Zum Thema_Wagnis Utopie

Werbung
Widerspruch Nr. 16/17 Ich - Subjekt - Individuum(1989), S.5362
Autor: Ulrich Druwe
Artikel
Ulrich Druwe
Über den Gegensatz zwischen
Individuum und Gesellschaft
I.
Die Beschäftigung mit dem Subjekt gehört zu den klassischen Problemen der Philosophie. Dabei zeigt ein Blick in die Philosophiegeschichte,
daß damit zugleich immer auch die Thematisierung des Gemeinschaftlichen verbunden ist, d.h. wesentliche Aspekte des Problems „Individuum“ beziehen sich auf das Verhältnis Individuum – Gemeinschaft.
(Vgl. dazu auch den Beitrag von K. Riefler in diesem Heft)
Grob zusammengefaßt lassen sich drei Phasen dieses problematischen
Verhältnisses beschreiben: 1. In der Antike wird die Gemeinschaft dem
einzelnen vorgeordnet; 2. Seit der Renaissance hat sich diese Perspektive
verändert, nun nimmt das Individuum die Vorrangstellung vor der Gemeinschaft ein; 3. Im 20. Jahrhundert werden beide Antipoden problematisch: Der Marxismus-Leninismus befindet sich spätestens seit Gorbatschow in einer Umbruchphase, weg von dem Primat der Gesellschaft
und hin zum einzelnen (Vgl. dazu den Beitrag von E. Treptow in diesem
Heft) und in den westlichen Ländern wird zunehmend bezweifelt, ob das
Subjekt unter den Bedingungen der verwalteten und industrialisierten
Welt überlebt hat bzw. überleben kann.
Ulrich Druwe
Im vorliegenden Aufsatz soll nun das angeblich so widersprüchliche
Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft diskutiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die folgende These: Der immer wieder konstatierte
Gegensatz stellt sich bei genauerer Analyse als Scheinproblem heraus: Er
gehört zu einer Gruppe von Gedanken, die sich die Menschen immer
wieder stellen, ohne das dahinterstehende Muster zu erkennen, weshalb
man auch zu keiner Lösung kommt; Ein anderes Beispiel solcher – oft
Paradoxie genannten – Gedanken ist die Henne-Ei-Paradoxie. Es soll
also im weiteren belegt werden, daß der Gegensatz Individuum – Gesellschaft kein Gegensatz ist. Es empfiehlt sich dabei folgende Vorgehensweise: Zunächst wird die Genese dieses Gegensatzes kurz skizziert; anschließend soll er selbst präzisiert und wichtige Folgen erläutert
werden; und drittens sollen Argumente für seine Aufhebung vorgetragen
werden.
II.
Der Gedanke des Individualismus entspringt der Renaissance/frühen
Neuzeit. Die antike und mittelalterliche Philosophie sieht den Menschen
noch eingebettet in die Ontologie, in der Sein, Natur und Denken der
Inbegriff auch zugleich des Möglichen sind. Der menschliche Geist
denkt nichts, was nicht bereits existent wäre und die menschliche Ordnung ist notwendig Teil des allgemeinen Seins.
Grundlegend ändert sich diese Auffassung erst im Spätmittelalter. Entscheidend ist hierbei der Schritt, mit dem in der Theologie die Identität
von Natur und Sein aufgehoben wird: Entsprechend dem Ausmaß, mit
dem in der Spekulation über die Eigenschaften Gottes der Begriff der
‘omnipotentia’ in den Vordergrund tritt und mit dem der Unendlichkeit
verbunden wird, wird die Welt, so wie sie ist, zu einer der möglichen
Welten, die Gott in seiner Allmacht hätte erschaffen können. Das Mögliche und vor allem das Denkmögliche deckt sich fortan nicht mehrmit
dem Sein. Vor allem Nikolaus von Cues überträgt diese Gedanken auf
den Menschen: Über die Ähnlichkeit mit Gott hat auch der Mensch Teil
Über den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft
an Gottes Schöpferkraft.
