Über Konstitution und Orientierung von Bildung

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Über Konstitution und Orientierung von
Bildung:
Eine problemgeschichtliche Studie über die Grundzüge
bildungspolitischen Handelns.
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
der Philosophischen Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg i. Br.
vorgelegt von
Marko Goran Bosnić
aus Wuppertal-Elberfeld
SS 2015
Erstgutachter:
Zweitgutachter:
Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander
Prof. Dr. Lore Hühn
Vorsitzender des Promotionsausschusses
der Gemeinsamen Kommission der
Philologischen, Philosophischen und Wirtschaftsund Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander
Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 17.08.2016
„Was immer und wie immer wir zu denken versuchen, wir denken im Spielraum der Überlieferung.
Sie waltet, wenn sie uns aus dem Nachdenken in
ein Vordenken befreit, das kein Planen mehr ist.
Erst wenn wir uns denkend dem schon Gedachten
zuwenden, werden wir verwendet für das noch zu
Denkende.“
Aus: Martin Heidegger, Der Satz der
Identität
Inhalt
VORWORT ........................................................................................................................................................... 1
EINLEITUNG ....................................................................................................................................................... 1
I. ÜBER DIE GEOGRAPHISCHE KONSTITUTION UND ORIENTIERUNG VON BILDUNG ............ 27
1. DIE TRANSFORMATION DER PROBLEMLOGIK DER BILDUNG IM ZUSAMMENHANG DER REFORMATION ......... 27
2. ÖKONOMIE DES HAUSES ALS GEOGRAFISCHER ORIENTIERUNGSRAHMEN DER ERZIEHUNG........................... 30
II. ÜBER DIE MATHEMATISCHE KONSTITUTION UND ORIENTIERUNG VON BILDUNG ......... 37
EINLEITUNG ...................................................................................................................................................... 37
1. ÜBER DIE GRUNDLEGUNG UND LEGITIMATION MODERNER BILDUNGSPOLITISCHER RATIONALITÄT UND
HANDLUNGSLOGIK ........................................................................................................................................... 39
2. EXPLIKATION DES VERHÄLTNISSES ÖKONOMISCHER RATIONALITÄT UND GOUVERNEMENTALITÄT AM
BEGRIFF DER SOZIGRAFIE ................................................................................................................................. 46
2.1 Die Phänomenotechnik der Soziografie als grundlegender Orientierungsrahmen moderner
Bildungspolitik ............................................................................................................................................. 47
2.2 Funktion und Bedeutung der Soziografie als Grundlage Ökonometrie ................................................. 49
2.3 Die Frage der wissenschaftlichen Erfassbarkeit und Quantifizierbarkeit des Sozialen ........................ 55
2.4 Moralstatistik und soziale Physik .......................................................................................................... 67
ERGEBNIS DES ZWEITEN TEILS: ÖKONOMISCHE RATIONALITÄT UND POLITISCHER REALISMUS ALS
ABSTOßUNGSPUNKT DES KRITISCHEN BILDUNGSDENKENS ............................................................................... 81
III. ÜBER DIE LOGISCHE KONSTITUTION UND ORIENTIERUNG VON BILDUNG ....................... 86
EINLEITUNG ...................................................................................................................................................... 86
METHODISCHER EXKURS: AUFKLÄRUNG(EN)? KONSTELLATIONSANALYSE ALS METHODISCHER
ANKNÜPFUNGSPUNKT ....................................................................................................................................... 89
1. ROUSSEAU ÜBER DIE DENKMÖGLICHKEIT DER BILDUNG BÜRGERLICHER SITTLICHKEIT............................. 104
1.1 Perfectio, perfectibilité und Bildung: zur Problematik der Über-Setzung Rousseaus ......................... 130
2. BILDUNG ZUR MÜNDIGKEIT: ÜBER FUNKTION UND BEDEUTUNG DER KANTISCHEN PHILOSOPHIE FÜR
DIE POLITISCHE GELTUNG DES BILDUNGSBEGRIFFS UND DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER PÄDAGOGIK .......
168
2.1 Kants Rezeption der Bildungsfrage Rousseaus.................................................................................... 171
2.2 Das Problem der Wissenschaftlichkeit einer spekulativen Anthropologie zur Orientierung
von Bildung................................................................................................................................................ 185
2.3 Zum Antagonismus von Humes Skeptizismus und Rousseaus Spekulation bei Kant ........................... 192
2.4 Bildung und Kritik: Kants Grundlegung der Pädagogik in bildungspolitischer Absicht .................... 210
3. PÄDAGOGIK UND DIE PROBLEMATIK IHRER TRANSZENDENTALEN GRUNDLEGUNG ..................................... 232
3.1 Metaphysischer Realismus als Rahmen einer wissenschaftlichen Pädagogik bei Herbart ................. 234
3.2 Zur dialektischen Grundlegung der Pädagogik bei Schleiermacher ................................................... 256
3.2.1 Ansatzpunkt der Dialektik Schleiermachers .................................................................................................. 260
3.2.2 Schleiermachers dialektische Grundlegung der Pädagogik ........................................................................... 269
3.3 Die etatistische Verzwecklichung der Bildung im 19. Jahrhundert ..................................................... 301
4. ADORNO UND HORKHEIMER ÜBER DENKMÖGLICHKEIT EINER BILDUNGSPOLITIK NACH IHREM
KATASTROPHISCHEN SCHEITERN
.................................................................................................................... 314
4.1 Die Diagnose der Krise und die Frage nach der Funktion spekulativer Philosophie in
bildungspolitischer Absicht ....................................................................................................................... 320
4.2 Dialektik im Zusammenhang kritischer Sozialforschung..................................................................... 327
4.3 Über das Ausbleiben einer kritischen Sozialforschung die Wandlung zur Kritischen Theorie ........... 355
4.4 Kritische Theorie und Negative Theologie .......................................................................................... 371
4.5 Über die Bedeutung der Sprach- und Medientheorie Benjamins für die Ausrichtung des
Forschungsprogramms der Kritischen Theorie in der Dialektik der Aufklärung ...................................... 383
4.6 Neue Voraussetzungen der Bildungspolitik: die Zeitdiagnose der Dialektik der Aufklärung und
die Frage nach den Voraussetzungen der Bildung mündiger Bürger in einer verwalteten Welt............... 398
ERGEBNIS DES DRITTEN TEILS: ÜBER SPEKULATIVE ORIENTIERUNG VON BILDUNG ....................................... 424
SCHLUSS: ÜBER DIE GRUNDZÜGE BILDUNGSPOLITISCHEN HANDELNS .................................. 435
1. BILDUNG ALS HERAUSFORDERUNG UND ALS PROZESS POLITISCHER WERTSCHÖPFUNG ............................. 435
2. BILDUNGSPOLITISCHES HANDELN ALS DIALEKTISCHES INEINANDER VON IDEE UND ERFAHRUNG ............. 442
3. ÜBER DIE PROBLEMLOGISCHE FORMALSTRUKTUR DER ORIENTIERUNG BILDUNGSPOLITISCHEN
HANDELNS ...................................................................................................................................................... 444
4. ÜBER DIE PROBLEMLOGISCHE FORMALSTRUKTUR EINES POLITISCHEN DENKENS UND EINES DENKENS
DES POLITISCHEN ............................................................................................................................................
448
LITERATURVERZEICHNIS ......................................................................................................................... 465
Vorwort
Durch Bildung wird das Politische, was es ist und was es sein kann. Bildung ist eine zentrale
Kategorie des Politischen, da es ihr um die Bildung des Politischen selbst geht. Alle politische
Gestaltung, alle politischen System- und Verfassungsentwürfe, Hoffnungen und Sorgen kommen um das Denken der Bildung nicht herum. Der gegenwärtige Diskurs um Bildung ist beherrscht von Bildungskonzepten, -plänen und -entwürfen. Selten wird aber nach den Grundzügen vernünftigen bildungspolitischen Handelns gefragt. Dabei zeigt die Praxis, dass gelungene
Bildung realpolitisch von dem Geschick engagierter Akteure abhängt. Deshalb hat vorliegende
Arbeit zum Ziel eine Handlungslogik bildungspolitischer Praxis zu erkennen und als Orientierung der Praxis zu formulieren.
Einleitung
Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die gegenwärtige Diskussion um die Krise der Bildung und
um den damit zusammenhängenden „Orientierungsnotstand“1 der Bildung in Hinblick auf dessen philosophische Tiefendimension. Die vorliegende Untersuchung ist von der Absicht getragen, zu einem Verständnis der Bedingungen der Bildungskrise beizutragen und die Möglichkeiten der Orientierung von Bildung, d.h. einer nachhaltigen Bildungspolitik, zu entwickeln.
Dieses Ziel wird verfolgt durch die Kritik oder Analyse der historischen Bedingungen und der
epistemologischen Mittel, durch die Bildung als Objekt zu einem politischen Projekt in der
Moderne geworden ist. Auf Grundlage dieser genetischen Analyse der problemlogischen Bedingungen soll abschließend nach den praxeologischen Möglichkeiten der Orientierung gefragt
werden, um die Absicht der Arbeit zu vervollständigen.
Die Erwartung desjenigen Lesers, der hier einen weiteren polemischen oder apologetischen
Beitrag zur Bildungsdiskussion vorzufinden glaubt, muss im Folgenden daher leider enttäuscht
werden, nicht nur aufgrund der Ausrichtung der Untersuchung, sondern weil sich Bildung als
Gegenstand der Untersuchung sui generis einer solchen Festlegung entzieht. Denn Bildung ist
ein komplexer und komplizierter Begriff. Sowohl in historischer als auch in systematischer
Hinsicht tritt der Begriff durch seine Ambiguität hervor.2 Die Divergenzen und Antagonismen
über die Vorstellungen von Bildungszielen und -zwecken, die andauernden Debatten über die
1
Vgl. Negt 2014, S. 19-25.
2
Vgl. Hepp 2008, S. 13-18.
1
Ausrichtung und die Umsetzung von Bildung sowie die historischen und politischen Konnotationen, Übercodierungen und ideologischen Kontaminationen machen es unmöglich, Bildung
als einen inhaltlich definitiven Begriff und als einen Terminus des Denkens festzulegen. 3 Der
im Rahmen einer Polemik oder einer Apologie unternommene Versuch einer solchen eindeutigen Festlegung ist somit vielmehr als eine Politik, eine Taktik oder Strategie selbst zu verstehen
und daher von einer methodischen Betrachtung grundsätzlich und generisch zu unterscheiden.
Über Bildung zu sprechen bedarf daher des Rekurses auf die Weise, wie Bildung geschichtlich
epistemologisch konstituiert und logisch orientiert. Die Hypothese, dass die Thematik aus der
Perspektive der historischen Epistemologie4 sachgemäß und kritisch begriffen werden kann,
muss hier vor einer Spezifizierung des Untersuchungsgegenstandes zunächst geleistet werden.
Die notwendige und hinreichende Voraussetzung eines sachgemäßen Zugangs und methodischen Umgangs mit der Thematik der Krise der Bildung und dem Orientierungsnotstand der
Bildung ist die Bestimmung der mit dem Begriff der Bildung verbundenen Problemlogik. Denn
dadurch sind die Möglichkeit einer kriterialen Bestimmung sowie die Bedingung der verstehenden Auslegung des Begriffs allererst gegeben. So steht zunächst zur Frage, wie Bildung in
ihrer Problemlogik gedacht werden kann.
Man könnte Bildung als Bildung des „Selbst, Fremd- und Weltverhältnis[ses]“, d.h. als „differenzierte, gedanklich und sprachlich vermittelte Auseinandersetzung von Menschen mit sich,
mit anderen und mit der Welt“5 und somit als pädagogische Kategorie und Bedingung der Moralentwicklung ausweisen. In ähnlicher Weise könnte man Bildung vor allem als „Selbstbildung“ verstehen und sie demnach als „harmonische Entwicklung der ganzen Person“ auslegen.6
Jedoch ordnet man den Begriff so dem Problemkomplex einer Ästhetik bzw. Poetik der Existenz und Philosophie der Lebenskunst und somit der Ethik zu. Da sich die Problematik der
Bildung in der Moderne aber nicht als Problem der individuellen Lebensführung, sondern vielmehr als Frage der Staatskunst, d.h. der Fundierung politischer Kompetenz und Orientierung
politischer Regulierung des Schulwesens stellt, ist Bildung in ihrer Logik vor allem als politisches Problem zu betrachten. Auch die mit der humanistischen Tradition verbundene Idee der
Bildung als „Persönlichkeitsbildung“7 meint vor allem die Bildung des mündigen Bürgers und
steht so im Zusammenhang der Problematik des Politischen, d.h. der Orientierung politischen
3
Vgl. Bollenbeck 2012, S. 161–162.
4
Vgl. Rheinberger 2007, S. 11-13.
5
Dörpinghaus / Poenitsch / Wigger 2013, S. 10.
6
Hastedt 2012, S. 7.
7
Nida-Rümelin / Zierer 2015, S. 24.
2
Handelns. Dabei gilt, dass während Bildung des Menschen als Bildung der Persönlichkeit, des
Selbst-, Fremd- und Weltbezugs auch jenseits der Politik vernünftig denkmöglich ist,8 Politik
nicht ohne die Bildung des Menschen vernünftig zu begreifen ist. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass eine moralphilosophische bzw. ethische Fassung politischer Probleme, auch wenn
Ethik und Politik, wie Aristoteles zeigt,9 praktisch aufeinander bezogen bleiben, dazu führt,
politische Probleme nicht zu lösen, sondern sie zu verklären bzw. misszuverstehen. Die Gefahr,
Bildung etwa ausschließlich im Sinne einer “Selbstoptimierung“ zu verstehen, rührt gerade
vom Verkennen der politischen Dimension der Bildungsproblematik her.
Eine Sozialgeschichte der Bildung wird in dieser Hinsicht auch keinen Zugang geben können,
da Bildung in der Moderne im Gegensatz zur Erziehung ein wesenhaft politisches Projekt bezeichnet. Vom Preußischen Landrecht von 1794 und den Stein-Hardenbergschen Reformen an,
durch die der Grundstein für ein modernes Bildungswesen gelegt wurde,10 bis zur grundgesetzlichen Sicherung11 des staatlichen Bildungsauftrags in der Bundesrepublik Deutschland obliegt
das Bildungswesen vor allem der politischen Bestimmung durch staatliche Institutionen und
nur zum Teil gemeinnützigen Organisationen. So verstanden kann von einer etatistischen Tradition der Bildungspolitik in Deutschland gesprochen werden. Dabei ist zu beachten, dass dem
Projekt der Bildung und den damit zusammenhängenden Aufgaben gerade deshalb so grundlegende politischen Aufmerksamkeit zukommt, weil das Bildungssystem, wie Bourdieu darlegt,
wesentlich zur Distribution des kulturellen Kapitals und zur Reproduktion der Struktur des sozialen Raumes beiträgt.12 Demnach sind die Möglichkeiten der Sozialgeschichte nur in Bezug
auf bildungspolitische Strategeme als Konstituenten und Regulative des sozialen Raumes gegeben.
Andererseits wird eine Geschichte der politischen Institutionen der Bildung ebenso keinen
sachgemäßen Zugang zum Thema der Bildungskrise geben, da die Struktur der Verwaltung,
auch wenn ihr ein großer Einfluss zuzusprechen ist, der politischen Praxis der Regulierung untersteht und aus ihr hervorgeht. Folglich würde durch eine Geschichte der Bildungsinstitutionen, wie auch durch eine Tatsachengeschichte der Bildung, die Dimension der Möglichkeit von
Bildung unterbelichtet bleiben. Denn diese wird nicht allein in Hinblick auf die Institutionen
zur Umsetzung des staatlichen Bildungsauftrags, sondern auch in Bezug auf den praktischen
8
Vgl. Bieri 2005, S. 1.
9
Vgl. Aristoteles PS, Bd.3, S. 1-5. [1094a-1095a]
10
Vgl. Fees 2015, S. 227-229.
11
Vgl. Düring 1994, S. 7. [Art. 7 Abs. GG]
12
Vgl. Bourdieu 1998, S. 35.
3
und theoretischen Umgang mit diesen Institutionen verstanden. Schließlich ist es wichtig zu
beachten, dass bildungspolitische Institutionen, obwohl sie genetisch-materielle und strukturpolitische Bedingungen darstellen, nicht gleichzusetzen sind mit der Problemlogik der Bildung.
So ist eine Politik der Bildung denkbar, die sich zwar in Bezug zur Bildung tituliert, in realiter
jedoch nur eine bürokratische Verwaltung und Steuerung der Bildungsinstitutionen darstellt.
Daher besteht die Gefahr, dass Tatsachengeschichte bzw. eine Geschichte der Institutionen der
Bildung vielmehr das damit verbundene Geschehen in seiner Faktizität als alternativlos und
objektiv darstellen. Dadurch würde die Problemlogik der Bildung missverstanden, und es bestünde die Gefahr einer Affirmation geschichtlicher und aktueller Verhältnisse bis hin zu der,
einer Ideologie zu verfallen. Auch in Hinblick auf die Bildung ist Politik die Kunst des Möglichen und muss als solche auch verstanden werden.
Es ist somit klar, dass die Problemlogik der Bildung weder allein in Bezug auf eine historischsoziale noch eine politische Objektivität zu denken ist. Dies gilt auch, weil Bildung nicht auf
die sittliche oder die bürokratische Ordnung zurückgeführt werden kann. Obwohl eine Objektivität dieser Art zum Verständnis der Problemlogik der Bildung nicht vorausgesetzt werden
kann, ist Bildung in ihrer Extension auf diese bezogen.13
Ist die Problemlogik nun nicht in Bezug auf Objektivität verständlich oder auf diese zurückführbar, so wäre vielleicht ein Bezug auf Subjektivität denkbar. Dies ist jedoch ein Trugschluss.
Denn weder ist Bildung Proprium eines Subjekts, noch ist Subjektivität Ursprung der Idee der
Bildung. Dies ist daran zu erkennen, dass wenn man ein Subjekt als gebildet bezeichnet, man
damit eine Relation ausdrückt. Man bringt zum Ausdruck, dass das Subjekt an einem universellen, die Gemeinschaft prägenden transsubjektiven Prozess teilhat. Wäre Bildung Proprium
eines Subjekts, so wäre sie nicht in universeller Weise verständlich und fragwürdig. Zugleich
lässt sich durch die mit dem Begriff der Bildung ausgedrückte Relation der Teilhabe erkennen,
dass das Subjekt nicht Ursprung der Bildung ist, sondern dass seine Form, d.i. sein Handeln
und Denken dieser entspricht. Daher liegt Bildung auch nicht in der Domäne der Meinung,
Gesinnung oder Weltanschauung.
Insgesamt wird somit deutlich, dass Bildung weder als bzw. allein in Rekurs auf eine subjektive
noch objektive Gegebenheit in seiner Problemlogik verständlich wird. Dies liegt daran, dass
Bildung kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff ist. Zwar kann sich ein Handeln am
Begriff der Bildung orientieren und versuchen, diesen zu verwirklichen, doch wird der Begriff
13
Die Unterscheidung zwischen sektoralen Aufgabenbereichen und Problemen der Bildungspolitik und der Problemlogik der
Bildung wird weiter unten angeführt.
4
dadurch nicht realisiert, sondern tritt in einem Werkverbund in Wirkung. Daher bezeichnet Bildung eine Virtualität: einen denkbaren, nicht realen, jedoch hinsichtlich seiner Funktionalität
wirklichen Prozess. Als Virtualität muss Bildung im sprichwörtlichen Sinne „wahr-genommen“, d.h. gedacht werden – es gibt sie nicht einfach. Sofern sie wahrgenommen wird, ist sie
dem Handeln normgebend, d.i. präskriptiv. Dem Wahrnehmen von Bildung ursprünglich ist das
Ereignis der Krise. Der Orientierung der Bildung ursprünglich ist das im Denken wahrgenommene Ereignis der Krise. Daher kann man von der Bildung vor allem als Geschichte der Bildungskrise und des davon ausgehenden bedachten Umgangs und wahrnehmenden Handelns
sprechen. Als wahrnehmendes Handeln ist jenes zu verstehen, welches sich im Denken orientiert und der Krise entspricht. So ist Bildung als präskriptiver Begriff nicht unabhängig vom
Handeln zu verstehen, sondern als denkmöglicher Umgang mit diesem verbunden. Bildung
kann nicht deckungsgleich mit dem Handeln sein, da sonst die Möglichkeit der Orientierung
nicht gegeben wäre. Bildung würde so zugleich zu einem deskriptiven Sachverhalt. Vielmehr
aber ist Bildung als präskriptiver Begriff mit dem Handeln verwoben und als prozessimmanente
Dynamik zu verstehen.
Wie der Begriff Virtualität in anderer Hinsicht deutlich macht, besteht die Relation zum Handeln in Bezug auf die Tugend und die Tüchtigkeit, d.h. dasjenige, was zu einem guten Lebensvollzug notwendig ist. Insofern kann man Bildung als Virtualität als denkbaren, transsubjektiven Prozess der Orientierung der Handlung an einem tugendhaften und tüchtigen Leben begreifen, d.h. am Vollzug eines gelungenen Lebens. Da der Begriff der Bildung, wie oben dargelegt,
dem Politischen zuzurechnen ist, bezieht er sich als Virtualität auf die Orientierung am tugendhaften und tüchtigen gemeinschaftlichen Leben. So kann zunächst festhalten werden, dass sich
Bildung in seiner Problemlogik auf die Orientierung an der Entwicklung eines gelungenen gemeinschaftlichen Lebens und seiner Elemente bezieht. Folglich kann die Problemlogik der Bildung wie folgt verstanden werden:
Durch den Begriff der Bildung wird die Menschwerdung bedacht, d. i. die Selbstwerdung des
Menschen. Sofern man das Menschsein der Möglichkeit nach als vernünftig versteht, wird
dadurch eine Selbstwerdung der Vernunft bezeichnet. Sofern man das Menschsein als gemeinschaftlich betrachtet, wird dadurch die Selbstwerdung des Politischen bezeichnet. Beide Momente – die Selbstwerdung der (praktischen, d.i. ethischen und politischen) Vernunft und die
Selbstwerdung des Politischen – sind im Begriff der Bildung aufeinander bezogen,14 insofern
die Selbstwerdung, die Bildung der individuellen praktischen Vernunft durch Ausbildung der
14
Gerade daher ist es, wie Frischmann darlegt, „kaum sinnvoll, die gesellschaftliche Notwendigkeit von Bildung gegen den
Aspekt individueller Selbstbestimmung auszuspielen.“ (Frischmann 2012, S. 7.)
5
praktischen-politischen Urteilskraft15 die Möglichkeitsbedingung der Konstitution des sittlichen Werdens und Verwirklichung des Politischen ist.
So ist unter dem Begriff der Bildung auch ein Modus des Hoffens, eine Kategorie objektiver
politischer Einbildungskraft und eine Aufgabe des spekulativen, d.h. begrifflichen Denkens zu
verstehen. Bildung bedarf einer Vorstellung des gelingenden, guten gemeinschaftlichen Lebens. Mit ihm hängt der Versuch des Denkens eines Noch-Nicht zusammen, welcher der Möglichkeit nach als Wirklichkeit sich wird erweisen müssen. Das bedeutet, dass Bildung ein politisches Prinzip und Regulativ gesellschaftlicher Entwicklung benennt. Der noch heute hohe gesellschaftliche Wert der Bildung,16 der damit verbundene Anspruch und die damit verbundene
Enttäuschung sind ohne den Rekurs auf das Hoffen nicht ausreichend verstanden.
Das Hoffen entspringt der Sorge, der Umsorge und der Fürsorge. Von dieser provoziert und
motiviert übersteigt das Denken der Bildung die Umweltlichkeit des gegenwärtigen Mitseins
um dessen selbst willen. Verbunden mit dieser Reflexion ist der Versuch der Distanz-gewinnung, der Gewinnung einer Distanz im Denken, von dem aus die gesellschaftlichen Umstände
und Prozesse verstanden und ihre Prinzipien, Ziele sowie Regulative der Möglichkeit nach begriffen werden können. Bildungsdenken bezeichnet einen Versuch der Orientierung von Bildung. Es übersteigt das Aktuelle theoretisch und spekulativ, um sich mit dem Werden und den
Werten auseinanderzusetzen und diese sachlich und normativ beurteilen zu können. Darin ist
zugleich zu erkennen, dass auch wenn Bildung sui generis nicht auf eine Gegebenheit zurückzuführen ist, so doch das Denken der Bildung sich auf Gegebenheit beziehen muss. Insgesamt
wird also deutlich, dass Bildung sich durch die genetische Differenzierung von Denken und
Handeln konstituiert und verwirklicht.
In ihrer Problemlogik, d.h. als Präskriptiv, ist Bildung ein universeller Begriff. Dies spiegelt
sich darin, dass man heute, im Gegensatz zu der früher üblichen „sektoralen Betrachtungsweise“ des Bildungswesens, Bildung als „systemisch und vernetztes Ganzes“ betrachtet. 17 Damit ist gemeint, dass das Bildungswesen und die Bildungspolitik, obwohl damit verschiedene
(ordnungs-)politische Bereiche, Ebenen und Akteure benannt sind, durch die Problemlogik der
Bildung eine gemeinsame Orientierung und einen gemeinsamen Zusammenhang finden. Zwar
ist Bildung in ihrer Problemlogik nicht mit den konkreten, praktischen Aufgaben der Erziehung,
der Ausbildung oder der Bildung gleichzusetzen. Sofern aber Bildung diesen als präskriptiver
15
Es ist hier wichtig zu betonen, dass die so verstandene politische Urteilskraft die bloße Politikkompetenz an Komplexität
übersteigt. (vgl. hierzu: Detjen 2013, S. 49.) Dies ist darauf zurückzuführen, dass sie in eine ethische Sensibilität gegenüber
den Dimensionen des Politischen eingebettet ist bzw. sein sollte.
16
Vgl. Frischmann 2012, S. 7–8.
17
Hepp 2013, S. 13.
6
Orientierungspunkt gilt, haben sie Anteil an dem Prozess der Bildung. Bevor wir jedoch die
Bildungskrise begreifen können, ist es daher notwendig, die konkreten Problemfelder der Bildung bzw. Aufgabenbereiche der Bildungspolitik zu spezifizieren und zu differenzieren, sodass
sie nicht mit der Problemlogik der Bildung verwechselt werden.
Der Begriff der Erziehung bezeichnet einen Prozess, dessen Bewegung durch die Differenz der
primären und sekundären Wert- und Sachvermittlung angetrieben wird. Während die primäre
Wertbildung und Sachvermittlung im sozialen Umfeld zunächst und zumeist durch die Erziehungsberechtigten stattfindet, erfolgt die sekundäre Wert- und Sachvermittlung in der (Vor-)
Schule. Beide Dimensionen der Erziehung sind gesellschaftlich und politisch aufeinander bezogen.
Mit dem Begriff der Ausbildung werden in der Regel die institutionell organisierten und politisch-ökonomisch anerkannten Prozesse des Erwerbs von berufsqualifizierenden Kenntnissen,
Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden. Der Begriff der Ausbildung kann sich z. B. sowohl
auf die gesamte Schullaufbahn, die Berufsausbildung oder auch die universitäre Ausbildung
beziehen. Die dem Begriff der Ausbildung zugeschriebene gesellschaftliche Funktion ist diejenige der Assimilation. Durch die Ausbildung werden die gesellschaftlichen und ökonomischen
Anforderungen an das Individuum erfüllt und zugleich die Möglichkeiten zur individuellen beruflichen und sozialen Lebensgestaltung gegeben. So wird dem Educanden durch seine Ausbildung nicht nur die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen gewährt, sondern auch die Grundvoraussetzung beruflichen Erfolges und sozialer Anerkennung geschaffen. Darüber hinaus werden durch eine Ausbildung die rudimentären kulturellen Techniken und ein Verfügungswissen
vermittelt, welche als Voraussetzung die Teilnahme am kulturellen Leben ermöglichen sollen.
Insgesamt charakterisiert den Begriff der Ausbildung somit ein zweckrationaler, instrumenteller Wert.
Bildung dagegen wird größtenteils von der Zweckbindung los- und ihr ein ästhetischer und ein
moralischer Wert zugesprochen. Mit dem Begriff der Bildung ist die Entfaltung einer kritischen
Urteilskraft, eines selbständigen Denkens, der Selbsterkenntnis, d.h. einer moralischen und sittlichen Klugheit im Umgang mit sich selbst und anderen konnotiert (s.o.). Es ist nicht die Vermittlung von Verfügungswissen, die Informiertheit, die den Begriff der Bildung im Allgemeinen charakterisiert, sondern die Entwicklung von Orientierungswissen, eine Kultivierung, welche die Sensibilität des Menschen für seine Umwelt und Mitwelt steigern soll. Die gesellschaftliche Funktion der Bildung ist in der Emanzipation und Mündigkeit des Subjekts zu verstehen,
mit dem Ziel der selbstbestimmten, sittlichen Lebensführung, welche als Grundlage der demokratischen Entscheidungsfindung verstanden wird.
7
Bildung hat bezogen auf die Problem- und Handlungsfelder der Erziehung, Ausbildung und
Bildung die politische Funktion der Integration, der Qualifikation und der Allokation. 18 Damit
verbunden ist das Ziel der Bildung eines mündigen Bürgers und einer Bürger- oder Zivilgesellschaft. Schon Aristoteles hat erkannt, dass die Erziehung resp. die Bildung das wichtigste Mittel
zur Konstitution der Einheit einer politischen Gemeinschaft und Erhaltung einer Verfassungsform ist, da diese nicht allein durch die Gesetze geleistet werden können.19 Dabei kommt der
Bildung, wie Dewey spezifiziert, nicht die Aufgabe zu, den Menschen zu einer entsprechenden
Verfassung zu disziplinieren, sondern ihn zu befähigen, an der Erhaltung, Gestaltung und Weiterentwicklung moderner Gesellschaften mitzuwirken.20 Grundlage dafür ist die Ausbildung
autonomer politischer Urteilskraft – so muss sich der Einzelne als normkompetentes Subjekt
entwickeln und beweisen.
Festzuhalten ist, dass zwischen der virtuellen Problemlogik der Bildung und den konkreten
Problemen der Politik der Bildung, d.h. der Erziehung, der Ausbildung und der Bildung unterschieden werden muss. Dieser Differenzierung liegt die Einsicht zu Grunde, dass die Politik
der Bildung nicht notwendig auf die Idee der Bildung rekurrieren muss, sondern diese supplementiert. Tatsächlich muss die Politik, auch wenn ihr in der Bundesrepublik Deutschland
grundgesetzlich ein Bildungsauftrag zugetragen ist, keine Idee der Bildung verwirklichen, sondern diese durch Maßnahmen technischer, statistischer und politischer Art ersetzen. Auch wenn
dem so wäre, wäre damit die Möglichkeit der bzw. anderer Bildung per se nicht getilgt – die
Probleme nicht endgültig gelöst. Vielmehr muss hervorgehoben werden, dass ein politisches
Handeln, welches der Problemlogik der Bildung entspricht, gerade nicht mit der Bildungspolitik des Staates deckungsgleich ist. Sonst wäre nicht nur die Möglichkeit legitimer nichtstaatlicher Intervention, sondern auch die Idee eine Krise der Bildungspolitik struktural undenkbar.
Wie Benner in anderer Hinsicht zeigt, ist Bildung in Demokratien zudem politisch nicht fundierbar, da sie den Charakter und die Lebensformen der Bürger nicht positiv normieren darf,
um zu funktionieren.21 Politik kann Bildung daher verwirklichen, nicht aber fundieren. So wird
in zweifacher Hinsicht deutlich, dass Bildung und Politik keine kongruenten Begriffe sind –
auch wenn der Begriff der Bildungspolitik dies suggeriert. Daher wird nun zugleich ersichtlich,
dass die Reflexion der Bildungskrise die Philosophie in besonderer Weise angeht, da die Problemlogik der Bildung ein philosophisches Problem ist und Bildung ein philosophischer Begriff.
18
Vgl. Hepp 2008, S. 28-34.
19
Vgl. Aristoteles PS, Bd. 4, S. 194. [1310a 13-19]
20
Vgl. Dewey, John 1964, S. 136.
21
Vgl. Benner 2012, S. 35.
8
Daher gilt, dass Bildung einer fundamentalen Reflexion bedarf, auf die die Philosophie zumindest vorbereiten kann.
Haben wir nun die Problemlogik der Bildung als auch die strukturelle Möglichkeit der Wahrnehmung der Krise erörtert, können wir nun fragen, worin die gegenwärtige Krise der Bildungspolitik und der Orientierungsnotstand dieser liegen. Daher ist es nun möglich, ein methodisches
Vorgehen zur Klärung des Forschungsdesiderates der vorliegenden Arbeit zu entwickeln.
Der Begriff der Bildungskrise wird in vielerlei Hinsicht, oft inflationär, benutzt. Nicht ganz zu
Unrecht ermahnt Zierer, dass die öffentliche Bildungsdiskussion von „falschen Propheten“, medienwirksamen Worthülsen wie „Bildungsstandards“, „Kompetenzen“, „Humankapital“ sowie
der Überbewertung „statistischer Signifikanzen“ dominiert ist.22 Natürlich könnte man diese
Mahnung als nur rhetorische Figur verwerfen, bestünde nicht eine Sachlichkeit und Plausibilität
der damit zusammenhängenden Diagnose. Zierer argumentiert, dass der Charakter der öffentlichen Debatte über Bildung unter anderem von der „empirischen Wende“ im Bildungsdenken
geprägt ist, wodurch der klassische „Schulterschluss zwischen Philosophie und Pädagogik“ aufgehoben sei.23 Auch Honneth sieht die für das Bildungswesen der Moderne grundlegende „Verknüpfung von Demokratie- und Erziehungskonzept, von politischer Philosophie und Pädagogik
zerrissen […]“24. Nida-Rümelin diagnostiziert eine Entfernung der Pädagogik von ihren philosophischen Anfangsfragen mit der Konsequenz eines Substanzverlusts in der Reflexion der Bildung.25 Diese Diagnose korrespondiert mit der hier vorgestellten Hypothese, dass Bildung in
ihrer Problemlogik philosophischer Natur ist. Denn nur unter der Voraussetzung, dass die Problemlogik der Bildung die Philosophie betrifft, führt die Ausgrenzung der Philosophie aus der
öffentlichen Debatte zu einem Substanzverlust der Debatte und sind die Begriff der öffentlichen
Debatte als Worthülsen zu verstehen.
Um den Sachgehalt der Bildungsdebatte (d.h. den diskursiven Umgang mit der Bildung) besser
zu verstehen, müssen wir mit Nida-Rümelin zwischen einer Oberfläche und einer Tiefendimension der Bildungskrise unterscheiden.26 Die Oberflächendimension der Bildungskrise betrifft
die andauernden politischen Bemühungen der Reform des Bildungssystems und die Wahrnehmung, dass diese zu keiner grundlegenden Veränderung und nachhaltigen Verbesserung des
22
Nida-Rümelin / Zierer 2015, S. 7.
23
Ebd., S. 8.
24
Honneth 2012, S. 430.
25
Vgl. Nida-Rümelin / Zierer 2015, S. 11.
26
Vgl. Nida-Rümelin 2013, S. 12.
9
Schulwesens führen. Die Oberflächendimension der Bildungskrise ist ihm zufolge dadurch bestimmt, dass dem Staat eine zu große Rolle und Verantwortung in Sachen der Bildung eingeräumt wird, dass die Ergebnisse der Bildung zu sehr von empirisch-statistischen Methoden
überwacht und ausgewertet werden, dass ein Mangel an Konsens über die inhaltliche Gestaltung der Bildung herrscht und dass es eine Fremdbestimmtheit der Bildungsziele gibt.
Den Kern der Bildungskrise, deren Tiefendimension und ursächliche Problematik sieht NidaRümelin in einer „fehlenden kulturellen Leitidee“ und der Reaktion darauf, „das fehlende Fundament durch ökonomisch motivierte Erwartungen“ zu ersetzen.27 Nida-Rümelin spricht damit
die Problematik an, die mit dem Schlagwort der “Ökonomisierung der Bildung“ benannt ist.
Die davon ausgehende Gefahr eines Missverständnisses drängt hier jedoch zu einer gewissen
Abgrenzung. So stellt sich die Frage, inwiefern man von einer Ökonomisierung überhaupt sprechen kann.
Ökonomisierung der Bildung ist als Phänomen abzugrenzen von soziologischen Theorien, die
die Ökonomisierung als ausschließliche Form moderner Subjektivierung und Vergesellschaftung darstellen. Damit wird nicht nur die Ökonomisierung als Totalphänomen stilisiert, sondern
es wird auch eine Ausweglosigkeit suggeriert, die der Sache nach nicht besteht. Wie Badiou
darlegt, ist eine Situation das Infinite der Präsentation28 und eine soziologische Theorie, die
einen finiten Rahmen entwirft, ist selbst hinsichtlich ihrer politischen Funktionalität und ideologisch fragwürdig. So ist es zum einen empirisch fraglich, inwieweit man von einer Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche durch das Ökonomische sprechen kann. Zum anderen ist
es fraglich, ob das “Ökonomische“ überhaupt einen deskriptiven Begriff darstellt. Ist das “Ökonomische“ als evaluativer oder präskriptiver Begriff zu verstehen, so läge ein Kategorienfehler
vor, sofern man ihn als deskriptiven Begriff zu instrumentalisieren versuchte. Eine normative
Kritik am präskriptiven Begriff des “Ökonomischen“ dagegen bleibt ohne die Entwicklung eines positiven Begriffes des Ökonomischen bestandslos. Ein kritischer Umgang mit dem Begriff
der Ökonomisierung ist daher dringend geboten. Ausgehend von Höhne lässt sich verstehen,29
dass mit dem Begriff der Ökonomisierung die Fragstellung zu verbinden ist, inwiefern die politische Regulierung und Entscheidungsfindung durch ökonomische Praktiken, Theoreme und
Diskurse beeinflusst ist, und welchen Effekt dieser Einfluss auf die Entwicklung und Bildung
nichtökonomischer zivilgesellschaftlicher Bereiche nimmt. Dies ist jedoch eine empirische
Fragstellung, die nicht Sache der Philosophie ist.
27
Ebd., S. 12.
28
Vgl. Badiou / Barker 2005, S. 146.
29
Vgl. Höhne 2015, S. 4f..
10
Bezogen auf die Krise der Bildung verweist der Begriff der „Ökonomisierung“ auf einen Streit
über die Richtlinienkompetenz und den Strukturwandel der politischen Regulierung des Bildungswesens. Diese Problematik ist dagegen Sache der Philosophie, insofern diesem Streit eine
philosophische Tiefendimension zugrunde liegt. Um diese besser in den Blick zu bekommen,
ist es zunächst wichtig, den mit dem Begriff der Ökonomisierung verbundenen Richtlinienstreit
und die damit verbundenen Problemfelder zu verstehen. Denn gibt es eine philosophische Tiefendimension der Bildungskrise bzw. der Ökonomisierung der Bildung, so bestünde diese allein
der Sache nach. Probleme, die nicht der Sache nach bestehen, sind dagegen Scheinprobleme.
Der Sache nach ist eine Ökonomisierung der Bildung nicht zu verwerfen, doch sind verschiedene Dimensionen dieser zu differenzieren, um sie nicht als ausschließliche Möglichkeit der
Gestaltung des Bildungswesens zu stilisieren. Tenorth, der die Diagnose einer "Ökonomisierung“ der politischen Regulierung des Bildungswesens als „falsch“ zu verwerfen versucht und
die Kritiker als „blind gegenüber der tatsächlichen Praxis und den Möglichkeiten der aktuellen
Bildungsreform“30 bezeichnet, ist allein in dem Punkt zuzustimmen, dass man das Bildungswesen nicht an vergangenen Standards messen dürfe und die reformatorischen Möglichkeiten formulieren müsse. Die Diagnose der „Ökonomisierung“ der politischen Regulierung des Bildungswesens ist dadurch jedoch nicht der Sache nach entkräftet. Zudem ist derjenige, der eine
„Ökonomisierung“ des Bildungswesens feststellt, nicht notwendig ein Kritiker dieser. Denn
man kann die Ökonomisierung deskriptiv feststellen und normativ trotzdem als gut beurteilen.
In seiner Darstellung der deutschen Bildungspolitik konstatiert Hepp drei Entwicklungen, die
von einer „Ökonomisierung“ des Bildungswesens sprechen lassen.31 Die erste Entwicklung betrifft die ordnungspolitische Gestaltung und Steuerung des Bildungswesens, die zweite betrifft
Entwicklung als die Zielsetzung der Bildungspolitik und die dritte die Träger des Bildungswesens.
Wie Hepp darlegt, ließe sich von einer Ökonomisierung des Bildungswesens sprechen, da eine
zunehmende Gestaltung und Regulierung des Bildungswesens durch betriebswirtschaftliche
Steuerungs- und Evaluationsmitteln zu beobachten ist. So prägten die „Parameter der Betriebswirtschaft und des Unternehmensmanagements, Kriterien der Effizienz und der unmittelbaren
30
Tenorth 2005, S. 90.
31
Vgl. Hepp 2011, S. 42-48.
11
Verwertbarkeit […] die bildungspolitischen Debatten und geradezu flächendeckend die Entscheidungen auf allen Ebenen unseres Bildungssystems“32. Die Konzeption des „Bildungsmanagements“33, des „Bildungsmonitoring“34 der „Bildungsökonomie“35 und des „Bildungs- und
Wissenschaftsmanagements“36 sind in Theorie und Praxis grundsätzlich etabliert. Entscheidend
ist, dass es sich hierbei nicht um die Übernahme ökonomischer Deutungsmuster handelt, sondern des betriebswirtschaftlichen Organons sowie ökonomischer Strategeme in der bildungspolitischen Praxis. Diese Entwicklung wird angetrieben durch die sich „verschärfenden Finanzierungsprobleme des Sozialstaates“ und die in „komplexen Gesellschaften feststellbare abnehmende Steuerungsfähigkeit des Staates“.37 Mit der Übernahme betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente sollen demnach die mit der Organisation des Bildungswesens zusammenhängenden formalen und administrativen Probleme (kosten-)effizient finanziert, überwacht und gesteuert werden. Zugleich soll damit eine Qualitätssicherung etabliert werden, durch die sich das
deutsche Bildungswesen im internationalen Vergleich als wettbewerbsfähig ausweisen lässt.
Allerdings sind mit dem Wandel der Bildungspolitik zum Bildungsmanagement und der damit
einhergehenden Verschiebung der bildungspolitischen Rahmenbedingung der Erziehung, Ausbildung und Bildung einige Problempunkte verbunden. Mit dem Wandel von der Bildungspolitik zum Bildungsmanagement ist ein Wandel des disziplinären Bezugsrahmens festzustellen.
Wie Griese und Marburger darlegen, wird Bildung durch das Bildungsmanagement systematisch Teil der Betriebswirtschaftslehre.38 Dadurch werden Institutionen der Bildung nicht mehr
nur bürokratisch verwaltet und politisch überwacht, sondern in der Praxis wie Wirtschaftsunternehmen geführt. Der Streit um die Richtlinienkompetenz ist hier gegeben, da „Managementaufgaben immer auch Leitungsaufgaben“39 darstellen. In einer anderen Hinsicht wird durch die
Übernahme betriebswirtschaftlicher Gestaltungs- und Steuerungsinstrumente und die damit
übertragenen Kriterien der Beurteilung Bildung tendenziell analog zu einem beliebigen Produktionsprozess behandelt. Bildung wird dadurch zunehmend nicht als marktunabhängiges
System betrachtet, sondern in seiner ökonomischen Dimension perspektiviert. Dadurch findet
32
Hepp 2008, S. 14.
33
Gessler 2009; Griese / Marburger 2011; Gütl 2006; Seufert 2013.
34
Döbert / Weishaupt 2015.
35
Pachar 2006.
36
Hanft 2008.
37
Hepp 2008, S. 41.
38
Vgl. Griese / Marburger 2011, S. 5.
39
Ebd., S. 4.
12
nicht nur eine zunehmende bildungspolitisiche Betonung auf der Ausbildung der berufsrelevanten Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. marktrelevanter Kompetenzen („employability“)
statt, sondern wandelt sich das Verständnis und der Anspruch an die Educanden. Diese werden
tendenziell nicht mehr in ihrer Eigenart gefördert und gebildet, sondern werden als teilnehmende Faktoren ökonomischer Entwicklung und merkantiler Standortentwicklung thematisiert.
Festzuhalten ist hier, dass die Ökonomisierung in dieser Hinsicht als Problematik der Konstitution eine philosophische Tiefendimension hat. Offensichtlich wandeln sich durch die Übertragung der Erkenntnis- und Handlungskategorien das Verständnis und der Umgang mit der
bildungseigenen Problemlogik der Menschwerdung (s.o.). Dadurch scheint nicht nur ein grundlegender Wandel in der Orientierung bildungspolitischer Praxis gegeben, sondern ist hierdurch
auch ein Orientierungswandel bildungspolitsicher Ziele bedingt. So wäre im Hinblick auf die
Frage nach den Möglichkeiten der Bildung und der Lösung des Richtlinienstreits in der Bildungspolitik nach der epistemologischen Grundlegung der Orientierung zu fragen. Dabei ist zu
beachten, dass die Frage der Konstitution und der Orientierung in der Frage der Grundlegung
epistemologisch zusammenlaufen. Da wir oben verstanden haben, dass die Konstitution ihrer
Logik nach nicht auf eine Subjektivität oder Objektivität zurückgeführt werden kann, sondern
als Denken des Bildungspolitischen als Präskriptiv der Politik zu thematisieren ist, so bleibt
jene Frage durch den Rückgang in die Geschichte der Problemlogik der Bildung – genetisch –
zu klären.
In einer zweiten Hinsicht ist von einer „Ökonomisierung“ bildungspolitischer Ziele zu sprechen. Zurückzuführen ist diese nicht nur auf die sich verschärfenden Finanzierungs- und Steuerungsprobleme. Die öffentlichkeitswirksame Feststellung der mangelnden Wettbewerbs-tauglichkeit des deutschen Bildungswesens durch Gerhard Picht und die damit einhergehende „empirische Wende“ der Pädagogik40 sowie die internationalen Schulleistungsuntersuchungen
PISA der OECD sind hierfür maßgeblich. Bildungsziele werden vorwiegend vor dem Hintergrund der empirischen Überprüfung der Wettbewerbsfähigkeit formuliert und angepasst. Bildungsziele, die in Gegensatz zu diesen Untersuchungen formuliert sind, finden so kaum politische Beachtung. Das Leitziel der und die Orientierung an der Wettbewerbstauglichkeit hat den
Fokus auf die gesellschaftspolitische Relevanz in der Bedeutung geschwächt. Durch die internationale Formulierung und Ausrichtung der Bildungsziele fand eine allmähliche Auflösung
der länderspezifischen Bildungstraditionen statt. Die damit einhergehende Auflösung der bür-
40
Vgl. Hepp 2008, S. 13.
13
gerlichen Selbstbestimmung wird zudem dadurch unterstützt, dass – trotz Länderhoheit in Bildungsfragen – die Bildungsziele immer häufiger trans- bzw. international formuliert werden.
Allein die Umsetzung bleibt Bundes- bzw. Ländersache. Kritik findet diese Entwicklung vor
allem In Hinblick auf die damit verbundene Globalisierung und Aushebelung demokratischer
Selbstbestimmtheit bildungspolitischer Gestaltung. Wichtiger noch ist der Vorwurf, dass die
Globalisierung und Marktorientierung zu einer „schleichenden Disjunktion von Bildung und
Demokratie“41 führe. Zur Debatte steht die zunehmende Instrumentalisierung und Bestimmung
der Bildungsziele durch den Markt und den Wegfall der bürgerbestimmten Formulierung von
Bildungszielen, d.h. der individuellen Selbstbestimmung. Zudem würde durch den Wegfall des
Bildungsziels der politischen Urteilskraft, d.h. des mündigen Bürgers und der Bürgergesellschaft, der Demokratie die Grundlage entzogen. Tatsächlich wäre es problematisch, das Ziel
der Bildung der Autonomiefähigkeit des Menschen als Grundlage politischer Kultur durch eine
Anpassung der Bildung an die Praxis aufzuheben. Denn dadurch wäre keine kritische, distanzierte Beurteilung der Praxis mehr denkmöglich.
In einer dritten Hinsicht ist eine Ökonomisierung bei den bildungspolitischen Trägern festzustellen. Hepp konstatiert eine „Entstaatlichung des Bildungswesens“, die durch die Tendenz der
Zunahme privater Bildungsinstitutionen, der flächendeckenden Notwendigkeit von Drittmittelfinanzierung, der häufiger werdenden Lernpartnerschaften zwischen Firmen, Stiftungen und
Schulen sowie den Maßnahmen des Outsourcings vorangetrieben wird.42 Diese dritte Entwicklung steht in zweierlei Hinsicht zur Diskussion. Erstens besteht in Hinblick auf das Schulwesen
im besonderen Falle die Sorge, dass mit einer Ökonomisierung das Schulwesen in seinen Aufgaben und Zielen korrumpiert wird. Gerade bei sogenannten Lernpartnerschaften besteht der
nicht unbegründete Zweifel, ob diese wirklich zu einer Verbesserung des Unterrichts geschlossen werden. Denn Lernpartnerschaften bezwecken aus marktwirtschaftlicher Perspektive vor
allem die Erschließung und Bewerbung eines Marktes von jungen Menschen, deren Kaufkraft
stetig steigt. In einer zweiten Hinsicht besteht mit der dritten Entwicklung die Sorge, dass unter
der Finanzierungsnot das Hochschulwesen sowohl inhaltlich als auch formal unter einen Zugzwang gerät, durch den Forschung und Lehre nachhaltigen Schaden nehmen könnten. Die philosophische Tiefendimension der Problematik in dieser dritten Hinsicht besteht darin zu fragen,
ob und inwiefern Bildung Teil des Marktes ist und sein kann. Auch diese Frage betrifft das
41
Frost / Rieger-Ladich 2012, S. 7.
42
Vgl. Hepp 2008, S. 28ff..
14
Verständnis von Bildung in ihrer epistemologischen Konstitution und ist von daher zu begreifen. Denn auch wenn die Ökonomisierung der Träger des Bildungswesens leicht auf die Finanzierungs- und Steuerungsproblematik rückführbar ist, so liegt sie doch woanders. In diesem
Zusammenhang ist die Ökonomisierung nicht als ökonomisches Problem auszulegen. Vielmehr
verbirgt sich darin ein politisches Problem, da auch die Problematik der Finanzierung und Steuerung die Problemlogik der Bildung und so das Denken des Bildungspolitischen (nicht der Bildungspolitik) betreffen. Auch wenn nur in einer zweiten Hinsicht, so stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern und in welcher problemlogischen Ordnung das Denken des
Bildungspolitischen und des Ökonomischen zusammenhängen.
Es erweist sich als schwierig, die Analyse der Ökonomisierung nicht zugleich als bewertende
Kritik zu formulieren und in eine polemologische Spirale zu gelangen. Hier zeigt sich die Komplexität der Problematik und zugleich die Notwendigkeit eines Rückgangs auf die Problemlogik, durch die eine Verirrung in der Oberflächendimension der Bildungsproblematik und in
vorschnellen Werturteilen allererst vermieden werden kann. In diesem Zusammenhang ist es
wichtig zu betonen, dass Bildung und Ökonomie nicht in einer antithetischen Relation stehen.
Beide formulieren auf unterschiedliche Weise, auf Grundlage spezifischer Erkenntnisprozesse,
Anforderungen und Interessen sowie Pläne und Ziele zur politischen Gestaltung gesellschaftlicher Ordnung. Ihre Differenz liegt darin beschlossen, dass Ökonomie dem Prinzip des Nutzens,
so dem Eigennutz notwendig untergeordnet ist, Bildung aber nicht. Nur die Ausbildung ist dem
Nutzen in einem strikten Sinne unterstellt. Erziehung und Bildung aber leben von der „Nützlichkeit des Unnützen“, dem Uneigennutzen – ein Prinzip, durch das die europäische Kultur das
Wissen fundamental bestimmt.43 Wie die Formulierung nahelegt, untersteht auch die Unnützlichkeit bzw. Uneigennützlichkeit einer gewissen Nützlichkeit, so dass Bildung auch nur durch
die Ökonomie in einem wirklich vollen und umfangreichen Sinne möglich ist. Gerade in dieser
Hinsicht ermöglichen und begrenzen sie einander gegenseitig. Dennoch ist ihre Beziehung nur
vermeintlich als dialektische Verhältnisbestimmung zu betrachten, da die Ökonomie dem Nutzen des Eigenen und die Bildung eo ipso dem Nutzen des Gemeinen dient. Gleichwohl sind
Bildung und Ökonomie nicht gegeneinander auszuspielen. Vielmehr weiß kluges und vernünftiges bildungspolitisches Handeln sie möglichst in ein wirksames Verhältnis zu bringen.
Ökonomie und Bildung müssen für die Moderne als maßgebliche, rationale Faktoren der Orientierung bildungspolitischen Handelns verstanden werden. Eine genaue Verhältnisbestim-
43
In seinem Buch Von der Nützlichkeit des Unnützen führt Ordine dies in vielfacher Hinsicht vor. (Vgl. Ordine 2014.)
15
mung beider Faktoren bildungspolitsicher Orientierung ist sowohl von gesellschaftlichem Interesse als auch Desiderat der Forschung. Die Entwicklung des Bildungsdenkens ist hinreichend
und ausgiebig untersucht. Dagegen ist die Frage, wie sich das Bildungsdenken in Relation zur
ökonomischen Rationalität als Orientierungskonstituente der Bildungspolitik entwickelt, bisher
nicht zusammenhängend erforscht.
