene Tradition
von Flamen und Wallonen nach wie vor große Bedeutung hat.
O-Ton – Jean Paul Detaille:
Die Flamen so wie die Wallonen sind Lebensgenießer, die sind einfache Menschen, die
sind eher, ja, kompromissbereit, die sind nicht kompliziert, die bezeichnen sich selbst
sehr oft im Unterschied zu den, zwischen Anführungszeichen, „gehassten“ Calvinisten
aus dem Norden, die beschreiben sich also als B u r g u n d e r. Und für ein Flame ein
Burgunder zu sein, das heißt nicht nur, ein Burgunderwein trinken, das heißt „quelqu’un
qui aime la manière de vivre la bourguignonne“, das teilen einfach also mit einem hohen
Level an Unkompliziertheit und an Spontaneität, das teilen absolut fast also eins zu eins
die Flamen und die Wallonen.
[O-Ton – Marc Syngedouw, darüber Übersetzer:
„Ik denk dat de eenheden veel … cultuur, we hebben niet de protestante cultuur.“
Ich glaube, dass die Gemeinsamkeiten wichtiger sind. Stellt man die Wallonen vor die
Wahl, sich für Frankreich oder Belgien zu entscheiden, votieren sie eindeutig für
Belgien. Ebenso eindeutig fällt die Entscheidung der Flamen für Belgien aus, wenn sie
vor die Alternative Belgien oder Niederlande gestellt werden.Wir sind auch ein
katholisches Land, wir haben keine protestantische Kultur.]
Sprecherin:
Dass die Gemeinsamkeiten zwischen Flamen und Wallonen tiefer verankert sind als
vielfach angenommen, dafür spricht auch die Bewältigung der großen Regierungskrise,
die nach den Wahlen im Juni 2007 begann und die die Einheit Belgiens vor eine nie da
gewesenen Zerreißprobe stellte. Flamen und Wallonen bekämpften sich bis aufs Blut.
Die Regierungen wurden gewechselt wie die Unterhemden, und schließlich blieb das
Land 541 Tage ohne Regierung. Aber das Leben ging weiter wie zuvor. Belgien
schaffte es sogar, in dieser Zeit turnusgemäß für ein halbes Jahr den Vorsitz in der EU
zu übernehmen und die Geschicke der Union souverän zu lenken. Ende 2011 war der
neue sozialistische Ministerpräsident Elio Di Rupo dann in der Lage, eine sechs
Parteien umfassende Regierung aus Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen zu
bilden.
Geduldiges Krisenmanagement gehört in Belgien längst zur politischen Kultur. Immer
wieder kommt es zu zähen Verhandlungen, die oft wie halsbrecherisches Vabanque
erscheinen. Dabei hat sich auf der politischen Bühne kunstvoll und instinktsicher der so
genannte „belgische Kompromiss“ entwickelt.
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O-Ton – Geert van Istendael:
Belgien ist ein Kompromiss natürlich. Wissen Sie, in beiden Brüsseler Sprachen,
Mundarten, sagt man „non peut-etre“, „(niederl.)“, das bedeutet „nein-vielleicht“ und was
bedeutet das? Das bedeutet „ja“. Und wenn man endgültig „ja“ sagt, hat man
Bürgerkrieg. Nein, man sagt „nein-vielleicht“. Es gibt Auswege, es gibt auch vielleicht
andere Lösungen. Und das ist natürlich der wichtige Unterschied und eigentlich auch
die Würdigkeit dieses Landes: wir haben Zündstoff für zehn Bürgerkriege und machen
keinen Bürgerkrieg.
O-Ton – Marc Syngedouw, darüber Übersetzer:
„De Compromis Belge is een … dat proces gekend te hebben.“
Der Belgische Kompromiss ist eine Notwendigkeit, eine sehr bedeutende
Errungenschaft. Ich denke, wir sind das einzige Land der Welt, das es geschafft hat,
einen Einheitsstaat, einen französischsprachigen Einheitsstaat in einen sehr föderalen
Staat umzuwandeln, und das ohne einen einzigen Toten.
Musik:
Nationalhymne-Mix: Französisch / Niederländisch / Deutsch
Sprecherin:
Womöglich markiert Belgiens Blick in den Abgrund nach 2007 einen tiefgreifenden
Wendepunkt für Flamen und Wallonen – hin zu gemeinsamen Lebensentwürfen.
Vielleicht ist der so genannte „belgische Kompromiss“ mit seiner ergebnisorientierten
Vieldeutigkeit inzwischen nicht nur in die politische Kultur eingeschrieben, sondern auch
in die Mentalität vieler Belgier. Er ist eine vorzügliches Vehikel, aus der Not eine
Tugend zu machen. Und aus dieser Tugend eine Überlebens-Kunst. Auch, wenn nicht
jeder immer alles versteht.
O-Ton – Karl-Heinz Lambertz:
Und das kann man nur, wenn man was sehr Kompliziertes macht, was keiner so richtig
versteht, und das dann mit so viel Hintertürchen versehen ist, das aber dann
funktioniert, und dann kann jeder sagen, er hat Recht behalten.
Musik:
Nationalhymne-Mix: Französisch / Niederländisch / Deutsch
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