In diesem Kontext entstehen in der Renaissance zahlreiche Traktate über
die Stellung des Menschen im Sein und über seine Würde. Die vermutlich bekannteste Schrift stammt von Pico della Mirandola „De hominis
dignitate oratio“ von 1486. Die zentrale These lautet dort: Gott hat den
Menschen zur Mitte der Welt gemacht, er ist weder göttlich noch irdisch,
sondern ein Freiheitswesen von eigener Würde. Durch die so definierte
ontologische Ortlosigkeit hat der Menschen die Möglichkeit, sich zu dem
zu machen, was er sein will, gottähnlich (Vernunft) oder tierähnlich
(Triebe). In einer geordneten Welt ist damit der Mensch als einziges
autonom.
Aus dieser Perspektive auf den Menschen als einem autonomen Wesen
erwächst der Individualgedanke. Zusätzliche unterstützende Faktoren,
auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll, waren die Entstehung der Nationalstaaten, die eine effektive Bürokratie benötigten und
damit eine Säkularisierung der Bildung erzwangen; wichtig zu erwähnen
ist desweiteren das Aufkommen der kapitalistischen Ökonomie, deren
Träger das Bürgertum war. Neues Selbstbewußtsein, Bildung und Reichtum der Bürger sowie deren Bemühen um politische Partizipation führten zum Aufbrechen überkommener Traditionen; durch Leistung konnte
der einzelne in der Gesellschaft einen Platz erreichen, seine Stellung war
nicht mehr statisch, von vornherein festgelegt.
Die Sicht auf das Subjekt war in der Renaissance/frühen Neuzeit von
Beginn an ambivalent. Positiv gesehen wurden die Aspekte Autonomie,
individuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Damit korrespondierte aber
das Negativum der Zerrissenheit des Menschen, d.h. die Trennung etwa
zwischen Körper und Geist, wie es sich beispielsweise in Erasmus von
Rotterdams „Enchiridion militis christiani“ von 1503 findet, sowie das
Gefühl der Verlorenheit in dieser Welt, wie es sich etwa in des „Pens‚es“
von Pascal niederschlägt. Von daher kann man zusammenfassend feststellen: Was in der Renaissance über das Subjekt, das Verhältnis Körper
– Geist und die Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft gedacht
Ulrich Druwe
wird, fügt sich nicht zu einer Einheit. Der Freiheit steht Einsamkeit, dem
Individuum die Gemeinschaft gegenüber; zusätzlich ist das Subjekt in
Körper und Geist zergliedert, Triebe und Vernunft ringen miteinander,
ebenso Verantwortungsgefühl und Machtanspruch. Letzteres drückt sich
beispielsweise in dem Konzept des „homo faber“ aus, welches zum
ökonomischen Nutzendenken und zum Streben nach Naturbeherrschung führt. Die Natur des Menschen, die Anthropologie wird in der
Folge zu dem philosophischen Problem.
III.
Der in der Renaissance grundgelegte Anthropozentrismus löst, um dies
mit Thomas Kuhn zu formulieren, in praktisch allen Bereichen des Lebens und Denkens einen Paradigmawechsel aus. Negative Konsequenzen zeigten sich, langfristig betrachtet, insbesondere im Bereich der
Moralphilosophie sowie der Politischen Philosophie.
Die in der frühen Neuzeit dem Menschen zugeordnete Position eines
autonomen Individuums, welches seine Stellung in der Welt frei bestimmen kann, führt zu der zentralen Fragestellung in der Politischen Philosophie der Neuzeit: Sie betrifft das Verhältnis Mensch – Gesellschaft;
Wie kann eine Gesellschaft gedacht werden, in der der Mensch autonom
ist, wie legitimiert sich der Staat? Hier zeigt sich deutlich die Neuartigkeit
des Denkens, denn in der Antike wäre das Legitimationsproblem vollkommen sinnlos erschienen. Nun aber wird das Individuum zur entscheidenden Instanz, an der Gesellschaft und Staat zu messen sind.