Da die Untersuchung, wie zu Beginn der Einleitung formuliert, darauf abzielt, Orientierungsmöglichkeiten der Bildung zu verstehen, ist es wichtig, den Aufbau und die Ausrichtung von
der Orientierung her zu entwickeln. Nur von ihr aus ist deren Möglichkeit zu begreifen. Bevor
wir mit der eigentlichen Untersuchung beginnen, ist es daher grundsätzlich wichtig zu fragen,
warum Bildung, d. i. bildungspolitisches Handeln überhaupt, der Orientierung bedarf. Darin
liegt zum einen die Frage nach dem Sinn und der Konstitution von Orientierung überhaupt
beschlossen. Durch die Bestimmung dieser kann in einer zweiten Hinsicht nach den Arten der
Orientierung gefragt werden, um die Relation der Orientierungskonstituenten der Bildungspolitik zu erkennen und die Arbeit danach auszurichten. Fragen wir zunächst nach dem Sinn von
Orientierung. Zur Klärung dieser Frage bedarf es eines Verständnisses, warum sich der Mensch
orientiert, welche Rolle Orientierung für ihn spielt.
Wo auch immer der Mensch (situiert) ist, ist er grundwesenhaft orientiert, ist sein Handeln
sinnhaft ausgerichtet. Grundwesenhaft orientiert ist der Mensch, da er sich grundwesenhaft
fragwürdig ist. Die Fragwürdigkeit ist die Bedingung der Möglichkeit, dass der Mensch sich
orientiert und sich bilden kann. Orientierung und Bildung sind beide Weisen des Umgangs mit
der grundwesenhaften Fragwürdigkeit des Menschen. Die Fragwürdigkeit des Menschen zeigt
sich in dem Umstand, dass der Mensch wesenhaft unzufrieden ist mit seinem Leben und er stets
nach einem Umgang mit seiner Fragwürdigkeit begehrt. Die Fragwürdigkeit wie auch die Art
des Umgangs mit dieser ist jeweilig singulär. Was der Mensch sei, kann in vielerlei Hinsicht
ausgesagt werden, weil er sich in unterschiedlicher Weise fragwürdig ist und in einer jeweilig
singulären Weise damit umgeht. Der Mensch ist so zugleich immer seiner jeweiligen Fragwürdigkeit überantwortet und hat sich dieser gegenüber zu verantworten. Die Weise des Umgangs,
d.h. der Verantwortung des Menschen gegenüber seiner jeweiligen Fragwürdigkeit, nennen wir
Sich-Wahrhaben. Wir nehmen uns nicht wahr wie das Subjekt ein Objekt, sondern wir haben
uns wahr. Sich-Wahrzuhaben bedarf ein Wollen. So kann der Mensch sich auch nicht wahrhaben wollen. Darin liegt die Bedingung der Möglichkeit seiner Entfremdung. Daher gilt, dass
der Satz, dass der Mensch sich grundwesenhaft fragwürdig ist, nicht bedeutet, dass er sich im-
16
mer schon selbst als Fragwürdigen wahr hat. Denn der Mensch ist sich nicht fragwürdig, sondern wird sich fragwürdig. Fragwürdigkeit wird er sich im Umgang in seiner geschichtlichen
Situation. Die Fragwürdigkeit ist so eine immer situierte.
Die Möglichkeit des Umgangs ist von dem Fragwürdig-Werden des Menschen abhängig. Denn
im Bewusstsein der Fragwürdigkeit entdeckt der Mensch die Möglichkeit einer Antwort, d.i.
eines Umgangs mit seiner Fragwürdigkeit. Darin liegt begründet, dass die Fragwürdigkeit eine
relative absolute ist. Sie ist absolut, da sie nicht aufzuheben ist. Gleichzeitig aber steht die Fragwürdigkeit nie absolut da, sondern ereignet sich in Relation bzw. im Gefüge des Mitseins. Der
Umgang mit der Fragwürdigkeit bestimmt die Sorge des Wahrhabenden.
Von hier aus verstehen wir, dass wenn wir nach der Orientierung von Bildung fragen, wir danach fragen, wie der Mensch mit der Problematik der Bildung umgeht. Zugleich wird deutlich,
dass wenn wir nach der Orientierung von Bildung fragen, wir nach dem Umgang der Bildung
in einer geschichtlichen Situation fragen. Da es unser Anliegen ist, nach den Umgangs-Möglichkeiten von Bildung zu fragen, die uns auch angehen, müssen wir die Bildung als Problem
in einer Weise in den Blick bekommen, wie sie uns auch angeht. Der Sache nach ist die Problemlogik der Bildung keine geschichtlich beschränkte, aber eine geschichtlich bestimmte. Mit
dem Wandel der historischen Bedingungen wandeln sich die Anforderungen und die Problemlage der Bildung. Bildungspolitisches Handeln schließlich ist in seiner Orientierung ein Umgang mit der geschichtlichen Fragwürdigkeit von Bildung.
Es ist hier zunächst zu konstatieren, dass Bildung der Sache nach keine nur moderne Problematik bildet. Gleichwohl tritt sie für die Moderne in einer bestimmten Weise auf, obwohl der
mittelalterliche Begriff, durch den die Problemlogik der Bildung im deutschsprachigen Raum
bedacht wird, bis heute geläufig ist. Die Problemkonstellation der Bildung hat sich heute gewandelt. In der Moderne spielt der mittelalterliche Umgang und Begriff mit der Problematik
der Bildung keine bzw. eine nur nachgeordnete Rolle. Der mittelalterliche Begriff der Bildung,
wie Meister Eckhardt ihn denkt, steht im Zusammenhang der Problematik der Menschwerdung
des Christenmenschen, d.h. der Imitatio Christi. Daher ist Bildung im Mittelalter in strictu sensu
kein politisches Problem und findet keinen politischen Umgang. Konstitutiv für die Orientierung der Bildung war vor allem die Theologie und die Kirche bzw. kirchliche Institutionen. Mit
der Reformation verändert sich die Problemlage in einer bis heute für uns wirkungsvollen
Weise. Die römisch-katholische Kirche und die Theologie verlieren ihre „Stellung als normatives Zentrum“44. Dadurch entsteht gesellschaftlicher Unfriede und die bis heute grundlegende
44
Focali 2011, S. 25.
17
politische Frage, wie eine differenzierte Gesellschaft als sittliche Gesellschaft zu gestalten ist.
Mit dieser Frage wandelt sich die Problematik der Bildung in einer für die Moderne richtungsweisenden und grundlegenden Weise. Bildung steht nicht mehr im Zusammenhang der Problematik der Menschwerdung des Christenmenschen, sondern der der Menschwerdung des autonomen Subjekts, des Bürgers und der sittlichen Gesellschaft. Die mit der Reformation einhergehende Entdeckung des Menschen als normkompetentes Subjekt in seiner Autonomie spielt
hierbei eine entscheidende Rolle. Denn damit verbunden ist der Gedanke, dass gesellschaftliche
Veränderung und Fortschritt auch abhängig vom individuellen Handeln sind. Zugleich schließt
dies die Frage ein, wie der Mensch nicht zum Selbsterhalt handelt, sondern in Hinblick auf und
Andenken an das Politische.
Vor dem Hintergrund dieser neuen Problematik ist die Neuzeit durch das Ringen um Orientierung gekennzeichnet. Von einem staatlich regulierten Bildungswesen im modernen Sinne kann
man in der Neuzeit jedoch noch nicht sprechen. Obwohl sich die institutionellen Strukturen
nicht in einem modernen Sinne ausgebildet haben, so ist in dem neuzeitlichen Denken der Versuch politischer Konsolidierung festzumachen. Der Kontraktualismus etwa in seiner Frage, wie
staatliche Rechtsordnungen moralisch und institutionell zu begründen sind, ist eng an die Frage
der Erziehung, d.h. der Bildung gebunden (in prominenter Weise bei John Locke). Auch die
Didactica Magna von Comenius („omnes omnia omnino excoli“) ist als Versuch übergreifender
und grundsätzlicher Orientierung zu begreifen. Insgesamt muss somit die Hypothese gelten,
dass sich die orientierungskonstitutiven Umgangsformen mit dem für die Moderne grundlegenden Problem der Bildung in der Neuzeit, d.h. bis 1800 ausbilden. Die Plausibilität dieser Hypothese ist dadurch gegeben, dass sich das moderne Bildungswesen im deutschsprachigen
Raum um 1800 ausbildet, was voraussetzt, dass die orientierungs-konstitutiven Umgangsarten
mit der Problematik der Bildung (zumindest grundlegend) gegeben sind. Verstehen wir diese
so, können wir in grundsätzlicher Weise nach den Möglichkeiten des Umgangs in sowohl negativer als auch positiver Weise fragen. So sind die in der Neuzeit ausgebildeten, für die Moderne relevanten epistemologischen Mittel, durch die Bildung als Objekt zu einem politischen
Projekt wurde, zu untersuchen. Zu fragen ist nun, welche dies sind, welche für die Orientierung
der Bildung relevant sind, und in welcher Relation sie stehen, insofern sie diese konstituieren.
Kant als großer Systematiker am Angelpunkt zwischen Neuzeit und Moderne gibt einen Ansatz,
diese Frage zu klären. Sein Text Was heißt: sich im Denken orientieren? ist das „bedeutsamste
Dokument einer kritischen Philosophie der Orientierung“45, zum einen, da Kant dem „System
45
Stegmaier 2008, S. 79.
18
der Vernunftkritik einen pragmatischen Sinn“46 gibt, zum anderen aber auch, weil wir in historische Hinsicht die für unser Anliegen wichtige Frage klären können, welche Arten der Orientierung Kant unterscheidet und in welche Relation er diese setzt. Denn die Schrift entwickelt
einen Begriff der Orientierung, ihrer (historischen) Elemente und Grenzen. Damit ist die die
Möglichkeit gegeben, eine Struktur der vorliegenden Untersuchung zu finden als Ausgangspunkt der darin verhandelten Frage nach den (vernünftigen) Möglichkeiten der Orientierung
der Bildung.
„Sich orientieren“, so umschreibt Kant in Referenz auf den französischen Begriff „s’orienter“,47
bedeutet, aus einer „gegebenen Weltgegend“ den „Aufgang“, den Sonnenaufgang, zu finden.48
Das bedeutet, dass Orientierungslosigkeit zwar als Motivationsmoment der Orientierung zu
verstehen ist, selbst der Orientierung aber nicht zuzurechnen ist.49 Der Prozess des Sich-Orientierens beginnt immer in einer „gegebenen Weltgegend“. Hermeneutisch gewendet ist damit
besagt, dass ein Verstehen immer bei einem Vorverständnis, einer schon erschlossenen Umund Mitwelt ansetzt. Deleuze bemerkt dazu in seiner Schrift Logik des Sinns:
„Sobald man fragt ‚Was heißt, sich im Denken orientieren?‘ wird deutlich, daß das Denken
selbst schon Achsen und Orientierungen voraussetzt, denen gemäß es sich entwickelt, daß es
über eine Geographie verfügt, noch bevor es eine Geschichte hat, daß es Dimensionen absteckt,
noch bevor es Systeme entwirft.“50
Orientierung setzt nicht bei einer Orientierung im Denken an. Sie ist eine Grunddimension des
Denkens, ohne zunächst und zumeist selbst schon als solche bedacht zu sein. Orientierung, so
lässt uns Deleuze mit Nietzsche verstehen, ist keine „Orientierung durch das Hohe“51. Vielmehr
bezeichnet das „Sich-Orientieren“ eine Immanenzbewegung. Eine Bewegung, die in der Situation ansetzt, um sich in dieser zurechtzufinden, „um in ihr erfolgsversprechende Handlungsmöglichkeiten auszumachen“52. Situation und Orientierung bleiben immer in einem korrelativen Verhältnis. Schon in seinem Text Was heißt: sich im Denken orientieren? erörtert Kant,
dass Orientierung nur durch die Korrelation von Welt und Denken zu verstehen ist, dass „all
46
Stegmaier 1992, S. 5.
47
Vgl. Stegmaier 1992, S. 4.
48
Kant 1999, S. 47.
49
Stegmaier erläutert, dass Kants Position dadurch heraussticht, dass sie im Gegensatz zu Mendelssohn und der Encyclopédie
keine „Orientierungs-Unsicherheit“ voraussetzt (vgl. Stegmaier 2008, S. 83).
50
Deleuze 1993, S. 162.
51
Deleuze, 1993, S. 162.
52
Stegmaier 2008, S. 151.
19
unsere praktischen und theoretischen Entwürfe an unseren jeweiligen Standort rückgebunden
bleiben“53.
Nach Kant gründet die Immanenzbewegung, das „Verfahren“54 der Orientierung in der „geographischen Orientierung“ und entfaltet sich (bzw. lässt sich entfalten) sukzessive zur „mathematischen“ und zur „logischen“ Orientierung. Als „geographische Orientierung“ benennt Kant
kein geographisches Spezialwissen, sondern ein „Gefühl“ und einen „subjektiven Unterscheidungsgrund“.55 Dabei betont Kant, dass es nicht der Ort selbst ist, durch den sich der Mensch
orientiert. Vielmehr ist es die (Selbst-)Wahrnehmung seines Körpers in der Welt, durch die sich
der Mensch der Möglichkeit nach orientieren kann. Das heißt, dass ohne die leibliche, taktile
Wahrnehmung der Welt – Kant spricht hier vornehmlich von der Rechts-Links-Unterscheidung
– ein Begriff der Orientierung undenkbar ist. Gleichzeitig ist der Begriff der Orientierung nur
unzureichend bedacht, wenn darunter nicht auch das Vermögen der Begriffsbildung verstanden
wird: das Vermögen, sich einen Begriff der Situation zu machen bzw. das Vermögen der begrifflichen Auseinandersetzung mit der Situation. Daher ist die geographische Orientierung immer auch auf andere begriffliche Orientierungsmodi ausgerichtet und angewiesen.
Als „mathematische Orientierung“ versteht Kant das Vermögen bzw. Verfahren, sich einen Begriff des „Raumes überhaupt“ zu machen. Nerurkar erörtert, dass es der „mathematischen Orientierung“ um die „Bestimmung der wechselseitigen räumlichen Beziehungen zwischen Objekten“56 geht. Mit „mathematischer Orientierung“ ist somit das Vermögen gemeint, eine Karte
zu erstellen als Prozesse der Gewinnung einer Übersichtlichkeit des Ortes („situs“) jenseits des
eigenen, leiblich erschlossenen Standpunktes. Obwohl die „mathematische Orientierung“ nur
ein indirektes Interesse an der Bestimmung des eigenen Standortes, der eigenen Situation hat,
so betont Kant, dass „das Bestimmungsvermögen der Lagen nach einem subjektiven Unterscheidungsgrunde“57 auch für das mathematische Verfahren der Orientierung grundlegend ist.
Die Ausbildung einer „mathematischen Orientierung“, d.h. einer kartographischen Imagination, wäre demnach nur auf Grundlage der „geographischen Orientierung“, der leiblichen, taktilen Raumwahrnehmung zu verstehen.
53
Schneidereit 2013, S. 190.
54
Kant 1999, S. 48.
55
Kant 1999, S. 47.
56
Nerukar 2012, S. 105.
57
Kant 1999, S. 48.
20
Neben der „geographischen“ und „mathematischen“ Orientierung, verstanden als Umgang und
Auseinandersetzung mit der Situation, nennt Kant die „logische“ Orientierung, d. h. die Orientierung „überhaupt im Denken“.58 Kant meint damit die begriffliche Orientierung des Menschen, welche er allein als „Geschäft der reinen Vernunft“59 bezeichnet. Den Satz „Gedanken
ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“60 der Kritik der reinen Vernunft
folgend stellt Kant auch in der Orientierungsschrift heraus, dass wenn sich der Mensch auch im
spekulativen, begrifflichen Raum bewegt, er immer auf eine sinnliche Anschauung und bildliche Vorstellung rekurriert.
„Wir mögen unsere Begriffe noch so hoch anlegen und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit
abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an, deren eigentliche
Bestimmung es ist, sie, die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen. Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung
verschaffen, wenn ihnen nicht irgendeine Anschauung […] unterlegt würde?“61
Deutlich wird hier, dass den Rahmen der Orientierungsschrift die in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Vernunftkritik darstellt. Im Zusammenhang
mit der „Mendelssohn- und Jacobischen Streitigkeit“62 wiederholt er diese in der Orientierungsschrift. Damit hängt die Destruktion der spekulativen Metaphysik zusammen, der metaphysica
specialis durch die Delegitimation des gegenständlichen Erkenntnis-anspruches des rein begrifflichen Denkens, der reinen Vernunft. Als „Schwärmerei“, „bloßer Vorwitz“ oder „Träumerei“ benennt Kant in der Orientierungsschrift eine durch Spekulation vermeinte Erkenntnis
„übersinnlicher Gegenstände“63. Gleichwohl wäre es ein Missverständnis, Kants Metaphysikkritik auf die Absicht der bloßen Destruktion, Dekonstruktion bzw. Delegitimation der Vernunft zu reduzieren. Wie Höffe betont, ist es gerade das „Doppelprogramm der Legitimation
und Limitation“64 der Kritik, wodurch die kantische Philosophie ihre Relevanz in zeitgenössischen Debatten erhält. So ist die Destruktion der spekulativen Metaphysik in der Abteilung der
Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft nicht als eine Aufgabe, sondern viel-
58
Kant 1999, S. 48.
59
Kant 1999, S. 48.
60
Kant 1998, S. 130.
61
Kant 1999, S. 45.
62
Kant 1999, S. 46.
63
Kant 1999, S. 53.
64
Höffe 2011, S. 333.
21
mehr als eine Transformation des spekulativen Denkens zu verstehen. Durch die Transformation der besonderen, spekulativen Metaphysik „teils zu einer Theorie wissenschaftlicher Forschung, teils zu einer Freigabe moralischer Vernunft“65 bleibt ein gewisser, eingeschränkter
Vernunftoptimismus erhalten, ist jedoch die Funktion der Spekulation anders zu fassen. Wie
Kant im Abschnitt Kanon der reinen Vernunft der Kritik der reinen Vernunft erörtert, könne
die Vernunft von den transzendentalen Ideen in theoretischer Hinsicht einen nur regulativen
und in praktischer Hinsicht einen nur postulierenden Gebrauch machen. Dies wiederholt Kant
in der Orientierungsschrift ausdrücklich und hebt hervor, dass der theoretische und praktische
Gebrauch der Ideen in regulativer und postulierender Hinsicht ein „Bedürfnis der Vernunft“
darstelle.66 Ganz richtig verstanden, erlaubt Kant dem Vernunftinteresse, sich zu entfalten.67
Kant betont, dass es notwendig sei, diesem „Bedürfnis der Vernunft“ nachzukommen, da wir
über in die „Welt gelegte […] Zwecke“ urteilen wollen und in praktischer Hinsicht „urteilen
müssen“:
„Denn der praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift der moralischen Gesetze.
Sie führen aber alle auf die Idee des höchsten Gutes, was in der Welt möglich ist, sofern allein
durch Freiheit möglich ist: die Sittlichkeit; von der anderen Seite auch auf das, was nicht bloß
auf Freiheit, sondern auch auf die Natur ankommt, nämlich auf die größte Glückseligkeit, sofern sie in der Proportion der ersten ausgeteilt ist.“68
Kant lässt uns verstehen, dass allein durch die Vernunftorientierung die Möglichkeit von Freiheit, Sittlichkeit und Glückseligkeit im Praktischen allererst gegeben ist. Dabei weiß Kant, dass
die transzendentalen Ideen Begriffe „einer Vollkommenheit [sind], der man sich zwar immer
nähern, sie aber nie vollständig erreichen kann“69.
Von Kant ausgehend – diesen aber übersteigend – müssen wir daher Spekulation nicht als ein
theoretisches Übersteigen der Sinnlichkeit und als Möglichkeit von Totalität verstehen. Eine
spekulative Orientierung, eine Orientierung im Denken ist als Immanenzbewegung und nicht
als Bewegung der Transzendenz auszulegen. Denn durch Spekulation gewinnt das Denken kein
über die Erfahrung hinausgehendes Wissen,70 sondern es werden dadurch die Erfahrungs- und
65
Höffe 2011, S. 213.
66
Kant 1999, S. 52.
67
Vgl. Höffe 2011, S. 215.
68
Kant 1999, S. 52.
69
Kant AA VII, S. 200.
70
Stegmaier betont, dass Orientierungswissen als „Gebrauchswissen keine besondere Art von Wissen [ist], sondern ein Wissen,
das von allen Arten des Wissens Gebrauch macht.“ (Stegmaier 1992, S. 12)
22
Verstandesbegriffe in ihrem Umfang erweitert,71 so dass darin allgemeine Prinzipien und Regulative des Denkens ersichtlich werden können.72 Die durch die Spekulation gewonnenen
Überzeugungen sind dabei nicht als Erkenntnisse zu verstehen, welche sich an dem Modell der
naturwissenschaftlich-mathematischen Erkenntnisse messen lassen können, sondern als transzendental-subjektive Gewissheiten, als Glaubensgewissheiten, die mit einem „Führ-wahr-Halten“ verbunden sind. Das bedeutet, dass Spekulation als Verfahren der Orientierung an ein
„Selbstdenken“73 gebunden ist, durch das ein Subjekt durch redlichen Vernunftgebrauch zu
Evidenzen und Orientierungsgewissheiten kommt. Da diese Orientierungsgewissheiten durch
das Handeln (auch in den Wissenschaften) Wirklichkeit annehmen, sind sie der kritischen Erörterung, Diskussion und Debatte nicht entzogen, sondern sind dieser gerade ausgesetzt und
stehen vielmehr immer auch in Relation zu dieser. So ist ein „Orientierungswissen“ nicht nur
in theoretischer, sondern vor allem auch in praktischer Hinsicht auf die Lebenswelt und das
Handeln bezogen.
Kants Orientierungsbegriff ist für unser Anliegen vor allem dann wegweisend, wenn wir ihn
nicht nur in systematischer Dimension wahrnehmen, sondern auch in historischer Perspektive
auslegen. So verstanden, präsentiert sich in Kants Text eine Systematisierung der historischen
(d.h. der neuzeitlichen) und für die Moderne grundlegenden relevanten erkenntnistheoretischen
Bedingungsmöglichkeiten – der Konstitutive der Orientierung. Während die geographische
Orientierung die grundlegende individuelle Dimension der Orientierung bezeichnet, so benennen mathematische und logische Orientierung Arten der Orientierung im Denken, d.i. der wissenschaftlichen Orientierung. Die mathematische Orientierung begreift dabei die naturwissenschaftlich-mathematische Rationalität als Teil praktischer Orientierung, die logische Orientierung die philosophisch-begriffliche Rationalität als Teil der Orientierung. Kants Systematisierung können wir uns zum Zwecke der vorliegenden Untersuchung zu Nutzen machen. Unsere
Frage nach der Bedingung und Möglichkeit einer Orientierung (der Bildung) muss demzufolge
in dreifacher Weise gegliedert sein. Es besteht die Frage nach der geografischen Orientierung
der Bildung, der mathematischen Orientierung der Bildung und der logischen Orientierung von
71
Vgl. Kant 1999, S. 45.
72
„Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutiven Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe
gewisser Gegenstände gegeben würden […]. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichen notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten […].“ (Kant 1998, S. 709–710)
73
„Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die
Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist Aufklärung.“ (Kant 1999, S: 60)
23
Bildung.74 So gilt es nun, die Orientierungsweisen als Analysekategorien der folgenden Untersuchung zu bestimmen.
Der Aufteilung folgend, wird im ersten Teil der vorliegenden Arbeit die geographische Orientierung der Bildung untersucht. Was ist darunter zu verstehen? Als geographische Orientierung
der Bildung können wir den Ort verstehen, von dem aus die Orientierung ihren Anlauf nimmt.
Die geographische Orientierung umfasst die unmittelbare leiblich-taktile Orientiertheit und
Ökonomie oder Hausgesetzlichkeit der Bildung durch die Erziehungswirklichkeit. Diese ist
prinzipiell als autarker Bereich der Bildung aufzufassen, da sie sich durch eine zwischenleibliche Wirklichkeit auszeichnet, an die ein unmittelbares Wert- und Zweckerleben gebunden ist.
An die Erziehung ist somit die Frage nach den Prinzipien der Bildung des Menschen in unmittelbarer Art moralisch gebunden. Daher ist sie als geschichtlicher Auseinandersetzungs- und
Ausgangspunkt der Bildungspolitik zu thematisieren, die die Frage nach den Prinzipien der
Bildung in politischer Hinsicht stellt. In einer Weise stellt sie eine geschichtliche Herausforderung der Bildungspolitik dar, zum anderen konstituiert sich durch sie das Andere der Bildungspolitik. Nebst der Erörterung der Grundzüge geographischer Orientierung der Bildung in der
Erziehung stellt sich die Frage, durch welche Mittel sich eine Bildungspolitik etabliert und legitimiert, die sich der Ökonomie der Erziehungswirklichkeit überordnet. Während dies im Falle
mittelalterlicher Bildung durch den Rekurs auf das Glaubenssystem geschah, bleibt dies für die
Neuzeit und Moderne noch zu klären.
Der Frage, wie sich die politische Ökonomie gegenüber der Ökonomie des Hauses, d.h. die
Bildungspolitik gegenüber der Erziehungswirklichkeit etabliert und legitimiert, wird im folgenden Absatz nachgegangen. Hier steht vor allem zur Diskussion, mit welchen erkenntnistheoretischen Mitteln sich Bildung als Erkenntnisobjekt zur Ermöglichung des Projektes einer übergreifenden, nationalstaatlichen Bildungspolitik konstituiert. Zur Klärung dieser Frage wenden
wir uns zunächst der Kartographie zu, die sich in der frühen Neuzeit in ähnlicher Weise in allen
europäischen Staaten ausbildet und somit als allgemeine, staatenübergreifende „Phänomenotechnik“75 zur Konstitution des Politischen entwickelt. Wie Schneider hervorhebt, war die Kartographie „zugleich Ergebnis und Instrument des sogenannten Staatsbildungsprozesses, der
Konstituierung moderner Staaten, weil in diesem Prozess der Raum, das Territorium, als Organisationsgrundlage des Staates an Bedeutung gewann.“76 Mit der Kartographie entwickelt sich
74
(Es ist sehr interessant, aber hinsichtlich der Charakteristik des Kant’schen Werks nicht verwunderlich, dass Kant die Künste
als Orientierungsweisen überhaupt nicht in Betracht zieht. Darin wird jedoch die Hypothese bestärkt, dass Kant in seiner
Orientierungsschrift die maßgeblichen gesellschaftlichen Orientierungsweisen in den Blick bringt.)
75
Bachelard 1988, S. 18f; Waldenfels 2006.
76
Schneider 2012, S. 16.
24
die Vorstellung des Politischen als manipulierbares, d.h. regulierbares Objekt. Darin ist die
Denkmöglichkeit der Bildung des Politischen beschlossen. Während die Kartographie grundsätzlich als Konstitutiv der modernen Vorstellung der Nationalstaatlichkeit und des Politischen
untersucht werden muss, bleibt noch zu fragen, wie eine wirkungsvolle Bildungspolitik möglich
wird. Denn sofern die Kartographie bedeutsam für die Vorstellung des Politischen als Objekt
und Projekt ist, so ist sie doch zumeist zu allgemein in ihrer Struktur, um Planbarkeit zu schaffen. Planbarkeit ist erst durch die Entwicklung der mit der Kartographie zusammenhängenden
Soziographie als Grundlage politischer Ökonomie und Statistik ermöglicht worden. Wie diese
mit der Kartographie zusammenhängt und aus dieser heraus entwickelt, wird im zweiten Teil
dieser Arbeit über die mathematische Konstitution des Politischen untersucht. Obwohl eine mathematisch-objektive Erkenntnis des Politischen bis heute grundlegend für die politische Planung und Regulierung (der Bildung) ist, so ist sie doch nicht unproblematisch. Die auf den
naturwissenschaftlich-mathematischen Erkenntnismitteln konstituierte Vorstellung des Politischen und dementsprechenden Handelns scheint begrenzt. So ist eine Kritik der mathematischen Orientierung der Bildung grundlegend für die Frage nach der Möglichkeit der vernünftigen Orientierung bildungspolitischen Handelns. Da wissenschaftliche Orientierung, wie Bachelard darlegt,77 in der Tat, d.h. durch seine Praxeologie, eine Philosophie hervorbringt, so ist
es nur folgerichtig, dass die Kritik der mathematisch-wissenschaftlich geleiteten Orientierung
der philosophischen Kritik bedarf.
Der moderne Bildungsdiskurs setzt an der Kritik der wissenschaftlich geleiteten, d.i. mathematisch orientierten politischen Urteilskraft um 1750 an (zu einem Zeitpunkt, als die politische
Ökonomie als Wissenschaft in ihren Grundzügen etabliert ist). Über die Kritik hinaus ist es
Rousseau, der die zentrale Frage bildungspolitischen Denkens aufwirft, wie politische Urteilskraft zu denken und wie sie beim Kinde auszubilden sei in Hinblick auf eine selbstbestimmte,
mündige Lebensführung und die Ausbildung eines sittlichen Gemeinwesens. Daher sind, wie
oben erläutert, Philosophie und Pädagogik für die moderne Bildungsdiskussion grundlegend
systematisch aufeinander bezogen und miteinander verflochten. Gleichzeitig präsentiert sich
durch den kritischen Ansatz- und Ausgangspunkt der modernen Frage nach der Bildung (der
Frage nach den Möglichkeiten einer logischen Orientierung der Bildung) der Bildungsdiskurs
immer als Antagonismus und Richtlinienstreit zwischen ökonomischer Rationalität und philosophisch-pädagogischer Vernunft bzw. mathematischer und logischer Orientierung. Im dritten
77
Vgl. Bachelard 1988, S. 8.
25
Teil dieser Arbeit, welcher von der logischen Konstitution des Politischen handelt, soll die logische Orientierung der Bildung untersucht werden. Dabei ist es das Anliegen der Untersuchung zu verstehen, wie sich im Anschluss an Rousseau eine gesellschaftspolitisch relevante
Diskussion logischer, spekulativer Orientierung der Bildung konstituieren konnte. Der Fokus
der Untersuchung soll dabei auf der Frage liegen, wie politische Urteilskraft in Abgrenzung zu
anderen Rationalitätsmodellen begründet und als pädagogisches Bildungsprojekt legitimiert
wird.
Nachdem in den drei Teilen der Arbeit die historischen Konstituenten der Orientierung moderner Bildungspolitik untersucht und diskutiert worden sind, wird – darauf aufbauend – zum Abschluss nach den Grundzügen vernünftigen bildungspolitischen Handelns gefragt werden.
26
I. Über die geographische Konstitution und Orientierung von
Bildung
1. Die Transformation der Problemlogik der Bildung im Zusammenhang der Reformation
Die Herausforderung des politischen Denkens besteht darin, die Idee des Politischen nicht unabhängig von der geschichtlichen Situiertheit des Menschen zu denken, da sie aus dem Umgang
mit der in der geschichtlichen Wirklichkeit angelegten Fragwürdigkeit unthematisch oder thematisch, implizit oder explizit hervorgeht. Grundlegend ist es auch für die Idee der Bildung,
dass sie in den Umgang mit einer konkreten Fragwürdigkeit und als Präskriptiv einer auf die
Fragwürdigkeit des Politischen bezogenen Praxis eingeflochten ist. So ist es wichtig, zu Beginn
der Untersuchung ein Grundverständnis dafür zu erarbeiten, wie Bildung für den modernen
Menschen fragwürdig wird. Darauf aufbauend kann untersucht werden, wie Bildung zu einem
Objekt und einem Projekt in der Moderne wird. Zugleich kann dadurch erkannt werden, was
den verfemten Teil dieses Projektes ausmacht – welcher Teil sich als das Andere der Bildung
erweist. Fragen wir nach der geographischen Orientierung im Allgemeinen, so fragen wir nach
der geschichtlichen Fragwürdigkeit, in der der Mensch einen Umgang sucht, dem Problemhorizont, auf den sein Verhalten antwortet.
Grundlegend für das Aufkommen der modernen, politischen (nicht theologischen (s.o.)) Problemkonstellation der Bildung ist der mit dem Begriff der Reformation benannte langfristige,
heterogene und vielschichtige gesellschaftspolitische Ereigniskomplex. Obwohl viele wichtige
Neuerungen, die die Wende zur Neuzeit markieren, im Mittelalter wurzeln, so kann die Reformation gewissermaßen als Zündfunke zu umfassenden gesellschaftspolitischen Umwälzungen
in allen europäischen Ländern verstanden werden. Dabei ist mitbedacht, dass ohne ausreichend
Brennmaterial nichts zu entzünden ist. Das (Lauf-)Feuer der Reformation – um bei dem Bild
zu bleiben – ist nicht allein auf das Werk einzelner Männer zurückzuführen, sondern ist auch
in Hinblick auf begünstigende Umstände zu betrachten. Gleichzeitig ist eine eindeutige Bewertung der Reformation nicht zu leisten, da sie wie das Feuer schwer ohne Hilfsmittel zu greifen
ist und Licht nur durch die Zerstörung schenken kann bzw. konnte.
Verschiedene Dimensionen der Bedeutung des durch die Reformation ausgelösten Prozesses
gesellschaftlicher, politischer und geistiger Umwälzungen sind in Hinblick auf die Veränderung
der Problemlogik der Bildung festzustellen. In gesellschaftlicher Hinsicht ist die Reformation
27
für die Bildung bedeutsam, da sie zu einer Differenzierung des gesellschaftlichen Normen- und
Wertesystems durch eine konfessionelle Differenzierung geführt hat. Dazu kommt die Zersetzung des gesellschaftlichen Geltungsanspruchs und der Deutungshoheit der römisch-katholischen, apostolischen Kirche sowie die Eröffnung eines Möglichkeitsraums für die Debatte über
die Konstitution, Legitimierung und Konsolidierung öffentlicher, sittlicher Ordnung jenseits
konfessioneller Bindung und des Glaubens. Dabei haben die Schrecken der Religionskriege,
wie etwa die Bauernkriege (ab 1524), die Hugenottenkriege (1562-1598) oder der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) dazu beigetragen, einen politischen Umgang mit der Frage nach den
Möglichkeiten der Bildung eines sittlichen Gemeinwesens zu suchen. Deutlich lässt sich dies
am Augsburger Reichs- und Religionsfrieden von 1555 festmachen, der den Versuch einer Lösung der Problematik mit politischen und juristischen Mitteln darstellt. Auch wenn diese Lösung sich als problematisch herausgestellt hat – da die politisch-juristische Lösung die theologische Dimension des Problems unterschätzte – so hat sich durch die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges erwiesen, dass der Versuch der (Wieder-)Herstellung einer politischen Ordnung in Rekurs auf eine Konfession als normativem Zentrum politischer Ordnung zu einer völligen Erschöpfung aller politischen und sozialen Ressourcen führen muss. Der Westfälische
Friede von Münster und Osnabrück markiert, so verstanden, die Einsicht, dass die Frage der
Möglichkeit der Bildung eines sittlichen Gemeinwesens in einer heterogenen Gesellschaft nur
mit politischen Mitteln einen Umgang wird finden können. Daraus folgt die Erkenntnis der
Notwendigkeit einer Trennung kirchlicher und politischer Rechts- und Handlungssphären. Abzulesen ist dies an den zentralen Vereinbarungen des Westfälischen Friedens, welche, wie Negt
darlegt, einen „markanten Umbruch politischer Rechtskultur“ darstellen.78 So wird im Westfälischen Friedensvertragswerk der moderne Territorialstaat erstmals „mit allen Insignien der
Souveränität und der Staatsräson völkerrechtlich kodifiziert“79. Dadurch wurde zugleich der
Prozess der Säkularisierung, d.h. die Trennung politischer und kirchlicher Rechts- und Handlungssphären, entschieden vorangetrieben.
Die damit zusammenhängende Transformation der Problemlogik der Bildung ist als langwieriger und vielschichtiger Prozess zu verstehen. Er ist vielgliedrig zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert anzusetzen. Die Frage nach der Bildung eines sittlichen Gemeinwesens mit politischen
Mitteln stellt sich explizit erst zum 18. Jahrhundert. Wie Fees darlegt, ist das Werk John Lockes
als frühes und wegweisendes Werk anzusehen, da es die Frage nach der Bildung eines sittlichen
78
Negt 2010, S. 118.
79
Ebd..
28
Gemeinwesens und öffentlicher Ordnung in neuer Weise an die Frage nach der richtigen Erziehung bindet.80 Dadurch ist die moderne Problemlogik maßgeblich begründet. So stellt sich bis
heute grundsätzlich die für die Bildung maßgebliche Frage, wie in einer pluralistischen, differenzierten Gesellschaft ein sittliches Gemeinwesen und politische Ordnung zu legitimieren und
konsolidieren sind.
Obwohl der Mensch der Neuzeit viel stärker in Kollektive und Traditionen eingebunden war
als der Mensch unserer Zeit, so wird durch die Reformation – nicht zuletzt durch ihre Einbettung in den Humanismus – der Gedanke des normkompetenten Subjekts freigesetzt. In der Entdeckung der Normkompetenz des (lesenden) Gläubigen in Fragen des Glaubens ist der Prototyp
des mündigen Bürgers beschlossen. Denn beide verbindet die Idee eines vernunftbegabten
Menschen und damit eine Auflösung der Autorität des Kollektivs zur Entstehung der Frage
nach der Bedingungsmöglichkeit der Autorität individueller Urteilskraft und der Ausbildung
vernünftigen Handelns. Darin liegt die Möglichkeit der Verbindung der neu aufgebrachten
Problematik der Bildung politischer Ordnung bzw. eines sittlichen Gemeinwesens mit der
Frage nach der richtigen Erziehung der Urteilskraft des Einzelnen. Obwohl in der Neuzeit eine
Primärorientierung der Erziehung an der häuslichen Ökonomik festzustellen ist und das Bildungssystem auf die engen Bedürfnisse des Adels ausgerichtet war, entstehen im Rahmen der
Reformation Schriften zur Idee eines Volksschulwesens. Bei Thomas Müntzer findet sich gar
der Gedanke der Bildung zur Mündigkeit.81
Es ist ebenfalls auf die Reformation und die damit verbundenen Ereignisse zurückzuführen,
dass diese Fragen des Denkens eine realpolitische Relevanz erhalten haben. So ist ausgelöst
durch die Reformation die strukturelle Möglichkeit einer staatlichen Bildungspolitik erst entstanden. Denn die Zersetzung kirchlicher Ordnung führte auch zu einer Zersetzung der kirchlich
getragenen Bildungsinstitutionen. Die Bildungsträger schwanden, der geregelte Betrieb der
Schulen, der Kloster- und Domschulen sowie der Universitätsbetrieb wurden grundsätzlich beeinträchtigt oder eingestellt.82 Durch den Niedergang des Bildungssystems entstand zugleich
ein struktureller Möglichkeitsraum für staatliche bildungspolitische Gestaltung und damit der
Reflexion der Bildung. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Kirchen- und
Schulordnungen im Rahmen der Reformation den Landesherren und Fürsten unterstellt werden.
Dadurch beginnt ein langwieriger Prozess, in dem die Bildungshoheit immer mehr auf den Staat
übergeht.
80
Vgl. Fees 2015, S. 139-148.
81
Vgl. Müntzer 1973, S. 100.
82
Vgl. Fees 2015, S. 115-116.
29
2. Ökonomie des Hauses als geografischer Orientierungsrahmen der
Erziehung
Obwohl in der Neuzeit – gewissermaßen im Advent der Moderne – eine Primärorientierung der
Erziehung an der häuslichen Ökonomik festzustellen ist, kommt gleichzeitig somit ein Interesse
der politischen Einflussnahme auf. Wie Foucault erörtert entsteht das Problem einer umfassenden Bildungspolitik im 16. Jahrhundert.83 Die Frage wie einer Regierung mittels Erziehung der
Kinder denkmöglich ist, so Foucault, steht sowohl im Problemhorizont der Regierung des
Selbst, das zum einen durch die „Reaktualisierung“ des Stoizismus mit die Fragen nach der
richtigen Lebensführung aufnimmt und Problematik der Regierung bzw. Führung der Seelen
und der Lebensführung, die im 16. Jahrhundert zunehmend eine unterschiedliche konfessionelle Beantwortung durch das „katholische und protestantische Pastorat“ findet.
Erziehung als Technik des Regierens ist nach Foucault in die zwei entwicklungsgeschichtlichen
Prozesse der „Auflösung der feudalen Strukturen“ und des Aufkommens der „großen Territorial-, Verwaltungs- und Kolonialstaaten“, der Bewegung der „Zusammenballung des Staates“
als auch der „Bewegung der religiösen Zerstreuung und Dissidenz“ eingebunden, als dessen
Motoren die Reformation und Gegenreformation zu verstehen sind84 Der Zweck der Regierung
durch Erziehung ist dabei in der Ausweitung, Förderung und Sicherung machtpolitischer und
ökonomischer Dimensionen des Staates im internationalen Konkurrenzkampf zu verstehen.85
Die Problematik des modernen Bildungswesen entsteht demnach „primär aus dem Bewußtsein
des entwicklungsbeschleunigenden und selektierenden Effektes der Erziehung“86.
Wie Liedke darlegt, nehmen Institutionalisierung und Säkularisierung der Erziehung ihren Ausgang in diesem „utilitaristischen Gebrauch“. Da dieser als Maß einer guten Erziehung nur die
ökonomischen und machtpolitischen Faktoren berücksichtigte, bei gleichzeitigem Außerachtlassen des „autonomen System[s] des Kindes“, kann man hier von einer „Form der Gewalt“
sprechen, wie Frijhoff nahelegt,87 etwa im Sinne einer Herrschaftsgewalt oder Disziplinargewalt. So bleibt zu konstatieren, dass Erziehung und auch Schule in der Neuzeit zu einem „emi-
83
Vgl. Foucault 2005, S. 148.
84
Vgl. Foucault, 2005, S. 149.
85
Vgl. Liedtke 1997, S. 99.
86
Liedtke 1997, S. 99.
87
Vgl. Frijhoff 2010, S. 26.
30
nenten machtpolitischen Faktor“ wird. Gerade dieses Außerachtlassen der machtpolitisch orientierten, „utilitaristischen Erziehung“ wird später seine Antwort in der Kritik aufklärerischer
Konzepte der Bildung finden werden. Gleichzeitig ist es kaum zu übersehen, dass die „utilitaristische Erziehung“ in der frühen Neuzeit nicht nur als „Repressionstechnik“ zu verstehen ist,
sondern im Sinne der „anthropologischen Tatsache“88 ein Grundverhältnis des Zusammenlebens bezeichnet, die dem Bedürfnis der „Überlieferung von Verhaltensweisen und Maßstäben,
der Lehre und des Lernens von Kenntnissen und Fertigkeiten, des Verstehens von Inhalten“ als
Bedingung sozialer Einbindung in die Sittlichkeit entgegenkommt.
Ein Verständnis der Erziehung, welches ausschließlich auf dem Hinweis auf die Einbindung
der Erziehung in die entwicklungsgeschichtlichen Bewegungen Spannung von Konfessionalisierung/ Säkularisierung,89 Merkantilismus, Konfessionskriegen allein beruht, bliebe dennoch
schematisch. Ein solches Verständnis liefe, durch eine einseitige repressionstheoretische Lektüre der Geschichte der Erziehung, darauf hinaus, Erziehung als ein globales Phänomen zu thematisieren und dabei die verschiedenen Formen und Techniken der Erziehung zu verkennen.
Dadurch bliebe die situationsgebundene Notwendigkeit in der Erziehung nicht nur als globale
„Herrschaftsgewalt“ oder globale „Disziplinargewalt“ zu missverstanden.
Auch wenn es in dem „heterogenen Feld schwach institutionalisierter Erziehungs- und Unterrichtsverhältnisse der Frühen Neuzeit“90 Ansätze zu einer „globalen“, einer Großen Didaktik
(lat. Didactica Magna), wie etwa durch den integrativen Ansatz des „modernen Methodendenkens“91 des Comenius (1592–1670) vertreten, gab, so ist Erziehung durch ständische, konfessionelle und geschlechtsspezifische Faktoren stark regionalisiert und eingeschränkt. Für die
Neuzeit dominiert demnach die geographische Orientierung.
Der Hinweis Schmales, dass „dörfliche[…] Schulwirklichkeit“ in der Neuzeit eingebunden ist
in einen „europäischen Prozess der schulischen Institutionalisierung“92 der Bildung im Entwicklungsprozess des modernen Bildungssystems, ist in Hinblick auf ein Analysemodell ernst
zu nehmen. Seine (Ideal-)Typologie von Bildungslandschaften lässt verstehen, dass, obwohl
88
Vgl. Scheuerl 1985, S. 7.
89
Brenner und Brüggen charakterisieren die neuzeitliche Bildung, am Beispiel Bacons und Comenius, durch die Spannung
zwischen der „Ordnung der Zwecke“ und der „Ordnung der Erfahrung“ (vgl. Brenner/Brüggen 2011, S. 67–74). Die Rolle
der Reflexion der Ziele der Erfahrung zeigt sich somit zutiefst durch die dissoziierten sozio-kulturellen und politischen
Verhältnisse herausgefordert, eine integrative Theorie zu entwerfen, die konfessionelle als auch ökonomische Motive in
Hinblick auf ein soziales Sicherheitsdispositiv vereint.
90
Jacobi/Le Cam/Musolff 2010, S. 9.
91
Koch 2003, S. 121–135.
92
Schmale 2003, S. 176.
31
die Erziehung in der Neuzeit eine stark regionale Figurierung auszeichnet, sie sich durch Versuche der Institutionalisierung bestimmter Ideale entgegen der „dörflichen Schulwirklichkeit“
auszeichnet. Schmale legt dar, dass sich die Bildungslandschaft in vier Typen einteilen lässt:
Die Bildungslandschaft, die von einem Vorrang gesellschaftlicher Wirkkräfte geprägt ist (Typ
I), diejenige, die vom Vorrang der staatlichen Wirkkräfte geprägt ist (Typ II), diejenige, die von
kirchlichen Wirkkräften geprägt ist (Typ III), und diejenige, die von einer Gleichberechtigung
der drei Wirkkräfte geprägt wird.93 Damit lässt sich verstehen, dass die Erziehung in der Neuzeit im Spannungsfeld der sozialen Institutionen von Kirche, Staat und Gemeinwesen eine Institutionalisierung findet. Die Institutionalisierung der Erziehung mittels der Schule wird so
schließlich auch angetrieben durch den Versuch einer einheitlichen Festlegung von Normen
und Anforderungen verschiedener sozialer Instanzen. Wie aber Ehrenpreis darlegt, ist die neuere bildungsgeschichtliche Forschung von ihrer früheren, auf Elias „Zivilisationstheorie“ beeinflussten Annahme, dass die frühneuzeitlichen Pädagogikmodelle durch höfische Ursprünge
der Erziehungslehren eine Fundierung erfahren haben, abgewichen.94 Er schreibt:
„Vielmehr ist von einer Unterschiedlichkeit der frühneuzeitlichen Erziehungsziele auszugehen,
die in den sozial differenzierten Lehrangeboten und in der ständischen Verschiedenheit der Orte
pädagogischen Handelns und der Sozialinstanzen wurzelt.“95
Der Schulbesuch, die Schule als Institution gewinnt allerdings nur allmählich eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Während im 16. Jahrhundert der Schulbesuch nur sporadisch erfolgte und nur von kurzer Dauer war, so gewann die Schule im 17. Jahrhundert an Bedeutung
für die mittleren und oberen gesellschaftlichen Schichten.96 Obwohl im Laufe des 17. Jahrhunderts Lehrpläne und Schulbücher entstehen,97 so kann man von einer Dominanz des Privatunterrichts in mittleren und oberen Sozialschichten, einer häuslichen Erziehung in niederen, also
insgesamt von einer Dominanz der Bestimmung der Erziehung durch die häusliche Erziehung
sprechen. Eine Bestätigung dieser Hypothese finden wir in dem von Scheurl angeführten Sachverhalt, dass weder Reformation, Humanismus noch Neuscholastik zu einer Erneuerung des
93
Vgl. Schmale 2003, S. 183.
94
Vgl. Ehrenpreis 2007, S. 3.
95
Ehrenpreis 2007, S. 3.
96
Vgl. van Dülmen 1997, S. 57 f..
97
Vgl. van Dülmen, 1997, S. 58.
32
höheren Bildungswesens geführt hatten.98 Der Adel, der im absolutistischen Staat nun eine Beamten- und Offiziersfunktion einnahm, vertraute infolge die Erziehung seiner Kinder dem Hofmeister oder Hauserzieher an, schickte sie auf eine Ritterakademie oder ein vom Landesfürsten
oder einer Stiftung getragenes Internat.99
Wie sich unabhängig von der Spezifik der adligen Erziehung erkennen lässt und ohne auf eine
weitere Erörterung der neuzeitlichen Erziehung eingehen zu können, zeigt sich, dass die Ziele
der neuzeitlichen Erziehung durch die Ökonomie100 des Hauses101 ihre Bestimmung und Orientierung fanden. Die Varianz in der Spezifik der Erziehung und das Maß des Rekurses auf die
Ziele der Großen Didaktik finden ihre Fundierung in den Zielen der jeweiligen Haushaltsökonomie. Wie van Dülmen in Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit schildert, kann man – außer
von den Kreisen der Oberschicht – in der frühen Neuzeit nicht von einer „gezielte[n] Erziehung“ sprechen.102 Vielmehr wurde im Lebenszusammenhang des Hauses bestimmtes Verhalten eingefordert. Über den Gehorsam gegenüber den Eltern, so besonders dem Hausvater, so
wurde frühzeitig das Mitwirken der Kinder bei der alltäglichen Hausarbeit gefordert, da die
Familie auf die Hilfe der Kinder materiell angewiesen war.103 Das Kind genoss, sobald es laufen
und sprechen lernte, keine besonderen Zuwendungen104 und wuchs vielmehr ungeschieden von
der Welt der Erwachsenen auf.105 Der frühen Einbindung und Eingliederung der Kinder in die
Erwachsenenwelt fand unter Rücksichtnahme der einzelnen Fähigkeiten und Kräfte des Kindes
statt und variierte je nach Haushalt und Stand. Dabei betont van Dülmen, dass der führen Neuzeit das Verständnis von Kinderarbeit als „billige Arbeitskräfte für Marktprodukte“ völlig fehlte
und dieses vielmehr eine Erfindung des Industriezeitalters ist.106 In diesem Sinne ist es nicht
98
Vgl. Scheuerl 1985, S. 67.
99
Vgl. Scheuerl1985, S. 67.
100
Der Begriff der Ökonomie erhält seine Bedeutung aus der Zusammenführung der altgriechischen Wörter für Haus (οϊκος)
und für Gesetz (υόμoς).
101
Duchhardt schildert, dass der frühneuzeitliche Haushalt eine „Kernfamilie“ als auch Blutsverwandte und Dienstpersonal
umfasste und sowohl als Wirtschaftsbetrieb als auch Lebensgemeinschaft funktionierte (vgl. Duchhardt 2003, S. 86). Gerade in dieser Doppelfunktion scheint der Begriff der Haushaltsökonomie besonders plausibel für den frühneuzeitlichen
Haushalt. Im Gegensatz zu einem modernen Haushalt ist dieser gerade nicht als Privatsphäre zu verstehen, sondern gerade
durch sein Spannungsfeld von Öffentlichkeit und familialem Lebensraum.
102
Vgl. van Dümmel 1990, Bd.1, S. 102.
103
Vgl. van Dümmel 1990, Bd.1, S. 102.
104
Auch Ehrenpreis legt dar, dass von dem Topos der „Erfindung der Kindheit in der Neuzeit“ Abstand zu nehmen ist (vgl.
Ehrenpreis 2007, S. 3).
105
Vgl. van Dümmel 1990, Bd. 1, S. 101.
106
Vgl. van Dümmel 1990, Bd. 1, S. 109.
33
abzustreiten, dass die Einbindung und Eingliederung der Kinder in die Haushaltsökonomie einen Beitrag zur Produktivität des Haushaltes leistete, d. h., einen materiellen Nutzen mit sich
führte, zugleich aber diese Partizipation einen erzieherischen, „pädagogischen“ Nutzen hatte.
Das Kind lernte nicht nur die Handgriffe, die je nach Stand zum ökonomischen Überleben notwendig waren, sondern wurde auch in die Verhaltensweisen der Erwachsenenwelt eingeführt.
Janke und Schläppi machen darauf aufmerksam, dass die Haushaltsökonomik nicht nur den
Umgang mit materiellen Ressourcen umfasste, sondern auch wesentlich als „Rahmen einer Beziehungsökonomie“, einer Ökonomie sozialer Relationen zu verstehen sei.107 Das Kind wurde
durch die Erziehung nicht nur in die Haushaltsökonomie als Technik und Logik des Umgangs
mit materiellen Ressourcen eingeführt, sondern erfuhr auch eine soziale und emotionale Einbettung in die Beziehungsökonomie des Haushaltes. Auch wenn sich die emotionale Dimension
der Nahbeziehungen in der Haushaltsökonomie als Teil der Erziehung rekonstruieren lässt, da
es sich um höchst individuelle Sachverhalte handelt, so ist sie nur schwer verstanden ohne den
Rekurs auf die durch die Partizipation erfahrene Dimension der Erziehung. Anschaulich legt
van Dümmel dar:
„Die Ambivalenz von Freiraum und Unterordnung einerseits und der Erfahrung von Zärtlichkeit, Zorn und Strenge anderseits bestimmte die Lebensgeschichte der Kinder in der frühen
Neuzeit.“108
Insgesamt hatte die Orientierung der Zwecke der neuzeitlichen Erziehung an der Haushaltsökonomie die gesellschaftliche Funktion, die Kinder in die Logik und Technik des Haushaltens
einzuführen und ihnen ein Grundgerüst für ein selbstständiges Leben zu geben, zugleich aber
auch die Funktion der Sozialisation durch die in Arbeit und Spiel vermittelten Normen der Gesellschaft und des jeweiligen Standes. Da bis zum 18. Jahrhundert weder von einem einheitlichen Schulsystem noch von systematisierten Lehrplänen, von machtpolitisch unabhängig reflektierten Normen oder gar von einem einheitlichen Klassensystem und von Leistungsnachweisen zu sprechen ist, hatten die Schulen (Elementarschulen, Dorfschulen) in der Neuzeit nur
eine marginale Rolle. Wie van Dümmel schildert, lernten die Kinder dort zwar auch lesen,
schreiben und rechnen, jedoch war der Hauptzweck der Erziehung die Disziplinierung zum
Stillhalten, zur Pünktlichkeit, zur Ordentlichkeit und zur Sauberkeit, welche zwar als Ziele der
107
Vgl. Jancke/Schläppi 2011 S. 87.