Zwei Lösungsansätze werden in der Folgezeit konzipiert: anarchistische
und vertragstheoretische Ansätze. Erstere sehen die Stellung des Individuums als so zentral an, daß jegliche Legitimation eines Staates scheitern
muß. Eine konstruktive Lösung versuchen die sogenannten Vertragstheoretiker, Hobbes, Locke, Rosseau und Kant zu entwickeln.
Gemeinsamer Ausgangspunkt bei ihnen ist eine individualistische Anth-
Über den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft
ropologie; danach sind alle Menschen frei, sie haben gleiche Rechte,
ähnliche Fähigkeiten, wobei insbesondere die Vernunft angesprochen
wird. Nachdem ein Staat begründet werden soll, konzipieren die Vertragstheoretiker zunächst einen „Naturzustand“, also einen staatsfreien
Zustand, indem sich die Menschen verhalten können, wie sie wollen; im
Naturzustand leben die Individuen ihrer Natur gemäß. Hier zeigen sich
nun die Unterschiede in der Anthropologie der Theoretiker, Hobbes
etwa vergleicht den Menschen mit einem Wolf, folglich führt der Naturzustand zu einem Krieg aller gegen alle, wie seine berühmte Formel lautet. Locke sieht den Menschen ausgeglichener, bei ihm hat er die Fähigkeit zum Guten, wie zum Bösen, im Naturzustand verhalten sich die
Menschen auch sozial, allerdings in Grenzen. Zusammengefaßt ist jedoch der Naturzustand so konstruiert bei den Vertragstheoretikern, daß
die Menschen ihn überwinden wollen.
Gemeinsame Lösung der Theoretiker ist das Instrument des Vertrages.
Hobbes formuliert einen Gesellschaftsvertrag, der zugleich auch ein
Unterwerfungsvertrag ist: „Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu
beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, daß du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst“
(Hobbes, Leviathan, 17. Kapitel, Stuttgart 1970, S.155). Rousseaus Vertrag ist ein reiner Gesellschaftsvertrag, der jeden zum Herrscher und
gleichzeitig zum Beherrschten macht. Kant schlägt einen hypothetischen
Vertrag vor (Vgl. seine Schrift „Über den Gemeinspruch...“), wonach
Staat und Politik dann legitim sind, wenn ihnen alle Beteiligten im Prinzip zustimmen könnten, d.h. wenn eine solche Zustimmung vernünftig
wäre. Eine interessante Variante bietet Locke in seiner Abhandlung „Über die Regierung“; dort plädiert er einerseits für den sog. Urvertrag, d.h.
ein Gesellschafts- und Staatsvertrag, der von allen tatsächlich abgeschlossen werden muß und der alle fundamentalen Regeln des Zusammenlebens (etwa das Mehrheitsprinzip oder Gewaltenteilung) enthalten
soll. Darüberhinaus fordert Locke den sog. impliziten Vertrag. Spätere
Generationen müssen gleichfalls die Möglichkeit haben, dem Staat zuzustimmen; sie machen dies implizit, d.h. durch ihr Verhalten, beispielsweise indem sie die Steuern bezahlen oder nicht emigrieren.
Ulrich Druwe
Die vertragstheoretische Lösung des problematischen Verhältnisses Individuum - Staat sieht also eine vertragliche Bindung der einzelnen vor.
Gesellschaft und Staat sind damit das Resultat individueller Zustimmung.
Das Individuum geht also der Gesellschaft voraus.
Leider weist die vertragstheoretische Begründung fundamentale Schwächen auf, auf die als erster der schottische Philosoph David Hume aufmerksam machte. In seinem „Traktat über die menschliche Vernunft“
formuliert Hume: Wenn die Selbstverpflichtung über den Vertrag die
Basis der Legitimation darstellt, kann der einzelne diese Zustimmung
auch beliebig brechen bzw. zurücknehmen, wenn sie ihm nicht mehr
vorteilhaft erscheint; mit welcher Begründung sollte ein einmal geschlossener Vertrag zeitlos gültig sein?
Offensichtlich ist der Bezug auf das Individuum die einzige Möglichkeit,
eine Gesellschaft oder einen Staat zu begründen, gleichzeitig ist damit die
Begründung jegliches Überindividuellen ausgeschlossen. Dieser Widerspruch beschreibt das Scheitern der politischen Moderne, Staat und
Recht zu legitimieren.
Zu einer ähnlichen Konsequenz muß man für die Moralphilosophie
kommen. Deren grundlegende Frage lautet: Warum soll der Mensch
moralisch sein? bzw. was soll er tun? Aus heutiger Perspektive formuliert
sind dies die entscheidenden Probleme der Metaethik und der normativen Ethik. Erstere untersucht die Begründung von Normen, letztere
entwickelt sie. Die vier wichtigsten normativ-ethischen Positionen stellen
der religiöse, der deontologische, der utilitaristische und der „egoistische“ (im technischen Sinn) Ansatz dar. Skizzenartig resümiert greift der
erste auf göttliche Gebote zurück, der zweite bemißt die Richtigkeit von
Handlungen nach ihrer Form, d.h. Handlungsfolgen werden ignoriert;
paradigmatisch für diese Variante kann der Kantsche kategorische Imperativ angesehen werden. Der Utilitarismus stellt das Glück der größtmöglichen Zahl in den Mittelpunkt und der ethische Egoismus definiert die
Handlungen als moralisch, die den Interessen des Individuums dienlich
sind. Für alle Positionen stellt sich gleichermaßen das Problem ihrer
Über den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft
Begründung, welches auf die Metaethik verweist. Um die Relevanz des
Begründungsproblems aufzuzeigen, könnte man anhand der vier normativ-ethischen Positionen fragen: 1. Woher weiß ich, was Gott richtig
findet? 2. Was hat Moral mit Vernunft zu tun, lassen sich doch mit dem
kategorischen Imperativ auch Handlungen ableiten, die zumindest nach
allgemeiner Auffassung nicht-moralischer Natur sind? 3. Wie ermittelt
man das Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen und wieso ist
eine solche Handlung dann moralischer, als eine, die nur wenigen zugute
kommt? 4. Warum ist es moralisch, wenn man von den eigenen Interessen ausgeht?
Die Begründung der Moral unter Bezug auf göttliche Gebote ist seit der
frühen Neuzeit und spätestens seit Kant irrational geworden, wir wissen
einfach nicht, was Gott will, sofern es einen gibt. Von daher wird auch
für die Moral das Individuum zur letzten Begründungsinstanz; man greift
folglich entweder auf seine Vernunft oder das menschliche Gefühl zurück. Für die Vernunftbegründung könnte etwa Kant angeführt werden,
die Gefühlsbegründung findet sich beispielsweise bei Hume.
Letztlich scheitern aber auch diese Begründungsversuche von Moral. Mit
der Hinwendung zum Individuum muß akzeptiert werden, daß es verschiedene Wünsche und Bedürfnisse gibt, mit der Folge, daß Moral nicht
mittels menschlichen Gefühls begründet werden kann. Mit Kant scheitert aber auch das Bemühen, Moral vernunftmäßig zu begründen, da
formale Maßstäbe Inhalte voraussetzen, ohne sie begründen zu können.
Der Individualismus als Kern des Projekts der Aufklärung hat zu einer
moralischen Krise geführt (A. MacIntyre), weil das Individuum als Letztinstanz der Moral und der Politik diese nicht zugleich allgemein begründen kann. Individualität legitimiert nicht Allgemeines, gleichzeitig gibt es
mit der Hinwendung zum Individuum keine andere Möglichkeit mehr,
als den Begründungsrekurs auf den einzelnen.
Ulrich Druwe
IV.