108
Vgl. van Dümmel 1990, Bd. 1, S. 101.
34
häuslichen Erziehung angelegt waren, jedoch – da auch die Hausökonomie die Primärorientierung zur Gestaltung der Erziehung darstellte – nicht einheitlich durchgesetzt wurden.109
Im Gegensatz zur häuslichen Erziehung waren die Schulen deutlich von dem Ziel der Erziehung
der Kinder zu „christlichen Untertanen“ mittels disziplinierender und züchtigender Maßnahmen
eingenommen.110 Dies wird vor allem dadurch deutlich, dass die Wissensvermittlung hauptsächlich mit der Vermittlung des Katechismus gleichgesetzt wurde. Gleichsam liegt darin das
Verständnis, dass das öffentliche Wohl „im Wesentlichen der Gehorsam vor dem Gesetz, vor
dem Gesetz des Souveräns über diese Erde oder vor dem absoluten Souverän, Gott“ besteht,
wie Foucault es formuliert.111 Das „absolutistische Interesse an der Erziehung ausgebildeter
Untertanen“112 zur Umsetzung machtpolitischer Interessen konnte eine Umsetzung nur dann
finden, wenn die Erziehung des Untertanen sich völlig von der Bestimmung durch die Ziele der
individuellen Haushaltsökonomik als auch durch das katholische oder protestantische Pastorat
gelöst hat.
„Solange die Souveränität das Hauptproblem war, die Institutionen der Souveränität der grundlegenden Institutionen waren und die Ausübung der Macht als Ausübung von Souveränität reflektiert wurde, war an eine spezifische und autonome Entwicklung der Regierungskunst nicht
zu denken.“113
Wie im Rekurs auf die Bedeutung der Haushaltsökonomie deutlich wurde, ist (neben der an der
absoluten Souveränität ausgerichteten Erziehung) die relative Selbstständigkeit der Haushaltsökonomie – die Haushaltsökonomie als Grundlegung der Erziehungsmotive –, die Erziehung als Technik des Regierens in ihrer Durchsetzungsfähigkeit beeinträchtigt und in ihrer Effektivität geschwächt.
„Die Bevölkerung zu führen heißt nicht, allein die kollektive Masse an Phänomenen oder die
Bevölkerung allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen
heißt, sie gleichermaßen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen.“114
Obwohl sich in der frühen Neuzeit durch die großen Krisen und davon ausgehenden soziohistorischen Entwicklungen der Problem- und Motivationszusammenhang entwickelt, kann
109
Vgl. van Dümmel 1990, Bd. 1, S. 118.
110
Vgl. van Dümmel 1990, Bd. 1, S. 117.
111
Foucault 2005, S. 160.
112
Van Dümmel 1990, Bd. 1, S. 116.
113
Foucault 2005, S. 164.
114
Foucault 2005, S. 170.
35
sich Erziehung als Technik der Regierung nicht in einer globalen Weise institutionalisieren.
Dazu ermangelt es der Staatsräson an einer bestimmten Vorstellungskraft mangelt, mittels der
sich das politische Territorium nicht vom Blickpunkt des Souveräns und der eigenen Haushaltsökonomie aus betrachten lässt, als auch die Führung nicht nur als eine Erziehung zum Untertan auffasst wird. Zu einem tiefen Wandel des Umgangs mit der Fragwürdigkeit der Erziehung für die Politik kommt es erst allmählich durch die Kopplung der Geschicke der Regierung
an Erkenntnistechniken, die es erlauben würden die Bevölkerung in der Tiefe, der Feinheit und
im Detail zu führen.
36
II. Über die mathematische Konstitution und Orientierung von
Bildung
Einleitung
Wie im ersten Teil dieser Arbeit deutlich geworden ist, verändern sich im Zuge der Reformation
die Rahmenbedingungen bisheriger Erziehung tiefgreifend. Das Problem der Erziehung findet
in der Neuzeit nur partikulare Lösungen. Bildung ist daher zumeist geographisch orientiert und
durch die Ökonomie des Hauses bestimmt. Zugleich entstehen neue Möglichkeitsräume und
neuer Bedarf an einer allgemeingültigen bzw. übergreifenden, konfessionsunabhängigen und
ordnungsstiftenden Bildungspolitik. Obwohl von einer solch umfassenden Bildungspolitik
nicht gesprochen werden kann, entwickeln sich die Grundlagen jener im Umgang mit den tiefgreifenden Veränderungen im Zuge der Reformation. Es ist vor allem der Verlust des Verständnis- und Orientierungsrahmens der umfassenden christlichen Heilsökonomie, durch den sich
die Möglichkeitsräume eines grundlegend neuen Umgangs mit Bildung eröffnen.
Eine neue bildungspolitische Rationalität bildet sich in erster Linie durch die Orientierung an
den Naturwissenschaften, d.h. die Orientierung an naturwissenschaftlichen Phänomenotechniken, aus. Durch die mathematische Orientierung bildungspolitischen Handelns wandelt sich
zwischen dem 16. Jahrhundert und dem beginnenden 18. Jahrhundert das Problem der Bildung
vom theologischen zum politischen Problem. Gleichzeitig findet die moderne Bildungspolitik
ihre Legitimation in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundlegung. So wird in der
Moderne Bildung zu einem Objekt und Projekt durch die mathematische Grundlegung. Dies ist
insofern verständlich, als die mathematisch-naturwissenschaftliche Orientierung von Bildung
den grundsätzlichen Desideraten und Bedarfen entgegenkommt, die durch die Reformation
bzw. das Verschwinden der christlichen Heilsökonomie als Verständnisrahmen und Legitimationsgrundlage aufkommen.
Wie Schlögel darlegt, wird durch die großen, im Zusammenhang der Reformation stehenden
Zersetzungen, Auflösungen und Destabilisierungen politischer Ordnung die Krise zum dominierenden Modell gesellschaftlicher Selbstreflexion.115 So muss modernes politisches Handeln
im Allgemeinen und bildungspolitisches Handeln im Besonderen wesentlich als Umgang mit
115
Vgl.: Schlögl 2015, S. 9ff.
37
Krisen begriffen werden. Da modernes (bildungs-)politisches Handeln vor allem im Umgang
mit Krisen und der damit erfahrenen Instabilität politischer Ordnung und geschichtlicher Kontingenz fragwürdig wird, ist es ersichtlich, dass jenes grundsätzlich als Technik (nicht Praxis!)
der Selbsterhaltung und der Stabilisierung politischer Ordnung zu verstehen ist. Zur Umsetzung
dieser Ziele ist die Herstellung von Vorhersehbarkeit, von Planbarkeit und von Kalkulierbarkeit
grundsätzlich. Mathematisch-naturwissenschaftliche Techniken erfüllen diesen Bedarf, da sie
die Vorhersehbarkeit, Planbarkeit und Kalkulierbarkeit von Zusammenhängen erzeugen können. Erst auf Grundlage dieser kann das soziale Geschehen objektiv wahrgenommen und manipuliert bzw. beeinflusst werden.
In einer anderen Hinsicht erfüllt die mathematischen Orientierung den Bedarf der Bildungspolitik nach Legitimierung in einer allgemeinen Weise. Als allgemeingültig erscheint die mathematisch orientierte Bildungspolitik, da sie eine wissenschaftlich-objektive Grundlage hat. Zudem kann sich die Bildungspolitik durch die mathematische Orientierung gegenüber der geographischen Orientierung der Erziehung als universell und allgemeingültig behaupten, insofern
die mathematisch fundierte Erkenntnis sozialer bzw. politischer Verhältnisse eine größere Objektivität für sich beanspruchen kann. So sind viele gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen ohne die Phänomenotechniken der Naturwissenschaften gar nicht erst zu erkennen
und schlichtweg nicht vor- und zuhanden.
In dieser Hinsicht erfüllt die mathematisch fundierte Naturwissenschaft als Verständnis- und
Orientierungsrahmen einer Bildungspolitik die durch die Reformation „verlorene“ systemischfunktionale Rolle der Heilsökonomie in zweifacher Hinsicht. Zum einen bildet die mathematisch fundierte Naturwissenschaft die Grundlage für ein Verständnis der Gesetzlichkeit der Lebensumwelt, insofern die Naturwissenschaft als Verständnis- und Orientierungsrahmen der Bildungspolitik ebenso wie die christliche Heilsökonomik gewissermaßen (und mit Vorbehalt) als
eine Erkenntnis der allgemeinen inneren Gesetze der Natur, so auch der Natur des Menschen
gelten kann. Wird sie als eine Technik zur Herstellung von Vorhersehbarkeit, Planbarkeit und
Kalkulierbarkeit im Hinblick auf die Selbsterhaltung instrumentalisiert, ist an sie auch ein
Heilsversprechen gebunden. Dies zeigt sich am Begriff des Fortschritts, der seiner Logik nach
die systemische Funktion des Begriffs des Heils ersetzt. Bis heute beinhaltet die Orientierung
der Politik an den Naturwissenschaften die Hoffnung auf eine allgemeine Besserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. So ist mit der mathematischen Orientierung der Bildungspolitik die
Vorstellung einer konfessionsübergreifenden allgemeinen sittlichen Ordnung und eines friedlichen Staatswesens verbunden.
38
Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, wie sich durch die mathematische Orientierung
eine umfassende Bildungspolitik konstituiert und legitimiert, sodass Erziehung zu einem politischen Objekt und Projekt werden konnte. An die Erkenntnis der Voraussetzung für diese Entwicklung ist die kritische Absicht gebunden, die Grenzen der mathematischen Orientierung
bildungspolitischen Handelns zu verstehen.
1. Über die Grundlegung und Legitimation moderner bildungspolitischer Rationalität und Handlungslogik
Erst durch die für die moderne „Gouvernementalität“116 konstitutiven Techniken des Regierens
wird eine umfassende Bildungspolitik zur Festigung der innerstaatlichen Ordnung und des Friedens, der Entwicklung und Verbesserung der Produktionsverhältnisse und schließlich auch der
Verbesserung der Lebensverhältnisse,117 allmählich realisiert. An den Begriff der „Gouvernementalität“ können wir in unserer Fragerichtung daher anknüpfen, da es moderne Politik und
modernes Staatswesen vor allem durch eine Untersuchung der Spezifizität des Geschicks untersucht und somit an der Spezifizität des Umgangs mit der Fragwürdigkeit von Politik118
116
Mit dem Wort ‚Gouvernementalität‘ ist dreierlei gemeint. Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet
aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten,
diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als
Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.
Zweitens verstehe ich unter ‚Gouvernementalität‘ die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig
und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, gegenüber
allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate
einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat. Schließlich glaube ich, dass man
unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt
‚gouvernementalisiert‘ hat.“ (Foucault 2005, S. 171 f.)
117
Die naheliegende Vermutung, dass im 18. Jahrhundert als dem „Jahrhundert der Aufklärung“ das utopische Denken eine
herausragende Rolle zukommt, übersieht leicht, dass die politische Entwicklung der frühen Neuzeit ohne einen Rekurs auf
das „Ideal des ‚besten‘ Gemeinwesens“, wie es etwa in Thomas Morus Utopia 1516 eine Formulierung findet, kein ausreichendes Verständnis finden kann (vgl. Saage 1991, S. 15–76).
118
Als Verständnis- und Analysemodell der Rahmenbedingungen und des Hintergrundes der politischen Regulierung der Erziehung hat der von Foucault geprägte Leitbegriff der „Gouvernementalität“ in der neusten Forschung der kritischen Erziehungswissenschaft verstärkt an Bedeutung gewonnen. (Vgl. Weber 2006; Ricken 2007, S. 157–176; Ntemiris 2011.)
Dies kann wahrscheinlich darauf zurückgeführt werden, dass ihn als Begriff eine „mangelnde theoretische Präzisierung
und unzureichende historische Konkretisierung“ (vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, S. 18.) auszeichnet, wodurch er
jedoch aber als „Forschungsrichtung“ – wie ihn Foucault erstmals in der Vorlesung La ‚gouvernementalité‘ 1978 ankündigt
(vgl. Lemke 1997) – durch seine prinzipielle Offenheit an großem Interesse gewinnt, wovon eine mittlerweile große Forschungsliteratur Zeugnis gibt. (Vgl. Ricken/Rieger-Ladich 2004.) Gleichzeitig wird deutlich, dass er als programmatischer
Leitbegriff „es ermöglicht, Machtbeziehungen unter dem Blickwinkel von ‚Führung‘ zu untersuchen“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, S. 8.). Lemke, Krasmann und Bröckling heben vor allem durch diese Neuausrichtung der Machtanalyse (vgl. Ruoff 2007, S. 130.) an dem „Problem der Regierung“ (vgl. Foucault 2005, S. 148.) drei Aspekte hervor:
39
«L’État n’est pas un universel […] L’État ce n’est rien d’autre que des faits […] L’État ce n’est
rien d’autre que l’effet mobile d’un régime de gouvernementalité multiple […] Il ne s’agit pas
d’arracher l’État de son secret. Il s’agit de passer à l’extérieur et d’interroger le problème de
l’État à partir des pratiques de gouvernementalités.»119
Vor dem Hintergrund strukturalistischer Theorieansätze versteht Foucault den Staat und eine
bestimmte Politik somit als einen Effekt der Führungstechniken und Selbsttechniken individueller und kollektiver Akteure. Er ist darüber kein eigenständiges Objekt, sondern lässt sich ganz
in den Begriffen der Praxis, Technik, so des Umgangs und des Geschicks beschreiben. Dass
sich durch die Untersuchung der Praktiken eine Logik oder eine Rationalität der Praxis offenbart, liegt darin begründet, dass die Praxis den Dingen und Menschen einen bestimmten Zweck
zuordnet und so ihre gesellschaftliche Funktion beschreibbar wird. Diese Ordnung ist in politischer Hinsicht gerade keine nur intellektuelle, sondern technische Leistung und in ihrer Entfaltung in hohem Maße von dieser Technik abhängig.
Berger und Luckmann erörtern in diesem Sinne, dass die „institutionale Welt“ in ihrer gesellschaftlichen Realität „vergegenständlichte menschliche Tätigkeit ist“120. Allein aus der Tätigkeit des Menschen erhält die Welt keinen „ontologischen Status“, d. h. keine ontologische Natürlichkeit, gesellschaftliche Institutionen bleiben stattdessen als imaginäre Lösung auf einen
Problemhorizont grundlegend fiktiv. Obwohl also Individuen gesellschaftliche Institutionen,
wie den Staat, als „objektive Faktizitäten“121 wahrnehmen, sind diese nicht als ontologische
Entitäten zu verstehen, sondern vielmehr als Konventionen: Konventionen, die ihre Wirklichkeit durch die generationale Weitergabe, z. B. durch Erziehung, erhalten.122
„Erstens konzipiert der Regierung als Bindeglied zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen und
differenziert jetzt im Gegensatz zu früheren Arbeiten zwischen Herrschaft und Macht. Zweitens vermittelt der Regierungsbegriff zwischen Macht und Subjektivität. Auf diese Weise wird es möglich zu untersuchen, wie Herrschaftstechniken sich
mit ‚Technologien des Selbst‘ verknüpfen. Drittens bietet er ein wichtiges Analyse-Instrument zur Untersuchung der von
Foucault immer wieder herausgestellten Macht-Wissens-Komplexe. Dafür prägt Foucault den neuen Begriff Gouvernementalität, der Regieren (‚gouverner‘) und Denkweise (‚mentalité‘) semantisch miteinander verbindet.“ (Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, S. 8.)
Vor dem Hintergrund der „Problematik der Regierung“ führt Foucault den Leitbegriff der „Gouvernementalität“ als systematisches Analyseprogramm ein, um zum einen zu verstehen, in welcher Weise Subjekte in eine bestimmte Politik praxeologisch-technisch eingegliedert werden, und zum anderen, um zu beschreiben, wie sich Macht, Herrschaft historisch figuriert. Als Leitkategorie zur Bestimmung politischer Rationalität ist vor allem die Ermittlung der sich in den Praxeologien
konstituierenden Rationalität bestimmend für die Analysemethode. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage, wie sich
gouvernementale Macht durch bestimmte Konstellationen von Herrschafts- bzw. Regierungstechniken konstituiert. Entscheidend ist dabei, dass Foucault die Regierung und Herrschaft nicht als eine Entität konzipiert, die sich institutionell oder
intentional konstituiert, sondern als „Korrelat“ von Regierungstechniken. (Vgl. Lemke 2008, S. 262.)
119
Foucault zitiert nach Beaulieu 2004, S. 55.
120
Berger/Luckmann 2000, S. 65.
121
Vgl. Berger/Luckmann 2000, S. 64.
122
Vgl. Berger/Luckmann 2000, S. 62-64.
40
Entscheidend ist nicht nur, „dass die politische Ordnung selbst auf einer Ordnung des Imaginären beruht, welche die Dichotomien vom Typ Basis/Überbau oder Realität/Fiktion durchkreuzt“123, sondern das die politische Ordnung, die Realität des Politischen und der politischen
Entitäten – über die persönliche Erfahrung hinaus – mit dem Geschick oder im engeren Sinne
Methodologie ihrer Konstitution, ihrer Gründung grundsätzlich verwoben ist. So schreiben Koschorke et al.:
„Allein damit sich eine Ansammlung von Individuen als kollektiver Agent begreifen kann, um
sich überhaupt institutionsfähig zu machen, ist eine Reihe ästhetischer Prozeduren erforderlich.
Es müssen erst Vorstellungen von Einheit und Ganzheit geschaffen werden, über deren Vermittlung die Beteiligten erst rückwirkend zu einem Selbstverhältnis, zu einem Eigenbild finden.“124
Damit „der“ Staat über seine wirkliche, immanente Differenz als Einheit hinaus als Identität
imaginär konstituiert werden kann, um zu einer wirkmächtigen Realität zu werden,125 bedarf es
einer „Reihe ästhetischer Prozeduren eine spezifische Figuration". Dass der Staat eine Fiktion
im Sinne einer Fantasie ist, wollen Koschorke et al. nicht behaupten (sie schreiben, dass der
Staat „existiert“), sondern sie weisen darauf hin, dass der Akt der Staatenbildung ohne die imaginäre Dimension des Politischen nicht denkmöglich ist. Das Politische126 wird in diesem Sinne
als Möglichkeitsdimension politischen Handelns verstanden. In diesem Sinne ist auch die der
Transkription der Vorlesung Foucaults aus dem ursprünglichen Vorlesungsmanuskript angefügte Anmerkung zu verstehen, in der Foucault darauf hinweist, dass das „Wissen was man für
die Politik verlangte“, unabhängig war „von der praktischen Vernunft“; wesentlich „präskriptiv, vom exemplum her artikuliert“, bezog die praktische politische Rationalität ihre „negativen/positiven Ratschläge“.127 Darin ist die Gouvernementalität in grundlegender Weise an die
Auflösung der „Synthese aus Faktum und Norm“128 gebunden.
123
Koschorke 2007, S. 11.
124
Koschorke 2007, S. 11.
125
Hier bleibt jedoch anzumerken, dass die Wandlung der imaginären Dimension des Politischen zu seiner wirkmächtigen
Realität nicht ohne den Begriff der Konvention zu denken ist (vgl. Berger/Luckmann 2000, S. 62 f.).
126
Landwehr mach hinreichend darauf aufmerksam, dass der Begriff des Politischen sich zudem von einem Verständnis von
Politik abzusetzen trachtet, dass Politik im „vorherein mit bestimmten Institutionen und Personengruppen“, d. h. mit einer
politischen Klasse, identifiziert und das Außerpolitische als Konstitutionsbedingung darüber außer Acht lässt. Dabei wird
das Politische nicht als Wesenheit, sondern als „strukturelles Ergebnis von Praktiken verstanden“. Landwehr betont damit
folgende zwei Aspekte: das Politische konstituiere sich durch „1. eine Vielzahl politisch handelnder Akteure, die 2. mit der
Hervorbringung symbolischer Ordnungen zur Organisation des Sozialen beschäftigt sind“ (vgl. Landwehr 2009, S. 89–90).
127
Foucault 2006, S. 397.
128
Vgl. Münkler 1987, S. 136–143.
41
„Die tiefgreifenden Veränderungen in der Organisation des Handels und des sozialen Gefüges
korrespondierten in der Philosophie der Renaissance mit einer schwindenden Überzeugungskraft der teleologischen Naturbetrachtung: Die Natur verlor die ihr in der aristotelischen Ontologie und deren scholastischen Ausformungen zugesprochene immanente Sinnhaftigkeit.“129
Die Verknüpfung von Faktum und Norm, von Faktum und Telos war, wie Münkler zutreffend
darlegt, eine auf die aristotelische Ontologie zurückgehende „Leitidee“ der mittelalterlichen
Gesellschaft, die durch die allmähliche Veränderung der Sozialstruktur, besonders durch den
Merkantilismus, ihre Plausibilität in der frühen Neuzeit verlor. „Die Dissolution der scholastischen Einheit von Faktum und Norm“ ist dabei nicht zu verstehen als „Emanzipation des Faktischen vom Normativen, sondern vielmehr, als Freistellung der Norm von allen Rückbindungen ans Faktum“130. Diese „Freistellung“ ist zugleich eine der wesentlichen Grundpfeiler der
Begründung einer Staatsräson und somit der Entwicklung der „Gouvernementalität“. Denn
dadurch, dass Normen ihre ontologische Faktizität verloren haben, war die Problematik des
Normenkonflikts geboren, die nicht nur die Notwendigkeit einer diese ordnende und verbindlich festlegende Staatsräson initiierte, sondern auch die diskursive Aushandlung von Normen
als Charakteristikum der Entwicklung zur Moderne motivierte. Um die Entwicklung der „Gouvernementalität“, moderner Staatsräson zu begreifen ist es daher wichtig, die für die politische
Theorie der Neuzeit und Moderne grundlegenden Kategorien der „politischen Utopie“ und des
„politischen Realismus“ zu unterscheiden.131 Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass „Gouvernementalität“, moderne Regierung gerade durch eine Aussonderung des utopischen Geistes und
des politischen Utopismus entsteht. Erziehung als Antwort auf das Problem des Regierens und
zugleich als Technik des Regierens findet die pädagogische Aushandlung dadurch letztlich im
Spannungsfeld von „politischem Utopismus“ und „politischem Realismus“. Sowohl die Ausbildung der Gouvernementalität,132 gouvernementaler Regulierung sieht Foucault in besonderer
Weise an die Statsitik als Umgang mit dem „Problems der Bevölkerung“133 gekoppelt. Dieses
bezeichnet die Einsicht, dass es zu einer Führung des Volkes und einer Lenkung des Staates
129
Münkler 1987, S. 136.
130
Münkler 1987, S. 138.
131
Vgl. Münkler 1987, S. 138.
132
In seiner historischen Dimension bezeichnet der Begriff der Gouvernementalität den Prozess der Gründung, Entwicklung
und Entstehung der modernen politischen Rationalität und dessen Regulierungspraktiken, so spricht Foucault auch von der
„Geschichte der Gouvernementalität“. Mehr als ein Leitbegriff, Forschungsprogramm und Analyse-instrument bezeichnet
Gouvernementalität demnach auch die historische Entwicklung und Wandlungen der für die moderne Staatlichkeit konstitutiven praxeologischen Konstellationen nachmittelalterlicher, moderner Führungs- und Selbstführungstechniken. Die
Gouvernementalitätsforschung, d. h. durch die Analyse der spezifisch modernen Techniken der Regierung, lässt so „jenseits
von Repräsentationsthematik und Repressionshypothese“ (Lemke 2008, S. 43–46.) verstehen worin die Bedingungen und
Möglichkeiten moderner Bildungspolitik liegen.
133
Vgl. Foucault 2005, S. 166.
42
und der Bewältigung der neuen politischen Ziele einer genaueren politischen Vorstellungskraft,
eines präziseren Wissens über die „Tiefen“, die „Feinheiten“ und „Details“ der Bevölkerung
bedarf. Denn nur, wenn diese Faktoren bekannt sind, lassen sich Techniken der Regierung als
Techniken der „Führung“ – wie auch der Erziehung – in ihrer Effektivität und Durchsetzungskraft verbessern. Der spezifisch moderne Umgang mit der Problematik der Bevölkerung und so
eine für die Gouvernementalität konstituitive Technik ist die Statistik.
Eine Definition der Statistik finden wir in seiner posthum veröffentlichten Vorlesung Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I :
„Statistik ist etymologisch die Kenntnis des Staates, die Kenntnis der Kräfte und Ressourcen,
die einen Staat in einem gegebenen Moment charakterisieren. Zum Beispiel: Kenntnis der Bevölkerung, Messung ihrer Quantität, Messung ihrer Moralität, ihrer Natalität usw., Schätzung
der verschiedenen Kategorien von Individuen in einem Staat und ihres Reichtums, Schätzung
der virtuellen Reichtümer, über die ein Staat verfügt [...] es sind all diese Gegebenheiten und
wohl noch weitere, die nun den wesentlichen Inhalt des Wissens des Souveräns ausmachen
werden. Also nicht mehr der Korpus der Gesetze oder die Geschicklichkeit, sie dann wenn es
sein muß, anzuwenden, sondern das Ensemble technischer Kenntnisse charakterisieren die Realität des Staates.“134
Wie aus dem Zitat deutlich wird versteht Foucault die Statistik nicht nur als eine Technik zur
Erhebung von Wahrscheinlichkeiten über den Staat als Grundlage politischer Entscheidungskraft versteht, sondern auch als Technik, durch die sich gewissermaßen die Realität des Staates,
das Bild der darin lebenden Menschen und anderer politischer Elemente selbst konstituiert.
Über die Definition der Statistik hinaus, die Foucault kurz in seiner Vorlesung gibt, erfahren
wir nur sehr wenig über Bedingungsmöglichkeiten, die Entwicklung und die Praxeologie der
Statistik. Foucault legt dar, dass die Entwicklung der Statistik zahlreiche technische Schwierigkeiten mit sich führte und nur dort angewendet wurde:
„[...] wo die Situation günstig war, wie zum Beispiel in dem von England besetzten Irland, wo
Möglichkeit, genau zu wissen, was es gab, welche Ressourcen es gab, durch die Kleinheit des
Landes und die militärische Besatzung, die stattgefunden hatte, gegeben war.“135
Wie uns der Herausgeber der Vorlesung Foucaults in einer Anmerkung kenntlich macht, spielt
Foucault hier auf die Arbeiten William Pettys und die durch ihn im 17. Jahrhundert entwickelte
politische Arithmetik an.136 In einem kurzen Absatz erfahren wir von Landwehr, dass durch
134
Foucault 2006, S. 396.
135
Vgl. Foucault 2006, S. 396.
136
Vgl. Foucault 2006, S. 412.
43
Pettys politische Arithmetik zum ersten Mal die Bevölkerung in statistischer Weise erfasst und
als „ökonomische Größe“ verstanden wurde.137 In Foucaults Sinne betont Landwehr, dass „die
politische Arithmetik diese Ordnung des Sozialen überhaupt erst [erschuf], indem es sie beschrieb“138.
Erst mit dem Aufkommen des „Problems der Bevölkerung“ in der „Statistik“ als konstitutive
Technik einer gouvernementalen Vorstellungs- und Urteilskraft kam es zu einer Wendung von
der neuzeitlichen Politik der Erziehung, die ihre Bestimmung durch die Haushaltsökonomie
und Souveränität erfährt, zu einer modernen Politik der Erziehung, die ihre Bestimmung durch
die politische Ökonomie und Regierung erhält. Erst durch die Orientierung und Organisation
der Erziehung an der politischen Ökonomie und durch ein Modell einer Wissenschaft und Technik der Vorstellung der politischen Ökonomie ist einer regierungsgeleitete Institutionalisierung
der Erziehung denkbar. Die Ökonomisierung der Erziehung ist von daher als eine Koppelung
der Erziehungsziele an die Regierungsziele mittels des von der Statistik ausgerichteten Urteilsvermögens des Regierens. Erst durch die durch die Statistik eingeführte Vorstellungskraft und
das Urteilsvermögen kann ein staatlicher, „gouvernementaler“ Vorrang im Entwicklungsprozess der Erziehung dominieren. Mit der Statistik wird die Praxeologie benannt, durch die sich
dasjenige in zweifacher Weise konstituiert, was wir als „politischen Realismus“ oder „administrativen bzw. institutionellen Realismus“ verstehen und eine Regulierung des Gemeinwesens
z. B. der Erziehung, in großem Maße ermöglicht. Denn am Leitfaden der Statistik konstituiert
sich die imaginäre Dimension der Politik, welche als Entscheidungsgrundlage und Regulativ
der praktischen politischen Urteilskraft funktioniert. Dass Letzteres überhaupt denkbar wurde
und die Statistik als Regulativ und Entscheidungsgrundlage eine immer bedeutendere Rolle
spielte, ist in Zeiten des starken kirchlichen Einflusses ist über die Erziehung durch die Konjunktur des Probabilismus im 16. und 17. Jahrhundert zu verstehen – der von Bartolomé von
Medina 1577 verbreiteten These des minus probabilismus, nach dem das moralische Handeln,
das vor Alternativen steht, auch dann vernünftig ist, wenn es nicht der wahrscheinlicheren Alternative folgt.139 Demnach ist denkmöglich, dass derjenige moralisch handelt, der sich nicht
nur an der etablierten Rationalität orientiert. Wichtig ist an dieser Einsicht, dass durch sie ein
Wandel von der streng disjunktiven epistemischen Dichotomie von episteme und doxa zu einer
137
Vgl. Landwehr 2009, S. 92 f..
138
Landwehr 2009, S. 93.
139
Vgl. Nelson 1986, S. 167.
44
epistemischen Trichomie oder epistemisch homogenen Stufenleiter erfolgt. 140 Neben der apodiktischen Gewissheit und bloßen Meinung ist dem Probabilismus zufolge auch eine auf Wahrscheinlichkeit basierende Praxis als eine vernünftige Praxis denkmöglich. Diese Einsicht ist in
zweifacher Weise bedeutsam. Erstens dadurch, dass sie eine praktische politische Rationalität
in Aussicht stellt, die unabhängig von „Wahrscheinlichem“, d. h. von etablierten Rationalitätstypen und Normen, handelt. Zweitens dadurch, dass der Begriff der Wahrscheinlichkeit als
Handlungsregulativ gegenüber bestehenden Unsicherheiten (der Welt) an zunehmender Bedeutung in der frühen Neuzeit gewinnt.
Besonders interessant ist in dieser Hinsicht noch, dass Bartolomé von Medina, der der Schule
von Salamanca zugerechnet wird, seine Theorie in einem Umfeld entwirft, das, beauftragt von
Händlern aus Antwerpen, um die Lösung moralischer Probleme in Bezug auf die Ökonomie,
das Privateigentum, den Handel, das Geld als auch in Bezug auf Zinsfragen bemüht war. Vor
diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass der mit der Lehre der opinio minus probabilis beginnende Wandel der Rechtfertigungsstrukturen und -grundlagen praktischer Rationalität im Rahmen und Interesse des Merkantilismus zu verorten ist: sie öffnet zumindest der Statistik und
damit der Entwicklung der Wissenschaft der politischen Ökonomie als eine Leitfigur politischer
Rationalität Tür und Tor. Allererst durch die Wahrscheinlichkeit als Handlungsregulativ ist die
Statistik als Technik des Regierens denkbar – auch trotz des starken kirchlichen Einflusses.
Insgesamt wird so deutlich, dass Erziehung Ansatzpunkt zur Lösung der politischen Probleme
der Festigung der innerstaatlichen Ordnung und des Friedens, der Entwicklung und Verbesserung der Produktionsverhältnisse und schließlich auch der Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Neuzeit erkannt wird. Eine universallstaatliche Bildungspolitik als Umgang mit der
Herausforderung dieser Probleme findet in der Neuzeit keine Lösung. Erst mit der Kopplung
der Regierung und der Statistik, erst durch die Statistik als Leitfaden bildungspolitischer Regulierung kann man von einer modernen gouvernementalität Sprechen. In dieser Kopplung von
politischer Ökonomie und Regierung wird die bis heute maßgebliche Relation von ökonomischer Rationalität und Bildungspolitik verständlich. Durch die Statistik konstituiert sich das
Bild des Menschen und das Bild der Staates und seiner Elemente, worauf die politische Entscheidungsfindung basiert und Gouvernementalität hervorgeht. Fraglich bliebt dabei jedoch,
was genau den Begriff der Statistik ausmacht: Worin liegt die Eigenart des statistischen Geschicks? Wodruch entwickelt sich der Geltungsanspruch der Statistik, dass sie zu einem grund-
140
Vgl. Dannenberg/Spoerhase/Werle 2009.
45
sätzlichen Standbein moderner, politischer Regulierungstechniken wird? Worin liegen die damit verbundenen Probleme, dass es darüber hinaus eines pädagogischen, spekulativen Bildungsbegriffes bedurfte?
2. Explikation des Verhältnisses ökonomischer Rationalität und Gouvernementalität am Begriff der Sozigrafie
Im vorherigen Kapitel wurde die Problemkonstellation moderner Bildungspolitik als auch ihre
Kriterien, wie sie auch für die Moderne bestimmend ist, skizziert. So wurde deutlich, dass auf
Grund innergesellschaftlicher Krisen und zunehmender Pluralisierung die Frage und der Anspruch nach einer staatlichen Regulation politischer und sittlicher Ordnung durch Erziehung
aufkommen. Versuche einer großen, staatlich regulierten Didaktik und einer umfassenden Einrichtung der Schule als Institution zur Führung der Bevölkerung finden bis 1800 nur wenig
Anerkennung. Durch die gesellschaftlichen Schichten hinweg bleibt zumeist die häusliche Ökonomie maßgebend für die Bestimmung der Erziehungsziele. Die Problematik der Bevölkerung
und eine allgemeine Lösungsstrategie zur staatlichen Einflussnahme und Regulierung politischer und sittlicher Ordnung, auch in Hinblick auf die Umsetzung marktwirtschaftlicher Ziele,
findet erst eine Antwort durch die Entstehung der Statistik. Im Rahmen der Gouvernementalitäts-Forschung ist die Statistik als eine Praxis und Technik zu verstehen, durch die sich politische Macht und Herrschaft entfalten und Form annehmen. Um die Statistik als Technik der
Regulierung der Bildungspolitik zu verstehen, müssen wir die ihr zugrunde liegende Praxeologie in den Blick bekommen. Der für die Ausbildung gouvernementaler Regulierung der Bildungspolitik grundlegende politische Realismus kann erst durch die Analyse der Praxeologie
der Soziografie in den Blick kommen. Dabei ist die Soziografie als Form des Umgangs mit der
Fragwürdigkeit von Politik zu erörtern.
Im Folgenden soll untersucht werden, in welcher Weise sich im Rahmen der Entwicklung der
Soziografie (zur Statistik) die Möglichkeitsbedingungen gouvernementaler Rationalität und so
politischer Urteils- und Entscheidungsfindung zur Regulierung der Erziehung entwickeln, welche maßgeblich für die Gestaltung moderner Bildungspolitik sind. Ermittelt wird in dem folgenden Abschnitt, durch welche Techniken sich eine Vorstellung von den Elementen von Politik entwickelt als Möglichkeitsbedingung der Ausbildung gouvernementaler Strategien. Darin
liegt die Präsupposition, dass die in den soziografischen Techniken synthetisch konstituierte
46
Einbildungskraft zugleich die Grundlage politischer Rationalität und des politischen Realismus
ausmacht. Anders gewendet sei damit gesagt, dass es für ein Verständnis politischer Rationalität und Gouvernementalität in der Moderne grundlegend ist, die ihr zugrunde liegenden wissenschaftlichen, symboltechnischen Verfahren in den Blick zu bekommen, da sie maßgeblich
die Entscheidungsfindung und Führungstechniken beeinflussen. Insgesamt wird im Folgenden
gezeigt, dass das Verhältnis und die Bedeutung ökonomischer Ratinoalität für die moderne Bildungspolitik sich durch die Soziografie als Konstituens sozialer und politischer Vorstellungskraft ohne die eine politische Regulierung nicht denkmöglich wäre.
2.1 Die Phänomenotechnik der Soziografie als grundlegender Orientierungsrahmen moderner Bildungspolitik
Die Entwicklung des soziografischen Umgangs mit der Fragwürdigkeit von Politik wollen wir
in Zusammenhang mit einer Kulturgeschichte des Politischen verstehen, d. h. einer Untersuchung der kulturgeschichtlichen, medial erschlossenen Möglichkeiten des Denkens des Politischen.141 Wie Stollenberg-Rilliger darlegt, liegt die Schnittmenge der Ansätze zur Kulturgeschichte des Politischen darin,
„daß sie von einem weiten sozialanthropologischen Kulturbegriff ausgehen, wonach Kultur
über die fundamentale Fähigkeit des Menschen zur Symbolerzeugung definiert wird und die
Gesamtheit der symbolischen Hervorbringung – von der Sprache über die Institutionen und
Alltagspraktiken bis zur Wissenschaft – umfaßt“142.
Die Erkenntnis der Rolle der Soziografie ist für die Kulturgeschichte des Politischen und darüber hinaus für unser Anliegen einer Rekonstruktion politischer Rationalität von großer Bedeutung, da dadurch die praxeologische Gründung des Politischen im Rahmen der Entwicklung
der „Gouvernementalität“ in ihrer symbolischen, institutionellen und alltagspraktischen Dimension verstanden werden kann.
141
Der Vorteil einer Kulturgeschichte liegt darin, die
„Mikro- und Makrohistorie zu integrieren, zwischen Struktur und Semantik zu vermitteln, anstatt polarisierender Gegenüberstellung dialektische Wechselwirkung zu rekonstruieren“ (vgl. Stollberg-Rilinger 2005, S. 21).
142
Vgl. Stollberg-Rilinger 2005, S. 10.
47
Der Begriff der Soziografie143 eignet er sich sehr gut dafür, die praxeologische Gründung des
Politischen zu benennen, da der der Sache nach auf den für das Imaginäre des Politischen und
Sozialen konstitutive Moment die Grafie (von altgr. γραφή, Zeichnen, Malen, Malerei, Stickerei, Zeichnung, Umriss, Gemälde, Schrift, Brief, Dokument; γραφείν, in Wachs einritzen, in
Stein einhauen, schreiben, Malen) begrifflich zur Geltung bringt. Dadurch wird angezeigt, dass
die Realität von Politik und des Sozialen – unabhängig von seiner Wirklichkeit – immer auch
von den symboltechnischen und -methodischen, d. h. der praxeologischen Vermittlung seine
Gründung erfährt.
Der Begriff der Soziografie taucht in zwei Kontexten auf. Zum einen benennt der Begriff eine
Forschungsmethodik bzw. Repräsentationspragmatik der Forschung innerhalb der Soziologie
und zum anderen innerhalb von sozio-politischen Pragmatiken.144 Steinfeld definiert die Soziografie allgemein als „die Beschreibung mit allen Mitteln von allen Verhältnissen und Zuständen eines Volkes zu einer bestimmten Zeit“145. Damit weist er nicht nur auf die generelle Zeitgebundenheit der soziografischen Beschreibung selbst hin, sondern auch darauf, dass die Soziografie als Praxeologie zu verstehen ist, die als Praktik des „Schreibens“ und Beschreibens (im
Sinne des „graphein“, s. o.) an verschiedene Medien gebunden ist bzw. sich in verschiedenen
Medien figuriert, um soziale Verhältnisse und Zustände darzustellen. Generell gesprochen liegt
damit die Funktion der Soziografie in der Herstellung von Übersichtlichkeit (d. h. Objektivität
des sozialen Geschehens) und Situationswissen (d. h. Zustandswissen über das Soziale).
Generell gesprochen liegt damit die Funktion der Soziografie in der Herstellung146 von Übersichtlichkeit (d. h. Objektivität des sozialen Geschehens) und Situationswissen (d. h. Zustands-
143
Wir unterscheiden im Folgenden Soziografie als Gattungsbegriff einer Technik und Soziografie als spezifische Figuration
dieser Technik.
144
Vgl. Zeisel 1975, S. 113–142; Utermann 1969, S. 1063–1067.
Der Begriff der Soziografie ist heute weitgehend von dem Begriff der empirischen Sozialforschung verdrängt worden, ist
aber in keinem Fall mit diesem gleichzusetzen. Vielmehr ist die Soziografie näher an der Ethnografie, Kulturgeografie und
Humangeografie anzusiedeln. Obwohl es aber Versuche gab, die Soziografie in die Disziplinen der Sozialwissenschaften
einzureihen, haben diese sich nicht durchgesetzt. Es lässt sich deshalb nicht von der Soziografie als Lehre oder Disziplin
im strengen Sinne des Wortes sprechen.
145
Steinmetz GSES, 1935, Bd. 3, S. 97.
146
Die Ausstellung Der soziographische Blick thematisiert, dass die Spezifizität des soziografischen Blicks darin liegt, das
Soziale und letztlich das Politische nicht nur zu erfassen und abzubilden, sondern es darin ins Werk zu setzen. Die Setzung
– der Prozess des Setzens – ist dabei als Geschick verständlich: das Geschick des Grapheins. Das Geschick der Setzung als
Position, Exposition, Disposition osziliert – wie der Begriff des graphein kenntlich machen sollte – zwischen Schrift, Bild,
Zeichnung, Ritzung/Einschreibung und Aufschreibung/-zeichnung. Das erwähnte Spannungsfeld und die Differenz von
Wirklichkeit und Realität der Politik / des Politschen liegen darin begründet, dass die Soziografie als visuelle und abstraktgrafische Reflexion immer schon den individuellen Erfahrungsraum symboltechnisch überschreitet. Nur auch deshalb ist
es sinnvoll, von der imaginären Dimension des Politischen als „Ausser-Sich-Sein“ (Doll/Kohns 2014, S. 7–18.) zu sprechen. Die imaginäre Dimension von Politik, sofern durch die Praxeologie der Soziografie konstituiert, bildet dabei nicht
das Phantasma des Politischen aus, sondern begründet das, was wir zuvor als politischen Realismus benannt hatten.
48
wissen über das Soziale und Politische), durch die sich politische Urteils- und Entscheidungskraft ausbilden und orientieren. Soziografie ist als Praxis mathematischer Orientierungs zu verstehen. Nach der vorangegangenen allgemeinen Klärung des Begriffs der Soziografie wird nun
im Folgenden zu untersuchen sein, in welcher geschichtlichen Konstellation sich die Soziografie als Umgang mit den Herausforderungen von Politik entfaltet. Durch die Klärung dieser
Frage bestimmen sich die Möglichkeiten und Grenzen des politischen Realismus als Grundlage
gouvernementaler Regulierung der Bildungspolitik. Zunächst wäre dabei fraglich, in welchem
Problemzusammenhang sich die Soziografie entwickelt.
2.2 Funktion und Bedeutung der Soziografie als Grundlage Ökonometrie
Das Schlüsselmoment für ein Verständnis der Bedeutung der Soziografie verortet Zeisel in dem
Niedergang des mittelalterlichen Ordo-Denkens und der dadurch fest verfugten Sozialstruktur
durch Entstehung einer kapitalistischen Verkehrswirtschaft: „Die Ruhe der feudalen Unterordnung weicht der Unsicherheit der bürgerlichen Freiheit.“147 In Zusammenhang mit der „Deterritorialisierung“ der mittelalterlichen Ordnung und Territorialität ist die Soziografie als Praxeologie bzw. Repräsentationspragmatik eines aufkommenden Raumkonzepts zu verstehen, als
neue Verortungslogik bzw. Topologie des Menschen und so als Koordinatensystem in dem sich
das Bild des Menschen als homo oeconomicus objektiviert. Dabei kann man nicht von einer
Ersetzung und Auslöschung der einen Ordnungskonstellation durch eine andere sprechen, sondern es gilt, was Laruelle sagt:
“One constellation does not dispel another, it installs itself in the gaps of the former, occupies
its neighborhoods and proposes new signs, a new economy of the same place.”148
In diesem Sinne ist Deterritorialisierung der mittelalterlichen Ordnung aus der Resonanz zweier
Faktoren zu verstehen: einer neuen politischen Ökonomie und einer neuen Ökonomie des Zeichens. Beide Ökonomien bilden sich in den “Fugen“ des Spätmittelalters aus, um von dort aus
jenes aus den Fugen zu bringen. So trägt die Resonanz beider Faktoren zu einer neuen Ökonomie desselben Ortes bei. Als wesentlicher Unterschied zum mittelalterlichen Territorium kann
gelten, dass das neuzeitliche Territorium nicht mehr (nur) von der göttlichen Ordnung (Ordo)
147
Zeisel 1975, S. 113.
148
Laruelle 2010, S. 1.
49
begrenzt wird, sondern stetig durch die kapitalistische Verkehrswirtschaft und den Merkantilismus neu umgrenzt wird. Das neuzeitliche Territorium wird geordnet durch die Geschwindigkeit, Rhythmik, Taktizität und Metrik, d. h. der Temporalität der kapitalistischen Verkehrswirtschaft und den davon ausgehenden sozialen Entwicklungen. Die Notwendigkeit der Skriptur
der geografischen Welt und des „Überblicks“ ist somit aus dem Wegfall der präskriptiven Ordnung zu verstehen. Zugleich ist die frühneuzeitliche Reflexionsstruktur verstanden als „kartografische Imagination“ immer ein Postskriptum eines immer schon verlorenen „état perdu“ oder
„territoir perdu“.149
Das „stay at-home age“150 des Mittelalters gerät durch den Aufbruch aus den Fugen im doppelten Sinne: als Aufbruch durch ein neues Reise- und Verkehrswesen und als Aufbruch bisheriger
topologischer Grenzen. Damit werden Ordnungs- und Ortungsprinzipien zur Disposition gestellt, neu konstituiert und kommuniziert. Der Topos der „Entdeckung der Neuen Welt“ muss
demnach sowohl auf die Entdeckung unbekannter Territorien bezogen werden als auch auf die
Revaluierung und Exploration des vormals eigenen Territoriums. Diese Revaluierung151 beschreibt Smith als eine Wandlung oder Umschrift („Re-Writing of the World“) des Kulturraumes von einem allegorischen Raum zu einer geografischen Welt, in deren Zusammenhang sich
„kartografische Imagination“ ausbildet.152
Auch wenn nach Mercator die „Absicht der gesamten Weltbeschreibung“, der Kosmografie
darin liege, dass die „wunderbaren Dinge auf das eine Ziel Gottes hin und aus der unerforschlichen Vorausschau im Aufbau die unendliche Weisheit Gottes und seine unendliche Güte begriffen werden können, damit wir zu seiner verehrungswürdigen Majestät seiner anbetungswürdigen, hochzuschätzenden und reichen Güte auf ewig erhoben […] werden“153, so entsteht mit
der Kosmografie eine neue Vorstellungskraft, die die Welt in neuen Weisen vorstellen lässt.
Trotz christologischer Ausrichtung seiner Kosmografie steht Mercators Werk vornehmlich für
eine naturwissenschaftliche Ausrichtung der Kosmografie. Gerade auch deshalb musste er sich,
wie auch andere Kosmografen der frühen Neuzeit, vor den Vorwürfen der Inquisition verteidigen. Die Entstehung säkularer Weltkarten findet jedoch schon seit dem späten 15. Jahrhundert
149
Die Temporalität des Schreibens wandelt sich damit von der mittelalterlichen Vorschrift göttlicher Ordnung zur frühneuzeitlichen Nachschrift des Empirischen.
150
Vgl. Campell 1988, S. 9.
151
Was an Smiths These besonders interessant ist, ist, dass Smith einen neuen Typus des Sehens und der kartografischen
Einbildungskraft durch den kartografischen Schrifttypus in Verbindung bringt, der die Welt grundsätzlich umschreibt („ReWritings of the world“). Smiths These ist als Gegenposition zu der These zu verstehen, dass die Kartografie als Medium
des „Re-Writings of the world“ aus einem neuen Sehen entstanden ist (vgl. Smith 2008, S. 70).
152
Vgl. Smith 2008, S. 67 f.
153
Mercator 1994, S. 1.
50
einen Aufschwung, angetrieben durch die Wiederentdeckung und das Studium antiker Schriften.154
Obwohl die Kosmografie und die damit verbundenen Elemente eine eigentlich experimentelle
Wissenschaft waren, sind die Galleria delle Carte geografiche und die Terza Loggia im Vatikan,
die Salla del Mappamondo in Pallazzo Publico in Siena oder die Stanza delle Mappe Geografiche im florentinischen Pallazzo Vecchio frühe Beispiele dafür, dass die Obrigkeit den machtstrategischen Wert der Karten und ihre machtrepräsentative Bedeutung sehr schnell für sich in
Anspruch zu nehmen versuchte.155 Es kann sicherlich vermutet werden, dass der machtrepräsentative und -strategische Wert in der statischen, schematischen Darstellung des Territoriums
liegt, die den Betrachter zum Preis der Dynamik, Komplexität und Eigenart eines Territoriums
in eine dem Territorium übergeordnete Perspektive bringt. So verführen sie die Einbildungskraft der Betrachter zur Illusion der Handhabbarkeit der Welt und motivieren so einen neuen
Typen spekulativer Orientierung.
Das kartografische Vor-Stellen trägt nicht zuletzt dadurch zu neuen Machtvorstellungen bei,
dass es eine Haptik und Taktilität der Welt erzeugt, die vormals überkomplexe Zusammenhänge
durch Schriften, Globen und andere Gegenstände greifbar und dadurch prinzipiell be- und ergreifbar werden lässt. Gebaude und Maleval machen darüber hinaus darauf aufmerksam, dass
die Eigenschaft daher stammt, dass
„der gemeine Verstand [...] an die Isomorphie von Darstellung und Dargestelltem [glaubt,
M. B.], doch ist die Karte nicht das Territorium, oder sie wird erst performativ zum Territorium,
insofern sie realen und imaginären Raum produziert: Karten sind Bilder, die Welten schaffen.“156
Anzumerken ist gerade auch, dass Karten das Imaginäre des Politischen schaffen. Sie besitzen
eine gewisse Ikonik, der wir mehr Natürlichkeit zusprechen als dem Wort – darin liegt ihre
unglaubliche „Wirk-lichkeit“ in Zusammenhang mit dem Politischen.
Die kartografische Imagination entwickelt sich durch Figurationen und durch „symbol-technische Mischformen“, wie Krämer darlegt, die sich durch die Resonanz und Überscheindung ver-
154
Vgl. Barber/Harper 2010, S. 14.
155
In Betrachtung dieser ersten Beispiele einer „propagandistischen“ Verwendung von Karten kann vermutet werden, dass –
über den Ort hinaus – gerade die Monumentalität der Darstellung dieser Karten dazu beiträgt, diese nicht als künstlerischfiktive Versuche einer Rekonstruktion zu verstehen, sondern als reale Darstellungen des Territoriums. Man muss bedenken,
dass des damals keinen Vergleich gab, wie etwa Satellitenbilder, die die Exaktheit und die Korrektheit der Darstellungen
überprüfen ließen.
156
Gebaude/Maleval 2013, S. 135 f.
51
schiedener Instrumentarien, Medien, Techniken und Praktiken der Repräsentation konstituieren. Sie ist nicht trennscharf mit einer Disziplin oder Medialität zu identifizieren oder diesen
zuzuordnen, sondern steht vielmehr im Rahmen einer sich entfaltenden allgemeinen Kuriosität
und Entdeckungslust. Institutionalisierte wissenschaftliche Disziplinen bilden sich erst spät aus,
nachdem das ursprüngliche Staunen, Schauen und Wissen, d. h. die Kuriosität gegenüber dem
Theatrum Mundi der frühen Neuzeit, hinter sich gelassen wurde.157 Die repräsentationspragmatischen oder „symboltechnischen Mischformen“, die dieses Staunen, Schauen hervorgebracht haben, macht Krämer gerade für „nachhaltige Schübe oder gar ‚Sprünge‘ kultureller Dynamik“ in der frühen Neuzeit verantwortlich.158
Verantwortlich für die Ausbildung der „kartografischen Imagination“ als Dispositiv der Vorstellungskraft sind nach Bruisseret fünf Faktoren:159
1. Die Wiederentdeckung und Verbreitung des Werkes des Ptolemäus auf Grundlage der
Entwicklungen in Holzschnitt, Kupferstich und Buchdruck.
2. Die wachsende Bedeutung von Quantifikation und Messtechnik und dem damit zusammenhängenden Interesse am menschlichen Körper und der geografischen Landschaft
der natürlichen Welt.
3. Der Realismus in der nordeuropäischen Kunst sowie die Entwicklung des perspektivischen Sehens.
4. Das Aufkommen des Konzeptes von Privatbesitz und das damit in Verbindung stehende
Interesse an der (kartografischen, administrativen) Abgrenzung.
5. Der Aufbau von Nationen, der dazu führt, dass Administratoren und Staatsbedienstete
auf Karten zur Definition von Grenzen und auf die Erfindung von Verteidigungssystemen zurückgreifen.
Damit zeigt sich, dass die Ausbildung der „kartografischen Imagination“ in Zusammenhang
mit materialistischer und praxeologischer Metamorphose steht und nicht aus sich selbst oder
einem Mangel motiviert ist. Vielmehr ist es das Aufkommen von materiellen Faktoren, die neue
Fluchtlinien der Praxis schaffen. In diesem Sinne vollzieht sich die Ausbildung der „kartografischen Imagination“ zwar besonders in Figurationen der Karte, ist jedoch nicht mit dem Medium Landkarte gleichzusetzen. Dass sich die „kartografische Imagination“ in Texten, Bildern
und andern Medien ausbildet, haben u. a. die Arbeiten von Conley, Smith und Turchi gezeigt.160
157
Harries argumentiert, dass diese Kuriosität am deutlichsten in den Wunderkammern der Neuzeit zum Ausdruck kommt. In
diesen ist von einer kindischen Lust der Entdeckung zu sprechen, ganz im Gegensatz zum Begriff der nüchternen Wissenschaft der Moderne. Harries versucht dies gerade über den Begriff der Aura zu zeigen, mit dem das Weltbild der Neuzeit
untrennbar verbunden war (vgl. Harries 2003, Bd.1, S. 521–540).
158
Vgl. Krämer 2006, Bd. 2, S. 503.
159
Vgl. Buisseret 1992, S. 1 f.
160
Vgl. Colney 1997; Turchi 2004; Smith 2008.
52
So kann man die Karte nicht primär als Orientierungsmittel und Instrument nach heutigem
Standard verstehen, denn der durch das kapitalistische Verkehrswesen stattfindende Aufbruch
findet nur sehr allmählich statt und war alles andere als ein Massenphänomen.161 Wie Behringer
schildert, ist die Ausbildung der Land-Karte als Orientierungsmittel ein langwieriger Prozess
zwischen 1500 und 1800.162 Obwohl Straßenkarten, wie die Gough Map (etwa 1355–1366)
schon im 14. Jahrhundert existierten, löst die Landkarte erstmals mit der „Erfindung“ des Straßenatlas im späten 16. Jahrhundert die Abhängigkeit von mündlichen und schriftlich verfassten
Wegbeschreibungen ab.163 Auch wenn Karten wie Waghenaers Spieghel der zeevaerdt (um
1584) und die Erfindung der Mercatorprojektion (um 1569) die Produktion von nautischen Karten antrieben, waren diese, wie auch andere von Ptolemäus inspirierte topografische oder hydrografische Unternehmen, von keinem großen Wert für die Landreise. Erst seit dem Aufkommen von Postkurskarten Anfang des 17. Jahrhunderts und von Entfernungstabellen kann man
von zuverlässigen Orientierungsmitteln für die Landreise sprechen. 164 (Ganz unabhängig davon, dass ein ausgebautes Straßennetz zur Reise von großer Bedeutung war, da sich die Wege
nur wiederfinden ließen, wenn die Wege in Stand gehalten wurden.) Von einem darüber hinaus
weit verbreiteten Einbezug von Karten in verschiedenen Tätigkeits- und Arbeitsfeldern kann
auch erst im 17. Jahrhundert gesprochen werden.165 Die Karte muss vielmehr in Zusammenhang mit dem Aufkommen eines neuen Typus des Sehens verstanden werden, der sich nicht
auf das Sehen selbst reduzieren lässt, sondern in seiner Konstitution untrennbar mit seinen Figurationen verwoben ist.
Die Ausbildung der kartografischen Imagination bezieht sich demnach nicht auf die Entdeckung eines Instruments zur Orientierung bei der Reise und ist kein Instrument des „mental
mapping“, sondern verweist auf einen tiefer liegenden praxeologisch motivierten Wandel in der
(materialen) Repräsentationspragmatik und damit des Raumbezuges. Waldenfels schildert diesen Wandel wie folgt:
„Mit der Entzauberung des Kosmos und seiner Reduktion auf eine berechenbare und beherrschbare Naturwelt tritt an die Stelle des kosmischen und sozialen Topos das leere Raumschema
des spatium. Es entsteht ein homogener und isotroper Raum, in dem die Dinge eine bestimmte
Ausdehnung haben, bestimmte Abstände einhalten und sich in bestimmte Richtungen bewegen.
Doch nichts [...] hat einen eigenen Ort [...]. [...] Der alte Holismus eines umgreifenden Weltalls
161
Vgl. Delano-Smith/Kain 1999, S. 142.
162
Vgl. Behringer 2006, S. 77.
163
Vgl. Delano-Smith/Kain 1999, S. 159.
164
Vgl. Behringer 2006, S. 82 ff.
165
Vgl. Colney 1997, S. 1.
53
weicht einem Dualismus von physischer Außenwelt und psychischer Innenwelt, von äußerem
Raumsinn und innerem Zeitsinn.“166
Der Wegfall der präskriptiven Zuordnungslogik der Körper im Raum erschafft zugleich das
Dispositiv des spatiums als theatrums: der Raum wird zur Bühne der Körperbewegung und
Relationen. Das Konzept eines leeren Raumes entsteht, dessen Maßstab das cartesische Koordinationssystem ist und durch das jeder Körper durch die Kartierung mittels X- und Y-Achsen
einen geometrisch fassbaren Ort bzw. Raumpunkt und mit der Entdeckung der analytischen
Geometrie auch algebraisch kalkulierbare Funktion erhält.167 Erst dadurch ist erklärbar, dass
die phänomenale Welt als Formel erklärt werden kann, d. h., eine Formalisierung erfährt, und
sich als Dimension der politischen Ökonomie als grundlegender Faktor in der politischen Urteilsfindung ausbilden kann.
Die „kartografische Imagination“ als dieses Bezugsmoment auf das „leere Raumschema des
spatium“ und des Theatrum Mundi, ein Begriff der sich besonders großer Konjunktur im 16.
und 17. Jahrhundert in den Bereichen der Medizin, Naturforschung und Kunstsammlung erfreut,168 erfährt erstmals seine methodische Ausbildung als „Topologie“169 im 17. Jahrhundert.
Ausdruck dieser methodischen Ausbildung sind Leibniz’ Überlegungen zu einer „Analysis situs“, „Geometria situs“, „Calculus situs“, „nouvelle characteristique“ oder „analyse
géométrique“.170 Da die Texte jedoch im 18. und 19. Jahrhundert publiziert worden sind, kann
man nicht sagen, dass sie die Raumwissenschaft im 17. Jahrhundert geprägt haben. Vielmehr
sind sie Ausdruck der Bemühungen einer methodisch-wissenschaftlichen Grundlegung einer
Analytik auf mathematischer Grundlage (Geometrie und Algebra)171 des spatiums und schließlich der räumlichen Beziehungen und Lagen von Körpern, so der mathematischen Orientierung.
In Zusammenhang mit dem bisher Erörterten liegt es nahe, die Reflexionen zur methodischen
Grundlegung des Raumbezuges als Versuch einer Neubestimmung nicht nur des „situs“ und
der Position des Menschen im Theatrum Mundi zu sehen, die durch den Wegfall des OrdoDenkens zu Disposition gestellt wurde, sondern auch als Mittel zum Verständnis seiner Situation. Beide Begriffe „situs“ und „Situation“ (im doppelten Sinne als Lage, Stellung und als
166
Waldenfels 2007, S. 70.
167
Vgl. Pickering 2003, Bd. 1, S. 1.
168
Vgl. Weber 2008, S. 333.
169
Da die Topologie als Disziplinbezeichnung erst im frühen 20. Jahrhundert entsteht, kann der Begriff nur mit Einschränkung
auf die Raumwissenschaft des 17. Jahrhunderts und die „kartografische Imagination“ angewendet werden.
170
Vgl. Heuser 2007, S. 184.
171
Vgl. Heuser 2007, S. 185.
54
Verhältnisse und Umstände) können in diesem Sinne nicht auseinandergehalten werden und
bilden die Grundlage der „kartografischen Imagination“ und der soziografischen Entstehungsmotivation.
2.3 Die Frage der wissenschaftlichen Erfassbarkeit und Quantifizierbarkeit des
Sozialen
Deutlich wurde nun, dass mit der Ausbildung einer „Ontologie des neutralen Raumes“ in der
Neuzeit eine „bestimmte Klasse von ‚modernen‘ Wissenschaften und Ingenieursprojekten“172
in Gang gebracht wurde, darunter auch die Soziografie. Aufbauend auf der Einsicht in die allgemeine geschichtliche Konstellation, aus der die Notwendigkeit des Soziografischen verstanden werden kann, soll im Folgenden geschildert werden, wie sich die Praxeologie der Soziografie in der frühen Neuzeit in spezifischer Weise entfaltet.
Den konkreten Grund für die Ausbildung der Soziografie in England des 17. Jahrhunderts sieht
Mikl-Horke darin, dass England in der staatlichen Zentralisierung im Zeitalter des Merkantilismus führend war. Konkretes Ereignis zur Veranlassung der wohl ersten soziografischen Untersuchung erfolgte nach dem Sieg Cromwells gegen die „aufständischen Iren“ in Zusammenhang
mit der Besiedlung Irlands durch die englischen Truppen. Die primäre Funktion der soziografischen Untersuchung diente der Erfassung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur Irlands
als Grundlage für die englische Siedlungsaktion bzw. Besetzung Irlands. In Zusammenhang mit
der englischen Kolonialpolitik und der Organisationsproblematik der Besiedlung entstand ab
1652173 das sogenannte Down Survey und 1672 The Political Anatomy of Ireland, die jedoch
erst 1691 erschien. Die besondere Innovation William Pettys, des Verfassers bzw. Leiters beider soziografischer Studien, ist die Zusammenführung von Mathematik und „Humanwissenschaft“. So schreibt Petty: „[...] the Mathematical Reasoning is not only applicable to Lines and
Numbers, but affords the best means of judging in all the concerns of humane Life.”174 Als
Richtlinien und Urteilsmaßstab der Soziografie versteht Petty die Mathematik, besonders als
Arithmetik und Geometrie („arithmetic and geometry“)175. Die Grundlegung der Soziografie
172
Pickering 2003, Bd. 1, S. 8.
173
Vgl. Corish 2009, S. 362.
174
Petty zitiert nach Aspromourgos 1996, S. 57.
175
Petty zitiert nach Aspromourgos 1996, S. 57.
55
bzw. der politischen Arithmetik in der Geometrie und Arithmetik schließlich hat die Komplementarität zweier soziografischer Figurationen zur Folge: zum einen die Kartografie und zum
anderen die auf Statistik176 beruhende Deskription. (Dabei ist zu erwähnen, dass Petty als Prinzip der Statistik den Durchschnittswert ansetzte und nach heutigen Maßstäben nicht als Statistiker gelten kann: dies auch, da Petty nicht auf ein Archiv zum Abgleich von Daten rekurrieren
konnte.)
Pettys Werk steht in Zusammenhang mit der Problematik der neuzeitlichen Topologie, markiert
jedoch auch schon den Punkt der Reduktion der Topologie auf Demografie und politische
Arithmetik. Die Soziografie als Herstellung von Überblick und als Kartografie auf Grundlage
einer geometrischen Methode fällt dabei mit Arithmetik und Statistik zusammen. Während sein
Frühwerk deutlich in Zusammenhang mit einer kartografischen Imagination steht, kündigt sich
in seinem Spätwerk durch die Zusammenarbeit mit John Graunt die Ausbildung der politischen
Ökonomie und Arithmetik als numerische Disziplin an. Davenant definiert die politische Arithmetik wie folgt:
„Unter „politischer Arithmetik“ verstehen wird die Kunst des zahlenmäßigen Denkens und Erfassens von Dingen, die mit der Regierung zusammenhängen [...].“177
Auch wenn es zunächst den Anschein hat, verdrängt die „politische Arithmetik“ die Kartografie
als Element der Soziografie nicht grundsätzlich, sondern formalisiert sie durch arithmetische
und algebraische Formeln, ganz im Sinne der analytischen Geometrie. Daher bleibt die Komplementarität von Kartografie und Deskription für die Soziografie grundsätzlich bestehen. Jedoch muss das Aufkommen der politischen Arithmetik als eine mathematische Formalisierung
der „kartografischen Imagination“ verstanden werden, wie im Folgenden auszuführen sein
wird.
Für das Frühwerk Pettys und die erste Figuration der Soziografie ist der Down Survey exemplarisch.178 Dieser erfüllte nicht nur die Aufgabe einer kartografischen und rechtlichen Darstellung zur Bestimmung und Aufteilung des konfiszierten irischen Territoriums, sondern auch
eine „erste große empirische Arbeit zur Einschätzung des Produktionspotenzials einer Ökonomie“179. Dadurch findet eine wesentliche Umwälzung in der Ökonomieliteratur durch einen
176
Marx bezeichnete Petty als „Erfinder der Statistik“ (vgl. Kurz 2008, S. 34.)
177
Davenant zitiert nach Schumpeter 2009, Bd. 1, S. 276.
178
Denn schon der Titel Down Maps bezieht sich auf die Methode des „admeasurment down“ und damit der kartografischen
Wiedergabe („putting down“ – niederlegen, im Sinne von Ausbreiten).
179
Kurz 2008, S. 32.
56
dadurch eingeleiteten Bedeutungsverlust der haushaltsökonomischen Literatur, statt. Seit der
Antike führt Pettys Werk erstmals die makrosoziale bzw. ökonomische Figur der Nationalökonomie als Konzept und Leitmotiv ein in das soziografische Denken und somit in die Praxis
politischer Vernunft. Entscheidend dabei ist die Entstehung einer Konstellation von wissenschaftlicher Methode und politischer Praxis, durch die sich die praktische politische Vernunft
bestimmt. Zwar drückt sich in Pettys Entwurf der Soziografie das kolonialpolitische Begehren
der Briten aus, doch steht sie auch in Zusammenhang mit der von Bacon formulierten Relation
von wissenschaftlicher Erkenntnis und Macht. Und es kann als Novum gelten, dass die politischen Strategeme der Macht nicht mehr nur durch die christliche Ordo fundiert werden, sondern
auch durch die Idee wissenschaftlicher, voraussetzungsfreier Erkenntnis des Empirischen.
Die Soziografie ist schon von Anfang an in Zusammenhang mit einer Naturbetrachtung zu verorten. Pettys Rückgriff auf die Mathematik und die Empirie, die durch den Einfluss Hobbes
und Bacons motiviert ist, erfüllt zunächst die Funktion einer Vermeidung von scholastischen
Wortgefechten:
„Anstatt nur vergleichende und superlative Wörter und intellektuelle Argumente zu verwenden,
habe ich mich dazu entschieden, mich nur mittels von Größen wie Anzahl, Gewicht, oder Maß
auszudrücken (als Objekte der Politischen Arithmetik, die mir seit langem vorschwebt); nur
Argumente der Wahrnehmung zu verwenden und nur solche Bestimmungsgründe zu betrachten, die sichtbare Grundlagen in der Natur haben; und dagegen solche, die von den schnell
wechselnden Gemütslagen, Meinungen und Vorlieben und Leidenschaften der Menschen abhängen der Betrachtung durch andere zu überlassen.“180
Die im Zitat gemachten Punkte deuten auf Bacons vier zentralen Leitlinien zur Erneuerung der
scientia rerum hin: 1. Ursachenforschung; 2. induktives Schließen (inductio) aus empirischen
Daten auf allgemeine Sätze auf Grundlage von einfachen Begriffen; 3. gradueller Fortschritt
vom Besonderen zum Algemeinen; 4. Idolalehre und die Forderung nach der Vorurteilslosigkeit des Verstandes.181 In diesem Zusammenhang ist auch die Soziografie Pettys als Versuch
zu verstehen, mittels der Mathematik (Arithmetik und Geometrie) als politischer Arithmetik
eine von Vorurteilen der Tradition und Trugbildern („idola“) freien, aus der unabhängigen Beobachtung gewonnenen Darstellung der Sozio(topo)grafie zu schaffen. Um diese unabhängige
und wahre Beobachtung der Natur, die interpretatione naturae, zu sichern, gilt es, die Unabhängigkeit der Erkenntnis von den vier Typen von Trugbildern zu wahren, die Bacon als „idola“
180
Petty 1986, S. 244.
181
Vgl. Angelis 2010, S. 270.
57
identifiziert:182 1. idola tribus: Fehler des Verstandes verursacht durch die natürlichen Neigungen des Menschen; 2. idola specus: individuelle Vorurteile, die angeboren oder erlernt sind; 3.
idola fori: Irrtümer, die aus dem Sprachgebrauch und der Redensart entspringen; 4. idola theatri:
Irrtümer, die durch die Theorien bzw. Lehrsätze überlieferter philosophischer Systeme angetrieben werden. Der Mehrwert der Einbettung der praktischen politischen Vernunft in eine solche wissenschaftliche Objektivität ist die in der Vorurteilsfreiheit begründete Aussicht auf eine
reine, d. h. unabhängig von anderen Souveränen, praktische politische Vernunft.
Auch wenn Pettys Grundlegung der Soziografie in diesem Sinne als Versuch der vorurteilslosen
Beobachtung und Schlussfolgerung verstanden werden kann, stellt sich mit dem Unternehmen
der Soziografie die Problematik, wie eine rein empirische Anschauung des Sozialen möglich
sein sollte und wie er glaubt, diese begründen zu können. Denn da die Mathematik im Entwurfszusammenhang der Soziografie nur als Hilfsmittel bzw. Korrektiv der Anschauung und
des Schließens gelten kann, bleibt zu fragen, unter welche Leitbegriffe Petty soziografische
Repräsentationspragmatik bringt, wenn sie nicht mit dem Rechnen gleichgesetzt werden
kann.183 Schließlich unterliegt eine Soziografik, sofern sie keine Liste ist, als Praxeologie immer auch einer Logik der Praxis, die die Daten, d. h. Beobachtungen des Besonderen, sowie die
allgemeinen Schlussfolgerungen in Darstellung bringt und die soziografische Komplexität ordnend konstituiert. Petty war im Laufe seines Lebens Professor für Anatomie in Oxford, weshalb
es ihm naheliegt die Wissenschaftlichkeit der soziografischen Beobachtung über die wissenschaftlichkeit der anatomischen Beobachtung zu begründen und zu entwerfen.184 Das „theatrum
mundi“ und das „theatrum anatomicum“ finden so eine geschickliche und grammatologische
Konvergenz.
Dies wird in Hinblick auf Pettys zweite soziografische Arbeit deutlich. Diese orientiert sich
nicht mehr primär an der Geometrie und Kartografie, sondern ist eine auf der Arithmetik aufbauende Deskription der politischen Ökonomie Irlands. Schon der Titel The Political Anatomy
of Ireland der 1672 verfassten und 1691 publizierten Schrift unterstellt die Verwendung der
Arithmetik einer anatomischen Studie bzw. Beobachtung und bestätigt die Vermutung der Subordination der Mathematik unter den Leitbegriff der Anatomie als Entwurfsmöglichkeit einer
vorurteilslosen Soziografie. Wieso und inwiefern die Anatomie als Entwurfsmöglichkeit einer
vorurteilsfreien Soziografie und Wissenschaft verstanden werden kann, wird deutlich, wenn
182
Vgl. Schneider 2004, S. 24–27.
183
Eine Mathematisierung des Denkens bzw. Bezugnahme von nicht-mathematischen Wissenschaften auf die Mathematik als
Pragmatik kann nur in Relation zu gewissen Leitsätzen verstanden werden. Erst in diesem Zusammenhang erschließt sich
auch die Funktionalität des Mathematischen.
184
Damit verbunden ist die These, dass Pettys Soziografie durch Leitbegriffe der Anatomie und der Musik strukturiert wird.
58
man sich vor Augen hält, dass die Anatomie der frühen Neuzeit vielleicht als paradigmatische
Praxeologie gilt, in der sich eine am „Testimonium“, d. h. der direkten Augenzeugenschaft,
orientierte Wissenschaft entwickelt. Natürlich ist diese Praxeologie nicht mit einem freien Experimentieren gleichzusetzen, sondern muss in ihrer historischen Dimension verstanden werden. Es sind nicht die Beobachtung und das Verfahren des Sezierens, welche die anatomische
Kuriosität antreiben, sondern das Verständnisinteresse der „organischen Seele“, wie es in Aristoteles De Anima dargelegt wird und in der frühen Neuzeit wieder rezipiert wird.185 So ist gerade im Wandel des theologischen Verständnisses der Begriff der Seele als Antrieb der anatomischen Kuriosität zu sehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Anatomie kein „Versuchsfeld“
war, auf dem sich der Begriff der Evidenzwissenschaft in paradigmatischer Weise ausgebildet
hat. Gerade die Anatomie wird als Repräsentationspragmatik von den Prinzipien der „demonstratio“ und „evidentia“ geleitet. Demonstratio kann hierbei als „anschauliche Schilderung eines
Gegenstandes mit Worten“186 verstanden werden, die versucht die Evidenz der Anschauung zu
reproduzieren. Wie Ginzburg schildert, steht der Begriff der „demonstratio“ in synonymischem
Verhältnis zu den Begriffen des „Zeigens“, „Vorzeigens“ und „Vor-Augen-Stellens“.187 Die
Schrift und der Text werden dabei zugleich als Instrument konzeptualisiert, deren einzige Aufgabe in der Wiederholung augenscheinlicher Evidenz, d. h. der „evidentia“, zu sehen ist. Angelehnt an den Begriffe ίστορία (Darstellung, Bericht, Erzählung), ίστορέω (im Sinne: „ich bin
Zeuge“) und ἵστορ (im Sinne: der, der gesehen hat) aus der antiken griechischen Geschichtsschreibung sind die anatomischen Schriften als Versuch zu verstehen, die empirische Evidenz
und die rhetorische Evidenz miteinander zu verschränken.188 Dabei ist ebenso entscheidend,
dass der historische Sinn als geschichtlicher Sinn eine Ausgrenzung findet.
Der Entwurf der Soziografie am Paradigma der Anatomie ist zunächst als Versuch zu verstehen,
eine am vorurteilsfreien Beobachten der Anatomie orientierte Wissenschaft, d. h. Evidenzwissenschaft, vom Sozialen und Politischen zu entwickeln. Die Orientierung an der demonstratio
und dem testimonium ermöglicht es, zugleich die baconschen Prinzipien zur vorurteilsfreien
Wissenschaft in die soziografische Deskription einzuführen und diese zugleich von der normativen Dimension zu trennen, die durch die verschiedenen Trugbilder vermittelt werden. Dies
wirkt sich besonderer auch auf die soziografischen Schriften aus. Denn durch die Übertragung
185
Vgl. Klestinee 2011, S. 75 f.
186
Vgl. Angelis 2011, S. 171.
187
Vgl. Ginzburg 1989, S. 45.
188
Vgl. Angelis 2011, Bd. 5, S. 172–176.
59
der Leitbegriffe der demonstratio wird der soziografische Text zunächst auch (wie in der Anatomie) Instrument zur Wiedergabe und Wiederholung des in der Zeugenschaft gefundenen Wissens. Dadurch werden auch die Wahrheitskriterien des soziografischen Textes festgelegt. Diese
beruhen fortan auf der nachvollziehbaren Beobachtung und nicht mehr auf „vorgeschriebenen“
bzw. präskriptiven Wahrheiten. Zugleich ermöglicht dieser Wandel auch die grundlegende
Möglichkeit einer allgemeingültigen, nachvollziehbaren Kultur politischer Diskussion, da die
Elemente der Politik durch die Soziografie in einer neuartigen Weise objektiv vorgestellt werden und vorhanden sind. Überspitzt formuliert, impliziert die Neuausrichtung der Wissenschaft
in diesem Sinne eine Art Bilderkrieg, an dessen Fronten sich zum einen die Trugbilder, Meinungen etc. der Geschichte befinden und zum anderen die reinen, vorurteilsfreien Bilder bzw.
textlich vermittelten Evidenzen des Augenblicks bzw. der Beobachtung. 189 Die Soziografie
könnte in diesem Sinne auf der Seite des Ikonoklasten verstanden werden, der die Entwicklung
einer nicht-dogmatischen Evidenzwissenschaft zum Ziel hat.
Auch wenn die Soziografie als Repräsentationspragmatik einer Evidenzlogik der Anatomie
folgt, bleibt die Übernahme des Begriffs klärungsbedürftig. Immerhin hat man es in der Soziografie mit einem Sachverhalt zu tun, der nicht so leicht zu überblicken ist, wie der menschliche
Körper, der in den anatomischen Theatern der Zeit zugleich von einer Vielzahl von Menschen
überblickt werden konnte. Plausibel wird die Grundlegung der Soziografie durch den anatomischen Blick und die explizite Benennung der Studie (etwa in Pettys zweiter Studie) erst, wenn
eine Korrespondenz des wissenschaftlichen Objektes angenommen wird. Wie nun im Folgenden gezeigt werden soll, bezieht die frühe soziografische Praxeologie ihre Leitbegriffe, Denkbilder und Vorstellungskraft aus der Anatomie (mehr noch als eine Übernahme ihrer Methode)
und versteht die Organisation des „sozialen Körpers“ analog zur Organisation des menschlichen
Körpers. Plausibel wird diese These in Hinblick auf die explizite Präsupposition der „kartografischen Imagination“ und der „räumlichen Politik“ („politics of space“) der Zeit, dass sich die
interne Organisation räumlicher und körperlicher Entitäten gleicht. 190 Wie Schneider verdeutlicht, kann diese Relation aus dem Forschungsinteresse am Verhältnis von mikro- und makrophysikalischen Vorgängen verstanden werden, das durch die wissenschaftlichen Entwicklungen vor allem in der Physik hervorkommt.
189
Natürlich dient diese Schwarz-Weiß-Zeichnung nur dem Zweck der Veranschaulichung und versucht nicht, die Komplexität
der Verhältnisse zu übersehen.
190
Vgl. Gordon/Klein 2001, S. 7.
60
Die Präsupposition einer natürlichen Ordnung, von der sowohl mikro- und makrophysikalische
Vorgänge bestimmt sind, ermöglicht die Denkbarkeit der Übertragbarkeit der Methoden. 191
Denn insofern Mikro- und Makrophysik als zwei Dimensionen einer natürlichen Ordnung aufgefasst werden, sind sie durch dieselben Gesetze bestimmt, die nach denselben Methoden erkannt werden können. Eben durch die Einheitlichkeit des Gegenstandes, den man über die
„Gleichgesetzlichkeit“ auf Grund der natürlichen Ordnung sichert, kann Bacon auch die Einheit
der Wissenschaften erklären.192
Nichtsdestotrotz erhält der menschliche Körper unter allen natürlichen Körpern in der neuzeitlichen Wissenschaft einen besonderen Status. In seinem 1615 verfassten anatomischen Traktat
Microcosmographia schildert Crooke, dass der Körper ein „Inbegriff der ganzen Schöpfung“
(„epitome of the whole creation“) sei.193 In der Übernahme der Anatomie als Leitwissenschaft
ist die Repräsentationspragmatik der Soziografie grundlegend durch die Anthropologie geprägt,
die selbst der „Medizin als Leitwissenschaft“194 unterstellt ist. Dieses wird deutlich, wenn man
sich die vor Augen hält, dass der Gebrauch des Begriffs der Ökonomie („oeconomia“) im 17.
Jahrhundert sich auf den Organismus bzw. Mechanismus des Körpers bzw. Leibes 195 als auch
auf den sozialen bzw. nationalen Organismus bzw. Mechanismus in Zusammenhang mit einer
scientia naturalis bezieht.
Diese Doppeldeutigkeit des Begriffs der Ökonomie zeigt sich in Pettys Entwurf der Soziografie
und eröffnet die Notwenigkeit einer Anatomie. Der Organismus als Ökonomie scheint hierbei
im 17. Jahrhundert nicht in einem reduktionistischen Sinne gebraucht zu werden. Der Begriff
des Körpers steht zwar zu der Zeit allgemein in Zusammenhang mit einem Konzept des Mechanismus, wird jedoch nicht mit diesem gleichgesetzt. Dieses sollte aus den Kontroversen ersichtlich sein, die das Buch L’Homme Machine bei seiner Veröffentlichung 1748 verursacht
hat. Die durch den von dem mechanistischen Materialismus von La Mettrie eingeforderten Monismus gegen die dualistische Sondierung des Geistigen und des Körperlichen nach Descartes
ausgelöste Empörung, scheint darauf hinzuweisen, dass der Substanzdualismus bis ins 18. Jahrhundert weitläufig in den Wissenschaften akzeptiert worden ist.196 Motivation der Aufrechterhaltung des Theorems der Trennung der beiden Substanzen kann darin gesehen werden, dass
191
Vgl. Schneider 2004, S. 83.
192
Vgl. Rötzer 2003.
193
Vgl. Crooke 1615, S. 10.
194
Vgl. Angelis 2010, S. 213–279.
195
Vgl. Angelis 2010, S. 268 ff.
196
Vgl. Becker 2009, S. X ff.
61
es eine Sicherungsstrategie der theologischen Glaubenskultur und der darin übermittelten Glaubenssätze gegenüber den Körperwissenschaften bzw. Naturforschung darstellt. Zugleich und
vor allem aber ist der Substanzdualismus eine Argumentationsfigur zur Grundlegung der Unabhängigkeit des Denkens gegenüber der Körperwelt als Möglichkeit exakter, vorurteilsfreier
Wissenschaft. Die durch den Dualismus aufrechterhaltene materielle und geschichtliche Unabhängigkeit des Denkens und die Möglichkeit der Vorurteilslosigkeit werden somit ebenfalls mit
La Mettries Forderungen im 18. Jahrhundert problematisch und waren es vorher nicht oder nur
peripher.
Mit der Anatomie als Leitwissenschaft erhält die Soziografie eine implizite anthropozentrische
Grundstruktur. Denn die Anatomie als Leitwissenschaft der Soziografie ist nicht nur eine methodische Übernahme und Übertragung der von Bacon eingeforderten vier Kriterien zur Grundlegung einer empirischen und vorurteilsfreien Wissenschaft. Über die generelle Entstehungsmotivation der Verortung des Menschen im spatium hinaus (repräsentations-syntaktische
Strukturierung) und die impliziten Primaten des menschlichen Körpers in der neuzeitlichen
Wissenschaft als Inbegriff der Schöpfung (Strukturierung durch Wertung) werden durch methodische Übernahme der Anatomie für die Betrachtung bzw. Beschreibung des Sozialen auch
ihre Denkbilder übernommen. Denn die Anatomie zeichnet sich nicht nur durch den anatomischen Blick aus, der in Kongruenz zu dem wissenschaftlichen Blick der Zeit steht, sondern als
Produktionsparadigma stellt sie das Verstehen des Sozialen in Bezug zum Körper (nach der
Denkmöglichkeit der Äquivalenz von Mikrokosmos und Makrokosmos). Hier könnte man von
einer morphologischen Strukturierung sprechen, da das Soziale ausgehend von der Gestaltlogik
des Menschen konzeptualisiert wird.
John Speeds Werk ist nicht nur als für die Entwicklung der Kartografie in England und bei
Petty als maßgebendes Werk anzusehen, sondern kann ebenso die morphologische Strukturierung der Karte veranschaulichen. Speeds wichtigstes Werk ist die Schrift The Theatre of the
Empire of Great Britain (1611 bzw. 1612197).198 Sie wurde jedoch nicht nur ein Kompendium
kartografischer Darstellungen, sondern wurde in Zusammenhang mit einer Geschichte Englands publiziert.199 Die darin vollbrachte große Leistung der erstmaligen und vollständigen kartografischen Repräsentation Großbritanniens ist geleitet von der „Absicht einer Sicht auf den
äußeren Körper und das Lineament des florierenden britischen Königreichs“ („our lineament is
197
Vgl. Nicolson/Hawkyard in: Speed 1995, S. 10.
198
Der Begriff des Theaters führt nochmals sehr deutlich die Idee des Raumes als Bühne für die soziale Dynamik an, die dem
Konzept der frühmodernen Kartografie und Soziografie zugrunde liegt.
199
Wie auch in Pettys Soziografie ist eine Komplementarität von Karte und Deskription zu vermerken.
62
to take a view as well of the outward Body and Lineaments of the now-flourishing British Monarchy“200). Die Methodik zur Durchsetzung dieses Verfahrens schildert Speed wie folgt:
“And here first we will (by Example of best Anatomists) propose the view of the whole Body,
and the Monarchie intire (as far as conueniently wee could comprise it) and after will dissect
and lay open the particular Members, Veins and Ioints, (I meane Shrines, Riuers, Cities and
Towns) […].”201
Aus den Zitaten ist die deutliche Orientierung der Kartografie an der anatomischen Morphologie ersichtlich: nicht nur wird die kartografische Methode als Anatomie verwendet, sondern
wird das britische Königreich selbst als Körper und Lineament (was auch als Charakteristik im
Sinne des Gesichtszugs übersetzt werden kann) dargestellt.
Jedoch ist es nicht der individuelle Körper, der eine besondere Bedeutung für die Soziografie
gewinnt, sondern der abstrakte Staatskörper als Metapher für die Totalität des Staates. So ist es
auch dieses durch Abstraktion gewonnene Denkbild welches die Rechtfertigung eines absolutistischen Verständnisses der Politischen begründet und die damit zusammenhängende Überzeugung, dass den individuellen Egoismus allein die Staatsräson brechen könne und führen
müsse. Gerade auch werden dieser Leitbegriff und dieses Leitbild zum Verständnis des Politischen durch Text und Darstellung des Souveräns in Hobbes Schrift Leviathan or The Matter,
Forme and Power of a Common Wealth Ecclesiasticall and Civil von 1651 auf Petty Einfluss
gehabt haben und so auch auf die Entwicklung der Soziografie, denn Petty war der persönliche
Sekretär von Hobbes. Auch wenn Petty nicht in ganzen Zügen der hobbeschen Staatstheorie
zustimmt, worauf ein Manuskript hinweist,202 kann davon ausgegangen werden, dass Petty das
Denkbild des Souveräns als absolute Körperschaft, die sich aus individuellen Körpern zusammensetzt (wie es das Frontispiz des Leviathan wirkungsmächtig zeigt), mit Hobbes teilt. Towne
hebt hervor, dass alle Elemente und Funktionen des Staates in Hobbes Theorie analog zu den
Elementen und Funktionen des Körpers dargestellt werden:
„Nachdem Hobbes ziemlich eingehend die Art, die Form und die Macht einer Republik erörtert
hat, geht er über zu den verschiedenen Systemen. Er hebt hervor, dass er unter ‚Systemen‘ eine
Anzahl von Menschen versteht, die durch das gleiche Interesse oder dasselbe Geschäft zusammengehalten werden, und dass sie den Teilen eines menschlichen Körpers gleichen. Die gesetzlich anerkannten Systeme gleichen den Muskeln; die nicht gesetzlich berechtigten den
Kröpfen, der Galle und den Geschwüren, die durch den Zusammenfluss der schlechten Säfte
200
John Speed zitiert nach Albano 2001, S. 93.
201
John Speed zitiert nach Albano 2001, S. 93.
202
Vgl. Amati/Aspromourgos 1985, S. 127–132.
63
entstanden sind. Minister werden als organische Teile bezeichnet; die mit der Verwaltung Betrauten, gleichen den Nerven und Sehnen, welche die Glieder eines natürlichen Körpers bewegen. Die, welche die Gerichtbarkeit ausüben, werden mit den Stimmorganen verglichen; diejenigen hingegen, welche die vollziehende Gewalt obliegt, sind die Hände.“203
Wie Towne schildert, unterliegt dem hobbeschen Denkbild des Staates und des Politischen das
Denkbild des Körpers als Organismus bzw. Mechanismus. Dies muss vor dem Hintergrund der
Entdeckungen der Anatomie des 16. und 17. Jahrhunderts verstanden werden.
In Zusammenhang mit der in Vesalius De humani corporis fabrica libri septem 1543 veröffentlichten bedeutendsten anatomischen Schrift der Medizingeschichte entwickelten Idee des Menschen als Bewegungssystem ist der Leviathan als sich bewegender und bewegter Körper dargestellt. Deutlich wird in Betracht des Frontispizes des Leviathan, dass sich dieser in Richtung
des Betrachters und auf die im Bild dargestellte Stadt in der Landschaft zubewegt. Zwar wacht
der Leviathan statisch über die Landschaft zur bildlichen Umschreibung der Macht des Souveräns, doch ist durch seine Einfügung in die Landschaft eine Bewegung implizit auch immer
bildlogisch mitbedacht bzw. denkbar. An der Figur Leviathan ersichtlich kommt der makrokosmische Körper des Staates durch die mikrokosmischen Teile (Körper der Bürger, Handlungen,
Geschäfte) allererst in Bewegung. Auch für den Zusammenhang der Teile liefert die Anatomie
ein Leitmotiv des Verständnisses der politischen Ökonomie – diese letztlich auch als Ausdruck
der absolutistischen Herrschaftsidee. Der Staatskörper erweist sich über den Haushalt (Oikos)
als eigentliche Körperschaft bzw. Ökonomie, in die der Mensch eingebunden ist. Vom Körperbild ist dabei mitbedacht, dass die Wahrung des Staates nur durch die Unterordnung der Teile
erfolgen kann und darüber hinaus notwendig ist für die Erfüllung der einzelner Bürgerinteressen. Mitbedacht ist dabei, dass der Bürger als Teil des Staatskörpers, dessen Vernunft, Raison
die Interessen und Ziele der Bürger bestimmt, seine Funktion und seinen Sinn allein innerhalb
des Organismus des Körpers einnimmt. Münkler legt dar, dass in dieser Ersetzung des empirischen Bezugs der Bürgerinteressen durch den „abstrakten, transpersonalen Bezugspunkt des
Staates“ der Beginn des Absolutismus liegt:
„Die politische Kompetenz war mit dem Übergang vom Allgemein- zum Staatsinteresse aus
den Händen der Bürger in die einer Gruppe von Spezialisten übergegangen, die sie entsprechend zu einer eigenen Logik und Grammatik des Politischen anwandten.“204
203
Towne 1903, S. 24–27.
204
Münkler 1987, S. 280.
64
Darin liegt eine Wandlung der Einbindung der Anatomie in die Soziografie: während diese
zunächst methodische Leitfunktion hatte, findet hier eine metaphorische Funktionalisierung des
anatomischen Verständnisses statt. Die metaphorische Funktionalisierung der Anatomie in Zusammenhang mit einem Staatsverständnis liegt jedoch zugleich in der Anatomie als Leitmotiv
der Soziografie beschlossen, wie auch für die Ausbildung der Wissenschaft der politischen
Ökonomie von Bedeutung.
Bahnbrechend für das Verständnis des funktionalen Zusammenhalts der Ökonomie des Körpers
(„oeconomia corporis“) war der vom Anatomen Wiliam Harvey entdeckte Blutkreislauf. 1628
erschien seine Schrift Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus, in der
er seine Entdeckung wegbereitend für die moderne Physiologie darlegt. Wenn man diese Entdeckung morphologisch auf die politische Ökonomie überträgt, so wird deutlich, dass für ein
Funktionsverständnis dieser eine Darstellung der Verkehrswege und damit des dem sozialen
Körper zugrunde liegenden Lineaments (s. o.) notewendig wird. (Auch wenn John Speeds Kartografie, auf die sich der Begriff des Lineaments mehr als zehn Jahre bezieht, vor Harveys
Schrift erschienen ist und Speeds Darstellungen nicht morphologisch auf diese bezogen werden
können, so ist jedoch zu sagen, dass beide die Überzeugung teilen, dass die Funktionsganzheit
der Mikro- und Makrofunktionen durch die Erkenntnisse einer natürlichen Ordnung verstanden
werden muss.)205
Obwohl die Formulierung des am Verständnis des Blutkreislaufs orientierte, ökonomische Theorie der Zirkulation bzw. das Zirkulationsmodell nicht auf Petty zurückgeht, so figuriert sich
durch Petty die Konstellation zur Ausbildung der Soziografie. Durch Petty wird verständlich,
dass und inwiefern die politische Ökonomie des 17. Jahrhunderts von anatomischen Leitbegriffen geprägt ist. Der Zusammenhang beider ist durch die Praxeologie zu verstehen, denn Petty
war Anatom und Ökonom zugleich und in seinen Methoden keineswegs ausdifferenziert und
spezialisiert im heutigen Sinne.
Die Soziografie als anatomischer Blick entfaltet sich in Zusammenhang mit der kartografischen
Imagination und der wissenschaftlichen Begründung einer vorurteilsfreien Betrachtung und
Empirie im 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Problematik der Regierung in Zusammenhang mit der Ausbildung gouvernementalen Geschicks. Dieses zeigt sich besonders darin, dass
die Elemente der Soziografie die Arithmetik und Geometrie bilden, mit der Folge, dass die
Figurationen der Soziografie die Kartografie und die auf Statistik basierende Deskription sind.
Die von Petty und Graunt entwickelte politische Arithmetik muss dabei als eine mathematische
205
Vgl. Albano 2001, S. 93.
65
Formalisierung verstanden werden, die die ursprüngliche kartografische Imagination und damit
zusammenhängende symboltechnische Mischformen als unpräzise und vorurteilsvoll auslegt
und eine allmähliche Verdrängung der plastischen Dimension der kartografischen Imagination
aus der Soziografie einleitet. Allein durch Pettys Grundlegung der politischen Ökonomie in der
politischen Arithmetik ist es verständlich, wie numerische Modelle für ein Verständnis einer
phänomenalen, sozialen Welt allmählich im Rahmen des Regierens an Bedeutung gewinnen.
Von der Quantifizierung, der Erhebung numerischer Daten über Sterblichkeit, Alter, gesundheitliche Risiken in Bezug auf bestimmte geografische Territorien, versprachen sich die Soziografen eine Klarheit in Hinblick auf Debatten über Gesundheit, Wohlstand und Stärke der
Nationen und zugleich die Möglichkeit eines Vergleichs bestimmter Territorien in Hinblick auf
diese Parameter.206 Trotz der im 18. Jahrhundert zunehmenden Formalisierung der Gegenstände der Soziografie durch die politische Arithmetik bleibt sie – somit, wie Rusnock darlegt,
an der Entwicklung der Biopolitik beteiligt ist –207, an die anatomische Sprache und deren mechanistisches Verständnis des Körpers gebunden.
Klingen legt dar, dass z. B. die moderne volkswirtschaftliche Theorie nicht ohne den Kreislaufgedanken bzw. das ursprünglich an dem Blutkreislauf orientierte Zirkulationsmodell denkbar
ist.208 Während das Zirkulationsmodell und die damit verbundenen Leitbegriffe in Zusammenhang mit der Begründung der Soziografie als politische Arithmetik durch Petty begründet ist,
findet es durch Cantillon und Quesnay darüber hinaus einen Einzug und eine Entwicklung innerhalb der modernen politischen Ökonomie. Schumpeter zitierend legt Klingen die Grundlage
seiner Arbeit dar:
“What Petty failed to accomplish – but for what he had offered almost all the essential ideas –
lies accomplished before us in Cantillon’s Essai. True, it was not accomplished in the style of
a pupil who at every step looks back over his shoulder for the master’s guidance, but in the style
of an intellectual peer who strides along confidentially according to his own lights. Likewise,
Quesnay strode on according to his own lights and was no more a mere pupil of Cantillon than
Cantillon was of Petty. Nevertheless, few sequences in the history of economic analysis are so
important for us to see, to understand, and to fix in our minds, as in the sequence: Petty-Cantillon-Quesnay.”209
206
Vgl. Rusnock 1999, S. 67.
207
“Comparison, classification, counting, and the construction of registers and ratios, all constitutive of the practice of political
arithmetic, provided the methods for population to come under observation and the analysis, developments that mark the
origin of Foucault’s biopolitics.” (Rusnock 1999, S. 67)
208
Klingen 1992, S. 13.
209
Schumpeter zitiert nach Klingen 1992, S. 21–22.
66
Festzuhalten bleibt, dass durch die spezifische Entwicklung der politischen Arithmetik zur politischen Ökonomie als Figuration der kartografischen Imagination im Rahmen der Entstehung
praktischer Gouvernementalität nicht nur makroökonomische Entitäten, wie der Staat, die Bevölkerung und die Nation, entstehen und für die politische Entscheidungskraft in Hinblick auf
die Probleme der Regierung eine Rolle spielen, sondern dass durch die numerische Reduktion
kartografischer Vernunft sich eine Planbarkeit und Messbarkeit des Sozialen, d. h. sozialer Verhältnisse, konstituiert. Durch das soziografische Vorhandensein des Sozialen konstituiert sich
eine politische Verfügbarkeit, welche grundlegend für die Ausbildung moderner Gouvernementalität ist, da dadurch die Regulierung politischer Ordnung in viel umfangreicherem Maße
möglich wird.
2.4 Moralstatistik und soziale Physik
Folgt man Zeisels Geschichte der Soziographie weiter, so kann man unter den folgenden Entwicklungen der Soziografie nicht mehr von grundsätzlichen Veränderungen, sondern nur von
medialen Additionen und Expansionen des soziografischen „Forschungsprogramms“ sprechen.
Wesentliche Neuheit der Soziografie stellt die Technik des Survey oder des Enquete dar, die
die statistische Deskription um eine narrative Dimension erweitert. Vor dem Hintergrund einer
Krise der englischen Landwirtschaft entstehen Arthur Youngs Untersuchungen über die Lage
der britischen Bauern und Landarbeiter und David Davies Untersuchung über das Budget der
arbeitenden Klassen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.210 Die parlamentarische Einbindung soziografischer Umfragen als politische Argumentations- und Entscheidungsgrundlage ist von diesem Zeitpunkt an zu beobachten. Interessanterweise wird auch zu diesem Zeitpunkt der Begriff der „Statistik“ durch Gottfried Achenvalls Erörterung und Darlegung als
„Staatswissenschaft“ in seinem Werk Abriß der neuesten Staatswissenschaft der vornehmsten
Europäischen Reiche und Republiken (1749) verstanden. Er beschreibt darin die Statistik als
„Staatswissenschaft“, die es nicht nur mit „Menschen; sondern auch mit ihrem Eigenthum“211
zu schaffen hat. Ihr Nutzen bestehe darin, dass der Staat „dadurch in den Stand gesetzt wird
Schlüsse zu formiren, wie ein Staat klüglich zu regieren sey, das heißt um davon eine Anwendung in der Politic zu machen“212. Dabei geht es darum, die „würklichen Merkwürdigkeiten des
210
Vgl. Zeisel 1975, S. 115.
211
Achenwall 1749, § 3.
212
Achenwall 1749, § 4.
67
Staates“213 aus dem „unzählbaren Haufen derer Sachen, die man in einem Staatscörper antrifft
[...] sorgfältig herauszusuchen“214. Die Soziografie als Grundlegung des Regierens durch die
Statistik findet somit seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine feste Einbindung in die
politische Urteilsfindung. Es kann dabei von einer regelrechten „Leidenschaft“ des Datensammelns und der Quantifizierung gesprochen werden, die in einer Analyse der Verfassung des
Staates ihren Zweck findet. Schneider betont, dass schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts systematische Datensammlung über Ressourcen ihren Lauf nimmt mit dem Ziel der Rationalisierung von Herrschaft und Verwaltung.215 Die damit zusammenhängenden Debatten trugen dabei
nicht nur zur Steigerung des Interesses hin zu einer „Leidenschaft des Quantifizierens“ bei,
sondern resultierten in einem Konkurrenzdruck unter den Staaten zur möglichen Optimierung
und Vervollständigung der Datensammlungen über den Staat, die Bevölkerung und schließlich
das Territorium.216 So beschreibt Murdin in seinem Buch Die Kartenmacher die Vermessung
der Welt als einen „Weltstreit“, einen Wettkampf zwischen den Staaten, wobei besonders auch
die Schwierigkeiten und Herausforderungen zu Tage treten, die die Vermessung mittels Trigonometrie Mensch und Material bereitete.217
Während die numerische Erfassung im 18. Jahrhundert eine starke Entwicklung fand, stellte
die Repräsentation statistischer Daten tatsächlich noch ein großes Problem dar, welches erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts in großem Stil gelang.218 Die dazu notwendige Erfindung
moderner Formen der Repräsentation statistischer Daten, des Säulendiagramms und des Kreisdiagramms, des Histogramms und der Zeitreihenanalyse, der Isolinie, des Streudiagramms usw.
findet erst im 19. Jahrhundert statt.219 Dennoch kann William Playfairs Chart of National Debt
of Britain from the Revolution to the End of the War with America von 1786 als Vorreiter der
statistischen Informationsgrafik gelten. Mit der Umsetzung der Repräsentation statistischer Daten tritt eine Wandlung der Kartografie ein, die in sich eine ästhetische Lust an der Darstellung
von Zahlen entdeckt.
Mit der Soziografie, ihrer statistischen Formalisierung findet nicht nur ein Wandel in der für
die politische Rationalität wichtigen Vorstellungskraft statt, sondern steigert sich das Ausmaß
213
Achenwall 1749, § 4.
214
Achenwall 1749, § 5.
215
Vgl. Schneider 2006, S. 13.
216
Vgl. Schneider 2006, S. 13.
217
Vgl. Murdin 2010.
218
Vgl. Schneider 2006, S. 14.
219
Vgl. Friendly/Palasky 2007, S. 231.
68
der Planbarkeit und der Regulierung des Sozialen sowie die Präzision und der Umfang politischer Maßnahmen. Der Entwicklung des Gedankens absoluter bzw. totaler Herrschaft als absolute Kontrolle über politische Ordnung und die Bildungspolitik erfolgt erst durch die Steigerung der Präzision und des Umfanges soziografischer Mittel, durch die die Fragwürdigkeit von
Politik überwunden zu sein scheint. Dass soziografische Techniken als Umgang mit der Fragwürdigkeit von Politik diese nicht grundsätzlich überwinden oder aufheben kann, bleibt dabei
missverstanden. In pointierter Weise könnte man sagen, dass Herrschaft niemals absolut, d. h.
losgelöst von der eigentümlichen Fragwürdigkeit von Politik möglich ist.
Auch durch den Untergang der absoluten Monarchie verschwindet die durch die Soziografie
hergestellte Illusion einer Habhaftigkeit und Zuhandenheit der Elemente und Faktoren politischer Ordnung und so der Möglichkeit der Einflussnahme auf politische Ordnung und die Bildungspolitik nicht. Vielmehr wird sogar in Zusammenhang mit der Französischen Revolution
diskutiert, in welcher Weise soziografische Techniken zur Regulierung der moralischen, kulturellen Entwicklung des Volkes beitragen können. Gerade die vermeintliche Objektivität der
Darstellung, der soziografische Realismus als Entscheidungsgrundlage wird als Bürge für eine
allgemeingültige, vorurteilsfreie und aufgeklärte politische Rationalität erschlossen.
„Was hatte die Riesenschlacht, welche die Aufklärung in dem zu Ende gegangenen Jahrhundert
gegen den Fanatismus und Religion führt, letztlich zu bedeuten? Gewiß, es war ein Kampf
gegen die Macht. Aber auch eine Verdrängung partikulärer Kulturen um einer rationalen Universalität willen, einer neuen gemeinsamen Sprache. Um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts spricht Europa nicht so sehr Französische als vielmehr Universalistisch.“220
Eine erneute Neugruppierung der Elemente des funktionskonstitutiven Gefüges der Soziografie
findet in der Zeit der Aufklärung und der durch die Französische Revolution ausgelösten Krisen
und Umschwünge um 1800 statt. Wie Serres darlegt, geht es um die Problematik einer wissenschaftlich fundierten, vernünftigen, gemeinsamen Sprache als die Bildungspolitik leitende Ratio. Auch die Leitfrage, anhand derer die Soziografie thematisiert wird, fragt, inwiefern sie als
vorurteilsfreie Repräsentationspragmatik zur (politischen) Aufklärung bzw. Aufklärung des Politischen und einer moralischen Verbesserung der Gesellschaft beitragen kann und somit insgesamt zu einer Durchsetzung des Wissens und der Herrschaft des positiven Geistes führen kann.
Besonders wird durch die Neuverhandlung der Rolle der Mathematik in den „sciences sociales“221 die Anatomie als Leitwissenschaft der Soziografie verdrängt und es kündigt sich das
220
Vgl. Serres 2002, S. 607.
221
Man kann noch nicht von einer Disziplin der Sozialwissenschaft im heutigen Sinne als institutionell gefestigte Disziplin
sprechen.
69
Aufkommen eines „rechnenden Denkens“ an, das durch die Orientierung der Soziografie am
Positiven und Universellen noch vehementer die geschichtliche Vorurteilslosigkeit einfordert.
Wie es bei Condorcet heißt, wird die Geschichte von der rationalen Sprache und Wissenschaft
gelenkt.222 Daher wird es das oberste Ziel, das Wissen, welches immer wahr ist, von den politischen und sozialen Meinungen, Einflüssen – gedacht als singuläre und partikulare Verunreinigung des Universellen – zu befreien. Es gilt dabei, den Menschen und die sozialen Gefüge
dem Wissen und der universellen Sprache unterzuordnen – zu ihrem eigenen Gut wohlgemerkt.
Wie Serres verdeutlicht, zeigt sich dabei eine wesentliche Veränderung in der Rolle der Wissenschaften und eine Ausweitung ihrer Macht.
„Das Wissen (verkörpert durch das Kollektiv der Wissenschaftler) übernimmt den Zustand der
Welt in eigene Machtvollkommenheit – um nichts weniger geht es. Das Wissen, das schon im
siebzehnten Jahrhundert Herr und Eigentümer der Natur war, versucht nun, sich zum Eigentümer und Herr der Menschen zu machen.“223
In dem Spannungsfeld der Wissenschaft als Mittel der Verbesserung der Umstände des Menschen und der Subordination und szientistischen Konzeptualisierung des Menschen steht auch
die Soziografie, wie sie im Werk des belgischen Mathematikers und Astronomen Lambert
Adolphe Jaques Quételet, besser bekannt als Adolphe Quételet (1796–1874), entworfen wird.