Mit der Vorrangstellung des Individuums geraten Politik und Moral in
eine Krise. Dies wird gerade auch in der Wissenschaft deutlich, die sich,
gemäß dem herrschenden wissenschaftstheoretischen Paradigma des
Neopositivismus, zu Fragen der Werturteile nicht als kompetent ansieht.
„Das Sein und das Sollen sind getrennte Bereiche“ formulierte Max
Weber; Ableitungen von Normen aus dem Empirischen gelten als „naturalistischer Fehlschluß“ (Moore). Weil diese Krise wesentlich von der
„Natur des Individuums“ abhängt, sollen die wesentlichen Aspekte dieser individualistischen Anthropologie nochmals zusammenfassend dargestellt werden.
Das Individuum ist ein Wesen eigener Würde. Es besitzt Rechte, denen
heute etwa in Form der Menschenrechte entsprochen wird. Seine Vernunft befähigt es, sich zu dem zu machen, was es will bzw. zu machen,
was es will. Als Träger von Sprache und Handlung basieren auf ihm
Gesellschaft, Kultur und Moral, d.h. alle sozialen Phänomene sind auf
das Individuum zurückzuführen. Zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft bestehen von daher nur die Beziehungen, die das Individuum
will, anders formuliert: Das Individuum besitzt eine ontologische Vorrangstellung vor der Gesellschaft.
Vor allem seit dem 19. Jahrhundert wurden immer wieder Alternativmodelle entwickelt - um der politischen und moralischen Krise Herr zu
werden -, welche das Verhältnis genau umdrehten; beispielsweise in der
Theorie Marx’ wird ein solcher Ansatz deutlich, sieht er doch das Bewußtsein des einzelnen in Abhängigkeit von den umgebenden Strukturen, vor allem den ökonomischen. Die Grundelemente eines solchen
Kollektivismus könnte man wie folgt zusammenfassen: Eine Gesellschaft ist eine Ganzheit, die mehr ist, als die Summe ihrer Mitglieder. Die
gesellschaftlichen Traditionen, Normen, Werte, Weltsichten und Denkstile beeinflussen den einzelnen dergestalt, daß von einem autonomen
Individuum nicht die Rede sein kann. Individuelles Verhalten muß daher
Über den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft
auf den sozialen Kontext zurückgeführt werden, wenn man es erklären
will. Von daher bezieht die Gesellschaft eine ontologische Vorrangstellung vor dem Individuum.
Für welche Variante man sich auch entscheidet, in beiden Fällen besteht
ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, beiden Konzepten ist ein Defizit gemein, welches sich auf den
jeweiligen Gegenpol bezieht: Beim Individualismus kommt die Gemeinschaft zu kurz und bei Kollektivismus das Individuum, d.h. hier kann
bezweifelt werden, ob der Individualbegriff überhaupt verwendet werden
darf.
Im folgenden soll nun ein Gedankengang vorgestellt werden, mit dem
dieser Widerspruch aufgelöst werden kann. Er kann natürlich nicht sehr
detailliert beschrieben werden, es soll aber wenigstens eine intuitive Idee
vermittelt werden. Die zentrale These lautet dabei wie folgt: Der Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft stellt sich bei genauerer
Analyse als Scheinproblem heraus.
V.
Der angebliche Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft ist
ein altes philosophisches Problem, welches aber seit der Hinwendung
zum Subjekt zu gravierenden Folgen geführt hat, beispielsweise, daß
Moral nur über das Individuum begründbar ist, eine solche Begründung
aber de facto keine ist, wie bereits Hume festgestellt hat, da Überindividuelles nicht individuell begründet werden kann. Die Auflösung dieses
Gegensatzes liegt daher vor allem im Interesse der Moralphilosophie und
der Politischen Philosophie.
Um ihn auflösen zu können, enpfiehlt es sich, zunächst die Struktur
dieses Gegensatzes genauer zu betrachten. Dabei fällt auf, daß er zu
einer Gruppe von Gedanken gehört, die sich die Menschen immer wieder stellen, ohne (offensichtlich) das dahinterstehende Muster zu erken-
Ulrich Druwe
nen, weshalb solche Gedanken oft auch als Paradoxie bezeichnet werden.