Er steht mit u. a. Comte in der Tradition der „physique social“ bzw. Soziophysik, deren Grundsatz darin liegt, dass sich soziale Phänomene ebenso wie physikalische Phänomene nach naturwissenschaftlichen Kriterien beschreiben und konzeptualisieren lassen. Geprägt von dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts kann die Soziophysik als Versuch der theoretischen Überwindung des Substanzdualismus mittels naturwissenschaftlicher Methoden gelten.
Sie beerbt die Grundannahme der englischen Soziografie in der grundsätzlichen Relation der
Begriffe des „situs“ und der Situation des Menschen. So ändert auch Quételets Werk nichts an
der Komplementarität von Kartografie und statistischer Beschreibung als Charakteristikum der
Soziografie. Vielmehr löst es durch die Weiterführung der Formalisierung der Topologie die
anatomische Orientierung der Soziografie endgültig ab. In seinem zweibändigen Werk Sur
l'homme et le développement de ses facultés, ou Essai de physique sociale von 1835 entwirft
Quételet die Soziografie aus der Physik heraus. Was sich dadurch konzeptuell verändert, ist,
dass der Raum nicht mehr von dem Konzept des menschlichen Körpers her, sondern der
222
Vgl. Serres 2002, S. 602.
223
Serres 2002, S. 608.
70
Mensch und der menschliche Körper in Bezug auf den von physikalischen Gesetzen determinierten Raum her verstanden wird. Programmatisch heißt es zu Beginn des Werkes:
«L’objet de cet ouvrage est d’étudier, dans leurs effets, les causes, soit naturelles, soit perturbatrices qui agissent sur le développement de l’homme; de chercher à mesure l’influence de ces
causes, et le mode d’après lequel elles se modifient mutuellement.
Je n’ai point en vue de faire une théorie de l’homme, mais seulement de constater les faits et
les phénomènes qui le concernent, et d’essayer de saisir, par l’observation, les lois qui lient ces
phénomènes ensemble.
L’homme que je considère ici est, dans la société, l’analogue du centre de gravité dans les
corps ; il est la moyenne autour de laquelle oscillent les éléments sociaux : ce sera, si l’on veut,
un être fictif pour qui toutes les choses se passeront conformément aux résultats moyens obtenus pou la société. Si l’on cherche à établir, en quelque sorte, les bases d’un physique sociale,
c’est lui qu’on doit considérer, sans s’arrêter aux cas particuliers ni aux anomalies, et sans rechercher si tel individu peut prendre un développement plus ou moins grand dans l’une de ses
facultés.»224
Es wird deutlich, dass Quételet wie auch Petty kein spekulatives Interesse am Menschen haben,
sondern an einem ursächlichen Verständnis der Gesetzlichkeit der Entwicklung seines Vermögens („facultés“) durch numerische, d. h. mathematische Beurteilung oder Bemessung von Fakten („l’appréciation numérique de faits“).225 Dabei steht nicht der singuläre, partikuläre
Mensch226 im Fokus der Soziografie Quételets, sondern das abstrakt-universelle Mittelmaß
(„moyenne“), das den Menschen als „fiktives Seiendes“ („être fictif“) bestimmt und als Maßstab konzeptualisiert. In Analogie zu einem Himmelskörper versteht Quételet den Menschen
als Gravitationszentrum („centre de gravité“) eingebunden und bestimmt durch das Zusammenspiel der Ursachen und die Wechselwirkung der Körper. In Aufnahme der Gravitationstheorie
und Astrologie als Prozesstheorie wird das Konstitutionsgeschehen des Menschen nicht different, sondern analog zu dem Konstitutionsgeschehen physikalischer Entitäten verstanden.
«L’homme moyen, en effet, est dans une nation ce que le centre de gravité est dans un corps ;
c’est à sa considération que se ramène l’appréciation de tous les phénomènes de l‘équilibre et
du mouvement ; il présente en outre, quand en l’envisage en lui-même, des propriétés remarquables […].»227
Nach der durch die newtonschen allgemeinen Gesetze der Schwerkraft beschriebenen Mechanik der Planetenbewegung und des Universums konzipiert Quételet ein Instrumentarium zum
224
Quételet 1835, Bd. 1, S. 21.
225
Vgl. Quételet 1835, Bd. 1, S. 3.
226
Vgl. Quételet 1835, Bd. 1, S. 6.
227
Quételet 1835, Bd. 2, S. 264.
71
Verständnis der sozialen Gesetze. Deutlich wird dadurch die Präsupposition eines geordneten,
regelmäßigen sozialen Kosmos, der sich durch seine Idealform in einem Gleichgewicht der
Kräfte befindet. Den Gedanken der körperlichen Eingebundenheit des Menschen in soziale Bewegungsdynamik oder Wechselwirkung und die daraus resultierende Prägung und Möglichkeit
der Einflussnahme führt Quételet bis in die Moralstatistik und Kriminalstatistik fort.
«La société renferme en elle les germes de tous les crimes qui vont se commettre, en même
temps que les facilités nécessaires à leur développement. C’est elle, en quelque sorte, qui prépare ces crimes, […]. Cette observation, qui peut paraître décourageante au premier abord, devient consolante au contraire quand on l’examine de près, puisqu’elle montre la possibilité
d’améliorer les hommes, en modifiant leurs institutions, leurs habitudes, l’état de leurs lumières,
et, en général, tout ce qui influe sur leur manière d’être.»228
Eine der großen Entdeckungen Quételets ist der Einfluss der sozialen Umstände auf das Moralverhalten des Menschen und die Möglichkeit der staatlichen Einflussnahme auf die materiellen
Umstände und somit das Moralverhalten des Menschen.
«Les causes morales qui laissent leurs traces dans les phénomènes sociaux sont donc inhérentes
à la nation et non aux individus; elles peuvent varier, mais les variations qu'elles subissent
s'opèrent en général avec lenteur, et on peut les apprécier comme on estime les modifications
des causes variables dans l'ordre physique.»229
Es gilt für Quételet, dass die Faktoren und Eigenschaften des moralischen Handelns nicht auf
das Individuum zurückzuführen sind. Moralität hat ausschließliche eine sozio-materielle und
nicht personale Dimension für die soziale Physik. Alles, was auf das individuelle Handeln zurückgeht, ist akzidentiell. Es ist hierbei besonders interessant, dass die Argumentationsfigur
auch als eine Kritik der deontologischen Ethik zu verstehen ist, da sie die materiellen Umstände
gegenüber den Prinzipien als handlungskonduktiv hervorhebt sowie die materiellen gegenüber
den intentionalen Ursachen der Handlung hervorhebt. Die Freiheit des Menschen ist für Quételet zwar individuell erfahrbar, hat jedoch keinen Einfluss auf die naturgesetzlichen und sozialen
Bedingungen seiner (moralischen) Handlung.
Als Präsupposition dieser Idee gilt, dass der Mensch sich als Körper und Komplex nicht substanziell von anderen physikalischen Phänomenen und Körpern unterscheidet, sondern nur gra-
228
Quételet 1835, Bd. 1, S. 10.
229
Quételet 1984, Vol. 8, N.1, S. 15.
72
duell. Somit zeigt sich der Menschen als ein natürliches, d. h. physikalisch determiniertes Phänomen,230 das mathematisch vollständig bestimmbar ist (sofern alle Faktoren und Variablen
vorliegen). Im Unterschied zu Petty versteht Quételet die Atome, die den Menschen und das
Soziale zusammensetzen, als physikalisch und erst in zweiter Linie als physiologisch.
Wie auch für Pettys Entwurf der Soziografie gilt für Quételet: „Zwischen Naturphilosophie und
Naturwissenschaft als Weltanschauung vermittelt die Anthropologie.“231 Folglich zeigt das
Verhältnis zur Anthropologie einer Repräsentationspragmatik, in welcher Weise sie von den
Wissenschaften Gebrauch macht bzw. in welches Verhältnis sie zu den Wissenschaften einnimmt. Obwohl Quételet erklärt, dass er kein Interesse an einer Theorie des Menschen, einer
Anthropologie hat («Je n’ai point en vue de faire une théorie de l’homme [...]»), entwirft er
eine Praxeologie und Figur zur Erfassung des Menschen, die seitdem große Auswirkungen auf
das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft gehabt hat: „l’homme moyen“. Auch wenn
dieser Begriff nicht als systematische, anthropologische Theorie zu verstehen ist, hat das aus
dem statistischen Durchschnitt ermittelte Denkbild des „l’homme moyen“ eine Figur geschaffen, die z. B. im Begriff des „Man“ bei Heidegger oder dem Begriff der „Masse“ bei Le Bon
im 20. Jahrhundert konzeptuelle Nachwirkungen zeigt.
Das Denkbild des Menschen als physikalische Tatsache bzw. physikalischer Komplex unterscheidet sich grundsätzlich von dem im 17. Jahrhundert verbreiteten Denkbild des Menschen
als Bewegungsapparat oder „heilige Maschine“ („divine machine“), wie es Smith am Beispiel
von Leibniz zeigt.232 Es entbehrt in erster Linie des Versuchs, den Menschen in einer göttlichen
Ordnung zu konzeptualisieren, sondern versucht ihn mit naturwissenschaftlichem Blick zu beobachten. Natürlich könnte man im Wandel des Denkbildes eine radikalisierende Transmutation sehen, doch spricht die das Denkbild konstituierende Repräsentationspragmatik dagegen.
Nicht mehr die Anatomie leitet die soziografische Repräsentationspragmatik, sondern die Universalsprache der Mathematik. Im Gegensatz zum Gebrauch des Mathematischen als Hilfsmittel bei Petty kann man für die Soziografie Quételets von einer „gegenstandskonstitutiven Funktion der Mathematik“ sprechen und mit Gander die „Fundamentalbestimmung des empirischen
Gegenstandes als eines solchen“233 herausstellen. Quételet schien sich über die „gegenstandskonstitutive Funktion der Mathematik“ nicht im Klaren zu sein. Cournot war der Erste, der
230
Etwa in der Zeit seines Aufenthalts in Paris und des Treffens mit Jean Baptiste Fourier kam Quételet der Einfall, die Statistik
seine astronomischen Forschungen durch die terrestrischen Forschungen zu ergänzen. Die astro-physikalische Terminologie Quételets versteht sich durch Quételets astronomische Forschungsherkunft (vgl. Landau/Lazarsfeld 1978, S. 825).
231
Rölli 2011, S. 16.
232
Vgl. Smith 2011.
233
Gander 1988, S. 38.
73
darauf hinweist, dass Quételets Grundlegung der Soziografie und seine Blindheit gegenüber der
„gegenstandskonstitutiven Funktion der Mathematik“ ein „monströses“ Konzept des (Durchschnitts-)Menschen ist. An dem Beispiel des Dreiecks versucht Cournot zu zeigen, dass Quételets statistische Methoden ein Bild des Menschen simuliert, es aber tatsächlich ein bloßes Zerrbild ist. Er führt an, dass, wenn man die durchschnittliche Seitenlänge von rechtwinkligen Dreiecken nimmt und daraus ein Dreieck versucht zu konstruieren, man kein rechtwinkliges Dreieck
mehr erhalte. Was Cournot damit zum Ausdruck bringen will, ist, dass Quételets Orientierung
am Durschnittswert kein adäquates Mittel zur statistisch-präzisen Wiedergabe von Fakten darstellt.234 In diesem Sinne verwerfen Halbwachs und Durkheim ebenfalls das Konzept des
„homme moyen“ als zu simplistisch.235
Die Orientierung an der Faktizität bzw. den positiven Fakten („fait“) des Menschen teilt Quételet mit Comte. Dort heißt es programmatisch:
«Tout se réduit donc à une simple question de fait : la philosophie positive, qui, dans, les deux
derniers siècles a pris graduellement une si grande extension, embrasse-t-elle aujourd’hui tous
les ordres de phénomènes ? Il est évident que cela n’est point, et que, par conséquent, il reste
encore une grande opération scientifique à exécuter pour donner à la philosophie positive ce
caractère d’universalité indispensable à sa constitution définitive […] Maintenant que l’esprit
humain a fondé la physique céleste, la physique terrestre, soit mécanique, soit chimique ; la
physique organique, soit végétale, soit animale, il reste à terminer le système des sciences en
fondant la physique sociale. Tel est aujourd’hui sous plusieurs rapports capitaux, le plus grand
et le plus pressant besoin de notre intelligence.»236
Comte charakterisiert den Begriff des Positiven anhand von sechs Oppositionen. Er grenzt es
als Tatsächliches vom Eingebildeten, als Nützliches vom Überflüssigen (in Bezug auf die Erkenntnis), als Gewissheit und Genaues von dem Ungewissen, als Fähigkeit zu organisieren von
der Fähigkeit zu zerstören und schließlich als relatives Denken vom absoluten Denken ab.237
Wie Gander darlegt, bezeichnet es das als positiv verstandene Seiende und zum anderen die als
„nouvelle philosophie générale“ aufgefasste „philosophie positive“.238 In Hinblick auf die sechs
Charakteristika, die den Begriff des Positiven sowohl durch normative als auch durch erkenntnistheoretische Kriterien nachzeichnen, wird deutlich, dass die „philosophie positive“ in einem
gesellschaftspolitischen Kontext steht. Denn es bringt eine normative Dimension in die positive
234
Vgl. Bernstein 1998, S. 159.
235
Vgl. Betz 2012.
236
Comte zitiert nach Giddens 1982, S. 70 f..
237
Vgl. Comte 1966, S. 85–91.
238
Vgl. Gander 1988, S. 51.
74
Wissenschaft mit ein. Ein Positivismus-Begriff, der das Positive mit dem Empirischen identifiziert, verkennt somit auch den gesellschaftspolitischen Kontext. Das Positive bezeichnet für
Comte nicht nur eine Ausrichtung am Empirischen und eine Grundlegung der Wissenschaften
durch eine vorurteilsfreie Beobachtung, sondern selbst eine wissenschaftliche und gesamtgesellschaftliche Ausrichtung. Der Positivismus erhebt die Soziografie in gewisser – paradoxer –
Weise zu einer spekulativen Vernunft. Gegen ihren eigenen Anspruch steht der Positivismus
für eine Ersetzung bzw. Verwechselung naturwissenschaftlicher Rationalität und spekulativer
Vernunft (mit der Gefahr des Verlustes einer kritischen Beurteilung der bildungspolitischen
Auswirkungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.) Dafür spricht auch, wie Plé zeigt, dass
der Positivismus nicht als eine Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden charakterisiert
werden kann, sondern selbst als gesellschaftstheoretische und politische Strategie in den „Humanwissenschaften“ entstanden ist.239
„Die Hauptidee ist [...], daß heute die Politik eine positive und Naturwissenschaft werden muß
und kann, ebenso wie es die Astronomie, die Chemie usw. sind; daß mein Werk dies zum Ziel
hat; und daß hier das einzige Mittel liegt, um die revolutionäre Epoche zu beenden, in der wir
uns noch befinden, indem alle Denkenden zu einer einzigen Weltanschauung konvergieren; daß
dadurch eine neue spirituelle Macht entstehen wird, die dazu in der Lage sein wird, den Klerus
zur ersetzen und Europa durch Erziehung neu zu gestalten; und schließlich, daß man mit Bedacht von allen Erneuerungsversuchen der bestehenden Regierungsformen abstand nehmen
muß, bis die Ausbildung dieser Weltanschauung abgeschlossen sein wird [...].“240
Der erkenntnistheoretische Realismus des Positivismus hat die Aufgabe, die Gesellschaft von
metaphysischen, theologischen und sonstigen Trugbildern der Geschichte zu reinigen. Die wissenschaftliche Ausrichtung am Positiven verfolgt somit das gesellschaftliche Ziel, ein positives
Zeitalter zu erreichen und zu vervollkommnen, welches das metaphysische Zeitalter und das
theologische Zeitalter ablöst. Comtes Theorieentwurf unterliegt dabei der Idee des Dreistadiengesetzes, das besagt, dass Gesellschaft von der jeweiligen ihr zugrunde liegenden Wissenschaft als Erklärungsmodell und Repräsentationspragmatik konstituiert wird und drei Stadien
durchläuft. Comte unterscheidet ein theologisch-fiktives, ein metaphysisches und ein positives
Stadium. Die positiven Wissenschaften stellen ein Mittel dar, um das theologisch-fiktive und
metaphysische Stadium zu überwinden. Dies kann nur durch die Unterordnung der Einbildungskraft unter das Positive geschehen,241 wodurch das Positive durchaus auch als Pragmatik
239
Vgl. Plé 1999, S. 1289 f.
240
Comte zitiert nach Fuchs-Heinritz 1998, S. 92.
241
Vgl. Comte 1975, S. 85 ff.
75
im Sinne einer Handlungsanleitung gelesen werden kann. Es geht Comte um die „ständige Verbesserung unserer individuellen und kollektiven Lebensbedingungen im Gegensatz zur Befriedigung einer unfruchtbaren Neugier“, und hebt dabei besonders die organisatorische und erzieherische Aufgabe der positiven Philosophie hervor.242 Letztendlich können diese organisatorische Dimension der Philosophie und damit auch die gesellschaftlichen Verbesserungen nur
dann eintreten, wenn der Mensch die Frage nach den letzten Gründen („Warum“) aufgibt und
eine genaue Deskription des Faktischen („Wie“) aufnimmt.243 Comtes Forderungen als antimetaphysisch zu verstehen, ist jedoch verkürzt, da die Forderung des Positiven als Fluchtpunkt
der Menschheit durchaus religiös besetzt ist und sich selbst nur schlecht deskriptiv rechtfertigen
lässt.
Wie auch bei Quételet ist Comtes Theorieentwurf in Relation zu dem Diskurs über die Einführung mathematischer Methoden in den Sozialwissenschaften („science sociale“) als Mittel der
Aufklärung und als Motor des gesellschaftlichen Fortschritts zu sehen. Ausgehend von den
Überlegungen Condorcets über die Applizierbarkeit des Kalküls in den „sciences morales &
politiques“ entstand eine im 19. Jahrhundert andauernde Diskussion um eine „mathematique
sociale“.244 In einem Manuskript behauptet er, dass auch wenn sich die wissenschaftlichen
Wahrheiten und Gegenstände unterscheiden, es jedoch möglich ist, denselben Grad an Sicherheit in den Moral- bzw. Gesellschaftswissenschaften („sciences morales“) wie in den physikalischen Wissenschaften bzw. Naturwissenschaften („sciences physiques“) zu erreichen.245
Grundlage dieser Vermutung ist die Idee, dass die Natur von invariablen Gesetzen regiert wird
und dass diese, die sich in den Phänomenen zeigen („que la nature suit des loix invariables, &
que les phénomènes observés nous ont fait connoître ces loix“)246, mathematisch kalkulierbar
sind.
Condorcets Überlegungen zu einer „mathematique sociale“ gründen in dem Werk Rousseaus.
So muss auch die Idee einer „volonté générale“, eines Gemeinwillens, als Bedingung der Legitimität des Staates, als Motivationsmoment für Condorcets Fragestellung nach einer mathematisch angemessenen Repräsentation des Volkswillens gelten. Der Anschluss an Rousseaus wissenschaftskritisches Werk ist dabei in keiner Weise selbstverständlich. Doch lässt sich vermu-
242
Vgl. Comte 1975, S. 85 ff.
243
Vgl. Fuchs-Heinritz 1998, S. 94.
244
Vgl. Mucchielli, Laurent 2002, S. 3.
245
Vgl. Condorcet 1974, S. 96.
246
Condorcet 1785, S. X f.
76
ten, dass es der weit gefächerte Naturbegriff Rousseaus ist, den Condorcet mittels einer Synthese von Anthropologie und Mathematik zur Idee einer „mathematique sociale“ führt.
Rousseau These, dass der Mensch ein natürliches Wesen sei und der Ordnung der Natur zugehöre, legt schließlich auch eine wissenschaftliche Ausdeutung nahe, die es erlaubt, den Menschen als Naturwesen in Hinblick auf seine mathematisch erfassbare Naturgesetzmäßigkeit zu
untersuchen. Dabei geht allerdings nicht nur der wissenschafts- und fortschrittskritische Aspekt
Rousseaus verloren, sondern auch sein spezifisch sensualistischer Ansatz. Dieses wird in dem
Satz deutlich, in dem Condorcet schreibt: «L’existence même du corps n’a que cette véritable
probabilité exprimée à la manière des géomètres.»247
Neben Condorcets Pragmatismus ist es gerade die wissenschaftlich-mathematische Auffassung
des rousseauschen Naturbegriffs, die Condorcets soziografische Überlegungen stützt. Gleichzeitig folgt aus dieser Interpretation, dass wenn der Mensch von Naturgesetzen beherrscht ist,
es zugleich die Gesellschaft sein muss und eine Ermittlung der Gesetzmäßigkeit bzw. der mathematischen Erfassung menschlicher Bedürfnisse eine Veränderung der Gesellschaft bewirken
kann. Vor diesem Hintergrund untersucht Condorcet die Wahrscheinlichkeitsrechnung als
Möglichkeit einer wahrheitsgemäßen, wissenschaftlich strikten und gerechten Ermittlung von
gesellschaftlicher und staatlicher Meinungsbildung und Urteilsfindung. Diese im 1785 erschienen Essay Essai sur l'application de l'analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité
des voix versuchen mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Grundlage gerechter
Wahlen zu ermöglichen und zugleich damit zu einer Verbesserung des Staatswesens und
schließlich zur Entwicklung des Menschen („progrès de l‘esprit humain“) beizutragen. 248 Die
Mathematik in den Sozialwissenschaften ist für Condorcet aus zwei Gründen bedeutend:
«[…] 1) que le calcul a du moins l’avantage de rendre marche de la raison plus certaine, de lui
offrir des armes plus fortes contre les subtilités et les sophismes ; 2) que le calcul devient nécessaire toutes les fois que la vérité ou las fausseté des opinions dépend d’une certaine précision
dans les valeurs.»249
Folglich bietet die Mathematik eine Präzision, die mit sprachlichen Mitteln niemals erreicht
werden kann. Dennoch ist der Fall einer falschen, zur Verwirrung führenden Applikation der
Mathematik in den Sozialwissenschaften denkbar. In Briefen an Pierre Verri äußert Condorcet
247
Condorcet 1974, S. 95.
248
Vgl. Dierse, Ulrich 1990, S. 109.
249
Condorcet 1974, S. 97.
77
Bedenken über den Nutzen der Geometrie für die Sozialwissenschaft.250 Wie schon oben erwähnt, scheint für Condorcet die Wahrscheinlichkeitsrechnung nur zu einer Steigerung der Präzision zu führen: zu einer Umsetzung gerechterer Volksentscheide, nicht aber zu einer Verwaltungsmöglichkeit des moralischen Verhaltens.
Die Spekulationen von Condorcet in einem 1795 posthum veröffentlichten Artikel im Journal
d’Instruction sociale über eine „mathematique sociale“ scheinen nicht zu einem System gebracht worden zu sein. Wie jedoch deutlich zu wird, versucht sich Condorcet mit dem Begriff
der „mathematique sociale“ von einer arithmetischen und geometrischen Applikation der Mathematik in Pettys „Politicial Arithmetic“ und Buffons „Arithmetique Morale“ abzugrenzen.251
Insgesamt ist bei Condorcet die Orientierung der Mathematik als Instrument der Wahrheitsfindung in Zusammenhang mit dem aufklärerischen Programm zur Förderung und Entwicklung,
d. h. dem Fortschritt des „esprit humain“, zu charakterisieren.
Der Unterschied zwischen Quételets und Comtes Theorieentwürfen wird durch ihre Positionierung in der im Anschluss an Condorcets diskutierten Frage nach der Rolle der Mathematik in
den „sciences sociales“ deutlich. Für Comte stellt sich das Problem, wie für Saint-Simon, dessen Sekretär er war, als Frage, wie Wissenschaft im Allgemeinen beschaffen, d. h. aufgebaut
sein soll, damit sie als Motor des Fortschritts operieren kann.252 Das heißt, die Rolle der Mathematik für die „sciences sociales“ bestimmt sich für Comte allgemein durch eine Reflexion
über die Wissenschaft überhaupt und ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen bzw. ihre Rolle.
Diese setzt Comte im ersten Band seinen Cours de Philosophie Positive der Ausarbeitung des
Positivismus voran.
«La mathématique (1) est maintenant assez développée, soit elle-même, soit quant à ses applications les plus essentielles, pour être parvenue à cet état de consistance, dans laquel on doit
s’efforcer de coordonner en un système unique les diverses parties de la science, afin de préparer de nouveaux progrès.»253
Mathematik ist für Comte die Grundlage und der Ausgangspunkt des Stufenbaus der Wissenschaften. Eine Applikation in den „sciences sociales“ bzw. der „sociologie“ hält Comte jedoch
für undenkbar. Vielmehr spricht er von der Mathematik im Singular, um einen einheitlichen
250
Vgl. Condorcet 1974, S. 101.
251
Vgl. Condorcet zitiert in Granger 1989, S. 2.
252
Vgl. Sandkühler 2002, S. 63.
253
Comte OAC 1968, Bd. 1, S. 97.
78
Geist zu benennen, aus dem heraus er die Wissenschaft zu verstehen und zu entwerfen trachtet
(hierbei bezieht er sich explizit auf Condorcet).254
«C’est donc par l’étude des mathématiques, et seulement par elle, que l’on peut se faire une
idée juste et approfondie de ce que c’est une science.»
Die Mathematik gilt somit als Maßstab aller Wissenschaften. In diesem Sinne isoliert Comte
die konkrete bzw. angewandte Mathematik („mathématique concrète“) von der abstrakten oder
reinen Mathematik („mathématique abstraite“) 255 oder, wie man auch sagen könnte, die Mathematik von dem Mathematischen.256 Denn was Comte mit der Idee des Mathematischen im
Auge hat, ist eine Denotation des positiven Geistes. Nur mit der Idee eines Mathematischen ist
es systematisch möglich, die Hierarchie der Wissenschaften, wie es Comte tut, in einer Disziplin zu gründen, da die Voraussetzung für den inneren Zusammenhang von einem Prinzip gesichert werden und geordnet werden muss. Der Zusammenhang und die Ordnung der Wissenschaftshierarchie ergeben sich für Comte durch das Konzept des Mathematischen. Gleichzeitig
ist in dieser systematischen Operation auch ein Referenzpunkt für die gesellschaftspolitische
Dimension von Comtes Unternehmen gefunden. Denn das Mathematische ist das Regulativ
eines positiven Geist, den es wissenschaftlich und gesellschaftlich zu realisieren gilt und der
zugleich für die Sicherheit und Ordnung einer positiven Gesellschaft zuständig ist.
Vor allem hat die Soziografie in Frankreich die Erziehungsdiskussion und Bildungspolitik
nachhaltig beeinflusst, galt sie doch als ein Mittel zu einer moralischen Besserung und rationalen Entwicklung der Gesellschaft, d. h. zu einem Fortschritt der Gesellschaft unabhängig religiöser und herrschaftlicher Ideologien mittels wissenschaftlichem Geschick, wie es die französischen Aufklärer beabsichtigten. Condorcet, der – wie wir gesehen haben – einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung einer Soziografie als wissenschaftliches Mittel zur Umsetzung politischer Ideen und Ziele der Aufklärung innehatte, formuliert maßgeblich für die französische Aufklärung, dass die Wissenschaft ein politisches Mittel zur Befreiung der Bevölkerung und Entwicklung des Menschen ist und von daher als „einziges Maß“ für eine Erörterung
gesellschaftspolitischer Fragen in Aussicht steht.257
254
«J’emploierai souvent cette expression au singulier, comme l’a propose Condorcet, afin d’indiquer avec plus d’énergie
l’esprit d’unité dans lequel je conçois la science.» (Comte OAC 1968, Bd. 1, S. 97, Anm. 1)
255
Vgl. Comte OAC Paris, 1968, Bd. 1, S. 110.
256
Von dem Mathematischen als regulative Idee in Comtes Werk, anstatt von der Mathematik zu sprechen, erweist sich deshalb
auch als sinnvoll, da Comte weder ein Kenner der Mathematik noch selbst Mathematiker war, wie Serres Tannery und
Pickering hervorheben (vgl. Pickering 1993, Vol. 1, S. 585).
257
Vgl. Lahner 2011, S. 22.
79
„Das Wichtigste ist vielleicht, dass sie [die Wissenschaften, M. B.] die Vorurteile zerstört und
die menschliche Intelligenz gleichsam wieder aufgerichtet haben, nachdem sie all den falschen
Richtungen sich hat beugen müssen, welche durch die absurden Glaubensvorstellungen vorgeschrieben waren, die jede Generation von Kindheit an zusammen mit dem Schrecken des Aberglaubens und der Furcht vor der Tyrannei mitgegeben werden.“258
Demnach formuliere Wissenschaft eine universale, von religiösen und machtpolitischen Aspekten unbeeinträchtigte Sprache – eine universelle Sprache der Vernunft –, die als einziges
gültiges Maß der politischen Vernunft und so der vernünftigen und moralischen Entwicklung
und Emanzipation der Gesellschaft wirksam ist. Gerade auch dadurch, dass der enge Kreis der
französischen Aufklärer die Soziografie in den Zusammenhang der Ideen der Befreiung des
Menschen und der Entwicklung der Gesellschaft stellt und sie als universales Mittel zur Umsetzung einer gesellschaftlichen Verbesserung im Sinne der Bevölkerung stellt, erlangt sie ihre
politische Relevanz und Brisanz. Dadurch erklärte sich auch die Kontinuität der Rolle soziografischer Erfassung nach der Revolution innerhalb der französischen Republiken. Erst durch
den Wissenschaftsenthusiasmus, der eng mit der Idee einer Mathematik als Mittel zur objektiven Wahrheitsfindung verbunden ist, ergibt sich so eine historische Konstellation innerhalb der
Aufklärung Frankreichs, die den universalistischen Anspruch und das revolutionäre Sendungsbewusstsein verstehen lässt. Auch wenn, wie Schlobach darlegt, der universalistische Anspruch
darüber hinaus maßgeblich von der „absolutistischen Kulturpolitik Frankreichs im 17. Jahrhundert […], die im 18. Jahrhundert fortwirkt und fortgesetzt wird“259, geprägt ist.
Obwohl die Soziografie eine vorurteilsfreie und aufgeklärte Selbstverwaltung des Volkes in
den Blick bringt, so darf jedoch nicht vergessen werden, wie sie dies tut. Eines der wesentlichen
Probleme der an den mathematisch fundierten Naturwissenschaften orientierten, in der Soziografie und der Statistik zur Anwendung gebrachten Aufklärung ist, wie in Zusammenhang der
Moralstatistik, Soziophysik und Soziologie Comtes deutlich wurde, dass diese die gegenstandskonstitutive Funktion der Soziografie verkennen. Die mathematische Formalisierung muss in
diesem Zusammenhang als nicht unproblematische Einschränkung des Soziografischen verstanden werden, da dadurch die Sensibilität gegenüber der Fragwürdigkeit mit der Politik verloren geht. Deutlich wird dies gerade in reduktionistischen Konzepten wie dem „Durchschnittsmenschen“. Problematisch ist dieser nicht als Möglichkeit zur Regulierung der Politik und der
258
Marquis de Condorcet zitiert nach Lahner 2011, S. 22.
259
Schlobach 1992, S. 200.
80
Bildungspolitik, sondern insofern, als dass dadurch kein kritisches Maß, keine kritische normative Urteilskraft konstituiert wird, sondern die Illusion technokratischer Habhaftigkeit gefördert
wird.
Ergebnis des zweiten Teils: Ökonomische Rationalität und politischer
Realismus als Abstoßungspunkt des kritischen Bildungsdenkens
Wie nun deutlich wurde, ist die Phänomenotechnik der Soziografie, d.i. die mathematisch-statistische formalisierte Erfassung des sozialen Raumes, grundwesentlich für die Herausbildung
moderner Bildungspolitik. Denn durch sie konstituiert sich – die Probleme der Erziehung übersteigend – der Verständnisrahmen für das Soziale in Hinblick auf die Probleme der Bildung
sowie der Orientierungsrahmen für die Ausbildung von Strategien bildungspolitischen Handelns. Wie aus der Untersuchung ersichtlich, ist die Rationalität und der Realismus moderner
Bildungspolitik in seiner Spezifizität durch die soziografischen Techniken geprägt, die das Politische allererst vor- und herstellen. Dies ist noch heute ersichtlich an der grundlegenden Bedeutung der Bildungsforschung und der Bildungsökonomie für die Bildungspolitik. Beide Disziplinen sind wesentlich für die Erfassung des sozialen Raumes in Hinblick auf Bildung und
wirken als Orientierungsrahmen gegenwärtigen bildungspolitischen Handelns.
Hier wie auch im Zusammenhang der Erziehung haben wir gesehen, dass die Begriffe der Bildung und der Ökonomie keine antithetischen Begriffe sind. Während aber die Prinzipien und
Strategien der Erziehung an der Ökonomie des Hauses orientiert sind, werden die Prinzipien
und Strategien der Bildung an der politischen Ökonomie orientiert. In beiden Fällen ist der
Begriff der Ökonomie nicht als amoralischer Begriff zu verstehen, wie es ein durch den Neoliberalismus geprägtes Verständnis nahelegen könnte. Der Sache nach sind sowohl die Ökonomie des Haushalts als auch die politische Ökonomie implizit oder explizit in einen Begriff der
Moralität bzw. der Sittlichkeit eingebettet und auf einen solchen ausgerichtet. Da aber die Soziografie als deskriptive Wissenschaft keine normative Wissenschaft ist, kann Bildungspolitik
durch die mathematische Orientierung allein nicht vernünftig sein bzw. werden.
Die mit der mathematischen Orientierung zusammenhängende Kategorie des Ökonomischen
als Orientierungsrahmen ist, wie oft postuliert, kein der Bildung entgegenstehender Begriff.
Wie aus geschichtlicher, problemlogischer Perspektive ersichtlich wird, ist eine Kritik der Ökonomisierung aber in zweifacher Hinsicht gerechtfertigt. Erstens ist sie gerechtfertigt, wenn sie
81
herausstellt, dass die mathematische Orientierung von Bildung, d.h. das Ökonomische als Leitbegriff der Bildungspolitik, nur eine unter anderen Orientierungsweisen der Bildung darstellt.
Auch wenn die mathematische Orientierung grundsätzlich konstitutiv für die Möglichkeit moderner Bildungspolitik ist, so ist sie noch keine ausreichende Bedingung für eine vernünftige,
normative Orientierung der Bildungspolitik. Wie wir gesehen haben, ist die mathematische Orientierung der Sache nach eine empirisch-deskriptive Orientierung. Ihre Kompetenz liegt in der
Erfassung des sozialen Seins, nicht aber des politischen Sollens. Analog zum Humeschen Fehlschluss ist dies auch nicht möglich – dazu später. Zu einer vernünftigen Bildungspolitik gehört
zumindest eine Sensibilität für die formalen und materialen Herausforderungen der Erziehung
als auch das Denken des Politischen als Frage nach den langfristigen, allgemeinen und speziellen Zielen der Bildung.
Aus problemgenetischer Perspektive erscheint eine Kritik der Ökonomisierung in einer zweiten
Hinsicht gerechtfertigt und notwendig. Wie im Zusammenhang des Positivismus deutlich
wurde, besteht in der Moderne subkutan die Auffassung, durch eine mathematische Orientierung der Bildung – der Orientierung am Ökonomischen als Leitbegriff der Bildungspolitik –
die moralische Entwicklung des Individuums als auch die Entwicklung sittlicher Ordnung politisch steuern zu können. Diese positivistische Überhöhung des Stellenwerts mathematischökonomischer Orientierung ist nicht nur unzulässig, da sie einen Kategorienfehler begeht (s.o.),
sondern auch, weil sie mit ihren Methoden keinen Begriff des Moralischen bzw. Sittlichen positiv formulieren und begründen kann. Grundsätzlich fragwürdig bleibt, ob man mit quantitativen Methoden die Bedingungen moralischer bzw. sittlicher Entwicklung erkennen kann. In
Hinblick auf ihre Problemgeschichte besteht der Stellenwert der mathematischen, wissenschaftlich-objektiven Orientierung von Bildung gerade darin, dass sie qualitative, normative Faktoren
und die damit zusammenhängenden Erkenntnismodi ausgrenzt. Wie deutlich wurde, ist die
Wandlung der Problemlogik der Bildung vom theologischen zum politischen Problem der Konstitution der Kategorie der politischen Ökonomie geschuldet. Im Gegensatz zu dem der Heilsökonomie ist der Orientierungsrahmen der politischen Ökonomie kein logisch-begrifflicher,
sondern ein mathematisch konstituierter. Dies ist wichtig zu wiederholen, um die Differenz der
Orientierungsrahmen kenntlich zu machen. Denn durch die mathematische Konstitution ist der
Orientierungsrahmen der politischen Ökonomie kein grundsätzlich ethischer. Dagegen ist der
Orientierungsrahmen der Heilsökonomie aufgrund seiner spekulativen oder logisch-begrifflichen Konstitution grundsätzlich als ethischer auszulegen. Das Problem, das mit der politischen
Ökonomie, d.h. der mathematischen Orientierung gegeben ist, entspringt hier aus ihrer Funktion als Substitut der Heilsökonomie als Orientierungsrahmen der Bildungspolitik. Obwohl die
82
politische Ökonomie den Orientierungsrahmen moderner Bildungspolitik darstellt, ist mit ihr
kein Wertedenken verbunden. Da sie geschichtlich zugleich aber die funktionale Relevanz der
Heilsökonomie einnimmt – diese substituiert –, besteht der latente Fehlschluss, die mathematische Orientierung dahingehend fehlzudeuten. Als gutes Beispiel dieser Missinterpretation, dieses Kategorienfehlers ist das positivistische Denken. Es liegt nicht darin falsch, den immensen
gesellschaftlichen Wert mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu überhöhen. Es
irrt, wenn es diese zum alleinigen Orientierungsrahmen im Umgang mit der Bildung macht und
den mathematisch-naturwissenschaftlichen Umgang mit der Fragwürdigkeit des Menschen
pseudoreligiös übersteigert. Auch heute ist diese pseudoreligiöse Übersteigerung der mathematischen Orientierung am Begriff des Fortschritts abzulesen. Häufig wird der ökonomische Fortschritt implizit als Heilsversprechen ausgelegt und mit der politischen Ökonomie eine Teleologie verknüpft. Dies erklärt sich daraus, dass die mathematische Orientierung als wertneutralobjektive Kategorie in einer pluralistischen Gesellschaft die Grundlage einer die heterogenen
Wertvorstellungen übergreifenden Umsetzung von Bildung überhaupt leistet. Erst durch sie
konnte Bildung zu einem übergreifenden politischen Projekt in der Moderne werden, auch in
negativer Weise. Denn weil die Bildungspolitik in der Moderne grundlegend mathematisch orientiert ist, wirft sie Fragen über die Grenzen ihrer Erkenntnis auf.
In dieser Hinsicht wurde im zweiten Teil deutlich, dass und inwiefern durch soziografische
Techniken sich eine Vorstellung politischer Ökonomie entwickelt hat als konstitutive Grundlage bildungspolitischer Regulierung und Rationalität. Dabei wurde ersichtlich, dass sich durch
die Soziografie eine Vor- und Zuhandenheit der Faktoren und Elemente politischer Ökonomie
konstituiert als Möglichkeitsbedingung gouvernementaler Regulierung. So lässt sich sagen,
dass ohne den Blick auf soziografische Mittel die genetische Konstitution der modernen Bildungspolitik nur unzureichend verstanden werden kann. Durch das bisher Erörterte wird vielmehr deutlich, dass durch die Soziografie eine instrumentelle Rationalität gouvernementaler
Regulierung allererst denkmöglich wird. Auch wenn verschiedene andere Faktoren im Prozess
des Regierens eine Rolle spielen, so ist es ein Spezifikum moderner Gouvernementalität, dass
ihr Legitimations- und Entscheidungsrahmen durch die politische Ökonomie bestimmt wird,
dessen Objektivation ohne die Wissenschaft der Soziografie nicht verstanden werden kann. Als
besonders wichtiger Faktor der Entwicklung der Soziografie wurde die zunehmende mathematische Formalisierung erkannt, wodurch ein Relevanzverlust kartografischer, plastischer Vorstellungskraft für die politische Urteilskraft erfolgt. Bis 1800 ist die Statistik als Grundpfeiler
83
in der politischen Entscheidungsfindung und gouvernementaler Regulierung etabliert. Korrelativ zum Umfang, der Präzision und der Möglichkeiten statistischer Erhebungen steigern sich
der Umfang, die Präzision und die Möglichkeiten staatlicher Einflussnahme auf die Bildung.
Die Plausibilität der Überlegungen der Regulierung der Bildungspolitik mit statistischen, mathematischen soziografischen Mittel ist insofern einsichtig, da sich durch sie ein aufgeklärter
politischer Realismus entwickelt. „Aufgeklärt“ insofern, da durch den wissenschaftlich fundierten, methodisch-distanzierten und objektiven Umgang mit der Fragwürdigkeit von Politik in
der Soziografie ein dogmatischer, doxographischer und gar willkürlicher Umgang mit Politik
verdrängt wird. Denn da die Soziografie die Politik in wissenschaftlicher Weise, methodisch
als Objekt herstellt, ist sie allgemein bindend und notwendig. Gleichzeit liegt in dieser Art der
soziografischen, formalisierten Herstellung des Politischen eine grundlegende Problematik. So
werden durch die an dem Leitfaden der Mathematik formalisierte Soziografie nicht nur andere
Formen der Soziografie (in der Literatur, der Malerei etc.) und Orientierung verdrängt, da es
ihnen an Wissenschaftlichkeit mangelt, sondern auch, weil die formalisierte Soziografie das
Politische in einer Art objektiviert, dass die eigentümliche Fragwürdigkeit von Politik selbst
aufgehoben zu sein scheint. Alle Figuren, alle Faktoren und Elemente des Politischen erscheinen formal derart präzise und detailreich vor- und dargestellt, dass, wie wir gesehen haben,
selbst spekuliert wird, mit dem Leitfaden der Mathematik die moralische Entwicklung des Menschen insgesamt und allgemein – jenseits individueller Disposition – gouvernemental regulieren zu können. Obwohl der damit zusammenhängende Optimismus, welcher in besonderer
Weise in dem Positivismus Comtes einen Ausdruck findet, dadurch nachvollziehbar ist, dass
mittels mathematisch begründeter soziografischer Methoden eine wissenschaftliche, allgemeingültige und aufgeklärte Regulierung politischer Ordnung und Gründung der Bildungspolitik
möglich wird, sind die damit verbundenen Probleme sehr wohl zu beachten.
So manifestiert sich in den soziografischen Objektivationen die politische Ordnung in der
Weise eines naturwissenschaftlichen Objekts. Zwar wandelt sich das Paradigma der Soziografie, wie wir gesehen haben, von der Anatomie zur Physik, doch wird darin ein wissenschaftlich
distanzierter Umgang mit der politischen Ordnung fundiert. Das Mitsein wird am Leitbild des
Körpers oder der Physik als politische Ökonomie verstanden, wie ein naturwissenschaftlicher
Gegenstand. Die Komplexität des Mitseins und die eigentümliche Fragwürdigkeit von Politik
werden dabei potenziell übersehen. So wird nicht nur potenziell übersehen, dass eine Manipulation politischer und so gesellschaftlicher Ordnung auf Grund ihrer Komplexität nicht in einer
instrumentellen, zweckrationalen Weise manipuliert werden kann, da dadurch wesentliche
praktische und moralische Problemzusammenhänge der Möglichkeit nach übersehen werden
84
können. Insgesamt ist so zu beobachten, dass durch die soziografische Objektivation ein Sensibilitätsverlust für die Komplexität und die Fragwürdigkeit von Politik begünstigt wird.
Mit der sich am Leitfaden der Soziografie ausbildenden politischen Ökonomie als Grundlage
gouvernementaler Regulierung findet eine immer größere Unterordnung von sozialen Zwecken
unter politische Zwecke statt. Besonders deutlich wird dies bei der Erziehung. Die bis etwa
1750 dominierende Primärorientierung der Erziehung an der häuslichen Ökonomik schwindet
in immer größerem Maße durch die Neuorientierung der Zwecke und Ziele der Erziehung an
der politischen Ökonomie. Mit der neben dem kirchlichen Einfluss auf die Ziele der Erziehung
stattfindenden Verschiebung der Primärorientierung der Bestimmung der Ziele und Zwecke der
Erziehung von der häuslichen Ökonomie zur politische Ökonomie entsteht ein gesellschaftliches Spannungsfeld bzw. ein Problemhorizont, in dem die Frage über die allgemeinen Ziele der
Erziehung des Menschen und des Bildungspolitischen aufkommt. Es ist dabei nicht so, dass die
Orientierung der Erziehung an der häuslichen Ökonomie und Kirche verschwindet, sondern
durch die Primärorientierung an der politischen Ökonomie wird die für die Erziehung latente
Problematik der Fremdbestimmung erstmals greifbar. Denn während die Ziele der häuslichen
Ökonomie und des Glaubens eine intrinsische Überzeugungskraft besitzen, so tun dies die Ziele
der politischen Ökonomie nicht. Dies liegt daran, dass die politische Ökonomie keine im Lebensvollzug selbstverständliche Größe darstellt, sondern ihre Realität sich in Zusammenhang
der Praxeologie der Soziografie allererst objektiviert bzw. konstituiert. Gerade weil sie ein Produkt und Modell der wissenschaftlich fundierten, soziografischen Erfassung ist und so aus dem
Lebensvollzug nicht unmittelbar einsichtig ist, sind die im Rahmen der politischen Ökonomie
bestimmten Ziele der Bildungspolitik zunächst uneinsichtig. So erscheint die Fragwürdigkeit
des Politischen in Zusammenhang mit der politischen Ökonomie in einer anderen Weise, sodass
sich die politischen Herausforderungen und Probleme nicht nur anders stellen, sondern auch
grundsätzlich andere sein können.
85
III. Über die logische Konstitution und Orientierung von
Bildung
Einleitung: Der philosophische Bildungsdiskurs als Frage nach der
Grundlegung politischer Urteilskraft in erkenntnistheoretischer, pädagogischer und politischer Hinsicht
Wie im zweiten Teil der Arbeit deutlich wurde, konstituiert und legitimiert sich der moderne
bildungspolitische Realismus und Rationalität durch die mathematische Orientierung. Geschildert wurde, wie – im Umgang mit den Herausforderungen der Reformation – bis ins 18. Jahrhundert eine Verwissenschaftlichung der Grundlagen der Bildungspolitik stattfand. Dieser Prozess steht nicht für sich allein, sondern im Zusammenhang der wachsenden Bedeutung der mathematisch fundierten Wissenschaften für westliche Gesellschaften und dem damit verbundenen Erkenntnis- und Fortschrittsoptimismus. Durch die mathematische Orientierung erscheint
eine über die konfessionelle Pluralisierung moderner Gesellschaft hinausgehende und davon
losgelöste Bildungspolitik erstmals möglich. Der bildungspolitische Erkenntnis- und Fortschrittsoptimismus entsteht durch die mathematische Orientierung, da damit Kalkulierbarkeit,
Planbarkeit und Machbarkeit in einer völlig neuen, bis ins soziologische Detail möglich wird.
Zudem entstehen durch die wissenschaftliche Grundlegung der Legitimität von Herrschaft
grundsätzlich neue Ansprüche der Macht und der Ausweitung staatlicher Lenkung, Kontrolle
und Leitung. Die Bedingungsmöglichkeit einer solchen ins soziologische Detail gehende Politik ist an die Phänomenotechnik der Soziografie gebunden und – wie oben deutlich wurde – an
die Ausgrenzung des an andere Erkenntnisweisen gebundenen politischen Utopismus.
Um die wissenschaftliche Bestimmung der Bildung des Politischen entsteht, ausgelöst durch
eine Erfahrung der Fremdbestimmung in der Erziehung, Mitte des 18. Jahrhundert eine Diskussion nach den normativen Zwecken und Zielen der Bildungspolitik: die Debatte um Bildung
oder das spekulative Problem der Grundlegung und Legitimierung von Bildungspolitik überhaupt. Fraglich wird in Abgrenzung zum Leitbegriff des Ökonomischen, wie eine Bildungspolitik jenseits häuslicher und politischer Ökonomik und kirchlicher Lehre zu verstehen wäre und
normativ begründet werden kann. Das politische Problem der Bildung wurde vor allem als
Frage nach der prinzipiellen Grundlegung einer Pädagogik verstanden, da die mathematische
Orientierung der Bildung – die Erziehung übersteigend – allgemeine bzw. politische Ziel der
86
Bildung formuliert ohne dabei eine allgemeine Theorie der Erziehung des Kindes zu formulieren, in der die singulären Anforderungen der Bildung Berücksichtigung fänden. Die nun erfolgende Untersuchung der Rolle spekulativer Orientierung für die Entfaltung des bildungspolitischen Geschicks in der Moderne bedarf zunächst einer Bestimmung des Rahmens, in dem sich
der Begriff der Bildung entfaltet. Die Feststellung, dass der Begriff der Bildung ein Leitmotiv
der Aufklärung ist, liefert nur ein approximatives Verständnis des Begriffs der Bildung. Viel
zu vage ist der Begriff der Aufklärung, hatten wir doch gesehen, dass die Soziografie ebenfalls
als eine Praxeologie des Aufklärens verstanden werden muss, deren Entwicklung über das 18.
Jahrhundert als „Epoche der Aufklärung“ weit hinausreicht. Aufklärung als einheitliches Phänomen im Sinne einer „Epoche“ oder eines „Singularphänomen“ zu fassen, erscheint vielmehr
als ein Produkt historiografischer Phantasie und rhetorisch-polemischer Übertreibung als das
eines kritischen Geschichtsbewusstseins.260 Wie Jüttner und Schoblach darlegen, ist die Forschung längst von Topoi abgerückt, die die Aufklärung entweder tendenziell auf eine Bedeutung reduzieren, wie etwa der „Mensch der Aufklärung“, „Epoche der Aufklärung“, oder gar
als teleologischen Geschichtsprozess, der in der Revolution seine Bestimmung findet, verstehen.261 Sie lassen verstehen, dass die Mythisierung der Aufklärung dadurch bedingt ist, dass
solche konstruktivistischen Ansätze dazu tendieren, aus den unterschiedlichsten, heterogenen
Denkansätzen unter Missachtung der Quellenlage einige wenige Ansätze oder Auffassungen
als „prototypisch“ zu inszenieren.262 So etwa läuft die Darstellung der Aufklärung als Epoche
der „Rationalisierung“ z. B. Gefahr zu übersehen, dass gerade Mysteriensucht und wissenschaftlicher Schwindel durchaus verbreitete Phänomene des 18. Jahrhunderts sind, wovon die
Fallbeispiele in Kalkas Buch Phantome der Aufklärung einen plastischen Eindruck vermitteln.263 Man darf so auch nicht vergessen, dass etwa die Soziografie eine zunehmende Kenntnis
und Aufklärung der Lebensbedingungen ermöglicht, als Soziographie jedoch zugleich immer
auch in anderen Vorstellungstypen eingebettet ist.264
Dass die Aufklärung kein einheitliches Phänomen ist, lässt sich daran feststellen, dass der Begriff bei den Autoren der Zeit keine einheitliche Verwendung fand.265 Stattdessen zeigt sich an
den Antworten auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ im deutschsprachigen Raum, dass zwar
260
Vgl. Lahner 2011, S. 21.
261
Vgl. Jüttner/Schlobach 1992, S. VII.
262
Vgl. Jüttner/Schlobach 1992, S. VII–VIII.
263
Vgl. Kalka 2006.
264
Man beachte hier etwa fiktive Kartografien als anschauliche Beispiele für eine Einbettung, wie z. B. La Carte Pays de
Tendre des 17. Jahrhunderts (vgl. z. B.: Jacobs 2012, S. 74–77).
265
Vgl. Lahner, 2011, S. 21.
87
dem Begriff der Aufklärung eine große Bedeutung beigemessen wurde, jedoch damit alles andere als eine einheitliche Vorstellung oder Definition assoziiert wird. So schreibt etwa Mendelssohn, dass es sich bei den Worten „Aufklärung, Kultur, Bildung“ noch um „neue Ankömmlinge“ in der deutschen Sprache handelt.266 Die mit dem Begriff verbundene Bedeutungsschwere ist dabei darauf zurückzuführen, dass Aufklärung vielmehr als ein „politisches Problem“ aufgenommen wurde, wie Reinhold formuliert, und zugleich – wie die im Titel von Mendelssohns Aufsatz Über die Frage: was heißt aufklären? angedeutete Auffassung darlegt – mit
der Frage Was ist Aufklärung? die Frage nach dem Zweck einer Aufklärung des Volkes, d. h.
ein reformpädagogischer und politischer Imperativ verbunden war.