Eines der bekanntesten Beispiele diese Gedankengruppe ist die HenneEi-Paradoxie: Was war früher da, die Henne oder das Ei? Im Gegensatz
zu der landläufigen Meinung, läßt sich diese Frage eindeutig beantworten: natürlich das Ei: Eier gab es, bevor aus ihnen das Lebewesen Henne
kroch. Gleichgültig, wo man die Grenze zwischen einer Noch-NichtHenne und einer Henne zieht, feststeht, daß eine genetische Kette immer im Ei ihren Ausgangspunkt nimmt. Der Eindruck der Paradoxie
geht in diesem Fall auf die Sprache zurück: Man denkt abstrakt an „die“
Henne und an „das“ Ei; „die“ Henne stammt aus einem Ei, „das“ Ei
geht auf eine Henne zurück. Überträgt man diese Abstraktion auf konkrete Hennen und Eier, wird das Ganze paradox. (Vgl. Zu dieser und
weiteren Paradoxien U. Blau: Wahrheit von innen und außen, in: Erkenntnis 25, 1986, S.130)
Dieses Beispiel illustriert den Gegensatz Individuum - Gemeinschaft;
auch hier handelt es sich um ein rein sprachliches Problem: Man idealisiert sowohl die Gemeinschaft, als auch das Individuum. An sich existieren aber beide Entitäten nicht. Überträgt man nun diese Ideale auf die
Realität, dann entsteht auch hier ein paradoxer Eindruck. Empirisch läßt
sich jedoch klar entscheiden, daß das Gesellschaftliche dem Individuellen
vorausgeht. Wann man dann vom Individuum bzw. Noch-NichtIndividuum sprechen kann, ist eine Frage der Definition, aber auch diese
ist abhängig vom kulturellen Umfeld. Individualität kann daher niemals
im Gegensatz zur Gemeinschaft stehen, wobei die genauere Bedeutung
dieser Formulierung im folgenden detaillierter illustriert werden soll.
Zum Einstieg soll nochmals auf einen vertragstheoretischen Ansatz der
frühen Neuzeit zurückgegriffen werden, in dem die Linearität vom Individuum zur Gesellschaft in der Regel im Mittelpunkt der Interpretation
steht. T. Hobbes gilt als der erste Staatsphilosoph, der eine Gesellschaft
konsequent individualistisch begründet. (Vgl. dazu etwa den Artikel von
H. Maier, in: Politische Denker, Bd.1, München 1974, S. 125-138.) Ließt
Über den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft
man Hobbes’ Überlegungen genauer, wird deutlich, daß sich mit ihnen
nicht nur der Staat begründen läßt, sondern daß sie zugleich eine Begründung des Individuums darstellen, d.h. in Hobbes’ „Leviathan“ findet
sich besagte Paradoxie, wonach Individualität zum Staat und umgekehrt
der Staat zum individuellen Menschen führt. Nachdem die erste Argumentation – vom Individuum zum Staat – allgemein bekannt sein dürfte,
soll hier kurz auf die korrespondierende Argumentation eingegangen
werden.
Hobbes’ Theorie basiert auf einem mechanistischen Ansatz: er will Philosophie und Staatswissenschaften more geometrico betreiben. Im ersten
Buch des „Leviathan“ ist die zentrale Frage, was den Menschen zum
Menschen macht, d.h. wodurch unterscheidet er sich von anderen Lebeweswen? Hobbes’ Antwort lautet: Vernunft und Sprache sind die beiden
Dinge, durch die sich der Mensch von allem anderen unterscheidet.
Beides erwirbt der Mensch nur im Umgang mit anderen Menschen. „Es
werde oder laßt uns Menschen machen“, schreibt Hobbes in der Einleitung zum „Leviathan“: der vernünftige, sprechende Mensch ist nämlich
das Resultat der Gemeinschaft. Der Staat ist folglich die Vorbedingung
für den Menschen. Gesellschaft und Individuum bedingen sich damit
wechselseitig.