Obgleich das Denkbild der Aufklärung als Prozess der Rationalisierung in der Moderne für ein
Selbstverständnis der Moderne sehr bedeutsam war, ist es doch Hegels spekulativem Geschichtsbegriff geschuldet, dass der Moderne eine „interne Beziehung“267 zur Rationalität zugeschrieben wurde und alle sozialgeschichtlichen Phänomene dem Prozess der Rationalisierung
untergeordnet wurden und diesen so keine Eigenständigkeit zugeschrieben wurde. Keineswegs
also kann man in diesem Sinne von einer „Aufklärung“ als Rahmen der Bestimmung des Begriffs der Bildung sprechen, sondern von Aufklärung(en), wie Jüttner und Schlobach darlegen:
„Die weltweit betriebene Aufklärungsforschung läßt nunmehr ein Netz von Kontakten erkennen, das mit Kategorien der Nachahmung und Verspätung nicht mehr charakterisierbar ist. Die
Aufklärung war nicht zuletzt ein kultureller Vermittlungsprozess in ganz Europa, der in den
verschiedensten Formen intellektueller Kommunikation als Dialog zwischen unterschiedlichen
Partnern stattfindet (in Korrespondenzen, der literarischen Presse, in Akademien, in Salons oder
Lesegesellschaften).“268
Wenn wir die Sache und Sinn des Begriff der Bildung nicht durch eine klare epochale Eingrenzung verstehen, so doch im hinblick auf seine Entwicklung durch ein Geflecht von Nah- und
Gruppenbeziehungen. Tatsächlich scheint die Bereitschaft zum „offenen“ Gespräch über Normen ohne Relation zu sozialstrukturellen Entwicklungen, wie der Entstehung „privater, bürgerlicher Anstalten“, in der ein solches Gespräch jenseits der Institutionen des Hofes, der Kirche
und Universitäten möglich war, nur schlecht denkbar. Scheuerl hebt hier hervor, dass die „führenden Köpfe der Aufklärung“, wie etwa Locke, Diderot oder Rousseau, weder an Universitäten gelehrt haben noch im theologischen Umfeld Dienst leisteten.269 Als Beispiel sei hier der in
266
Vgl. Mendelssohn 2006, S. 3.
267
Vgl. Habermas 1988, S. 13.
268
Vgl. Jüttner/Schlobach 1992, S. IX.
269
Scheuerl 1985, S. 79.
88
Bloms Buch geschilderte Salon Holbachs, der eine maßgebliche Rolle in der Entfaltung der
Ideen der französischen Aufklärung gespielt hat.270 Hierbei ist anzumerken, dass das Aufkommen solcher „privaten Anstalten“ ohne die strukturelle Abkoppelung der Erziehung von den
Institutionen, der Privatisierung der Erziehung auch im bürgerlichen Umfeld, nur schwer vorstellbar ist.
Methodischer Exkurs: Aufklärung(en)? Konstellationsanalyse als methodischer Anknüpfungspunkt
Zunächst lässt sich sagen, dass der Begriff der Bildung auf Grund seiner dialogischen und polylogen oder diskursiven Genetik (wobei das diskursive Moment den Begriff der Kontingenz
besser fasst als der Begriff des Dia- oder Polylogs) nur schwer durch die Beschreibung von
Praktiken und Methoden deskriptiv zu fassen ist, da diese oftmals die Konstellation historischer
Einbettung und Verflechtungen außer Acht lassen. Wollen wir diese im Ausblick auf eine Rekonstruktion des Begriffs der Bildung berücksichtigen, so müssen der Begriff der Konstellation
und seine Elemente deutlicher herausgearbeitet und spezifiziert werden. Hier scheint eine Auseinandersetzung mit der „Konstellationsforschung“, die Dieter Henrich im Rahmen seiner Studien zur Formierung oder Entwicklungsgeschichte und -struktur des Idealismus konzipiert, als
ertragreich. Gleichwohl sei gesagt, dass wir im Rahmen der Absicht, den Begriff der Bildung
in Funktion und Bedeutung zu verstehen, nicht daran interessiert sein können, selbst die Konstellationsforschung als eine Methode in unser Werk einzuführen,271 sondern den Begriff der
Konstellation als philosophisches Verständnis der Bedeutungsentwicklung und Rekonstruktion
des „Denkraumes“, in dessen dynamischem Differenzgefüge sich ein Begriff entwickelt, zu
verstehen, um eine Sensibilität für die Strukturgenetik und Phänomenalität des „Denkraums“
zu entwickeln, innerhalb dessen sich der Begriff der Bildung entfaltet und formiert.
Die Profilierung des Begriffs der Konstellation findet im Rahmen von Heinrichs Forschungen
zur Vor- und Entwicklungsgeschichte des Idealismus statt. Die motivationale Einsicht, die zur
Notwendigkeit und Entwicklung dieses Forschungsprogramms führte, beschreibt Heinrich als
270
Vgl. Blom 2011.
271
Dies würde sich auch als unmöglich erweisen, da die Konstellationsforschung eine derart große Quellenlage berücksichtigen
muss, dass sie eine kooperative Forschungsstruktur innerhalb von Gruppen voraussetzt, um einen Denkraum erschließen
zu können (vgl. Henrich 1991, S. 14).
89
in der Auseinandersetzung mit u. a. der Rezeption des fichteschen Werks gewonnene Intuition,
dass die Entwicklung des Idealismus in Hinblick auf die „Schnelligkeit der produktiven Reaktionen“ als auch der beinahe „instantanen Kritik und Umbildung“ nur daraus erklärt werden
kann, dass sie in einem „komplexen Kraftfeld von Motiven und Aufgaben“ erfolgte. 272 Demnach müsse eine Forschung, die die synthetischen, produktiven Kräfte der Entwicklungsgeschichte des Idealismus verstehen und beschreiben wolle, nicht am Werk des einzelnen Autors
orientiert bleiben, sondern müsse die konstitutiven Zwischenräume, Kraftfelder, differenziellen
Spannungen, das „spannungsreiche Mit- und Gegeneinander“273, kurz: den „konstellationalen
Prozess“274, rekonstruieren. Als historiografisches Verfahren führt Heinrich die Konstellationsforschung als Politik gegen „falsche Verfestigungen“ an, die durch die klassische Philosophiehistoriografie – besonders der philosophischen Monographie – produziert worden sind.275 Diese
erweckt durch die Orientierung am Werk die Idee eines geschlossenen Werks und Denkens,
setzt diese in Fällen gerade voraus, wodurch die Motivation und die Faktoren, die ein Werk in
sich bündelt, nur als unspezifisch und fiktiv gesetzt werden, d. h., bloße Vermutung bleiben
müssen.276 Es liegt nahe, Henrichs Position in die Nähe der von z. B. Derrida entwickelten
Kritik des „Logozentrismus“ und „Phonozentrismus“ und der Idee der Möglichkeit einer
Selbsttransparenz des Denkens, gar des Geistes zu stellen. Tatsächlich kritisiert Henrich den
„tendenziellen Idealismus der Methode“ der monografischen Philosophiegeschichtsschreibung,
welche, wie Freundlieb erörtert, in Zusammenhang mit der Kritik des fundamentalistischen
Programms des Idealismus innerhalb von Henrichs Werk zu verstehen sei.277 Zwar wird
dadurch die „monomentalisierende Wahrnehmung einzelner großer Denker“ zugunsten einer
Wahrnehmung vom „Zusammenwirken von Kräften im Raum“ als Mittel zur Erklärung „kollektiver intellektueller Kreativität“ gebrochen, wie Lethen et al. darlegen,278 jedoch nicht in
Hinblick auf ein Verständnis der „Bewegung der Dezentrierung und Vielstimmigkeit“ im Sinne
einer ultratranszendentalen Logik der Strukturgesetzlichkeit verstanden. Zwar kann man Henrichs Kritik des fundamentalistischen Programms des Idealismus mit der Idee „Tod des Subjekts, des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der
272
Vgl. Henrich 1991, S. 11.
273
Vgl. Henrich 1991, S. 10.
274
Vgl. Henrich 2005, S. 17.
275
Vgl. Henrich 1991, S. 8.
276
Vgl. Henrich 1991, S. 13.
277
Vgl. Freundlieb 2003, S. 13.
278
Vgl. Lethen/Pelz/Rohrwasser 2013, S. 8.
90
Geschichte“,279 d. h. der Kritik des dogmatisch-metaphysischen, essentialistischen und logozentrischen Begriffs eines autonomen Subjekts, ins Verhältnis setzen, nicht aber mit einer Aufgabe der Subjektivität im Sinne des „Selbstverhältnisses“ als grundlegende Kategorie zum Verstehen des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte. So erörtern Dieken und
Korsch:
„Henrichs ‚ursprüngliche Einsicht‘ läßt sich beschreiben als die aus der Geschichte der klassischen deutschen Philosophie hervorgegangene Überzeugung von der alternativen Unhintergehbarkeit, aber zugleich auch fragilen Verfaßtheit des Selbstbewußtseins. Für alle sprachlichen
Verständigungsprozesse, erst recht für alle wissenschaftlichen und kulturellen Orientierungsbemühungen ist das Thema der instantan aufgebauten Selbstbeziehung zentral, aus der heraus
sie von subjektiven Akteuren betrieben wird. Gegenüber kritischen Einsprüchen von naturalistischer Seite, aber auch von Seiten der Vertreter reinen Prozessierens von sprachlichen und
sozialen Systemen als solchen läßt sich zeigen, daß Verständigungsbemühungen und Orientierungen als Momente menschlicher Lebensführung nicht auf die Bedingungen reduzierbar sind,
auf denen humanes Dasein fußt.“280
Henrich zeichnet so das Bild einer kontextualen Subjektivität, die den Kontext in einer bestimmten Weise in sich einfaltet und entfaltet, d. h. einer Subjektivität, die durch ihre synthetische Kraft zu verstehen ist, eine Kraft, die nur im Motivationskontext wirklich zu erfassen ist.
Er erörtert, dass Denken weder eine Grundlage in der Transparenz der Lage noch der Selbsttransparenz findet, sondern in einer Konstellation, die bestimmte Entscheidungen und Entwicklungen begünstigt und so in Bewegung setzt.
„Wir müssen imstande sein, die Einsatzpunkte und die Entfaltungsart aller drei geleiteter Konzeptionen aus eigener, wenngleich von ihnen angeleiteter Kraft in ein stabiles Verhältnis zueinander zu bringen, wenn es uns gelingen sollte, den theoretischen Raum, der sich zwischen
ihnen öffnete, auszumessen und in einer Theorie zu beherrschen, die nicht am Ende doch wieder
auf unvereinbare und gar unbezogene Alternativen hin ausdifferenziert werden muß.“281
Die Hervorhebung der konstellationalen Entstehungsbedingungen ist jedoch keine Reduktion
der Glaubwürdigkeit und Herabsetzung der konzeptionellen Kraft einer Theorie. Vielmehr legt
Henrich nahe, das Philosophie eine Verständigungsleistung in kritischen Lebenslagen ist, die
aus einer „Situation der Orientierungsnot“ die Möglichkeit und Notwendigkeit neuer Denkbahnen und Fluchtlinien eröffnet:
279
Vgl. Foucault 2009, S. 351.
280
Diekern/Korsch 2004, S. VII.
281
Henrich 1991, S. 35.
91
„Viele der großen Theorien der Philosophie sind Konzeptionen, die aus kritischen Lebenslagen
und aus dem Zwang zur Verständigung hervorgegangen sind. [...] Und solcher Zwang ins Denken muß auch nicht zu dessen Befangenheit führen. Es kann das Problembewußtsein steigern
und die Wachheit für die Entdeckung von möglichen Denkbahnen, die andernfalls nicht deutlich erfaßt und sicher nicht eingeschlagen worden wären.“282
Die sich im Zitat abzeichnende These ist, dass das Entwicklungskriterium „großen Theorien
der Philosophie“ die Lebensdringlichkeit ist. Zumindest in Bezug auf den deutschen Idealismus
entwickelt er die These, dass die Konzeptionen und die Entwicklung des Idealismus deshalb
mit so großem Interesse, Eifer und mit Intensität angetrieben worden sind, weil sie von Lebensbedeutsamkeit waren, so sind sie als eine „Verständigung über die Wirklichkeit der Freiheit“283
aufzufassen. Wenn auch Henrichs normativ-existenzielle Dimension des Begriffs nicht unproblematisch ist, so zeigt sie konsequent, dass „Weltinterpretation“ für eine Lebensführung insofern notwendig und grundlegend ist, da ohne sie kein adäquates Verständnis moralischer und
ethischer Normen denkbar ist.284 Henrich plädiert somit für eine spekulative Vernunft in Bezug
auf ihre normativ-existenzielle Lebensdringlichkeit. Dies ist von besonderem Interesse, da es
auch die Motivation, den Eifer und die Intensität verständlich macht, mit der der Begriff der
Bildung und schließlich auch der Volksbildung sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt:
er entwickelt sich aus der Lebensdringlichkeit heraus, wie schon der genannte Text von Mendelssohn nahegelegt hatte. Gleichzeitig zeigt sich damit, dass Aufklärung in dessen Zusammenhang Bildung aus der Lebensdringlichkeit zum Problem wurde eine Summe verschiedener
Konstellationen des Gespräch, der Erkenntnis und des symbolischen Austausches bezeichnet,
Daher bleibt sie als „epochale epistemologische Großformation“285 grundsätzlich missverstanden . Gerade unter Berücksichtigung dieses bedeutsamen Aspektes scheint auch einer „falschen
Verfestigung“ des Begriffs der Aufklärung präveniert.
Für die weitere Profilierung und Erörterung des Zusammenhangs des Begriffs der Konstellation
lohnt es sich, den Begriff der Konstellation über seinen Zusammenhang mit der Theorie des
„bewussten Lebens“ bzw. der Lebensdringlichkeit des Denkens bzw. des theoretischen Konzeptuellen von Foucaults Begriff des Diskurses zu differenzieren.286 Es bleibt dabei wichtig,
282
Henrich 1991, S. 38.
283
Henrich 2005, S. 23.
284
Vgl. Freundlieb 2003, S. 14.
285
Vgl. Quadflieg 2007, S. 319.
286
Henrichs Projekt der Wiedergewinnung der Kategorie der Subjektivität richtet sich gegen die in der Rezeption Nietzsches
und Heideggers entstandene Prämisse einer These, dass sich das moderne Subjekt durch seine Selbstgegenwart definiert
und sich so die „Subjektphilosophie gegen die Einsichten in alle anonymen Mächte [immunisiere, M. B.], welche den
Vollzug und die Verstehensart der Subjekte hinterrücks konstituierten – Institutionen, Begehren, Geschlechtlichkeit, die
anonyme Entfaltung eines Sinngeschehens, in dem nichts zur vollen Präsenz zu bringen ist“ (Henrich 2007, S. 18 f.).
92
zunächst festzuhalten, dass dem Begriff des Diskurses – ebenso wie der Begriff der Konstellation287 – keine terminologische Fixierung zukommt, sondern dass er im Rahmen eines methodischen Leitmotivs eine Formierung innerhalb der Texte erhält. Obwohl der Begriff des „Diskurses“ zu einer allgemeinen Etikettierung des foucaultschen Werkes geworden ist, eignet er
sich auf Grund seiner durch die Schwebe ausgelöste Bedeutungsvielfalt und methodische
Wandlungsmöglichkeit, 288 dazu keinen triftigen Anlass. Daher lässt sich auch ohne den Rekurs
auf das methodische Leitmotiv der Archäologie zur Formierung des Begriffs Diskurs keine
Entscheidung treffen, ob der Begriff etwa ein „idealistischer“ oder „materialistischer“ Begriff
ist, wie es in Hinblick auf den Begriff zum Gegenstand zur Polemik geworden ist.
Die Archäologie findet durch die historische Wendung der transzendentalphilosophischen
Frage nach den Bedingungsmöglichkeiten des Wissens ihre methodische Begründung. Motiviert ist diese Lösung durch die Problematik der Frage nach der Herkunft der Begriffe und
Kategorien der transzendentalen Subjektivität und nach der damit verbundenen Präsupposition
der Autonomie transzendentaler Subjektivität. Aufbauend auf der sprachtheoretischen Einsicht,
dass alle Begriffe des Wissens sprachlich vermittelt sind, besteht die Archäologie in dem methodischen Versuch einer Rekonstruktion des „historischen Apriori“, der historischen Kategorien als Bedingungsmöglichkeiten und sprachlichen Vermittlungs- bzw. Formierungsinstanzen
des Wissens. Bei dieser Wendung spielt sich eine folgenreiche Wandlung des Begriffs des
Transzendentalen ab:
„[...] ich will -damit ein Apriori bezeichnen, das nicht Gültigkeitsbedingungen für Urteile, sondern Realitätsbedingungen für Aussagen ist. Es handelt sich nicht darum, das wiederzufinden,
was eine Behauptung legitimieren könnte, sondern die Bedingungen des Auftauchens von Aussagen, das Gesetz ihrer Koexistenz mit anderen, die spezifische Form ihrer Seinsweise und die
Prinzipien freizulegen, nach denen sie fortbestehen und verschwinden. Ein Apriori nicht von
Wahrheiten, die niemals gesagt werden oder wirklich der Erfahrung gegeben werden könnten;
sondern einer Geschichte die gegeben ist, denn es ist die der wirklich gesagten Dinge.“289
Wird das Transzendentale als Bedingungsmöglichkeit des Wissens in seiner sprachlichen Medialität und Vermittlung analysiert, dann wird das, was Kant „diskursive Begriffe“ nennt,290 d.
h. eine von der intuitiven Erkenntnis differenzierte Erkenntnis durch Begriffe, die von der An-
287
Vgl. Freundlieb 2003, S. 17.
288
Ruoff bietet einen Überblick über die Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Diskurs“. (vgl. Ruoff 2007, S. 100 ff.)
289
Foucault 1990, S. 184.
290
Vgl. Kant 1998, S. 99.
93
schauung abstrahiert sind, nicht im Rahmen der begrifflichen Ordnung transzendentaler Subjektivität zu verstehen sein, sondern in der historischen dynamisch-genetischen Ordnung bzw.
dem Entwicklungsraum der Sprache. Was wir wissen können, was wir denken können, steht
somit in Relation zur Sprache. Dadurch ist auch zu verstehen, dass die Archäologie nicht an
den Gültigkeitsbedingungen von Urteilen interessiert ist, die sich durch die Relation, Korrelation oder Korrespondenz von einem Subjekt zum Objekt, einer Subjektivität zur Wirklichkeit,
sondern an den Realitätsbedingungen von Aussagen innerhalb der Entwicklungsdynamik der
Sprache, des Sprechens konstituieren. Der Begriff Diskurs begreift die Form des Denkens, die
Kant durch die diskursiven Begriffe und Funktionen der Subjektivität analysiert, als ein Ereignis der Sprache. Wie der vom Lateinischen discurrere („auseinanderlaufen, sich ausbreiten, sich
zerstreuen, abschwenken, hin und her laufen, -rennen, -fahren, -reiten“) abstammende Begriff
Diskurs damit andeutet, ist das Transzendentale nicht als ein stabiles System zu verstehen, sondern als ein „quasi-transzendentales“ kontingentes historisches, sprachlich sich konstituierendes und generierendes Feld von „Aussageereignissen“291, „für uns das Leben, die Arbeit und
die Sprache“292. Nicht nur wird dadurch der Gedanke einer linearen und teleologischen Geschichtsauffassung und Auffassung der Ideengeschichte unmöglich, sondern es wird zugleich
das Subjekt als autonomer Ort der Wahrheit radikal in Frage gestellt. Daraus wird verständlich,
dass Foucault auch die transzendentalphilosophische Methodik Kants anders fassen muss. Die
Archäologie Foucaults ersetzt dabei systematisch die transzendentale Analytik und kommt zugleich zu einer transzendentalen Dialektik in der grundlegenden Erkenntnis, dass es „das unbezweifelbare Wissen der objektiven Wirklichkeit“293 nicht gibt und nie gegeben hat, wodurch
ein dogmatischer Gebrauch der Vernunft vorab ausgeschlossen wird. Die Archäologie steht
darüber hinaus durch die sprachliche Fassung des Transzendentalen im Begriff des „historischen Apriori“ in Nähe zu Nietzsches Sprachphilosophie und Vernunftkritik, in der die Sprache
zur Realitätsbedingung der Aussage wird und keine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit.
Das Problematische, das Foucault in Nietzsches Philosophie sieht, versucht er durch die Extrapolation der Idee einer „Genealogie“ innerhalb der Archäologie, ohne die die Wende zur Thematik der Macht innerhalb des Werkes Foucaults nicht nachvollzogen werden kann. 294 Denn
dadurch erscheint das Transzendentale als Möglichkeitsbedingung (im Sinne von „le pouvoir“)
291
Foucault versteht das Verhältnis von Denken und Sprache in Hinblick auf Aussageereignisse (vgl. Foucault 2009, S. 121).
292
Foucault 2003, S. 307.
293
Vgl. Landwehr 2008, S. 18.
294
Vgl. Foucault, 2007, S. 181–205.
94
in seiner sprachlichen und somit sozio-historischen, diskurstheoretischen Wendung zugleich
als Bedingung der Möglichkeit im Sinne der Macht (im Sinne von „la puissance“).
Im Rekurs also auf die Archäologie wird deutlich, dass der Begriff des Diskurses in verschiedener Weise als „Form des Denkens“ im Sinne Kants als „Denksystem“ oder als „episteme“ im
Sinne der allgemeinen Möglichkeitsbedingungen des Wissens, als individuelle Möglichkeitsbedingungen von Aussagen und als „regulierte Praxis“ 295 oder Regulativ der Praxis auszulegen
ist. Im Sinne dieser Grundlegung – es ist wichtig, die Theorie des Diskurses von der Diskursanalyse zu unterscheiden – umreist Foucault sein Vorgehen im Text Archäologie des Wissens: Die Einheit des Diskurses wie folgt:
„Wiederum kann man ein Denksystem nur ausgehend von einer bestimmten Menge von Diskursen bestimmen. Aber diese Menge wird so behandelt, dass man jenseits der Aussagen selbst
die Absicht des sprechenden Subjekts, seine bewusste Aktivität, das, was es hat sagen wollen,
oder auch das unbewusste Spiel, das gegen seinen Willen in dem, was es gesagt hat, oder in den
fast unwahrnehmbaren Bruchstellen seiner manifesten Worte ans Licht gekommen ist, wiederzufinden sucht; auf jeden Fall handelt es sich um die Rekonstruktion eines anderen Diskurses,
um das Wiederfinden des stummen, murmelnden, unerschöpflichen Sprechens, das von innen
die Stimme belebt, die man hört, um die Wiederherstellung des kleinen und unsichtbaren Textes, er den Zwischenraum der geschriebenen Zeilen durchläuft und sie manchmal umstößt. Die
Analyse des Denkens ist stets allegorisch im Verhältnis zum Diskurs, den sie benutzt.“296
Das Interesse, das „historische Apriori“ zu erkennen, findet unter einer methodischen Ausschließung des Subjekts und des Autors statt. Es erfolg so eine Ersetzung der in der Ideengeschichte üblichen, die interpretative Methoden leitenden Begriffe, des Originals durch das Regelmäßige, der Kohärenz durch die Inkohärenz, des Vergleichs durch den Unterschied, desselben durch die Veränderung und die Transformation.297 Dabei lässt sich die Ersetzung der Leitbegriffe in Hinblick auf die „Umkehrung des Platonismus“ verstehen: als Versuch, nicht die
Identität als Ursprung und Maß für die Analyse der Ordnung der Dinge zu verstehen – als Versuch, ein Denken zu entwickeln, das den Ursprung des Sinns nicht außerhalb des Diskurses/der
Diskurse verortet. Ironischerweise zeichnet sich die Archäologie gerade nicht als „Archeologie“ aus, als Freilegung des verborgenen oder verloren gegangenen Ursprungs, sondern als Versuch einer Kritik und Rekonstruktion der Möglichkeitsbedingungen des Wissens bzw. als Regeln der Diskursformation.298 In dieser Hinsicht ist die Archäologie nicht nur ein „Angebot zur
295
Vgl. Foucault 1990, S. 116.
296
Foucault 2009, S. 120.
297
Vgl. Foucault 2009, S. 124–171.
298
„Dieses Wort ‚Archäologie‘ stört mich ein wenig, da es zwei Themen umfasst, die nicht genau die meinen sind. Erstens das
Thema des Anfangs (‚archè‘ bedeutet auf Griechisch Anfang). Ich versuche nun nicht, den Anfang im Sinne des ersten
95
Transformation der ‚Humanwissenschaften‘“, wie Frietsch darlegt, sondern zugleich das Projekt einer „Gegen-Wissenschaft“, die in Die Ordnung der Dinge als historische Möglichkeit
und Notwendigkeit erarbeitet wird. So schreibt Foucault:
„In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nicht
mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist zu
denken.“299
Diskurstheorie und Diskursanalyse sind deshalb zu unterscheiden, da sie zwei verschiedene
Lösungsversuche darstellen, die die Humanwissenschaft von dem Leitbegriff des Menschen
und der „empirisch-transzendentale[n] Doublette“300 zu lösen trachten. Während die Diskurstheorie oder die Theorie des Diskurses versucht die Transzendentalphilosophie von dem Primat
der transzendentalen Subjektivität zu befreien, so ist die Diskursanalyse ein Versuch, die Humanwissenschaft von ihrem anthropologischen Leitbegriff zu lösen. Beide Lösungsversuche
vollziehen sich am Leitfaden der Sprache. Da der Begriff Diskurs das Leitmotiv dieser Lösungsversuche bildet, erscheint für ihn eine terminologische Fixierung grundsätzlich problematisch und zugleich eine empirisch-transzendentale Doppeldeutigkeit charakteristisch.
Ein Resultat der diskurstheoretischen Grundlegung der Archäologie ist, dass der Sinn des Menschen und des Subjekts im Rahmen der diskursiven Bedingungsmöglichkeiten und Möglichkeitsbedingungen verstanden werden kann. Spezifisch ist daher für die Archäologie als Methodologie die Extrapolation transzendentaler Gesetzmäßigkeiten aus empirischen Regelmäßigkeiten. Da sich „der“ Diskurs als Konstitutionsfeld verstehen lässt, in dem sich der Sinn des
Menschen generiert, können der Sinn des Menschen und das Bild des Menschen selbst als
Thema der Forschung erscheinen und als Repräsentationsmodell kritisiert werden. Gerade daher ist die „Leere des verschwundenen Menschen“ kein „Manko“, sondern bildet für Foucault
allererst die Möglichkeit, das Subjekt zum Zentrum der machthistorischen Analysen der Archäologie zu machen.301 Gleichzeitig bleibt prinzipiell immer fraglich, ob Foucault in einem
transzendentalen oder einem empirischen Sinne vom Menschen spricht.
Ursprungs, der Grundlegung, von der aus alles Weitere möglich wird, zu untersuchen. [...] Gleichermaßen stört mich auch
die Idee der Ausgrabungen. Ich suche nicht nach geheimen, verborgenen Beziehungen, die schweigsamer oder grundlegender wären als das menschliche Bewusstsein.“ (Foucault 2009, S. 172 f.)
299
Foucault, 2003, S. 412.
300
Vgl. Foucault 2003, S. 384–389.
301
Vgl. Bublitz 2008, S. 293.
96
Als quasi-transzendentale Konstitutionsbedingung des Subjekts werden die Aussageereignisse
des Diskurses als ursprüngliche Konstitutionsbedingungen konzeptualisiert, wodurch eine Analyse außersprachlicher Dimensionen des Sinns und der Praxis nur schwer zu thematisieren ist.
Die diskurstheoretische Grundlegung der Archäologie, innerhalb dessen der Begriff des Diskurses sich entwickelt und beschrieben wird, führt gewissermaßen dazu, dass Sprache, Gesellschaft und Kultur nicht nur als Möglichkeitsbedingungen oder gar Vermittlungsinstanzen des
Sinns verstanden werden, sondern als alleinige Gesetzes- und Regelbedingungen der Macht
und der Bemächtigung. Baudrillard kritisiert in seinem Buch Oublier Foucault in diesem Sinne,
dass so das Genesen des Sinns, Wissensbildung und Wahrheit nur aus der Perspektive der
Macht verstanden werden können und Macht zugleich als totales Phänomen dargestellt wird.
Gerade deshalb wird Foucaults Analyse zu einem „Spiegel der Mächte die es beschreibt“302.
In der Tat ist es auf Grund der diskurstheoretischen Grundlegung der Archäologie schwer, die
Grenze zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zu verstehen, wie ein Außen auf
die diskursive Morphologie wirkt.303 Dass es ein solches „Außen“ gibt, wird von Foucaults
Diskursanalyse nicht ausgeschlossen – er schreibt, dass Diskurse zwar nicht aus Zeichen bestehen, jedoch „irreduzibel auf die Sprache und Sprechen“ sind – doch lässt die durch diskurstheoretische Grundlegung der Archäologie eine methodische Beschreibung dieser nicht-diskursiven Faktoren unbegründet – es bleibt so die Frage offen, in welcher Weise nicht-diskursive
Faktoren Konstitutionsbedingungen des Sinns sein können. Eine Folge dieses blinden Flecks
ist darin zu sehen, dass diese Grenze zwischen dem Diskurs und seinem Außen nicht definiert
werden kann, es ist unklar, was die unendliche Proliferation des Diskurses von außen (z. B.
material) reguliert und begrenzt.304 Spätere Begriffe wie „Dispositiv“ und die Thematik der
„Selbstsorge“ und „Selbsttechnologie“ sind dafür indikativ, dass Foucault sich dieses Problems
nicht nur bewusst war, sondern er es auch zu lösen versuchte.
Das für die Archäologie charakteristische Spannungsverhältnis von diskurstheoretischer Präskription und diskursanalytischer Deskription305 führt diese zu einem methodischen Idealismus
in dem Sinne, dass die Regelmäßigkeiten als „a priori Fundamentalen“ aufgefasst werden. Wie
Quadflieg darlegt, bleiben der diskurstheoretische als auch der diskursanalytische Lösungsversuche daher aporetisch, weil sie an einem „Wahrheitsbegriff der Identität festhalten“. Dadurch
aber wird der Begriff des Diskurses, „zugleich dessen Begründungskraft in den Analysen selbst
302
Baudrillard 2007, S. 30.
303
Vgl. Lemke 1997, S. 50.
304
Vgl. Kammler 2008, S. 60.
305
Vgl. Dreyfus 1987, S. 117.
97
unterminier[t]“306. Anders formuliert relativiert sich so im Rahmen der Diskursanalyse der kritische Anspruch der Philosophie dadurch, dass die (politische) Urteilskraft eine Subversion
durch ihre historische Relativierung erhält.307
Die systematische Ersetzung transzendentaler und empirischer Subjektivität durch den Leitbegriff des Diskurses308 führt das Verstehen von Entwicklungsgenesen des Sinns in die bedenkliche Lage, das Subjekt nur im Rahmen der Diskursgenese zu thematisieren, wodurch sich das
Bild eines unterworfenen Subjekts zeigt, nicht aber das einer kreativen, schaffenden und lebendigen Subjektivität. Dies führt zudem zur methodischen Problematik, dass nicht nur der Ort,
von dem aus der Analytiker spricht, „reichlich im Dunklen bleibt“309, von der Diskurstheorie
her prinzipiell undenkbar bleibt, was etwa dazu führt, dass der Ort und die Möglichkeit von
Kritik völlig aus den Augen verloren werden. Geschichte erscheint so nicht als Komplex von
(individuellen) Potenzialen und Möglichkeiten, sondern eben als Geschichte der Bedingungen.
Zwar führt Foucaults Diskursanalyse zu einer Erkenntnis der nicht-linearen und nicht-teleologischen, diskursiven Formierungsinstanzen des Wissens, zugleich führt die diskurstheoretische
Grundlegung diese Analyse zu einem Vergessen des Konjunktivischen im Sinne des Irrealis
oder Utopischen der Geschichte als Konstitutionsraum, in dem sich Subjektivität allererst ausbildet.
Henrichs Konstitutionsanalyse und der im Rahmen dieser entwickelte Begriff der Konstellation
verwehrt sich dieser Problematik zunächst, da er moderne Subjektivität – anders als Foucault –
nicht ausschließlich durch „Wille zur Wahrheit“ und „Wille zur Macht“ verstanden wissen will,
und demnach seine Methode auch nicht jenseits eines Begriffs von Subjektivität zu entwerfen
versucht. Foucaults von Nietzsches Geschichtsauslegung motivierte Grundlegung der Methode
und geprägter Blick auf die „Geschichte als Theater der Gewalt“ unterscheidet sich von Henrichs Denken grundsätzlich durch ein Abrücken von der gadamerschen Auffassung, wonach
das grundsätzliche Moment des Wissens in einer „Integration zwischen eigenen und fremden
Denk-Horizonten“ entstehe.310 In seinem Aufsatz Nietzsche, Freud, Marx kritisiert Foucault die
moderne Hermeneutik dahin gehend, dass sie der Interpretation der Zeichen einen Vorrang einräume, darüber zugleich den Fehler der Präsupposition eines „interpretandum, das nicht bereits
306
Vgl. Quadflieg 2007, S. 322.
307
Vgl. Kinzel 2000, S. 139 f.
308
Vgl. Foucault 2009, S. 221.
309
Waldenfels 1991, S. 291.
310
Vgl. Reckermann 2003, S. 37.
98
ein interpretans wäre“.311 Aufbauend auf Nietzsches These des metaphorischen Charakters der
Sprache, wonach Sprache „kein ursprünglich Bezeichnetes“ benennt, entwickelt Foucault die
These, dass Sprache und Interpretationen in Diskursen somit keine Wahrheit über die Dinge
aushandeln, sondern vielmehr Machtverhältnisse, Verbote, Grenzziehungen und Ausschließung umkämpfen.312 Besonders prägnant formuliert Foucault dies an der Stelle, an der er sagt,
dass Zeichen Interpretationen sind, „die sich zu rechtfertigen versuchen, und nicht umgekehrt“313. Die Semiologie, die „die absolute Existenz der Zeichen“ voraussetzt, und damit der
Rekurs auf Nietzsche findet bei Foucault seine Funktionalität in der Vermeidung eines Hegelianismus,314 dessen Denken Foucault (wie auch Marx) gewissermaßen philosophisch für die totalitären Machtregime des 20. Jahrhunderts in Verantwortung sieht.315 Obwohl die Radikalität
der semiologischen Grundannahme durch ihre politische Dimension verständlich wird, so
wohnt ihr jedoch keine unmittelbare philosophische Plausibilität in Hinblick auf die grundsätzliche Infragestellung der Verständniskategorie der Subjektivität inne. Denn zum einen kann die
Grundlegung der Erkenntnis in der Sprachphilosophie Nietzsches, die Foucault übernimmt,
nicht als unproblematisch gelten – Nietzsches Angriff des Begriffs der objektiven Wahrheit
durch seine sprachkritische These von der grundsätzlichen Metaphorizität der Sprache erweist
sich durch die Wahl des Interpretationsschlüssels der Metapher selbst als „einseitig“. 316 Zum
anderen scheint die Spezifität, mit der Hegel Subjektivität auffasst, noch nicht als endgültiges
Argument, Subjektivität selbst als wichtige Verständniskategorie zu verwerfen. Schließlich erscheint auch das Urteil Foucaults über die Philosophie Hegels philosophiehistoriografisch, methodisch problematisch, da sie Hegel ausschließlich aus der Sicht des „Nachgeborenen“, d. h.
in Zusammenhang größerer, weit über diese hinausreichenden geschichtlichen Entwicklungen
beurteilt und würdigt, worin der Wahrheitsanspruch der Philosophie Hegels zwangsläufig missverstanden bleiben muss.317 Die Ausgrenzung der Verständniskategorie der Subjektivität als
„begriffenes Leben“ stellt Henrich daher grundlegend in Frage:
311
Vgl. Foucault 2007, S. 65–67.
312
Vgl. Foucault 2001, S. 10–14.
313
Foucault 2007, S. 67.
314
Vgl. Foucault 2001, S. 45–49.
315
Vgl. Foucault 2003, Bd. 3, S. 338 ff.
316
Vgl. Colli 1999, Bd. I, S. 918.
317
Dazu Adorno:
„Aber deren Begriff [der Würdigung, M. B.], wenn er überhaupt je etwas taugte, ist unerträglich geworden. Er meldet den
unverschämten Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und wer berufsmäßig mit dem befaßt
ist, über den er zu reden hat, darum auch souverän dem Toten sein Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich
stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute – und schon
die sogenannte Hegel-Renaissance hob vor einem halben Jahrhundert mit dem Buch Benedetto Croces an, das Lebendiges
99
„Dies als den Furor modernus rasender Selbstauflösung der Vernunft zu denunzieren, unter
welchen politischen Vorzeichen auch immer, ist bar jeder Evidenz, wenngleich die Dynamik
dieses Geschehens in die Aporien des modernen Bewußtseins deutlicher hervortritt und als
Krise empfinden läßt. Die Philosophie wird in solcher Lage gar nicht par force Formeln aufbieten können, in denen ein Wandel des Bewusstseins, der nur noch durch universale Katastrophen
zurückzunehmen wäre, sich selber verstehen könnte. [...] Denn es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst, nicht ohne einen Begriff seiner frei existieren zu können.“318
Deutlich wird, dass dem Begriff der Konstellation zwar eine grundsätzliche Ablehnung des
Begriffs einer sich selbsttransparenten und -hervorbringenden Subjektivität zugrunde liegt, zugleich jedoch die Möglichkeit einer Rückführung dieser auf eine Materialität, z. B. der des Zeichens, für ausgeschlossen gehalten wird, da dadurch kein Verständnis der Freiheit in sowohl
geschichtlicher als auch struktureller Art in Ausblick gestellt werden kann. „Subjektivität“319
muss weder als Individualität, Identität, als Psyche oder als Wesen gedacht werden, um die
Transformation und die Entwicklung des Wissens beschreiben zu können – gleichzeitig bleibt
sie unabweislich. Nur schwer ist die Morphogenese des Wissens ohne den Rekurs auf die produktiven Synthesen der Subjektivität, ohne die Dimension der Kreativität denkbar – gleichzeitig bleibt jede Subjektivität ohne die Erörterung der Konstellation, innerhalb derer sie wirkt,
unbestimmt. Damit sei bedacht, dass der Ort des Autors nicht vor, neben oder über dem Werk
existiert, sondern sich im Werk, d. h. in den Synthesen des Schreibens, konstituiert und ver-
und Totes in Hegel auseinanderzuklauben sich anheischig machte –, klingt diese Anmaßung mit. Nicht wird die umgekehrte
Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet; […]. Alle Würdigungen fallen unter das Urteil aus
der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, das über jene ergeht, die nur darum über den Sachen sind, weil sie nicht in
den Sachen sind. Sie verfehlen vorweg den Ernst und das Verpflichtende von Hegels Philosophie, indem sie ihm gegenüber
betreiben, was er mit allem Recht geringschätzig Standpunktphilosophie nannte. Will man nicht mit dem ersten Wort von
ihm abprallen, so muß man, wie unzulänglich auch immer, dem Wahrheitsanspruch seiner Philosophie sich stellen und
anstatt sie bloß von oben und darum von unten zu bereden.“ (Adorno GS 1971, Bd. 5, S. 251)
318
Henrich 2001, S. 106.
319
Hier sei daran erinnert, dass Henrich grundsätzlich zwischen Subjekt und Subjektivität unterscheidet, wobei Subjektivität
die elementarste, prozessuale Konstitution des Wissens um sich selbst darstellt. Subjektivität bezeichnet dabei die grundlegenden differenten Prozesse, in denen sich das Subjekt innewird und ein Wissen von sich als Subjekt konstituiert. Dieser
Prozess ist in einen Verständigungsprozess einbezogen, der immer schon auf Andere bezogen ist, im Mitsein stattfindet
und denknotwendig für das Subjekt ist. Von einem cartsischen Subjektbegriff ist hier demnach nicht die Rede.
„Auch im Blick auf alle folgenden Vorlesungen muss nun noch über die vieldeutige Rede von der Subjektivität gesagt sein.
Mit diesem Ausdruck kann man einfach nur die Eigenschaften meinen, kraft deren etwas zu einem Subjekt wird. Subjektivität bezeichnet dann die Verfassung, ein Subjekt zu sein. Davon unterschiedet sich ein Gebrauch, der alle Meinungen
Zustände als ‚subjektiv‘ bezeichnet, denn keine Tatsachen in der Welt entsprechen, von der man denkt, dass sie ganz
unabhängig von den Gedanken aller Subjekte über sie existiert. Ich werde den Ausdruck noch in einem dritten Sinn gebrauchen, der aber den ersten voraussetzt und in sich einbegreift: Von dem, was dem Subjekt als solchem eigentümlich ist
(also aus seiner Subjektivität im ersten Sinne), nehmen Prozesse ihren Ausgang. Man kann sagen, dass sie allesamt Prozesse sind , in denen das Subjekt sich zu einer erweiterten Gestalt entfaltet und sich seiner selbst nunmehr innerhalb ihrer
innewird. Der elementarste dieser Prozesse ist die Ausdehnung des Wissens von sich über den Verlauf einer Lebensgeschichte. Unter allen diesen Prozessen werden im Folgenden insbesondere die zu beachten sein, in denen der Mensch als
Subjekt zu einer Verständigung über sich und über das auf dem Wege ist, was sein Leben ausmacht. In die Dynamik dieser
Verständigung ist sein Bewusstsein von einer sittlichen Verbindlichkeit und die Frage nach seiner Freiheit einbezogen; und
beide sind, wie sich später zeigen wird, auch in sich selbst Grund für eine Verständigungsbewegung.“ (Henrich 2007, S.
23 f.)
100
räumlicht. In diesem Sinne charakterisiert Stamm die Konstellationsforschung als eine „Heuristik philosophischer Kreativität“320. Einbezogen bleibt dabei die aus der Kritik der Selbsttransparenz hervorgehende Idee, dass der Autor seine Verfahren niemals wirklich, d. h. in einer
endgültigen und abgeschlossenen Weise beherrscht.321
Die Fragilität des philosophischen Entwurfes wird zugleich von einer anderen Seite überaus
deutlich: der Konstellation. Mulsow charakterisiert diese wie folgt:
„Eine philosophische Konstellation kann man definieren als dichten Zusammenhang wechselseitig aufeinander einwirkender Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente, in der
Weise, daß nur die Analyse dieses Zusammenhangs, nicht aber seiner isolierten Bestandteile,
ein Verstehen der philosophischen Leistung und Entwicklung der Personen, Ideen und Theorien
möglich macht.“322
Anders als die Etymologie des Wortes „Konstellation“ nahelegen könnte, handelt es sich bei
Konstellationen um eine „dynamische, prozessuale Kategorie zur Erklärung der nicht-analytischen Entwicklungen von Denkräumen“323. Gerade deshalb liege die Auffassung falsch, Konstellationen als fixen, statischen und daher transparenten Kontext zu verstehen, auf den ein Autor
zu einer sichernden und abgrenzenden Konstitution des Werkes zurückgreifen könnte. Es ist
vielmehr die mangelnde Selbsttransparenz, die einen Autor in eine Konstellation treibt – er
sucht das Gespräch zur Selbstverständigung des Lebens. Das heißt, dass ein Leben niemals
selbstverständlich ist, sondern immer vermittelt ist und zur Besinnung des Anderen bedarf. Der
Begriff des Lebens muss daher nicht als Selbstverständlichkeit konzeptualisiert werden, sondern in Hinblick auf die Spannung und Dringlichkeit als Drang zu einer kommunikativen Besinnung – zumindest in Hinblick auf das Entstehen eines philosophischen Selbstverständnisses,
einer geistigen Erfahrung, welches Henrich mit „begriffenem Leben“ umreist. Da ein Für-sichSeiendes, autarkes Leben denkunmöglich scheint und Leben immer innerweltlich ist, so ist die
Lebensdringlichkeit keine nur subjektive, sondern eine gemeinschaftliche im Sinne des „MitSeins“ und der „Mit-Teilung“.
Als Elemente eines „Denkraums“ kann man das Subjekt und die Konstellation durch die Funktionen der Dispersion und der Sammlung verstehen. Innerhalb einer Konstellation findet eine
Zerstreuung des Sinns – man könnte sagen eine Dissemination des Sinns – statt, die auf Grund
320
Vgl. Stamm 2005, S. 55.
321
Vgl. Stamm 2005, S. 55.
322
Mulsow 2005, S. 55.
323
Stamm 2005, S. 42.
101
der spezifischen, durch die Lebensdringlichkeit motivierte Sammlung als Kreativität und plastische Kraft des Autors sich eine Kraft- und Entwicklungslinie generiert. Dies formuliert Stamm
treffend:
„Der Denkraum ist zugleich ein häufig diffuser Resonanzraum, in dem Initialschritte, ursprüngliche Einsichten, manifestartige und zugleich zögerliche Spekulationen sowie vielgestaltige Reaktionen auf diese ersten Impulse ineinandergreifen. In ihm kommt es stets zu komplexen
Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekten beim Versuch, die in diesem Denkraum vollzogenen eigenen und Fremdbewegungen produktiv aufzunehmen und kritisch zu würdigen. Der
philosophische Denkprozeß vollzieht sich wesentlich in solchen Resonanzfeldern.“324
Bei Denkräumen handelt es sich nicht um „Denksysteme“, sondern um „diffuse Resonanzräume, deren Entwicklungen nicht antizipierbar sind. Darin liegt eine grundsätzliche Kritik an
der Idee, dass z. B. die „Ideen der Aufklärung“ bei allen Autoren der „Aufklärung“ kanonisch
vorhanden und zuhanden sein müssten und eine gleichzeitige und ebenmäßige Verteilung fänden. Es sei große Vorsicht geboten, denn diese Idee scheint nur aus Sicht einer historischen
Vernunft möglich, die die Kategorien des Lebens und der Möglichkeit der Idee einer notwendigen, systemischen Entwicklungsordnung, -funktion oder eines Entwicklungsvorgangs unterordnet, gar als akzidentiell verabschiedet. Dagegen sei angeführt, dass es einen Realismus des
Relativen gibt, der – entgegen einem Missverständnis des Denkraumes – ohne einen Rekurs auf
Totalität gedacht werden kann, zugleich sich dieser in Hinblick auf den Begriff des „Mit-Seins“
und der „Mit-Teilung“ aber nicht als subjektiver Relativismus auflöst.
Die Kategorie der Notwendigkeit spielt für die Entwicklung eines Denkraums eine nur nachgeordnete Rolle, stattdessen vielmehr die Gesten der Integration, die über die Kategorie des Verstehens hinausgehen. Sowohl Ironie, Spielerei, Experiment325 als auch Zögern, Zaudern, Ratlosigkeit, Missverständnisse und Missinterpretationen müssen als konstitutive Möglichkeiten
der Wissensgenese berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund motivationaler Faktoren von
Akteuren (an Husserls Horizont-Begriff erinnernd, unterscheidet Mulsow: Lektürehorizont,
Werthorizont, Erwartungshorizont, theoretische Horizonte, praktische Horizonte, Sympathien
und Motive)326 liegt die Stärke der Konstellationsforschung darin, gerade nicht eine Intentionalität zu rekonstruieren, sondern ein Bewusstsein, eine Sensibilität für die Gestik des Werkes zu
entwickeln. Diese ist nur dann möglich, wenn man die Möglichkeit und die Bedingung des
Wissens differenziert und so die Genetik des Wissens durch die Momente der Sammlung und
324
Stamm 2005, S. 57.
325
Vgl. Mulsow 2005, S. 80.
326
Vgl. Mulsow 2005, S. 80.
102
Dispersion fasst, durch die allererst die Idee der Distanz und Distanzierung, schließlich auch
der Kritik denkbar wird.
Gerade deshalb wäre es falsch, die Konstellationsanalyse insgesamt durch eine Auflösung des
Begriffes der Notwendigkeit zu charakterisieren und Missachtung der Kontingenz und Wiedersprüpchlichkeit des Geschichtlichen. Henrich stellt der Konstellationsanalyse das Verfahren der
Argumentationsanalyse zur Seite als rekonstruktives Verfahren der argumentativen Dimension
eines Werkes in Hinblick auch auf seine logische Notwendigkeit. Obwohl Henrich das Verhältnis beider Dimensionen seiner Philosophiehistoriografie nur unscharf erörtert, so kann man die
Konstellationsanalyse in zweifacher Hinsicht verstehen. Erstens als eine methodische Rekonstruktion der gegebenen Nah- und Gruppenbeziehungen als auch anderer Ressourcen auf die
sich ein Autor bezieht. Zweitens, als eine Argumentanalyse als Rekonstruktion der spezifischen
Orientierung eines Autors innerhalb der Konstellation enen und Ressourcen. Hinsichtlich der
methodischen Funktion des Verhältnisses dieser beiden Dimensionen sei gesagt, dass sich
Heinrich davon verspricht – mit Erfolg, wie das Werk Grundlegung aus dem Ich nahelegt –
auch die „Eigentümlichkeiten eines Textes zu erfassen, kraft derer er vage und undeutlich
ist“327. Es geht hier jedoch nicht darum, den Autor „besser“ zu verstehen als sich selbst, sondern
um den Nachvollzug der ihm gegebenen konstellationalen Ressourcen zur Erarbeitung seiner
Möglichkeiten und zugleich dessen im Werk verräumlichten, spezifischen und durch die Lebensdringlichkeit als notwendig motivierten Orientierung im Denken. Im Kontrast zu Foucaults
„transzendental-historische[m] Grundbegriff der vernunftkritischen Geschichtsschreibung“328
vermeidet Henrich durch seinen Begriff der existenziellen Notwendigkeit und der damit verbundenen, im Handeln realisierten Freiheit die Auflösung der Verständniskategorie der Subjektivität und zugleich eine Sensibilisierung für die Orientierung eines Werkes innerhalb eines
Denkraums unter Einbezug der im Denken vollzogenen Gesten. Im Sinne von Jaspers scheint
hier zu gelten, dass „Anfang und Ende der Freiheitserhellung“ 329 darin liege zu zeigen, dass
Freiheit nicht objektiv gedacht werden kann, sondern sich existenziell-praxeologisch vollzieht.330 Daher gilt, dass Freiheit weder eine Eigenschaft des Subjekts noch des Handelns ist,
sondern eine Dimension (des Prozesses) der Subjektivität und allererst „gewonnen werden
327
Henrich 1976, S. 11.
328
Habermas 1988, S. 298.
329
Jaspers 2003, S. 188.
330
„Ein Schlüsselargument auf dem Weg zu dessen Begründung sei deshalb wiederholt: Gibt es die Freiheit der Selbstbestimmung, die am deutlichsten im sittlichen Bewusstsein vorausgesetzt wird, dann ist sie nicht eine Eigenschaft, die sich in den
einzelnen Handlungssituationen realisiert. Sie realisiert sich in einem Prozess, der zur Begründung einer Handlungsart
führt.“ (Henrich 2007, S. 352)
103
muss“ und im bewussten Leben „in Graden gemeistert“ wird.331 In diesem Gedanken zeichnet
sich ab, dass das Subjekt sich nicht unabhängig konstituiert, sondern sich innerhalb eines Denkraumes orientiert und durch die Lebensdringlichkeiten motiviert bahnt. In den Verständigungsbewegungen der Subjektivität erfährt daher Notwendigkeit ihre Bestimmung. Vor dem Begriff
einer existenzial-normativen Notwendigkeit lässt sich Wissen in seinem Entwurfscharakter fassen und von daher ein Denkraum als konstitutive Verräumlichung spekulativer Vernunft.
Unabhängig von den mit Henrichs Methode einhergehenden Problemen, worauf etwa
Gawlina332 und andere333 hinweisen, da es uns hier nicht um eine Anwendung der Konstellationsanalyse geht, sondern um ein Verständnis des Begriffs der Bildung in seiner Entwicklung,
so wurde durch die Auseinandersetzung mit der Konstellationsanalyse und Diskursanalyse verständlich, dass Bildung sich (nur) nicht innerhalb eines sozialpolitischen Machtgefüges konstituiert, sondern im Rahmen spekulativer Vernunft eine Ressource zum Vollzug und zur Aushandlung (der Ziele) individueller Freiheit bietet – gerade darin in Hinblick auf Letzteres ist
sein Spezifikum zu sehen. Daher ist es für ein Verständnis des Begriffs der Bildung als Faktor
zur Bestimmung politischer Urteilskraft grundsätzlich, diesen spekulativen Rahmen zu verstehen, in dem Bildung seine Bestimmung und Aushandlung erfährt. Gleichzeitig ist damit auch
ein Differenzkriterium zur Erziehung gefunden, welche sich – wie wir gesehen haben – im
Spannungsfeld von Oikos und Ökonomie praxeologisch politisch entfaltet.
1. Rousseau über die Denkmöglichkeit der Bildung bürgerlicher
Sittlichkeit
Ohne einen Rekurs auf Rousseau, den Vogl ironisch, aber doch trefflich als „Brühwürfel mit
allen Ingredienzien des 18. Jahrhunderts“334 bezeichnet und ihn so als Basis für die Entstehung
verschiedener Konstellationen und Denkräume kenntlich macht, ist die Entstehung des spekulativen Vektorraums, in dem sich der Begriff der Bildung entfaltet, nicht denkbar. Rousseau
setzt dem Begriff des Fortschritts (le progrès) als Leitbegriff technischer und gesellschaftlicher
Entwicklung den Begriff der Perfektibilität (la perfectibilité) des Menschen entgegen und
schafft dadurch die Möglichkeit für eine Debatte über die Orientierung von Bildung. Die durch
331
Vgl. Henrich 2007, S. 363.
332
Vgl. Gawlina 1996, S. 69–71.
333
Vgl. dazu Teil II Diskussion im Bd.: Mulsow/Stamm 2005.
334
Vgl. Vogl 2014.
104
Rousseaus Werk angestoßenen Entwicklungen sind im deutschen als auch im französischen
Sprachraum von größter Bedeutung, da durch es ein neuer Geltungsbereich und –anspruch politischer Urteile erschlossen wird, jenseits der durch die gouvernementale Rationalität gerechtfertigten Urteile. Durch Rousseau entsteht ein von der staatlichen und kirchlichen Rationalität
alternativer, spekulativ begründeter Geltungs- und Wahrheitsanspruch politischer Urteile. Es
ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, dass Rousseau einen zum soziografischen
Umgang mit der Fragwürdigkeit von Politik, zum politischen Realismus alternativen spekulativen Umgang mit der Fragwürdigkeit von Politik entwickelt, welcher maßgeblich für die Entfaltung des Bildungswesens und des bildungspolitischen Geschicks der Moderne ist.
Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist es für die Entstehung der bürgerlichen Pädagogik
entscheidend, wie in der Rezeption Rousseaus der Mensch, sein Wesen und seine Natur, in
Zusammenhang mit seiner geschichtlichen Verfasstheit als Möglichkeitsbedingung einer geschichtlichen Entfaltung der Vernunft und Sittlichkeit, durch die spezifische „Über-Setzung“
seines Werkes, seiner Grundbegriffe und Methode im deutschen Sprachraum in den Blick geraten. Durch die „Über-Setzung“ Rousseaus in den deutschen Sprachraum entsteht der spekulative Denkraum, in dem die Bildung des Menschen zu einem eigenständigen Vernunftgebrauch und somit zu einer eigenständigen Urteilskraft konzipiert wird. Die Pädagogik verstehen
wir als institutionalisierte und wissenschaftliche Entsprechung der Aufgabe der Bildung des
Menschen mit der Funktion, zwischen gouvernementaler Forderung nach politischer Ordnung
und der bürgerlichen Forderung individueller Freiheit zu vermitteln.
Es ist zwar richtig, dass Rousseau großen Einfluss auf die Entwicklung der Pädagogik und die
reformpädagogischen Bewegungen gehabt hat, jedoch ist dieser Einfluss nur unter einer verkürzten bzw. spezifischen Wahrnehmung von Rousseaus Werk zu erklären. Diesbezüglich legen Reithel et al. dar, dass Rousseau kein einheitliches Erziehungskonzept verfolgt, sondern
das Erziehungssystem im Rahmen seiner gesellschaftskritischen Reflexionen thematisiert.335
So scheint es nur möglich, Rousseau als Pädagogen zu verstehen, wie es am Beispiel der „Philantropen“ um Basedow, Campe, Trapp, Salzmann etc. deutlich wird, in einer praxisorientierten
Rezeption Rousseaus336 innerhalb eines schon institutionalisierten und akademisch-disziplinierten, pädagogischen Kontexts.337 Gewissermaßen als Katalysator führt diese Konstellation
zu einer Einschränkung, wenn nicht gar Ausgrenzung der politischen Dimension von Rousse-
335
Vgl. Raithel/Dollinger/Hörmann 2009, S. 104.
336
Vgl. Backes-Haase 1996, S. 243.
337
Vgl. Hermann zitert in Scheuerl 1985, S. 84.
105
aus Werk in der Rezeption hinsichtlich seiner gesellschafts-, wissenschafts- und technologiekritischen Aspekte und verwehrt sich so gegenüber dem Rousseauschen Pessimismus, seiner
Ablehnung des in der wissenschaftlichen Rationalität begründeten Fortschrittsenthusiasmus,
der gerade als Faktor für ein Verständnis für die Dringlichkeit politischer Veränderungen gelten
muss. Dadurch erst wird die Natur des Menschen als eigenständiger Geltungsbereich einer Urteilsbildung und politischer Faktor freigelegt. So scheint eine Einstufung Rousseaus als „Klassiker der Pädagogik“ zwar didaktisch plausibel, historiografisch jedoch in Hinblick auf seine
monumentalisierende, isolierende und verfestigende Funktion problematisch.
Zudem spricht gegen die Einnahme und Zuordnung von Rousseaus Werk durch eine wissenschaftliche Disziplin, wie etwa der Pädagogik, gerade, dass er als „Projektemacher auf allen
möglichen intellektuellen Gebieten“338 – von der Komposition bis hin zur Botanik – eine Sprache entwickelt, die jenseits aller disziplinären Vorstellungen literarisch-experimentellen Charakter besitzt. So ist Rousseaus „pädagogisches Hauptwerk“ Emile oder über die Erziehung von
1762 gerade keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein fiktiver und utopistischer Erziehungsroman, eine fiktive und konstruierte Biografie, die eine Nähe zu „Bildungsromanen“339
der Zeit aufweist.
Rousseaus Sprache charakterisiert sich durch eine starke suggestive Kraft, die, wie z. B. in der
Abhandlung über die Wissenschaften und Künste deutlich wird, besonders durch die von der
rhetorischen Frage motivierte Vorstellungskraft zu erzeugen versucht wird. Als ein publikumsbewusster Schriftsteller beruht dabei Rousseaus Argumentation, nebst der „Vernunftschlüsse
mit historischer Herleitung“340 – die wohl kaum als historisch-kritische Methode in einem heutigen Sinne verstanden werden kann – auf einer stetigen Aufforderung der Leser zu einer Vorstellung, die er durch seine starken dichotomischen Abgrenzungen gewissermaßen vorstrukturiert und leitet. Dabei scheint eine implizite Referenz besonders zu den Künsten vorzuliegen.
So etwa motiviert Rousseau den Leser des ersten Discours zu einer Vorstellung einer verlorenen
Ursprünglichkeit und Eigentlichkeit, eines verlorenen Glücks: eines Arkadien,341 welches den
Lesern nur zu sehr aus der Malerei bekannt sein dürfte – in prominentester Weise durch Poussins Werk Die arkadischen Hirten von 1637/38 vertreten, welches in Zusammenhang mit der
338
Vgl. Vogl 2014.
339
Vgl. Treml 2005, S. 291–306.
340
Rousseau 2012a, S. 43.
341
Deutlich beschwört Rousseau eine Metaphorik des Bildes und der Augenblicklichkeit. Er versucht den „Gefallen“ des Lesers
gegenüber dem evozierten „Bild der Einfalt der Frühzeit“ zu erwecken, sodass er das Schwärmen mit ihm teile.
„Wir können unmöglich über die Sitten nachdenken, ohne am Bild der Einfachheit der Frühzeit gefallen zu finden. Ein schöner
Küstenstrich, nur von den Händen der Natur geschmückt, von dem man die Augen nicht abwenden und sich nur mit Wehmut entfernen kann.“ (Rousseau 2012, S. 57)
106
Rezeption poésie bucolique oder poésie pastorale steht. (Eine Widersprüchlichkeit, die zumindest für Rousseaus ersten Discours charakteristisch ist.)
Nebst der am Affekt ausgerichteten und somit auf den Affekt bzw. Effekt hingerichteten Sprache342 scheint es besonders die Beschwörung der Aussichtslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit
gesellschaftlicher Mittel zur Veränderung zu sein, die die Lebensdringlichkeit einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung vorführt:343 nur so nimmt man die „Deutlichkeit“ und „Kraft“ der
von Rousseau dargelegten „Widersprüche des gesellschaftlichen Systems“, die „Mißbräuche
unser Einrichtungen“344 wahr, durch die eine spekulative Vernunft allererst motiviert und in
Gang gebracht wird. Dabei ist Rousseaus Werk alles andere als an der Deutlichkeit und logischen Gültigkeit orientiert, wie Geitner in Hinblick auf Derridas Rousseau-Lektüre sehr gut zur
Geltung bringt:
„Anders gesagt: Rousseau ist ein Träumer, dessen Träume den Widerspruch in geregelter und
disziplinierter weise zulassen: Erschreckt vom Ereignis der Uneigentlichkeit, organisiert der
Autor die Bilder und Visionen des Unverstellten und sorgt doch gleichzeitig dafür, daß sie dementiert und zerstört werden. Weder der Supplementarität noch der Schrift kann Rousseau entsagen. Vielmehr gilt es gerade, die Möglichkeiten der écriture zu nutzen, ja zu raffinieren.“345
Auch wenn Derridas dekonstruktive Lektüre von Rousseaus Essai nicht unbestritten bleiben
kann, so wird in dem Zitat sehr gut deutlich, dass sich mit der Schrift Rousseaus eine in sich
zerrissene, moderne, komplexe Subjektivität entfaltet, verräumlicht und sich allererst für andere
als Referenzpunkt manifestiert. Gerade die literarische Figuration und Gestik des rousseauschen Werkes scheint mit der Thematik, Evokation und Provokation des Politischen grundlegend verwoben, gar auf diese hin ausgerichtet.
Auch wenn der Begriff der Bildung in Rousseaus Werk selbst keinen Gebrauch finden kann,
da er nur schwer in eine andere Sprache übersetzbar ist und ein Äquivalent in anderen Sprachen
schlichtweg nicht anzutreffen ist, ist es der spekulative Vektorraum, der sich mit Rousseaus
Werk eröffnet, der die Entfaltung des Begriffs der Bildung, die Aufnahme und das Anknüpfen
342
„Der Tonfall der Sprache ist die Seele der Sprache, er verleiht ihr Gefühl und Wahrhaftigkeit. Der Tonfall lügt nicht wie
das Wort; vielleicht fürchten ihn deshalb die wohlerzogenen Leute so sehr.“ (Rousseau 2012 a, S. 176 f.)
Zur affektiven Sprachauffassung Rousseaus vgl. auch Wilhelm 2013. (
343
So schreibt Rousseau im ersten Discours z. B. in Bezug auf die Wissenschaften als Mittel aufgeklärten Fortschritts:
„Welchen Gefahren, welchen Irrwegen begegnet man nicht bei der Untersuchung der Wissenschaften? [...] Nicht nur, dass
unserer Wissenschaften schon in Ansehung ihres Gegenstandes, den sie sich vornehmen, nutzlos sind, gefährlicher noch
sind sie durch ihre Auswirkungen.“ (Rousseau 2012, S. 47 u. 49)
344
Vgl. Diderot zitiert nach Sturma 2001, S. 23.
345
Geitner 1992, S. 233.
107
an den „mystisch-theologischen“ und „naturphilosophisch-spekulativen“ Begriff der Bildung
innerhalb des Denkraumes der Aufklärung allererst verständlich macht. Gleichzeitig wird in
dieser spezifischen und spekulativen Aufnahme der im Émile dargelegten Ansichten Rousseaus
zur Erziehung, die ohne die Wahrnehmung dessen als Synthese des rousseauschen Werkes undenkbar ist, ein Spezifikum der deutschsprachigen Rezeption im Gegensatz zur französischen
Rezeption deutlich. Denn vielmehr als diese entwickelt sich im “Rousseauschen Fahrwasser“
im deutsprachigen Raum vergleichsweise keine Positionen thetischer „Leugnung aller transzendentalen Güter“, keine gleichartige „polemischen Schärfe“ und „revolutionäre[n] Ideologie
der französischen Aufklärung“.346 Gerade dies scheint grundsätzlich wichtig für den Nachvollzug der Entwicklung des Begriffs der Bildung. Zugleich sei damit aber nicht gesagt, dass
dadurch der spekulative Vektorraum, innerhalb dessen sich der Begriff der Bildung im deutschsprachigen Raum entfaltet, als „unpolitisch“ zu sehen sei, der eine rein geistige Befreiung des
Menschen anstrebe, wie Ciafardone betont.347 Die Triebfeder der Entwicklung, der Enthusiasmus, mit dem der Begriff der Bildung diskutiert wurde, und die bis heute aktuelle Bedeutung
des Begriffs der Bildung kann ohne die in den gesellschaftskritischen Dimensionen des Werkes
Rousseaus sich entfaltende Lebensdringlichkeit und Problemlage nur mit Einschränkung verstanden werden.
Schon in seiner Preisschrift Abhandlung über die Wissenschaft und die Künste von 1750, in
der Rousseaus Denken seine Ausrichtung bzw. eine systematische Grundlegung findet und alle
großen Themenkreise, die ihn auch später beschäftigen werden, formuliert sind, verbindet er
die Kritik der Erziehung grundsätzlich mit der Kritik der geschichtlichen Entfremdung der Vernunft durch den Zeitgeist. Sittlicher Verfall als auch der Verlust der rechten Urteilskraft setzt
er mit der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen in phylogenetischer als auch ontogenetischer Hinsicht ins Verhältnis:
„Das Studium der Wissenschaften schadet schon den kriegerischen Eigenschaften, mehr aber
noch den sittlichen. Schon von frühester Kindheit an schmückt eine unsinnige Erziehung unseren Geist und verdirbt unsere Urteilskraft. Überall sehe ich riesige Anstalten, in denen man mit
großem Aufwand die Jugend erzieht, um ihr alles Mögliche beizubringen, nur nicht ihre Pflichten. Eure Kinder werden ihre eigene Sprache nicht beherrschen, dafür aber andere, die nirgendwo in Gebrauch sind. Sie werden imstande sein, Verse zu verfassen, die sie selbst kaum
begreifen. Sie werden sich auf die Kunst verstehen, mithilfe spitzfindiger Argumente Irrtum
und Wahrheit unkenntlich zu machen, ohne diese selbst unterscheiden zu können: Sie werden
nicht wissen, was Begriffe wie ‚Großherzigkeit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Mäßigung‘, ‚Menschlichkeit‘ und ‚Mut‘ bedeuten. Der leibliche Name ‚Vaterland‘ wird nie an ihre Ohren dringen. Und
346
Ciafardone 1990, S. 13.
347
Vgl. Ciafardone 1990, S. 13.
108
wenn sie von Gott hören, dann weniger, um ihn zu fürchten, als um Angst vor ihm zu haben.
Mir wäre lieber, sagte eine Weise, mein Schüler hätte die Zeit beim Paume-Spiel verbracht,
wenigstens wäre sein Körper frischer. Ich weiß sehr wohl, dass Kinder beschäftigt werden sollen und Müßiggang für sie die größte aller Gefahren darstellt. Was sollen sie also lernen? Dies
ist gewiss eine treffliche Frage. Sie sollten lernen, was einem Mann zu tun obliegt, und nicht,
was sie wieder vergessen sollen.“348
Deutlich wird, dass Rousseau kein Erziehungsprogramm vorschlägt – die Frage, was die Kinder
lernen sollen, schiebt er schnell beiseite –, sondern mit aller Vehemenz darzulegen trachtet,
dass die Wissenschaft und die Künste als auch die sittlichen Konventionen keinen Leitfaden für
die Erziehung und Reifung, d. h. für eine tugendhafte und glückliche Entwicklung des Menschen in ontogenetischer als auch phylogenetischer Hinsicht darstellen können. Obwohl
Rousseau nicht der Einzige ist, der verneint, dass die „Wiederherstellung“349 der Wissenschaften und Künste zu einer Läuterung der Tugenden beigetragen habe, ist seine Position bei weitem
der radikalste Versuch350 einer Demaskierung dessen, „was heute die Bewunderung der Menschen auf sich zieht“351. Erstaunlich ist dabei, dass Rousseau in der ganzen Abhandlung über
die Wissenschaft und Künste weder analysiert und differenziert, was die Wissenschaften und
die Künste charakterisiert, noch den Begriff der Tugend einer ausreichenden Bestimmung zuführt, sondern im Rekurs auf „historische Herleitungen“352 einen Zusammenhang zwischen
dem Sittenverfall, dem Verfall der politischen Tugend und der Urteilskraft und der durch die
Wissenschaften und die Künste angetriebenen gesellschaftlichen Prosperität postuliert. Für
Rousseau sind Dekadenz und der Verfall der Sitten eines Volkes korrelativ zum Verlust der
militärischen Stärke eines Volkes und daher daran bemessbar und zugleich für ihn nachweisbar.353 Die Korrelation begründet Rousseau damit, dass der Mensch, sofern er sich mit den
Wissenschaften und Künsten auseinandersetzt, sich kultiviert, einen Verlust seiner natürlichen
(kriegerischen) Stärke und Tugend erleidet.354 Die künstlichen Prothesen, die sich der gesellschaftliche Mensch schafft, schaffen in Rousseaus Augen künstliche Paradiese mit ihren künst-
348
Rousseau 2012, S. 63.
349
Mit „Wiederherstellung“ ist die seit der Renaissance sich auf einen antiken Geist berufende, von der Kirche unabhängige
Entwicklung der Wissenschaften gemeint.
350
Vgl. Durand in: Rousseau 2011, S. 106.
351
Rousseau 2012, S. 11.
352
Vgl. Rousseau 2012, S. 43.
353
Vgl. Rousseau 2012, S. 61.
354
„Hier jedoch ist die Wirkung gewiss, der Sittenverfall erwiesen und unsere Seelen im selben Maße dem Verderben ausgeliefert, wie unsere Wissenschaften und Künste.“ (Rousseau 2012, S. 27)
109
lichen Bedürfnissen und ihrem Luxus, die davon ablenken, dass der Mensch zu einem „widernatürlichen“, gar „entarteten“ Krüppel geworden ist. Die von Rousseau für sein Projekt beanspruchte Vehemenz der Polemik355 der Anklagen gegen die Gesellschaft ist gerade auch für den
Menschen, der um den Terror der Französischen Revolution und die Schrecken des 20. Jahrhunderts weiß, gerade dort, wo Rousseau von einem „unnützen Leben[…]“356 spricht, rückblickend kaum auszuhalten.357 Dies jedoch nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch wegen der argumentativen Schwäche, die Rousseau in Hinblick auf die Polemik hinnimmt: vor
allem liegt in der Präsupposition eines absoluten Maßstabs für Kraft, den Rousseau noch als
Maßstab des Wertes versteht, eine grundsätzliche Problematik der Argumentation.
Es wäre allerdings ungerecht und anmaßend, Rousseaus Kritik vor dem Hintergrund des „Wissens der Nachgeborenen“ zu entwickeln.358 Gerade dadurch verliert man eine Sensibilität gegenüber der Gestik des Werkes und vergisst, die Bedeutung und das emanzipatorische Potenzial, das sich in dem ersten Discours abzeichnet. Liest man Rousseaus erste Abhandlung als ein
politisch-programmatisches Manifest, missversteht man es. Denn sein Werk kreist, wie Rang
pointiert darlegt, gerade um die Fragen des rechten und falschen Erlebens, des seelischen SichVerlierens und Sich-Gewinnens, nach dem wahren Sein und dem wahren Glück und der Einheit
der Person,359 somit schließlich auch um die Frage, wie auch in einer unmenschlichen politischen Ordnung Menschlichkeit und Freiheit einen Platz finden.
„Menschen, seid menschlich, das ist eure vornehmste Aufgabe. Seid es jedem Lebensalter gegenüber, allen Ständen und allem, was menschlich ist.“360
355
Nicht erwähnt, aber beachtet, sei hier die Problematik des Leitbildes des starken Mannes als Maßstab und Prinzip einer
tugendhaften, glücklichen und gesunden Kultur, das dem allgemeinen Anspruch seiner Anthropologie entgegensteht (Schäfer 2002, S. 137–140). Ehrich-Hafeli schildert in diesem Zusammenhang, dass die von Rousseau ausgehende „bürgerliche
Polarisierung der Geschlechter“ nicht nur ein einseitiges Bild der Frau zeichnet, sondern auch zu einer eigentümlichen
Stilisierung von Männlichkeit beiträgt (vgl. Ehrich-Hafeli 1995, S. 157).
356
Rousseau 2012a, S. 140.
357
Kosselleck bringt dies zum Ausdruck:
„Ohne es zu ahnen, hat Rousseau die permanente Revolution auf der Suche nach dem wahren Staat entfesselt. Was er
suchte, war die Einheit von Moral und Politik, und was er fand, war der totale Staat, das heißt permanente Revolution im
Gewande der Legalität.“ (Kosselleck 1997, S. 136)
358
Daher ist hier Fetscher Recht zu geben, der Rousseau aus seiner Zeit heraus zu begreifen versucht und darlegt, dass es nicht
Rousseaus Gedanken waren, die einen unmittelbaren Einfluss auf die Französische Revolution gehabt haben. Vielmehr
auch mit Referenz auf die Dissertation McDonalds legt Fetscher dar, dass die „französischen Revolutionäre ebenso wenig
die Verfasser von vorrevolutionären Flugschriften Rousseaus politische Theorie gekannt haben, daß sie darüber hinaus in
vielen Punkten unbewußt oder auch bewußt von Rousseau abwichen und sich lediglich auf die faszinierende und populäre
Gestalt des großen Genfers beriefen“ (Fetscher 1968, S. 263). Diejenigen, die eine Revolution und einen radikalen Umsturz
der Verhältnisse mit allen Mitteln in Betracht zogen, stützen sich demnach nicht auf Rousseaus politische Philosophie,
sondern destillieren daraus eine undifferenzierte und vielmehr irreleitende Essenz. Rousseau Philosophie als Aufruf zu
einem Totalitarismus ist nur rückblickend möglich, aus historischer Perspektive jedoch falsch und demnach nicht zu teilen.
359
Vgl. Rang 2012, S. 96.
360
Vgl. Rousseau 2012a, S. 185.
110
Einen aus einer solchen Aussage Rousseaus gezogenen Umkehrschluss als politisches Programm aufzufassen und zu folgern, dass es politisch legitim sei, unmenschlich zu sein gegenüber allem, was unmenschlich ist, erscheint vielmehr einer aus Rousseaus Werk nicht nachvollziehbaren Motivation zu folgen.
Vielmehr zeichnet sich darin der Versuch der Ausarbeitung eines neuen Leitfadens und eines
„anderen Anfangs“361 in Hinblick auf eine Grundlegung der Tugend ab. Dieser in Zusammenhang mit der Gesellschaftskritik ausgearbeitete Versuch stützt sich dabei auf eine lange Geschichte der Wissenschaftskritik, wie sie etwa bei Cusanus, Agrippa von Nettesheim oder Erasmus zu finden ist. Das Lob der „Torheit“ bzw. der „Unwissenheit“, die Kritik der „belehrten
Unwissenheit“ können den zeitgenössischen Leser – anders als Rousseau es im Vorwort meint
– nicht schockieren, wie sich zuweilen in dem Erhalt des Preises der Akademie und in der
lockeren Aufnahme D’Alemberts zeigt und es ist nicht die erste Abhandlung, die zu einem
Zerwürfnis mit den Enzyklopädisten führt.362 Auch Rousseaus Schlussplädoyer dürfte keine
schockierende Wirkung gehabt haben:
„Oh Tugend! Du erhabene Wissenschaft einfältiger Seelen, bedarf es denn so vieler Mühen und
Anstalten, Dich zu erkennen? Sind Deine Gesetze nicht tief in alle Herzen eingeschrieben, und
genügt es da nicht, um Deine Grundregeln zu begreifen, in uns selbst einzukehren und auf die
Stimme unseres Gewissens zu hören in der Stille, jenseits der Leidenschaften? Dies ist die
wahrhafte Philosophie, geben wir uns zufrieden; [...].“363
Rousseau evoziert darin geradezu die Nähe zu Pascal und seinem berühmten Satz, wonach das
Herz seine Vernunftgründe hat, die die Vernunft nicht kennt.364 Obwohl aber Rousseau auf eine
Tradition religiös motivierter Kritik der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Menschen zurückgreift, liegt das Spezifikum seiner Kritik in einer historisch-immanenten und einer säkularen Wendung dieser Tradition. Kant hebt diesen Punkt deutlich hervor und weist diesen zugleich als einen produktiven Anknüpfungspunkt aus. Er sagt:
361
Damit soll kenntlich gemacht werden, dass Rousseaus Werk weit hinein in die Moderne, etwa noch bei Heidegger, als
Grundproblem der Philosophie nachwirkt.
362
Vgl. Brandes 1923, Bd. 2, S. 113 ff.
363
Rousseau 2012, S. 79.
364
Vgl. Pascal 2010, S. 233 (423/277).
111
„Rousseau entdeckte zuallererst unter den Mannigfaltigkeiten der menschlichen angenom-menen Gestalten die tief verborgene Natur des Menschen und das versteckte Gesetz, nach welchem
die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird.“365
Besonders in der zweiten Abhandlung wird Rousseaus Anliegen deutlich, die Eigengesetzlichkeit der menschlichen Natur freizulegen und ihren Begriff gegenüber einer konzeptuellen Einnahme durch eine theologische, wissenschaftliche, metaphysische und politische Vernunft zum
Maßstab der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung für eine Neubestimmung des
Politischen und der Sittlichkeit produktiv zu machen. Er schreibt darin, dass es die „Unkenntnis
der Natur des Menschen“ ist, welche bisherige Versuche einer Bestimmung des Naturrechts hat
scheitern lassen. Allein die „Natur des Menschen“, die „Stimme der Natur“ muss grundsätzliches Prinzip der Wissenschaft des Rechts und der Sittlichkeit sein.366 Denn nur, wenn man sich
vor Augen hält, was der menschlichen Natur entspricht, wird man feststellen können, was Rechtens ist und was zum Glück des Menschen führen würde.
„Aber solange wir den Naturmenschen nicht kennen, werden wir uns vergeblich vornehmen,
das Gesetz zu bestimmen, das er empfangen hat, oder jenes, das am besten seiner Verfassung
entspricht.“367
Zwar haben, nach Rousseau, alle Philosophen bisher die Notwendigkeit empfunden, die Verfassung des Staates durch die natürliche Verfassung des Menschen zu bestimmen, das Recht
durch das Naturrecht, jedoch verführten religiöse und metaphysische Motive sie dazu, den „Naturmenschen“ („homme naturel“) als „wilden Menschen“ („homme sauvage“) misszuverstehen, da sie die schlechten Eigenschaften des „zivilisiert-bürgerlichen Menschen“ („homme civil“) als Maßstab für die Vorstellung des Naturmenschen genommen haben.368 Dies sei jedoch
nicht aus einem Unvermögen der Vorstellungskraft und der Unmöglichkeit der Erkenntnis des
„Naturmenschen“ geschehen, sondern deshalb, da die gesellschaftlichen und kirchlichen Institutionen die Natur als Differenzkriterium zur Legitimation der „künstlichen“ Gesetze bedurften.369
365
Kant zitiert nach Cassierer 1998, S. 204.
366
Vgl. Rousseau 2012 b, S. 23 f.
367
Rousseau 2012 b, S. 25.
368
„Alle schließlich haben sie, unaufhörlich von Bedürfnis, Habsucht, Unterdrückung, Begierden und Stolz redend, Begriffe
auf den Naturzustand [état de nature] übertragen, die sie der Gesellschaft entnommen haben. Sie sprachen vom wilden
Menschen [homme sauvage] und beschrieben den zivilisiert-bürgerlichen Menschen [homme civil].“ (Rousseau 2012 b, S.
32 f.)
369
Vgl. Rousseau 2012 b, S. 33.
112
„Man darf nicht die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, für historische Wahrheiten halten, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die mehr
dazu geeignet sich, die Natur der Dinge zu erhellen, als ihren wirklichen Ursprung aufzuzeigen,
und die denen ähnlich sind unsere Naturforscher alle Tage über die Entstehung der Welt anstellen.“370
Konträr zu den bisherigen Auffassungen des Naturrechts dient die „hypothetische und bedingte
Überlegung“ über die Naturmenschen („homme naturel“), den Naturzustand („état de nature“)
als Ursprung Rousseau gerade nicht zur Legitimierung und Realisierung einer schon bestehenden Gesetzlichkeit, sondern im Rahmen der spekulativen Exploration und Orientierung neuer
Regulative. Wichtig ist dabei, dass Rousseau sich nicht auf „historische Wahrheiten“ stützt,
sondern zunächst den Begriff der Natur in seiner hypothetischen Wendung gegen die bisherigen
Theorien wendet, um ihre Grundsätze gewissermaßen zu destruieren. Die These, dass der Naturmensch keine „historische Wahrheit“ sei, bricht mit einer dogmatischen, metaphysisch begründenden Naturrechtsauffassung und versucht in der Konvergenz der „Stimme des Gewissens“ und der „Stimme der Natur“ einen „inneren Sinn“ herauszustellen, der als Kriterium für
eine zukünftige Gesellschaftlichkeit und Sittlichkeit gelten darf. Diese doppelte Funktion, die
der Begriff der Natur innerhalb Rousseaus Werk einnimmt, verbietet gerade eine positivistische
Einnahme durch eine politische Agenda – er bleibt das konstitutive Gründungselement einer
spekulativen Anthropologie. Daher ist der Topos „Zurück-zur-Natur“ als rousseausches Programm ein grundlegendes Missverständnis. Es missversteht die Funktion des Naturbegriffs bei
Rousseau. Wie Hansmann auf den Punkt bringt, liegt das Programm eines Rekurses – nicht
Rückgangs – zum Naturbegriff vielmehr in einem systematischen „Zu-Grund-gehen oder als
In-sich-gehen“ 371 der in ihrer Äußerlichkeit nicht wiederzuerkennenden lebendigen, individuellen Natur. Darin liegt zugleich die entscheidende Erkenntnis, dass die Natur nicht in einer
theoretischen Weise am optischen Modell orientiert verstanden werden kann, sondern durch
den „inneren Sinn“ der Einfühlung zugänglich ist. Ein rationalistisches und theoretisches Verständnis der Natur müsse demnach moralisch blind bleiben: eine moralische Sensibilität könne
sie niemals entwickeln und grundlegen. In diesem Hinblick ist auch das Gewissen des „Nachgeborenen“ erleichtert, denn bei Rousseau findet diese Natur keine spezifische Bestimmung,
sondern erweist sich zunächst als ein Suchbegriff und spekulatives Leitmotiv. So ist es auch
370
Rousseau 2012 b, S. 33
371
Hansmann 1993, S. 48, Fußnote/Anm. 6.
113
jene „hypothetische Überlegung“, die die Natur nicht versucht endgültig bestimmen zu wollen,
welche einen Anschluss an Rousseau aus so vielen Perspektiven erlaubt.372
Gerade deshalb ist es denkmöglich, dass Kant, obwohl er die „versteckte Gesetzlichkeit des
Menschen“ anders als Rousseau transzendental-philosophisch zu entfalten versucht, Rousseaus
Leistung würdigt und aufnimmt. Gleichzeitig ist die Entdeckung dieses neuen spekulativen
Leitmotivs nur dadurch denkbar, dass Rousseau das Konzept des Menschen von dem Generalverdacht seines Sündenfalls befreit, sich so gegen den Gedanken einer „ursprünglichen Perversion des menschlichen Willens“373, wie es Cassierer formuliert, verwehrt. Zugleich liegt darin
schon die Abkehr von der hobbesschen Idee, dass der Naturzustand des Menschen ein kriegerischer ist374 – auch große Teile des zweiten Discours können als Polemik gegen Hobbes aufgefasst werden. Dies erscheint Rousseau vielmehr als Vorstellung des „gesitteten Menschen“
und nicht des „wilden Menschen“.375 Der durch die doppelte Abgrenzung gewonnene anthropologische Leitfaden erklärt auch, warum Rousseau, trotz seiner scharfen Kritik an den Wissenschaften und Künsten, den Preis der Akademie der Naturwissenschaften und der Künste von
Dijon erhalten haben mochte.
Es ist nicht falsch, wenn Lypp herausstellt, dass die fiktive Utopie der „hinderlosen Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst“376 im Mittelpunkt des rousseauschen Werkes verortet
werden kann. Jedoch muss hier sehr deutlich betont werden, dass Rousseau um die Schwierigkeiten dieses utopischen Regulativs seiner Heuristik weiß. So eröffnet Rousseau seine zweite
Abhandlung, die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter
den Menschen, mit dem Hinweis auf den Orakelspruch von Delphi mit der Bemerkung, dass
die „Menschenkenntnis“ unter all den menschlichen Kenntnissen am bedeutendsten ist,377 dass
aber der Mensch gar nicht mehr zu einer unmittelbaren Selbsttransparenz fähig ist. 378 Gerade
372
Damit sei jedoch nicht gesagt, dass Rousseaus Begriff der Natur in einen Relativismus führe, nach dem der Mensch völlig
wandelbar sei. Der Begriff der Natur ist es gerade auch, der diesem Relativismus entgegenwirkt. Ist die Natur durch den
„inneren Sinn“ zu erfahren und durch die Einfühlung zu erkennen, so ist sie nur so weit wandelbar, wie sie durch diese
„Organe“ erfahrbar bleibt.
373
Cassierer 1998, S. 207.
374
„Krieg ist keine Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern eine Beziehung von Staat zu Staat, in der die Einzelnen nur
durch Zufall Feinde sind, nicht als Menschen und nicht einmal als Bürger, sondern als Soldaten; nicht als Glieder des
Vaterlandes, sondern als ein Verteidiger.“ (Rousseau 2013, S. 13)
375
So Rousseau in Hinblick auf den Begriff des Eigentums (vgl. Rousseau, 2013, S. 24).
376
Lypp 1985, Bd. III, S. 113.
377
Vgl. Rousseau 2012 b, S. 21.
378
Diese wird deutlich, wenn man Rousseaus Zusatz beachtet, der da lautet:
„(b) Von meinem ersten Schritt an stütze ich mich vertrauensvoll auf eine jener Autoritäten, die von den Philosophen
geachtet werden, weil sie auf einer gefestigten und erhabenen Vernunft beruhen, die allein die Philosophen zu finden und
wahrzunehmen wissen: Welches Interesse wir auch haben mögen, uns selbst zu erkennen, so bin ich mir doch unsicher, ob
114
da Rousseau den Menschen als gesellschaftlich entfremdet versteht, erhält die „Menschenkenntnis“, die (historische) Anthropologie eine so bedeutsame Rolle.
„Was aber noch schlimmer ist: da alle Fortschritte der menschlichen Gattung sie unaufhörlich
von ihrem ursprünglichen Zustand (état primitif) entfernen, berauben wird uns um so mehr der
Mittel zur Erlangung der wichtigsten von allen Kenntnissen, je mehr wir neue aufhäufen. Im
gewissen Sinne haben wir uns gerade durch das Studium des Menschen außerstande gesetzt,
ihn zu erkennen.“379
Rousseau weiß um die Aporie seines Unternehmens. Er beschreibt eine ursprüngliche „Supplementierung“: der Autor kann nur über einen Ursprung schreiben, sofern er von diesem sich
schon entfernt hat. Ohne eine reflexive Distanz ist es ihm gar unmöglich, den Ursprung in den
Blick zu bringen. Ohne der Schrift fähig zu sein, kann er nicht schreiben. Ohne ein Notensystem
zu beherrschen und zu reflektieren, kann er keine Opern schreiben usw. – um all dies weiß
Rousseau. Daher wäre es eine grobe Vereinfachung zu meinen, dass Rousseau an eine wissenschaftliche oder gesellschaftliche Realisierbarkeit einer Selbsttransparenz glaubt – auch hier
bleibt er Pessimist.
In aller Deutlichkeit wird in diesem Moment des rousseauschen Werkes der Unterschied zur
dogmatischen Gesellschafts- und Wissenschaftskritik kenntlich: Während der Dogmatiker an
die Genesis, Emergenz und Realisierbarkeit der göttlichen Ordnung glaubt, so hofft Rousseau
vielmehr auf eine „hinderlose Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst“. Im Gegensatz
zum Glauben, welcher sich seiner Realität sicher ist, begreift sich das Hoffen immer nur als
Möglichkeit. Es kann deshalb nicht als theologisches Prinzip begriffen werden, da es um die
Komplexität der Ereignisse weiß und diese nicht – wie der Glaube – durch das Postulat einer
diesen Ereignissen enthobenen Idealität zu transzendieren meinen kann. So wird allererst in
wir nicht alles das besser kennen, was wir nicht sind. Von der Natur mit Organen ausgestattet, die einzig zu unserer Erhaltung bestimmt sind, gebrauchen wir sie nur, um fremde Eindrücke aufzunehmen, trachten wir nur danach, uns nach außen
zu verbreiten und außer uns zu existieren. Zu sehr damit beschäftigt, die Funktionen unsere Sinne zu vermehren und die
äußere Ausdehnung unseres Daseins zu erweitern, machen wir nur selten von jenem inneren Sinn Gebrauch, der uns auf
unsere wahren Ausmaße einschränkt und alles von uns trennt, was nicht zu uns gehört. Jedoch eben dieses Sinnes müssen
wir uns bedienen, wenn wir uns selbst erkennen wollen. [...] Wir haben die Gewohnheit verloren, die Seele zu gebrauchen;
sie blieb ungeübt inmitten des Getümmels unserer körperlichen Empfindungen; durch das Feuer der Leidenschaften ist sie
ausgetrocknet; das Herz, der Geist, die Sinne – alles hat gegen sie gearbeitet.“ (Rousseau 2012 b, S. 116)
Was hier deutlich wird, ist, dass Rousseau darauf hinweist, dass der Mensch sich zunächst und zumeist gar nicht kennt und
keine unmittelbare Erkenntnis seiner Selbst, seiner Natur hat. Vielmehr bedarf es des „inneren Sinns“, des Einfühlungsvermögens, um zu einer solchen Kenntnis zu gelangen. Dass diese Kenntnis, angesichts dessen, dass es sich nicht um geistige
und objektive Erkenntnis handelt, nicht zu einer Transparenz des Selbst führen kann, aber zu einem empfindsamen Einklang, wird hier deutlich. Rousseau an dieser Stelle einen Logozentrismus vorzuwerfen, wäre demnach ein Missverständnis
– dies zudem, da er sein Naturverständnis deutlich von dem der dogmatischen Metaphysik abgrenzt. Vielmehr nimmt
Rousseau an, dass der fühlende Mensch ein unmittelbareres – nicht absolutes – Verständnis als der denkende Mensch hat,
der sich in der Medialität des Denkens allzuleicht verliert.
379
Rousseau 1993, S. 47.
115
Bezug auf den Begriff der Hoffnung in einer produktiven Weise Geitners oben zitierter Satz
verständlich, wonach Rousseau ein „Träumer“ sei – zu leicht führte uns diese Bemerkung sonst
in eine abwertende, despektierliche Distanzierung. Mit Bloch gesagt, wird es durch Rousseau
erstmals erkenntlich, dass es darauf ankommt, das Hoffen zu lernen. Die Menschen, als politische Menschen – als „citoyen“, wie Rousseau ihn entwirft380 – dürfen sich nicht der Kontemplation des Utopischen widmen, sondern „sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören“381. So zeigt sich das Hoffen niemals nur als Selbstzweck, wie etwa der Begriff des
Traumes missverstehen lässt, sondern ist immer auf eine Aktivierung bezogen, ein Tätig-Werden des Menschen im Sinne seiner eigenen Natur. Die Spekulation erweist sich in dieser Hinsicht in seiner Dringlichkeit und Notwendigkeit, da ohne sie das Tätig-Werden in einen leeren
Aktivismus umschlägt. Gleichzeitig zeichnet sich dadurch auch die Stellung der Wissenschaft
und Künste in Rousseaus Werk ab: ihre Kritik betrifft zielt nicht auf eine Aufhebung ihrer ab –
dies schon nicht, weil Rousseau eine Rückkehr in den „état de nature“ für unmöglich hält, da
es keine geschichtliche Wirklichkeit dessen gibt (s.o.) –, sondern auf eine Subordination der
Wissenschaft und Künste unter die Zwecke des Menschen.382 Eine Wissenschaft des Menschen
als auch der Kunst ist daher auch dem Politischen zugeordnet als spekulatives Moment der
Politik.383 Die Ablehnung einer naturgeschichtlichen Dimension seiner Anthropologie und die
in der ersten Abhandlung verwendeten historischen Methoden verdeutlichen, dass Rousseau
eine auf die Veränderung des Politischen ausgerichtete Spekulation im Blick hat, die jedoch
nicht ungebunden von einer Beachtung der historischen, realen oder materialen Umstände verfahren darf.384
380
Rousseau unterscheidet bekanntermaßen den „Bürger“ („citoyen“) von dem „Städter“ („bourgeois“). Während sich der
„Städter“ durch eine politische Passivität auszeichnet und sich durch seine Besitztümer definiert, versteht der „Bürger“
durch sein eaktive Teilnahme am bildungspolitischen Prozess. Er schreibt:
„Sie wissen nicht, dass die Häuser die Stadt, die Bürger aber die Polis machen.“ (Rousseau 2013, S. 19, Fußnote)
381
Bloch 1985 a, S. 1.
382
So schreibt er in Bezug auf die Naturrechtslehre:
„Daher sind gerade aus dieser Natur des Menschen, so fährt er fort, aus seiner Beschaffenheit und seinem Zustand die Prinzipien
dieser Wissenschaft abzuleiten.“ (Rousseau 2012 b, S. 24)
383
In der ersten Abhandlung findet sich die Kritik der Wissenschaft als Selbstzweck (vgl. Rousseau 2012, S. 71).
384
Es ist wichtig zu unterstreichen, dass Rousseaus Idee vom Naturmenschen keine bloße Fiktion ist, sondern sich vielmehr
durch die Lektüre verschiedener „Berichte der Reisenden“ entwickelt und daraus gewissermaßen als Leitmotiv heraus destilliert (vgl. Rousseau 2012 b, S. 44). Interessanterweise bekundet sich darin ein (wenn auch von vielen zeitgebundenen
problematischen Begrifflichkeiten gebunden) Versuch, aus dem europäischen Menschenbild auszubrechen, der Versuch
einer vergleichenden Anthropologie, nicht den europäisch-zivilisierten Menschen als Exempel und Maßstab für die Erkenntnis anderer Völker zu nehmen. Die Kritik der europäischen Vernunft leistet Rousseau so letztlich auch im Rekurs auf
die Kulturen anderer Völker (vgl. Figal 1989, S. 24–38).
116
Vielmehr also benennt Rousseau mit diesem zitierten Satz das Motivationsmoment seines
Schreibens und verweist zugleich auf die Funktion seines aporetischen Leitmotivs einer vermittelten Unmittelbarkeit, der Natur als Leitbegriff, die sich in der „Menschenkenntnis“, der
Erkenntnis des Selbst, entfalten soll. Darin liegt der Gedanke, dass der Mensch innerhalb aller
seiner historischen „Ketten“, die Rousseau überall wahrnimmt und argumentativ voraussetzt,385
stetig die Frage stellen sollte, was der eigentliche Wille sei, der sich im Politischen figurieren
soll in Hinblick auf eine Veränderung der Umstände. Rousseau versucht damit zugleich eine
Selbsterfahrung des Willens, eine Inwendigkeit als konstitutive Bewegung politischer Urteilskraft und politischer Gewissensbildung kenntlich zu machen und zu postulieren. So würdigt
Hegel noch diese Entdeckung der Bedeutung des Willens, etwa in den Grundlinien der Philosophie des Rechts mit dem Gedanken, dass es dieses „Ich will“ ist, dass den „großen Unterschied“ zwischen der „alten und der modernen Welt“ ausmache.386
Wenn auch Hegel dem aus der Kritik der kontraktualistischen „Unterwerfungstheorien“387 von
Grotius und Pufendorf388 sowie der hobbesschen Auffassung, wonach der absolute Staatskörper
sich durch die Menschen konstituiert und legitimiert (s. o.), folgenden Begriff der „volonté
général“ nicht beipflichtet, da dieser „nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens,
sondern nur als das Gemeinschaftliche“389 gelten kann, so markiert Hegel die damit folgende
Einführung des Konzepts des Willens, der freiheitlichen Selbstbestimmung als wesentliches
Konstituens politischer Souveränität390, als Wende in die moderne politische Theorie. Wie auch
immer man die Bestimmungsmerkmale einer „modernen politischen Theorie“ fassen und begreifen möchte, so wird durch Hegels Einschätzung deutlich, dass Rousseaus Erhebung des
freiheitlichen, natürlichen Willens des Einzelnen zum Ausgangspunkt der Legitimation der
Macht und zum Maßstab der Sittlichkeit in der Folge als einer der stärkster Referenzpunkte von
Rousseaus Theorie des Politischen zu gelten hat.
„Auf seine Freiheit verzichten heißt, auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten zu verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem
Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen.“391
385
Vgl. Rousseau, 2013, S. 5.
386
Vgl. Hegel 1986, S. 449 (Zusatz zu § 278).
387
Vgl. Kersting 2012, S. 48 f.
388
Vgl. Rousseau 2013, S. 10.
389
Hegel S. 400, § 258
390
Vgl. Rousseau 2013, S. 28.
391
Rousseau 2013, S. 11 f.
117
Auch wenn Rousseau selbst darlegt, dass das Postulat des Naturzustands bloß hypothetisch sei
und nicht für eine historische Wahrheit gehalten werden dürfe,392 charakterisiert diese Hypothese eine grundlegende Funktion, insofern sie den „natürlichen Menschen“ als Leitfigur zur
Sprengung der gesellschaftlichen und somit künstlichen „Ketten“ des Menschen konzipiert. Die
Problematik des Begriffs der „volonté général“, des Gemeinwillens,393 tritt für Rousseau dabei
in den Hintergrund. Für die Rezeption seines politischen Denkens ist nicht vielmehr die Begriffslogik entscheidend, sondern gewissermaßen der imaginäre, utopische Überschuss, den der
Begriff rhetorisch affiziert, um – auch mittels des Paradoxes als argumentatives Mittel394 – eine
Provokation der politischen Vernunft zu leisten. (Gerade auch deshalb spricht Popper etwa von
einem „kollektiven Mystizismus (Rousseauscher Herkunft)“395.) Darüber hinaus ist es Rousseaus synthetische Leistung396 innerhalb des „konstellationalen Prozesses“, folglich seine spezifische Gestik der Sammlung, die trotz aller Paradoxa, Widersprüchlichkeit und begriffslogischer Problematik zu einer Dispersion und Anknüpfung an sein Werk führt, zur Theoriebildung
bzw. zur politischen Modellbildung motiviert und so den spekulativen Vektor konstituiert. Gerade der Aspekt der Sammlung ist es, der, nach Zenkert, die „irritierende“ 397 Vielfältigkeit der
in Rousseaus Schriften versammelten Gesichtspunkte zu einer Rezeption führt, die „fast das
ganze politische Spektrum“ widerspiegelt.
Genauer aber lässt das Sentimentalische, welches die Transformation und Überformung des
Denkraumes bewirkt, das Momentum und die Lebensdringlichkeit von Rousseaus Werk verstehen. Der Begriff der Natur, den Rousseau innerhalb der ersten beiden Discours als negativen
Begriff zur Gesellschaft entwirft,398 stellt das Leitmotiv des Sentimentalischen dar: er veranlasst eine Suchbewegung, der im Versuch verstanden werden kann, die „verloren gegangene
ursprüngliche Natürlichkeit durch Reflexion wiederzugewinnen“399.400 Wie auch immer der
392
Rousseau 2012 b, S. 33.
393
Vgl. Riley 2012, S. 109.
394
Vgl. Jaumann 1995, S. 15 ff.
395
Popper 2003, S. 55.
396
Mit Stamm könnte man diese als „Transformation und Überformung eines Denkraums“ beschreien (vgl. Stamm 2005, S.
45 f.).
397
Vgl. Zenkert 2004, S. 216.
398
Es ist Oberparleiter-Lorke in der Feststellung zuzustimmen, dass Rousseau im zweiten Discours seinen „naturphilosophischen Ansatz [...] nur sehr dezent“ hervorhebt (vgl. Oberparleiter-Lorke 1996, S. 84).
399
Scholze-Stubenrecht 2009, S. 1217.
400
So verstanden müssen wir die Ansichten Moreaus zurückweisen, nach dem sich die Philosophie Rousseaus nicht als Ertrag
aus einer „ständigen Suche“ („quête perpétuelle“) entfaltet, sondern sich als eine „Sammlung von Glaubensätzen“ („ensemble de croyances“) und „Dogmen“ darstellt (vgl. Moreau 1973, S. 78). Vielmehr liegt es nahe, die „Rousseauschen
Dogmen und Topoi“ auf die Rezeption zurückzuführen.
118
Begriff der Natur interpretiert werden wird, so wirkt der weit gefächerte Leitbegriff der Natur
als kulturkritisches „Kontrastmittel“,401 das eine ursprüngliche Freiheitserfahrung und Perspektiven auf die Möglichkeit zur Freiheit zwischen geschichtlicher Reflexion und Selbsterfahrung
freilegen soll. Vielmehr als eine inhaltliche Bestimmung erfüllt der Begriff der Natur demzufolge eine methodische Funktion. Rousseau verwendet ihn um eine Art „Epoché“, um eine
Aussetzung oder Suspension der natürlichen Einstellungen und Vorstellungen zu bewirken in
Hinblick auf eine Wandlung oder gar Ersetzung der Regulative und Ideale der Sittlichkeit und
schließlich des Politischen. Rousseau schreibt:
„Je mehr man über den Gegenstand [den „état de nature“, M. B.] nachdenkt desto mehr vergrößert sich vor unseren Augen der Abstand zwischen den reinen Empfindungen und den einfachsten Erkenntnissen; und es ist unmöglich sich vorzustellen, wie ein Mensch nur aus eigener
Kraft, ohne die Hilfe von Verbindungen mit anderen und ohne den Stachel der Notwendigkeit,
einen so großen Zwischenraum hätte überspringen können.“402
Gerade durch die spezifische Verwendung des Begriffs der Natur, der im Werk niemals eine
endgültige inhaltliche Bestimmung erfährt, ist er immer bezogen auf einen anderen Begriff.
Durch eben diese Bezogenheit entfaltet sich die (Such-)Bewegung, durch die Rousseau eine
freiheitliche Bestimmung des Menschen zu finden erhofft.403 Demnach ist Oberparleiter-Lorkes
Darlegung zu folgen, dass Rousseaus „spekulatives System der Freiheit“ eine polare, differenzielle, polare Grundlegung erfährt.
„Theoretisch ist es die vom Menschen gesetzte Differenz zur Naturordnung, in der die Polarität
des Systems entsteht, und in praktischer Sicht erscheint die Freiheit als aktiv erfüllende Relation, als erfülltes Wessen des Menschen, wobei das Erhaltungsprinzip und das Mitleid durch
die ihnen immanente Ordnung der Natur als passiv vermittelnde Relation zwischen beiden Relaten wirken, als Vermittlung der Natur des Menschen einerseits und der Naturordnung anderseits.“404
Es ist die durch Rousseau gesetzte methodische Entgegensetzung von Natur und Kultur, von
Physis und Nomos, die eine durch die Freiheit bestimmte Lebensführung und naturbestimmte
Sittlichkeit allererst in Ausblick zu bringen vermag.405 Durch die polare Grundlegung findet
401
Rousseau 2012 b, S. 40.
402
Rousseau 2012 b, S. 48.
403
Es scheint, dass man die Problematik der Einheit des rousseauschen Werkes weder inhaltlich noch thematisch finden kann,
sondern durch ein Verständnis und eine Rekonstruktion der Suchbewegung, der Problematiken, die das Motivationsmoment der Schriften, des Schreibens Rousseaus darstellen.
404
Oberparleiter-Lorke 1996, S. 85.
405
Besonders im zweiten Discours wird deutlich, dass sich durch die methodische Entgegensetzung der Begriffe des Naturmenschen bzw. Wilden und des zivilisierten Menschen, so des Naturzustandes und der Gesellschaft sich die Begriffe des
119
Freiheit keine Definition,406 sondern der Sinn, die Richtung („le sens“) der Freiheit entfaltet
sich allererst durch ihre Indefinition: relational zu anderen Begriffen, die Rousseau reflektiert,
entsteht so ein Definitionsbereich der Freiheit (vgl. dazu z. B.: Rousseaus Begriff der negativen
Erziehung). Die Entfaltung der Freiheit wird dabei nicht nur zur naturgegebenen Aufgabe des
Menschen,407 sondern zugleich das Leitmotiv seiner spekulativen Systematik.408
Trotz der großen Anschaulichkeit, mit der Rousseau in den ersten beiden Discours die Lebensdringlichkeit seines Leitbegriffs der Natur durch das thetische Urteil über die Entfremdung
und Unfreiheit des Menschen durch seine Vergesellschaftung begründet und schildert, so bedient und aktiviert er mit den darin verwendeten Topoi des „edlen Wilden“, der verlorenen
“Âge d‘or“ nur die Vorstellungskraft der Leser, ohne dabei eine politische Fluchtlinie zu entwerfen – auch wenn alle seine späteren Themen darin anklingen. Die Frage, wie eine ursprüngliche Einfachheit oder Empfindsamkeit, ein archaisch-natürliches „Für-sich-Sein“ des Menschen in der natürlichen (nicht politischen) Ordnung denkbar und schließlich auch realisierbar
sei, findet darin keine ausreichende Antwort. Frühe Reaktionen entnehmen dem Discours
hauptsächlich eine übertrieben formulierte Aufforderung einer „Rückkehr in die Wälder“.409
Gesellschaftsvertrags als auch des „volonté générale“, die Rousseau in seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag systematisch entwickelt, vorauszeichnen:
„Ohne heute in die Untersuchungen einzutreten, die noch über die Natur des Grundvertrags jeder Regierung vorzunehmen
sind, beschränke ich mich darauf [...], hier die Einrichtung des politischen Körpers als einen wahren Vertrag zwischen dem
Volk und den Oberhäuptern, die es sich wählt, zu betrachten: einen Vertrag, durch den sich beide Parteien zur Beachtung
ihrer Gesetze verpflichteten, die darin festgelegt sind und die die Bd.e ihrer Vereinigung bilden. Indem das Volk, hinsichtlich der gesellschaftlichen Beziehungen, alle seine Willensstrebungen zu einem einzigen Willen vereinigt, werden alle
Artikel, über die sich dieser Wille erklärt, lauter Grundgesetze, die alle Mitglieder es Staates ohne Ausnahme verpflichtet,
und eines dieser Grundgesetze regelt die Wahl und die Macht der Magistratspersonen, die damit beauftragt sind, die Ausführungen der anderen Gesetze zu überwachen.“ (Rousseau 2012 b, S. 101 f.)
406
Deutlich lehnt Rousseau eine rationalistische, vernünftige, er nennt es „philosophische“ Bestimmung der Freiheit im Gesellschaftsvertrag ab:
„Aber ich habe über diesen Punkt schon mehr als genug gesagt, und der philosophische Inhalt des Wortes Freiheit ist hier
nicht mein Gegenstand.“ (Rousseau 2013, S. 23)
407
Die zu Beginn des Gesellschaftsvertrags postulierte geburtsgegebene Freiheit des Menschen kann eben nicht als eine an der
Empire entwickelte Beschreibung verstanden werden – Rousseau selbst schildert die Abhängigkeit und Schwäche des Kindes nach der Geburt im ersten Buch des Emile –, sondern muss vielmehr als ein geburtsgegebenes bzw. naturgegebenes
Telos des menschlichen Handelns verstanden werden.