Ein solches Resultat erzielt Hobbes, weil er seine Theorie als Modell
anlegt, in welcher der Faktor Zeit keine Rolle spielt. Naturzustand und
Staat, der „künstliche Mensch“ wie ihn Hobbes nennt, sind beides hypothetische Konstrukte, die es in der Realität nicht gibt; gleiches gilt für die
in beiden Zuständen agierenden Menschen, auch sie sind nicht empirisch-konkret zu denken. Von welchem Zustand aus man nun die Theorie verfolgt, man endet immer bei der Erkenntnis, daß das Individuum
den Staat braucht und daß der Staat die Individuen benötigt (mindestens
zu seiner Gründung); ohne die Individuen gibt es keinen Staat und ohne
den Staat keine Individuen.
Eine ähnliche Konstruktion findet sich bei Rousseau, der die Individuen
in seinem Staat zugleich zu Herrschern und Beherrschten macht. Inter-
Ulrich Druwe
essant ist, daß beiden Theoretikern der Absolutismus- bzw. der Totalitarismusvorwurf gemacht wurde. Verkannt wird, daß beiden in ihren
Theorien nur der Tatsache Rechnung tragen, daß Individualität und
Gesellschaft sich wechselseitig bedingen, daß das eine ohne das andere
nicht denkbar ist.
Damit ist nun allerdings erst das idealtypische Denken über die Kategorien Individuum – Gesellschaft belegt. Auflösbar wird die Paradoxie
erst, wenn die Problematik empirisch betrachtet wird. Hierfür soll auf die
Argumente von nur zwei modernen Forschern verwiesen werden: die
des Entwicklungspsychologen J. Piaget und die des Philosophen und
Logikers W.V.O. Quine.
Piagets zentraler Begriff ist der der Handlung. Nach seiner Theorie basiert die gesamte kognitive Entwicklung (Denken, Sprechen, Handlungsfähigkeit) auf Subjekt-Objekt-Handlungen, wobei Objekte auch
andere Menschen sind. In permanenter Interaktion bildet der Mensch
Handlungsstrategien, Sprache und Denkstrukturen aus, wodurch er
gleichzeitig das Objekt begreift. Piaget betont zwar, daß für diesen Prozeß auch artmäßig ererbte Strukturen notwendig sind, diese sind aber
nicht hinreichend, letztlich ist für die menschliche Entwicklung entscheidend „die Wirkungen und Gegenwirkungen der Individuen aufeinander.“ (J. Piaget: Die Entwicklung des moralischen Urteils beim Kinde,
Frankfurt 1981, S.360 f.) Erst die Gesellschaft „zwingt“ den Menschen
zur Ausprägung kognitiver Strukturen wie Sprache, abstraktes Denken
oder auch moralisches Verhalten. Um dies mit Piaget zu formulieren:
Die menschliche Entwicklung des Individuums ist das Resultat von
Assimilations- und Akkommodationsprozessen an externe Gegebenheiten.
Bezüglich des Verhältnisses Individuum – Gesellschaft argumentiert
Quine mit der Sprache. Der einzelne wird in eine bestimmte Umwelt,
eine Sprachgemeinschaft hineingeboren. Sprache impliziert bei Quine
zugleich Wissen, Denken und praktische Handlungsmöglichkeit. Durch
den Erwerb der Sprache wird der Mensch „konditioniert“, die Welt so
Über den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft
zu sehen, wie sie von seiner Sprachgemeinschaft gesehen wird. Sprache
ist „gesellschaftliche Dressur“, die vom Menschen via Induktion aus
beobachteten Anwendungen gelernt wird. Über die Sprache bzw. das
Sprachlernen gelingt also die Integration zwischen Individuum und Gemeinschaft, denn jede Individualität basiert auf der Sprache, auf dem
dadurch erst möglichen Denken und Handeln.
Empirisch gesehen, so läßt sich resümieren, geht dem Individuum die
Gemeinschaft immer voran. Diese Formulierung darf allerdings nicht so
interpretiert werden, daß damit das Individuum vollständig bestimmt
wäre. Die kognitive Entwicklung des Menschen ist nach Piaget eine
aktive Handlung des Subjekts; kognitive Entwicklung bedeutet nicht, die
Umwelt abzubilden, sondern der einzelne wirkt auf sie ein. (Vgl. Piaget:
Einführung in die genetische Erkenntnistheorie Frankfurt 1970, S. 22 ff.)
Er entwickelt Transformationssysteme, die mit der Realität im optimalen
Fall isomorph sind. Die Handlungen des Individuums verändern damit
auch die Gemeinschaft. Ähnlich sieht dies auch Quine, wenn er formuliert, daß jedes Sprachmitglied, also jeder Mensch, über eine Vielfalt
subjektiver sprachlicher Verknüpfungen verfügt, die er in die Sprachgemeinschaft einbringt und sie dadurch auch verändert.
Zwischen Individuum und Gemeinschaft besteht also kein Gegensatz,
sondern ein koevolutionäres Verhältnis. Beide sind nicht aufeinander zu
reduzieren, sondern bedingen sich gegenseitig. Ohne die Gemeinschaft
kommt es aber mit Sicherheit nicht zur Ausprägung des Individuums als
einem selbstbewußten Wesen, während eine Gemeinschaft sehr wohl
auch aus Nicht-Individuen bestehen kann.
VI.
Versucht man ein kurzes Resümee, läßt sich feststellen, daß der angebliche Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft auf die Sprache
zurückzuführen ist. Wird von diesem Gegensatz gesprochen, geht man
vom Ideal des Individuums oder der Gesellschaft aus. Dies erzeugt eine
Paradoxie, wie sich an Hobbes’ Theorie im „Leviathan“ veranschauli-
Ulrich Druwe
chen läßt. Betrachtet man dagegen das Verhältnis Individuum - Gemeinschaft empirisch, dann läßt sich feststellen, daß die Gemeinschaft dem
Individuum immer vorausgeht.
Analog zur Henne-Ei-Paradoxie geht historisch betrachtet dem Individuum die Gemeinschaft voraus; ab wann man vom Individuum sprechen
kann, ist natürlich eine Frage der Definition, aber auch Definitionen sind
über die Sprache historisch-kulturell vermittelt. Unabhängig von einer
Umwelt ist also das Individuum nicht denkbar. Damit ist jedoch die
Betrachtung des Verhältnisses Individuum - Gemeinschaft noch nicht
abgeschlossen, denn der einzelne bezieht sich handelnd und sprechend
immer auf die Gemeinschaft und verändert sie dadurch. Das Verhältnis
Individuum - Gemeinschaft ist daher als Koevolution zu betrachten, d.h.
eine Gesellschaft ist weder eine Menge von Individuen noch ein Überindividuelles Phänomen; sie ist ein System von untereinander verbundenen
Individuen. Dadurch hat sie Eigenschaften, die nur teilweise auf Individuen, in der Mehrzahl jedoch auf die Wechselwirkungen zwischen den
Individuen zurückzuführen sind. Ebensowenig sind Individuen autonome Einzelwesen; sie sind vielmehr auch durch ihre Funktion bestimmt,
die sie in einer Gesellschaft ausüben. Soziale Phänomene sind folglich
durch Individuen, Gruppen und deren Wechselwirkungen bestimmt; das
individuelle Verhalten ist eine Funktion biologischer, psychologischer
und sozialer Eigenschaften des „Individuums-in-der-Gesellschaft“.
Literatur:
Giddens, A.:
Höffe, O.:
Parsons, T.:
Piaget, J.:
Quine, W.V.O.:
Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt 1986
Politische Gerechtigkeit, Frankfurt 1987
Gesellschaften, Frankfurt 1975
Biologie und Erkenntnis, Tübingen 1974
Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980
Herunterladen