408
Es ist hier jedoch hervorzuheben, dass Rousseaus spekulative Systematik nicht in einen Irrationalismus mündet. Die Kritik
des wissenschaftlichen, rationalistischen Naturbegriffs veranlasst ihn vielmehr, einen sensualistischen, deskriptiven Naturbegriff zu entwickeln, der in der methodischen Forderung einer (von wissenschaftlichen Topoi und Dogmen freien (vgl.
Rousseau 2012, S. 113)) Sensibilisierung des Denkens gegenüber der Natur des Menschen mündet. Damit gehtzugleich die
Herausforderung einher, die die spekulativen Begriffe im Rückgang auf dessen ursprüngliche Sensibilität und Erkenntniswert zu hinterfragen. Die Kritik des Rationalismus, der rationalistischen Kultur führt vielmehr zum Projekt eines sentimentalischen Denkens, das die gesellschaftlichen Ziele und Autoritäten einer Kritik auf Grundlage einer vermeintlich ursprünglichen Sensibilität gegenüber den Dingen unterzieht.408 Die Rolle der Einbildungskraft, die „methodische Fiktion“ (vgl.
Schäfer 2002, S. 54–59), ist es aus einer „natürlichen bzw. ursprünglichen“ Sensibilität (Rousseau 2012 b, S. 26) eine
Utopik als Regulativ des Politischen jenseits der bestehenden Politik zu entwickeln.
409
Vgl. Hansmann 1996, S. 3.
120
Trotz dieser doch spöttischen Reaktionen, die, wie es Voltaire zum Ausdruck bringt, eine „Verschwendung des Geistes“410, d. h. eine Art phantastischer Manierismus sei, scheint der darin
angelegte Fragenkatalog eine breite Leserschaft erreicht zu haben. Diderot bringt in dieser Hinsicht treffend folgende Bedingung und Erwartung für eine systematische und wirkungsmächtige Rezeption seines Werkes zum Ausdruck:
„Wenn Rousseau, statt uns die Rückkehr in die Wälder zu predigen, sich damit beschäftigt
hätte, sich eine Gesellschaft auszudenken, die zur Hälfte zivilisiert zur Hälfte im Urzustand
wäre, wäre es, wie ich glaube, sehr schwierig gewesen, ihm etwas zu erwidern.“411
Er bringt zum Ausdruck, dass wenn Rousseau die in dem ersten Discours stark aufgestellte
Dichotomie verwürfe und Refugien zur Ausbildung einer solchen „Urständigkeit“ innerhalb
der „Zivilisation“ formuliert hätte, er eine bedeutsame Antwort auf die in den Discours formulierten Fragen gefunden hätte. Man könnte fast annehmen, dass die Bedingung, die Diderot für
eine systematische Rezeption des Werkes aufstellt, Rousseau als Aufforderung verstanden in
seinem Werk aufnimmt und diesem nach den Discours eine andere Wendung gibt. So ist das
folgende Werk Rousseaus von der Frage bestimmt: Wie kann der Mensch selbstbestimmt durch
seine natürlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse frei sein trotz seiner historisch evolvierten gesellschaftlichen Eingebundenheit und Abhängigkeit? Für Rousseau liegt darin die Frage begründet, wie das Individuum als „Naturgegebenheit“412 zu seiner naturgegebenen Empfindungsfähigkeit in seinem „Für-sich-Sein“ bzw. seiner „ungebrochenen Einheit“413 innerhalb
einer schon etablierten politischen Ordnung kommen kann.
Interessanterweise entwickelt Rousseau in der Auseinandersetzung mit dem Begriff der politischen Ökonomie den Leitfaden zur Beantwortung dieser Fragen – darin besteht auch der wesentliche Grund, Rousseaus Begriff der Erziehung als spekulativen Begriff dem ökonomischen
Begriff der Erziehung, wie wir ihn oben dargestellt haben, entgegenzusetzen.
In seinem für die Enzyklopädie verfassten Artikel von 1758 trifft Rousseau eine grundlegende
Unterscheidung, die als Leitfaden für eine Antwort auf die oben gestellte Frage gelten kann:
„Denn [...] ist es gerade Rousseau, der die traditionelle Kontinuität der Sphären von oikos und
polis suspendiert und damit die für die modernen bürgerlichen Verhältnisse spezifische Diffe-
410
Vgl. Voltaire zitiert nach Hansmann 1996, S. 2.
411
Diderot zitiert nach Hansmann 1996, S. 2.
412
Vgl. Meyer-Drawe 1997, S. 700.
413
Vgl. Rousseau 2012a, S. 112.
121
renz von Privatheit und Öffentlichkeit inauguriert. Mit dieser Scheidung ist die bis dato ungebrochene Parallelisierung der Herrschaftsverhältnisse im Haus und im Staat und die wechselseitige Übertragung der Strukturprinzipien zwischen dem Bereich der Häuslichen und des Politischen obsolet geworden.“414
Wie Kuster treffend darlegt, eröffnet die Differenzierung von oikos und polis den Spielraum,
innerhalb dessen Rousseau sein spekulatives Antwortregister auf die oben gestellte Frage entfaltet: es ist das Refugium des Privaten, innerhalb dessen sich die Möglichkeit einer ursprünglichen Sittlichkeit und natürlichen Empfindsamkeit einstellt. Da die Hausgemeinschaft die ursprüngliche Gemeinschaft ist, da sie auch ohne polis existierte,415 ist der Mensch als Mensch
häuslicher Gemeinschaft im Gegensatz zur politischen Ordnung das Subjekt und Maß der Ordnung.416 Als außerpolitische und ursprüngliche Ordnung konzeptualisiert Rousseau die häuslich-ökonomische Gemeinschaft (auch im wirtschaftlichen Sinne) als eine Sphäre, in der sich
die durch die Natur des Menschen bestimmte kritische Urteilskraft ausbilden kann, die dem
Menschen zu einer Lossagung und Distanzierung zur politischen Ordnung verhilft.
Dies zeigt sich besonders in Rousseaus Werk Julie oder die neue Heloise, an dem Rousseau
zeitgleich zur Verfassung seiner Analyse der politischen Ökonomie in der Enzyklopädie arbeitet. Darin entwickelt Rousseau das Private, den sentimentalen oikos, als Referenzpunkt zur Beurteilung des Politischen. Anders formuliert findet Rousseau, dass erst durch die in der Sphäre
der Häuslichkeit als Sphäre der „Ordnung des Herzens“417 und „Kontrastinstitution“418 erwachsene und ausgebildete „ungebrochene Einheit“ des natürlichen Empfindungs- und Urteilsvermögens eine Grundlegung einer politischen Ordnung stattfinden kann und schließlich auch ein
naturgegebenes, menschengerechtes und schließlich glückliches Leben vorstellbar ist. Treffend
formuliert Bloch Rousseaus spekulativen Gedankengang:
„Die Sozialutopie geht überwiegend auf menschliches Glück und überlegt sich, in mehr oder
minder romanhafter Form, seine wirtschaftlich-soziale Form.“419
414
Kuster 2005, S. 103.
415
Ein Argument, das Rousseau von Aristoteles übernimmt. Vgl. Aristoteles, Eudemische Ethik VII 10, 1242a26 f.
416
Hier wendet Rousseau Aristoteles Einsicht, dass der „Mensch als Mensch nicht Subjekt und Maß der politischen Ordnung
ist“, gegen Aristoteles vgl. Höffe 2005, S. 475). Der Beweggrund für diese kritische Abwendung liegt darin, dass in einem
solchen Staat, wie auch Aristoteles darlegt, Ungleichheit und Unfreiheit vorherrschen. Gerade aber weil Rousseau Freiheit
als Grundbestimmung des Menschen versteht (vgl. Rousseau 2013, S. 11 f.), können ein Staat und eine Gesellschaft, die in
Unfreiheit und Ungleichheit leben, nur als ungerecht verstanden und als schlecht bewertet werden.
417
Vgl. Kuster 2005, S. 148 f.
418
Vgl. Schnädelbach 2000, S. 261.
419
Bloch 1985 b, S. 632.
122
Für unseren Zusammenhang ist es besonders bedeutsam, dass Rousseau seine Spekulation und
Vorstellungen von einem besseren Leben durch die Kritik der politischen Ökonomie entwickelt. Grundlegend ist, dass Rousseau in seinem Artikel in der Enzyklopädie erkennend formuliert, dass der Unterschied zwischen „allgemeiner“ und „politischer“ Ökonomie und „moralischer“, „häuslicher“ oder „privater“ Ökonomie in der Verwaltungsart besteht. Während der Vater – Rousseau versteht die „häusliche Ökonomie“ durch das „väterliche Geschick“ [„pouvoir
paternell“] bestimmt – „alles vor Augen hat“ und das Geschick der Familie unmittelbar, d. h.
mit einer Sensibilität für die einzelnen Problemstände leiten kann, verwaltet das „Oberhaupt“
das Geschick des Landes nur auf Grundlage nur mittelbarer Einsicht, da es „vermittels der Augen anderer sieht“.420 Wie auch in der Charakterisierung der „häuslichen Ökonomie“ als „moralische Ökonomie“ angekündigt, meint Rousseau, dass das Oberhaupt, dadurch, dass es nur
vermittels „anderer Augen“ wahrnimmt, keinerlei „natürliche Richtschnur“ besitzt, die ihm zu
einer gerechten, an (natürlichen) moralischen Prinzipien orientierte Verwaltung verhilft.
„Die Pflichten eines Vaters werden ihm von natürlichen Gefühlen [sentiments naturels] vorgeschrieben und das in einem Ron, der ihn nur selten den Ungehorsam erlaubt. Die Oberhäupter
haben keinerlei ähnliche Richtschnur und sind in Wirklichkeit dem Volk gegenüber zu nichts
verpflichtet als zu dem, was sie ihm versprochen haben und dessen Erfüllung zu fordern es ein
Recht hat.“421
In einer Zeit, in der – wie oben geschildert – das Geschick der Regierung praxeologisch mehr
und mehr von der statistischen Soziografie gelenkt wird, erkennt Rousseau hier, dass das Maß
der statischen Soziografie, der politischen Arithmetik keine gerechten Urteile über die Problemlagen der Familien, den Einzelwillen treffen kann. Er macht im Artikel von 1758 deutlich,
dass das der Staat in seinem Geschick in gewisser Weise von Modellen des Staates durch die
wissenschaftliche Konsultation und so schließlich von der Soziografie abhängig ist.422 Dadurch
ist den Oberhäuptern nicht nur die natürliche Richtschnur verloren gegangen, das moralische
Gefühl gewissermaßen suspendiert worden, sondern auch die Möglichkeit gegeben, in „all den
kleinen und verächtlichen Tricks Zuflucht zu nehmen“423. Vor dem Hintergrund der von
Rousseau entwickelten Wissenschaftskritik klagt er an, dass durch die mittelbare Erkenntnis
420
Rousseau 1993 a, S. 132.
421
Rousseau 1993 a, S. 132.
422
An dieser Stelle ist Röds Einschätzung, dass Rousseau durchaus in der Lage war, „realen Umständen Rechnung zu tragen“
zuzustimmen. Nicht zuletzt durch seine Nähe zu den Enzyklopädisten war er bestens informiert über die neusten Entwicklungen des Regierens: so über die Soziografie, wie etwa die Bevölkerungsstatistik, welcher er nicht besonders zu schätzen
schien (vgl. Röd 1984, S. 401).
423
Rousseau 1993 a, S. 142.
123
des Staatsoberhaupts durch „die Augen der anderen“, d. h. letztlich durch Konsultation, das
„Gefühl der Menschlichkeit schwächer wurde und entschwände“. So würde die Fähigkeit der
„Anteilnahme“ und des „Mitleids“ außer Kraft gesetzt,424
Ohne auf alle Punkte eingehen zu können, hebt Rousseau als ein zweites wichtiges Unterscheidungsmerkmal von oikos und polis den Unterschied des Motors der Entwicklung hervor. Während die Familie durch ihre natürlichen Bedürfnisse angetrieben wird, wird der Staat durch
künstliche Bedürfnisse angetrieben. Idealisierend konzeptualisiert Rousseau die Familie als
eine Form, die sich zwar durch Teilung vermehrt, da sie aber durch natürliche Bedürfnisse geleitet ist, sich niemals strukturell verändert.425 Der Staat dagegen, da er durch künstliche Bedürfnisse der „öffentlichen Kasse“ und durch die Sicherung von Eigentum geleitet ist, vermehrt
sich und verändert sich strukturell.426 Regierungen können dadurch, dass sie von diesen künstlichen Bedürfnissen geleitet sind – sie sind ja keine natürlichen, sondern immer vertragliche
Konstrukte – zu einer Tyrannei „entarten“.427 Befreit von allerlei „künstlichen Bedürfnissen“
stellt sich so die „häusliche“ oder „private Ökonomie“ als „moralische“, unveränderliche Gemeinschaft dar und kommt zugleich als Grundlage der Staatenbildung in den Blick.
Auch wenn die Idee einer „volksnahen“ politischen Ökonomie Rousseau nicht fremd ist, 428 so
liegt Rousseaus genuiner Beitrag, wie Kuster es darlegt, in der Entwicklung der spekulativen
Idee einer „introspektiven Beziehungskultur“ als „Ursprungsort“ und „Erfahrungsort einer
selbstbezüglichen Innerlichkeit“.429 Diese als Beitrag zur Entwicklung und Ausbildung bürgerlicher Kultur der Privatheit zu verstehen, ist historisch richtig, doch muss zugleich betont werden, dass der Gedanke einer Vergesellschaftung, gar Institutionalisierung einer solchen „selbstbezüglichen Innerlichkeit“ sich durch Rousseaus Werk selbst nicht allein rechtfertigen lässt.
Vielmehr ist der sentimentale oikos in seiner politischen Sprengkraft als romantische Sentimentalität zu verstehen, da er als „Ursprungsort“ einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Gegenkultur entwickelt wird. Rousseau postwendend als bürgerlichen Denker zu thematisieren,
tendiert immer auch dazu, jene subversive Kraft innerhalb seines Werkes unterzubewerten. Es
ist entscheidend, dass Rousseaus Werk als vielleicht erstes der Moderne erkenntlich macht, dass
424
Vgl. Rousseau 1993 a, S. 143.
425
Vgl. Rousseau 1993 a, S. 133.
426
Vgl. Rousseau 1993 a, S. 132f.
427
„Mißbräuche sind unvermeidlich und ihre Folgen verheerend in einer jeden Gesellschaft, in der das öffentliche Interesse
und die Gesetze keine natürliche Kraft haben und stets dem Angriff des persönlichen Nutzens und der Leidenschaft es
Oberhaupts und der Mitglieder ausgesetzt ist.“ (Rousseau 1993 a, S. 133)
428
Vgl. Rousseau 1993 a, S. 137.
429
Kuster 2005, S. 21.
124
die Soziografie in ihrer Entwicklung am Leitfaden der Naturwissenschaft und Mathematik, d.
h. durch ihre Formalisierung in der Neuzeit, das Subjekt der Forschung vergessen hat. Diese ist
nicht nur ein wesentliches Moment für das Verständnis des rousseauschen Werkes, sondern
zudem grundlegend für das Verständnis der Moderne. Moderne als Rationalisierung aufzufassen, bedeutet zu verstehen, welche Rolle die mathematisch-formalisierenden Wissenschaften,
die das Bild des Sozialen in Hinblick auf ihren gouvernementalen Gebrauch konstituieren, für
eine bedeutende Funktion in der Beantwortung der Frage „Was heißt UNS denken?“ spielt.
Im Rahmen seiner Kritik der politischen Ökonomie entdeckt Rousseau, dass ein selbstbezügliches, naturbestimmtes und so ein glückliches Leben nur dann stattfinden kann, wenn es sich
unabhängig von der Einflussnahme der Obrigkeit, jenseits der polis, entwickeln und bilden
kann. Er erkennt, dass die Voraussetzung einer unabhängigen, von der naturgegebenen Eindeutigkeit bestimmten Urteilskraft und Willensbildung durch eine öffentliche Erziehung unmöglich zu sein scheint.430 Obwohl Rousseau – und dies ist nicht nur nach der im ersten Discours
formulierten Kritik der Erziehung erstaunlich – in seiner Abhandlung zur politischen Ökonomie
die öffentliche „Erziehung nach Regeln, welche die Regierung vorgeschrieben hat und Beamten“431 lobt und somit seinen spekulativen Leitbegriff der Natur aussetzt, scheint er durch die
in Julie oder Die neue Heloise entfaltete Sozialutopie motiviert, deutlich in folgenden Werken
davon Abstand zu nehmen. Im Gesellschaftsvertrag erkennt Rousseau:
„Wer sich daran wagt ein Volk zu errichten [instituer], muss sich imstande fühlen, sozusagen
die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für
sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses
Individuum in gewissen Sinn sein Leben und Dasein empfängt; die Verfasstheit [constitution]
des Menschen zu ändern, um sie zu stärken; an die Stelle eines physischen und unabhängigen
Daseins, das wir alle von der Natur erhalten haben, ein Dasein als Teil und ein moralisches
Dasein zu setzen. Mit einem Wort, es ist nötig, dass er dem Menschen die ihm eigenen Kräfte
raubt, um ihm fremde zu geben, von denen er nur mit Hilfe anderer Gebrauch machen kann.“432
Deutlich wird die Annahme, dass Vergesellschaftung dem Menschen „die ihm eigenen Kräfte“,
seine „menschliche Natur“, seine naturgegeben Stärke, seine Autarkie und schließlich auch
seine moralisch und folglich politische Urteilskraft raubt. Das Zitat belegt hier offenbar Rousse-
430
Wie Schäfer erörtert, beruht die Idee, die Natur als einen Leitfaden der Erziehung in Ausblick zu stellen, auf der problematischen Annahme der „verbindlichen Eindeutigkeit“, d. h. sprachlichen Repräsentierbarkeit sensualistischer Erfahrung (vgl.
Schäfer 2002, S. 108–120).
431
Vgl. Rousseau 1993 a, S. 148.
432
Rousseau 2013, S. 45.
125
aus Verständnis, wonach die Möglichkeit, ja sogar die Voraussetzung der Konstitution und Instauration einer politischen Ordnung durch eine Manipulation des natürlichen Menschen besteht, in dessen Rahmen die naturgegebene, menschliche Freiheit verloren geht. Es liegt nicht
fern, diese Manipulation als Erziehung zu begreifen.
Der Entwicklung einer Vorstellung von der richtigen Erziehung, einer Ausbildung eines naturgegebenen, menschlichen Urteilsvermögens und somit Lebenswandels im Emile stellt
Rousseau die Erkenntnis der Unmöglichkeit einer öffentlichen Erziehung gewissermaßen voran:
„Eine öffentliche Erziehung existiert nicht mehr und kann auch nicht existieren. [...] Unter öffentlicher Bildungsanstalt verstehe ich nicht diese lächerlichen Anstalten, die man Kollegien
nennt. Ebensowenig zählt für mich die Erziehung der vornehmen Gesellschaft, denn diese Erziehung, die zwei einander gegensätzliche Ziele verfolgt, erreicht keines von beiden – sie dient
nur dazu, Doppelwesen zu erzeugen, die scheinbar stets an ihre Mitmenschen denken, in Wahrheit aber nur an sich selber.“433
Da der gesellschaftliche Mensch „als Sklave zur Welt kommt“ und als solcher „stirbt“,434 d. h.,
öffentliche und gesellschaftliche Praktiken der Erziehung es niemals vermögen könnten, freie
und gleiche Menschen zu bilden, entwickelt Rousseau die „häusliche oder natürliche Erziehung“435 als einen spekulativen Leitfaden für ein praktisches Gegenmodell436 der Erziehung im
Emile. „Häuslich“ ist diese Erziehung, da sie jenseits der Abhängigkeiten und Einflüsse der
Gesellschaft stattfinden soll und zugleich, da – wie Rousseau es in der Julie darlegt – allein die
Häuslichkeit den Rahmen einer natürlichen Erziehung bieten könne. Im Emile erscheint die
„Häuslichkeit“ vor allem als Gegensatz zur Urbanität, zur Stadt als „Schlund, der das Menschengeschlecht verschlingt“437. Folglich findet die Erziehung des „imaginären Schülers“438 Emile auf dem Land statt.
433
Rousseau 2012 a, S. 114.
434
Vgl. Rousseau 2012 a, S. 118.
435
Vgl. Rousseau 2012 a, S. 115.
436
Kryger hebt hervor, dass Rousseau, der einzige Philosoph der Aufklärung sei, der von einem Primat der Praxis ausgeht (vgl.
Kryger 1979, S. 21). Dies wird besonders deutlich in Rousseaus Emile, in dem er darlegt, dass „wirkliche Erziehung weniger aus Vorschriften als aus praktischen Übungen besteht“ (Rousseau 2012 a, S. 116) oder dort, wo es heißt, dass Leben
nicht auf biologische Funktionen zu reduzieren sei, sondern auf das Handeln (vgl. Rousseau 2012 a, S. 118). Die Idee einer
naturgegebenen praktischen Freiheit – sei diese auch nicht unabhängig durch die „Ordnung der Dinge“, da Rousseau diese
zugleich als Richtschnur für moralisches Handeln konzipiert – lässt eine transzendentalphilosophische und idealistische
Vereinnahmung in der Rezeption nur durch transzendentalphilosophische Interpretation des Begriffs der Natur verstehen,
die Rousseau völlig fremd ist.
437
Rousseau 2012 a, S. 151.
438
Rousseau 2012 a, S. 134.
126
Die Idee „Häuslichkeit“ und nicht die „Wälder“ als Ort der Erziehung und Menschenbildung
zu thematisieren, zeigt, dass Rousseau der durch Diderot formulierten Bedingung zur politischen Wirksamkeit seines Werkes folgt. Denn nicht nur nimmt er die in den Discours aufgestellte starke Dichotomie von Kultur und Gesellschaft auf, sondern versucht eine spekulative
Überwindung der gesellschaftlichen Ketten in praktischer Hinsicht zu entwickeln. Mit der Wahl
der „Häuslichkeit“ als Rahmen der „natürlichen Erziehung“ verwehrt sich Rousseau dem Vorwurf einer polemischen Aufforderung, in die „Wälder“ zurückzugehen, wie es zeitgenössische
Kritiker bemerken, und schafft so die Möglichkeit der Darlegung seiner politischen Anliegen
in einer versöhnlicheren und praktischeren Weise als zuvor.
Im Emile tritt Rousseau in der Beschreibung der Genetik des menschlichen Geistes und Seelenlebens nicht nur den Beweis des Primaten der „sinnlichen Vernunft“ an, die er in der zeitgenössischen Gesellschaft als verloren und entfremdet glaubt, sondern zeigt zugleich die praktische Möglichkeit einer Entwicklung dieser Vernunft.
„[...] es ist Zeit, da der Mensch die sinnlich wahrnehmbaren Beziehungen der Dinge zu sich
selbst kennenlernen soll. Da das menschliche Begriffsvermögen alles durch die Sinne empfängt, ist die erste Vernunft des Menschen eine sinnliche Vernunft; sie dient zur Grundlage der
intellektuellen Vernunft. Unsere ersten Philosophielehrer sind unsere Füße, unsere Hände, unsere Augen. Das alles durch Bücher zu ersetzen, heißt nicht uns denken lehren, sondern uns der
Gedanken anderer bedienen, es heißt uns lehren, viel zu glauben und nie etwas zu wissen.“439
Deutlich wissenschaftskritisch legt Rousseau nahe, dass der wissenschaftliche Fortschritt des
Menschen scheitern muss, da er keine originäre Erkenntnismöglichkeit bietet. Zugleich zeigt
er, dass nur die Sinne und die Gegenstände die Einbildungskraft des Menschen anregen können
und so den Menschen aus seinen „Gewohnheiten“,440 seinen Sitten als Ketten seines Handelns
lösen könnten. Rousseau vermeint, dass der Mensch „Unterscheidungsfähigkeit“ gewinnt, insofern er als „empfindungsfähiges Wesen aktiv“ wird: nicht also in der Kontemplation, sondern
in der Aktivität, der Praxis als sinnliche Erfahrung der Wirklichkeit der natürlichen Ordnung
(Rousseau nennt diese eine „Art von Experimentalphysik“)441 bildet der Mensch die Grundlage
seiner „Unterscheidungsfähigkeit“ und erlangt die Kraft zur Urteilsfähigkeit.
439
Rousseau 2012 a, S. 275.
440
Vgl. Rousseau 2012 a, S. 294.
441
Vgl. Rousseau 2012 a, S. 275.
127
„Die Sinne üben heißt nicht nur, sie gebrauchen, sondern lernen, durch sie alles wohl abwägen,
beurteilen, es heißt sozusagen fühlen zu lernen, denn wir können nicht anders fühlen, sehen
oder hören, als wir es gelernt haben.“442
Am spekulativen Leitfaden seines Naturbegriffs entdeckt Rousseau die Bedeutung der kindlichen Entwicklung der Sinne zur Grundlegung einer Urteilskraft und als Mittel der Befreiung
des Menschen aus seiner !selbst verschuldeten“, historischen Entfremdung. Dabei scheint es
nicht in erster Linie darum zu gehen, die Vernunft und das Urteil als kongruentes oder isomorphes Abbild einer natürlichen Ordnung zu gehen, sondern vielmehr darum, dass sich der
Mensch schon als Kind als eine „leibliche Vernunft“ begreife. Trotz aller Probleme angesichts
der Idealisierung der Häuslichkeit, des Privaten oder des natürlichen Lebens innerhalb von
Rousseaus Werken ist gerade der Gedanke einer „leiblichen Vernunft“ als wichtige Entdeckung
der Bedingungsmöglichkeit einer Urteilskraft wahrzunehmen.
„Also, weit entfernt davon, daß die wirkliche Vernunft des Menschen sich unabhängig vom
Leib entwickelt, ist es die gute körperliche Verfassung, die die geistigen Akte leicht und sicher
macht.“443
Mit diesem Hinweis auf die Leiblichkeit der Vernunft rekurriert Rousseau nicht auf die Idee,
dass etwa Sport oder körperliche Betätigung eine Grundlegung der Vernunft liefern könne. Er
schreibt, dass es eine „rein natürliche und mechanische Leibesübung [gibt], die wohl dazu dient,
den Körper zu stärken, aber ohne Nutzen für die Ausbildung der Urteilskraft“444. Demnach ist
es nicht die körperliche Stärke, sondern die aus der Leibesaktivität gewonnene Erfahrung der
eigenen Leiblichkeit, der eigenen Fähigkeiten als auch der Wirklichkeit: es ist die Übung der
Sinnlichkeit, die die Urteilskraft schult. Die Urteilskraft entwickelt sich durch die Ausbildung:
1. der Empathiefähigkeit des Menschen, da diese durch die Kenntnis des Schmerzes und anderer körperlicher Zustände allererst eine Vorstellung der Leiblichkeit gewinnen kann und so eine
Sensibilität gegenüber der Empfindsamkeit anderer Leiber; 2. der eigenen Kraft, denn allererst
dadurch kann der Mensch einschätzen, welche seine natürlichen Bedürfnisse seien, um sich
nicht in das Unglück zu stürzen, künstlichen Bedürfnissen, nachzujagen; 3. durch die sinnliche
Erfahrung, so dass der Mensch eine wachsame und autarke Erkenntnis der Dinge unabhängig
gesellschaftlicher Gewohnheiten und Konventionen entwickeln kann.
442
Rousseau 2012 a, S. 261.
443
Rousseau 2012 a, S. 276.
444
Rousseau 2012 a, S. 289.
128
Mehr also als einen sensualistischen Primitivismus versteht Rousseau die sich im Kindesalter
ausbildende „sensitive oder kindliche Vernunft“ als eine „Zusammenfassung mehrerer Sinnesempfindungen“ und verweist somit auf die Bedeutsamkeit nicht der Sinnlichkeit „per se“, sondern der aus der Sinnlichkeit gewonnenen Erfahrung und dadurch ausgebildeten leiblichen Vernunft. Darüber hinaus macht Rousseau durch die Schilderung der Genesis des menschlichen
Seelenlebens das Primat der leiblichen Vernunft deutlich, zugleich nimmt er diese auch zurück:
denn der Mensch kann durch die Sinnlichkeit allein keine komplexen Vorstellungen gewinnen.
Er muss die „intellektuelle oder menschliche Vernunft“ entwickeln, die in der „Zusammenfassung mehrerer einfacher Vorstellungen komplexe Vorstellungen zu bilden“445 ist. Es ist demnach unmöglich, sich ein sittliches Verhalten vorzustellen ohne die „intellektuelle oder menschliche Vernunft“. Zwar erhält der Mensch durch die Sensibilität gegenüber der „Ordnung der
Natur“, derer er ein Teil ist, einen moralischen Sinn, doch kann er ohne das Verständnis von
komplexeren Sachverhalten kaum ein sittliches Verhalten entwickeln, das auch nur mittelbare
Erfahrungen mit in sein Handeln einbezieht. Ohne die Ausbildung der „intellektuellen Vernunft“ schließlich könne der Mensch sich auch nicht gegenüber dem „Zog“ der menschlichen
Meinungen distanzieren.
„Bedenkt aber zunächst, daß will man den natürlichen Menschen heranbilden, man deshalb
keineswegs einen Wilden aus ihm machen und ihn in die tiefsten Waldesgründe verbannen
muß; es genügt vielmehr, daß er sich weder durch die Leidenschaften noch durch die Meinungen der Menschen in den gesellschaftlichen Strudel hineinziehen lässt, in den er eingeschlossen
ist; daß er mit seinen Augen sieht, was er mit seinem Herzen fühlt; daß keine Autorität ihn
beherrscht außer seiner eigenen Vernunft.“446
Mehr noch als einen Antagonismus von „sensitiver“ und „intellektueller“ Vernunft zu konzipieren, kündigt sich hier an, dass er beide Vernunfttypen als Instrumente einer kritischen und
differenzierten Urteilskraft konzeptualisiert, die dem Menschen nicht nur gegenüber seinen Leidenschaften, sondern auch gegenüber den gesellschaftlichen Meinungen eine Autarkie (wieder)
zugesteht. Das aufklärerische Moment ergibt sich durch diese beiden Vernunfttypen, die, wie
man sagen könnte, beide Teilaspekte leiblicher Vernunft des natürlichen Menschen ausmachen,
und darauf abzielen, den Menschen aus seiner „selbst verschuldeten“, gesellschaftlich erfolgten
„Unmündigkeit“ zu befreien. Nicht nur moralisch, sondern auch erkenntnistheoretisch konzeptualisiert Rousseau die „leibliche Vernunft“ gegen eine „transzendente Vernunft“: „Für das
445
Rousseau 2012 a, S. 339.
446
Rousseau 2012 a, S. 525.
129
Volk und für die Kinder ist ein Geist nur ein Körper.“447 Den Raum, den die Soziografie als
abstraktes „spatium“ begreift, entdeckt Rousseau im Rahmen seines spekulativen Leitbegriffs
der Natur als leiblich erfahrenen Raum. Er schreibt, dass wir den Raum ohne den Tastsinn und
die Vorwärtsbewegung448 – ohne die Verwendung der „eigenen Augen“ – nicht angemessen
begreifen können: daher bedarf es auch bei dem Versuch der Gewinnung einer „Überblicklichkeit“ des gesellschaftlichen Geschehens immer einer Grundlegung durch die sinnliche Erfahrung.
Rousseaus Forderung, dass „Kinder Kinder seien, ehe sie erwachsene Menschen werden“449,
verweist demnach, jenseits der Entdeckung der Kindlichkeit, auf die politische Forderung nach
einer kritischen Urteilskraft, sowie eines selbstbestimmten Leben und richtet sich gegen die
Dogmatisierung, Indoktrination und Disziplinierung der Kinder durch die gesellschaftlichen
Institutionen Kirche, Staat und Wissenschaften: kurz den Faktoren der politischen Ökonomie.
Der Bildungsbegriff als spekulativer Leitbegriff, der besonders durch den Einfluss Rousseaus
im deutschsprachigen Raum eine spekulative Wendung erfährt, schließt in sich immer die Frage
nach einer von der politisch-sozialen und wirtschaftlichen Ordnung unabhängigen Urteilskraft
und Einbildungskraft ein. Diese mit der Rezeption Rousseaus sich im deutschen Sprachraum
vollziehende Umwandlung des Begriffs der Bildung kann – gerade da Rousseau niemals von
einem Begriff der Bildung spricht, da es ihn im Französischen nicht gibt – jedoch nur in Hinblick auf die Übersetzung des Begriffs der „perfectibilité“ und „perfectio“ verstanden werden.
1.1 Perfectio, perfectibilité und Bildung: zur Problematik der Über-Setzung
Rousseaus
Wie Hornig schildert, kommt es in der deutschsprachigen Aufklärung ausgehend von Rousseaus Begriff der „perfectibilité“ zu einer „lebhaften Auseinandersetzung über die Bedeutung und
die sachgemäße Verwendung dieses anthropologischen Begriffs“450. Folgt man Tubach, so ist
es vor allem Rousseaus Verneinung der Möglichkeit einer kulturellen und geschichtlichen „Pe-
447
Rousseau 2012 a, S. 526 f.
448
Rousseau 2012 a, S. 310.
449
Rousseau 1993 b.
450
Hornig 1980, S. 225.
130
fektibilität“ des Menschen, welche die Auseinandersetzungen mit dem Begriff im deutschsprachigen Raum provoziert.451 Demnach ist es der zweite Discours, der 1755 unter Rousseaus Namen in Amsterdam publiziert wird und spätestens 1756 von Moses Mendelssohn ins Deutsche
übersetzt worden ist, der Rousseau vor allem als Kritiker des kulturellen Fortschritts wahrnehmen lässt. Dies ist insofern bedeutsam, als dass die Rezeption der ersten Werksphase Rousseaus, die wir als Erörterung der Problemlage verstanden hatten, von der aus sich die im Werk
vollziehende Suchbewegung nach Lösungsansätzen vollzieht, die den Boden für die Rezeption
der Schriften Rousseaus bereitet. Man muss dabei bedenken, dass die ersten beiden Discours,
trotz ihrer politischen Bedeutung, noch keine positiven Ansätze zur Lösung der dargelegten
Problematik vorweisen – dies wird auch deutlich in Rousseaus Selbsteinschätzung der Discours
als „Moment vorübergehender Gärung“.452 Dennoch kann die durch die Publikation der Discours ausgelöste Antizipation an der Fragestellung,453 wie sich vor dem Hintergrund der Differenzerfahrung, gar der Zerrissenheit des modernen Subjekts ein menschliches, glückliches und
tugendhaftes Leben vorstellen lässt, auch als Grundlage des Erfolges für Rousseaus Schriften
und besonders für den Emile gelten, der, wie Buck schildert, „historisch vielleicht das wirkungsmächtigste, der Sache nach vielleicht aber das dunkelste und bis heute am meisten verkannte Werk Rousseaus ist“454. Ausgehend von dieser Bemerkung wird deutlich, dass die durch
die ersten Discours ausgelöste Antizipation zwar grundlegend für den Erfolg späterer Schriften
war, jedoch diese durch die in Zusammenhang mit der Rezeption und Diskussion um die Discours ausgelöste eigenständige Entwicklung von Lösungsansätzen und Positionen, die folgenden Werke, besonders der Emile, anders aufgefasst worden sind bzw. aus einer werktranszendenten Perspektive aufgefasst worden sind. Dabei ist anzunehmen, dass besonders der Begriff
der „perfectibilité“ im Sinne der „perfectio“, der bis heute noch eine wesentliche Perspektive
bildet, aus der heraus man den „pädagogischen Rousseau“ wahrnimmt, gar konstruiert, die wesentlichen Aspekte des Werkes Rousseau als auch die werkimmanent dargestellte und vollzogene Differenzerfahrung und Widersprüchlichkeit moderner Zivilisation geglättet hat. 455 Darin
451
Vgl. Tubach 1960, S. 145.
452
Jaumann 1995, S. 1.
453
Mendelssohn bringt dies in seinem Sendschreiben an Lessing, welches er als Anhang der Übersetzung des zweiten Discours
publizierte, zum Ausdruck. Er schreibt: „Die Sehnsucht, unsern Zustand vollkommener zu machen ist in uns rege geworden.“ (Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 84)
454
Buck 1984, S. 91.
455
Strauss bemerkt diese „Glättung“ des Werks Rousseaus in der Folge seiner Rezeption:
„Die glühenden Felsbrocken, mit welchen die Rousseausche Eruption das Abendland übersät hatte, wurden, nachdem sie abgekühlt und behauen waren, für die imponierenden Gebäude verwendet, welche die großen Denken des späten 18. und 19.
Jahrhunderts errichteten. Seine Schüler klärten tatsächlich seine Anschauungen, man möchte aber doch bezweifeln, ob sie
auch die Weite seiner Visionen bewahrten [...].“ (Strauss 1977, S. 263)
131
liegt auch begründet, dass die Rezeption von Rousseaus Werk aus der Perspektive der „perfectibilité“-Problematik eine politische Programmatik und einen sozialpolitischen Optimismus im
Werk Rousseaus wahrnehmen lässt, der, trotz der im Gesellschaftsvertrag entwickelten politischen Begriffe und entgegen der pessimistischen Lesart, nicht vorhanden ist. Benner und Brüggen schildern in diesem Zusammenhang Folgendes:
„Dort, wo Rousseau das Prinzip der perfectibilité wirklich ernstnimmt und durchhält, entwickelt er die modernen Differenzerfahrungen von Mensch und Bürger, Staat und Gesellschaft,
Politik und Religion, Erziehung zur Mündigkeit und mündiger Selbstbildung; dort aber, wo er
die perfectibilité nicht historisch-praktisch, sondern metaphysisch-philosophisch faßt, neigt er
dazu, die Identitätsannahmen von Staat und Gesellschaft im Prinzip der volonté générale, von
Politik und Religion in der Idee einer religion civile, von Politik und Pädagogik in der Verfassungsschrift für Polen, von ökonomischer Ordnung und traditionsorientierter Sitte im Artikel
über die Politische Ökonomie.“456
Dort also, wo Rousseau Anlass gibt, den Begriff der „perfectibilité“ nicht als konzeptuellen,
historisch-praktischen Leitfaden der Entwicklung der Vernunft auszulegen, sondern – im Rückgriff auf den metaphysischen Begriff der „perfectio“ – ihn als im metaphysischen Sinne zu
verstehen, findet eine problematische und verzerrende Rezeption Rousseaus statt. Obwohl
Rousseau diese Rezeption selbst, etwa durch die Wahl der Begriffe, begünstigt, so bleibt eine
metaphysische Auffassung des Begriffs bei Rousseau fraglich. Dies zudem, da der Begriff der
„perfectibilité“ in Zusammenhang mit Rousseau – anders etwa als in der der Ontotheologie –
nicht im Rekurs auf die „perfectio“ im Sinne der Vollkommenheit göttlicher Provenienz und
als metaphysischer Maßstab vorkommt. Darin liegt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die
These begründet, dass Rousseau die Finalursache des Menschen nicht außerhalb seiner Natur
setzt und so diesen von einem asubjektiven Maßstab aus zu messen trachtet.
Neben dem Mitleid („piétié, comisération“) und dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb bzw. der
Selbstliebe („amour de soi“) führt Rousseau den Begriff der „perfectibilité“ oder „Perfektibilität“ als drittes Definitionsmerkmal des Menschen hinsichtlich seines moralischen Wesens
(„homme morale“)457 im zweiten Discours ein.458 Als natürliche Anlage oder als Grundbestand
des Menschen versteht Rousseau „Perfektibilität“ als:
456
Benner/Brüggen 1996, S. 43.
457
Wie Rippl treffend anmerkt, ist der Begriff „morale“ im Französischen viel weiter als im Deutschen gefasst. In Abgrenzung
zum Menschen als physischem Wesen („homme physique“) bezeichnet der Begriff vor allem die geistigen, moralischen
und sozialen Fähigkeiten des Menschen (vgl. Rousseau 2012 b, S. 163, Anmerkung 12).
458
Vgl. Rousseau 2012 b, S. 44–46.
132
„Fähigkeit, sich zu vervollkommnen, eine Fähigkeit, die mit Hilfe der Umstände nacheinander
alle anderen Fähigkeiten entwickelt und die uns ebenso als Gattung wie als Individuen innewohnt.“459
Wie aus dem Zitat hervorgeht, versteht Rousseau unter „Perfektibilität“ die „unbestimmte Bildsamkeit“460 des Menschen und impliziert dadurch zugleich die Aufgabe, dass für den Menschen
hinsichtlich seiner Bestimmung zur Freiheit die Bildung seinen Wesenszug ausmacht. Des Weiteren macht Rousseau deutlich, dass dieser zentrale Bestimmungsgrund des Menschen nicht
mit seinen Fähigkeiten gleichzusetzen ist. So missversteht man Rousseaus Begriff der „Perfektibilität“ an dieser Stelle, wenn man meint, dass damit die Fähigkeit zur Ausbildung und Verbesserung einer instrumentellen Vernunft, d. h. die Fähigkeit, Objekte zielgerichtet zu manipulieren, beschrieben wird. Diese instrumentelle Vernunft weiß Rousseau auch beim Tier vorhanden.461 Vielmehr werden dadurch die dem Menschen als „moralischem Wesen“ aufgegebenen
Fragen nach dem richtigen Leitfaden zu einem freiheitlich bestimmten, glücklichen und tugendhaften Leben eröffnet.
Die Möglichkeit des freien Handelns betrifft, gemäß einer im 18. Jahrhundert geläufigen Differenzierung – der gesellschaftlichen Welt („monde morale“) und nicht einer physikalischen
Welt („monde physique“) – die Fähigkeit der Menschwerdung und der freiheitlichen Selbstbestimmung in Hinblick auf sein „moralisches“ („moralis“ – lat. Sitten, Bräuche betreffend) Handeln. Die Dichotomie der Positionen zwischen Freiheit und Determinismus vermittelnd legt
Rousseau dar, dass der Mensch zwar leiblich gebunden ist – wie oben in Zusammenhang der
„leiblichen Vernunft“ geschildert –, sich aber in seinen moralischen Zwecken selbst bestimmen
kann. Da die freiheitliche Selbstbestimmung und Willensfindung zum moralischen Handeln
beim Naturmenschen auf Grund seiner Instinktgebundenheit nur „potentiell“ vorkommt,462 benennt Rousseau die Fähigkeit zur freiheitlich bestimmten, moralischen Selbstbestimmung mit
dem Entwicklungsbegriff der „perfectibilité“.
So definiert Rousseau mit dem Begriff der „Perfektibilität“ den naturgegebenen Freiheitsraum
des Menschen als moralisches Wesen und setzt einen normativen Anspruch, zeigt zugleich aber
durch seine sozialgeschichtlichen Untersuchungen an, dass dieser Freiheitsraum zugleich seine
naturgegebene Aufgabe und stetige Herausforderung ist. Halten wir so zunächst fest, dass
Rousseau darlegt, dass der Mensch kein Geschöpf der Natur ist, sondern ein „moralisches Wesen“, welches in einem geschichtlichen Zusammenhang steht und zumeist von seiner zweiten
459
Rousseau 2012 b, S. 45.
460
Vgl. Benner/Brüggen 2011, S. 89.
461
Vgl. Behler 1989, S. 61.
462
Vgl. Fetscher 1968, S. 13.
133
Natur geprägt und in dieser entfremdet ist. Entfremdet ist er dadurch, dass der von Natur aufgegebene Freiheitsraum des Menschen mit der gesellschaftlichen Ordnung, den Sitten und Verpflichtungen in Konflikt steht. Die „perfectibilité“ schließt demnach die Frage ein, wie der
Mensch seinen naturgegebenen Freiheitsraum wahren könne und zu seiner natürlichen Güte, d.
h. durch Selbstliebe und Mitleid seine gegebene Tugendhaftigkeit zu finden, im Stande sei.
Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu verstehen, dass die Theorie der „bonté naturelle“463
oder der natürlichen Güte des Menschen meint, dass der Mensch gut in seiner Veranlagung sei,
nicht aber in seinem Handeln von Natur aus gut ist – das ist ein wichtiger Unterschied.464 Um
dem Missverständnis vorzubeugen, dass die „perfectibilité“ zugleich der Grund für den Sittenverfall,465 die von Rousseau dargestellte Dekadenz der zeitgenössischen Gesellschaft, sei, hat
Rousseau in die Definition der „perfectibilité“ den Faktor der „Umstände“ eingebaut. Darin
liegt begründet, dass der Mensch seine Freiheit auch nur in Relation zu seinen „physischen“
Fähigkeiten und „moralischen“ Umständen realisieren kann. Der Sittenverfall ergibt sich vielmehr dadurch, dass der Mensch auf Grund gesellschaftlicher Entfremdung die Bildung bzw.
Vervollkommnung seiner „Perfektibilität“ im moralischen Sinne der Ausbildung seiner empirischen, technischen oder epistemischen Fähigkeiten unterordnet.
Mehr noch als ein rein anthropologischer Begriff ist der Begriff der „Perfektibilität“ ein Leitbegriff der „hypothetischen Anthropologie“466 Rousseaus, der den Menschen versucht seiner
Möglichkeit und seinen Entwicklungsmöglichkeiten nach zu verstehen und auszuloten. Das
„perfectibilité“ wird zu einem Leitbegriff einer solchen hypothetischen Anthropologie, dadurch
dass er im Gegensatz zu den Definitionsmerkmalen der „Selbstliebe“ und dem „Mitleid“ die
„Perfektibilität“ nicht nur als Bewegungsursache, sondern gewissermaßen auch als Form- und
Zielursache des Menschen definiert wird. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass was es heißt,
Mensch zu sein, seine Ziele und Motive zu verstehen, grundsätzlich nur durch den Begriff der
„Perfektibilität“ möglich wird. „Perfektibilität“ als Zielursache zu verstehen, bedeutet, den
Menschen als von Natur aus zur Freiheit bestimmtes Wesen zu verstehen und als solches den
Menschen in seinem Streben nach Glückseligkeit zu charakterisieren. Nur etwa so ist die paradoxe Grundlegung der „perfectibilité“ zu verstehen,467 nach der der Mensch von Natur aus dazu
angelegt ist, sich von der Natur zu entfernen.
463
Vgl. Rousseau 2012 b, S. 125, Anm. (i).
464
Vgl. Benner/Brüggen 1996, S. 23.
465
Da Rousseau mit dem Begriff den Freiheitsraum des Menschen und die Möglichkeit der Freiheit umgrenzt, kann der Begriff
der „perfectibilité“ nur als Möglichkeit, nicht als Grund und Ursache des Sittenverfalls verstanden werden.
466
Vgl. Benner/Brüggen 1996, S. 12.
467
Vgl. Lotterie 2006, S. 19 f.
134
Wie auch Aristoteles sieht Rousseau eben dieses aus naturgegebener Freiheit bestimmte Streben nach Glückseligkeit als Differenzkriterium zum Tier.468 Vor dem Hintergrund der These
der ursprünglichen Autarkie des Individuums lehnt Rousseau jedoch Aristoteles These vom
Menschen als „zôon politikon“ ab und so auch die Konsequenz, dass der Mensch, da er ein von
Natur aus politisches Wesen ist, seine Glückseligkeit in der polis vervollkommnen kann.
Rousseau widerspricht damit der These, dass auch wenn wir beobachten können, dass der
Mensch in Gemeinschaft lebt, er noch lange kein gemeinschaftliches Wesen ist. Tatsächlich
erlangt die These, dass der Mensch seine Glückseligkeit nicht in der Geselligkeit, sondern in
seiner individuellen naturgegebenen Freiheit findet, eine gewisse Überzeugungskraft vor dem
historischen Hintergrund einer absolutistischen Gesellschaft, der den Horizont von Rousseaus
Schreiben darstellt. Zugleich lässt sich darin erkennen, dass Rousseau mit dem Begriff der „Perfektibilität“ als zielursächlichen Leitbegriff nicht nur auf einen historisch-praktischen Sachverhalt in strictu sensu referiert, sondern ihn ontologisch konzipiert. Gerade diese von Brenner und
Brüggen oben zitierte Ambivalenz ist es, die zu einer diffusen und teilweise dem Denken
Rousseaus konträren politischen Auffassung führt. Oftmals sind die Missdeutungen von
Rousseaus Werk darauf zurückzuführen, dass, wie Buck schildert, konträr zu Rousseau angenommen wird, dass die in der Entfremdung gemachte Differenz in einer ursprünglichen Identität aufgehoben werden kann.469 Dies zeigt sich allein schon darin, dass Rousseaus Auffassung
des Menschen eine prozessuale ist, d. h. eine Auffassung, die die Vorstellung einer vom Werden unabhängigen Identität prinzipiell ausschließt.
Ebenso wie den spekulativen Leitbegriff der Natur als einen eindeutigen Begriff zu verstehen,
da man die methodische Funktionalität dessen verkennen würde, wäre es in diesem Sinne ein
Fehler, „perfectibilité“ als einen eindeutigen und abschließbaren Begriff zu verstehen. Die Charakterisierung des Menschen als „unbestimmt bildsames“ moralisches Wesen umfasst nicht
notwendigerweise die Vorstellung, dass der Mensch gattungsmäßig oder individuell perfekt
werden könne, wie eine strikte Übersetzung und eine auf den Begriff beschränkte Interpretation
vorschnell vermeinen lassen könnte. Diese aber wäre vor dem Hintergrund des Verständnisses
der spekulativen Funktion des Begriffes innerhalb der Philosophie Rousseaus eine Fehldeutung.
So ist der Leitbegriff der „perfectibilité“ im Werk Rousseaus vielmehr in die Suchbewegung
nach den ursprünglichen und immanenten Freiheitsbedingungen des menschlichen Lebens und
der Glückseligkeit eingebunden. Er markiert die wesentliche Bestimmung zur Freiheit, die im
468
„Also: die Glückseligkeit stellt sich dar als ein Vollendetes und sich selbst Genügendes, da sie das Endziel allen Handelns
ist.“ (Aristoteles PS 1995, Bd.3, S. 11.)
469
Vgl. Buck 1984, S. 165.
135
Prozess der Menschwerdung bzw. in dem Lebensweg des Menschen mehr oder weniger eine
Erfüllung finden kann. Nur so ist es auch denkbar, dass Rousseau an verschiedenen Stellen in
dieser Suchbewegung zu verschiedenen, teils überraschenden und befremdlichen Urteilen
kommt.
Wie Buck nachdrücklich feststellt, kann eine „Vollständigkeit“ des Menschen im „sentiment
de l’existence“ sich nur in der Empfindung einstellen, im „vorreflexive[n], ganz passive[n] Innesein der erfüllten Existenz“, in der dem Menschen das „Einbehaltensein und Gegründetsein“
in der Ganzheit der Natur erfahrbar wird.470 Gerade aber, da diese Erfahrung nicht als eine
Selbstbewusstwerdung durch sich selbst, d. h. als Identität, erfolgt, sondern als Gabe der Natur,
erkennt das Subjekt darin nicht seine Herrlichkeit, sondern seine „konstitutive Endlichkeit“ und
die „Grenze seiner Dispositionsfähigkeit“471 und so seiner Leiblichkeit. Anders gewendet
könnte man das „sentiment de l’existence“ als Zustand einer natürlichen, naturgegebenen
Glückseligkeit als Moment der Erfahrung des Sublimen verstehen.
Ohne eine Eindeutigkeit des Leitbegriffs von Rousseaus hypothetischer Anthropologie in Hinblick auf ein politisches Programm implizieren zu wollen, so zeichnet sich vor allem am Begriff
der „perfectibilité“ die Fragilität der Freiheit ab (in Bezug auf seine historische Unfreiheit), die
dem Menschen naturgemäßerweise aufgegeben zu sein scheint, und die Bedeutung der Ausbildung einer praktischen und theoretischen Urteilskraft für die Entfaltung und die Freilegung der
Erfahrung eines Selbstseins bzw. Für-sich-Seins im Sinne des „sentiment de l‘existence“.
In Zusammenhang mit der von Rousseau kontrastreich gezeichneten Differenzerfahrung und
Zwiespältigkeit des modernen Bewusstseins macht der Begriff der „perfectibilité“ deutlich,
dass der Mensch nur durch eine selbstbewusste, aktive Urteilskraft zu einer glückseligen Lebensführung gelangen wird. Trotz aller werkimmanenten Differenzen und Ambivalenzen ist es
gerade das Versprechen der Glückseligkeit, welches Rousseaus Begriffe innerhalb der Rezeption zu Leitbegriffen der persönlichen und politischen Praxis werden lässt und die Frage nach
der Bildung einer mündigen „Selbstbildung“, selbstbestimmten Lebensführung aufkommen
lässt.
Möchte man Rousseaus Gedanken zur „perfectibilité“ in Hinblick auf die von ihm geschilderten
Differenzerfahrungen verstehen, so liegt es nahe, den Begriff gerade nicht nur im Rekurs auf
die geschichts- und kulturphilosophischen, gar theologischen Vorstellungen und Probleme zu
thematisieren, sondern seine Perfektibilitätsvorstellung vor allem in Zusammenhang mit dem
470
Vgl. Buck 1984, S. 167.
471
Vgl. Buck 1984, S. 167.
136
musiktheoretischen Begriff der „Perfektion in der Musik“. Dies liegt nahe, da Rousseau als
Musiklehrer, Musiker, Komponist einer berühmten Oper und auch Musiktheoretiker – Rousseaus erste Schriften Projet concernant de nouveaux signes pour la musique und Dissertation sur
la musique moderne beschäftigen sich mit der Musik – eine sehr starke Beziehung zur Musik
und eine große musikalische und musiktheoretische Bildung aufwies. So bleibt daran zu erinnern, dass Rousseau durch seinen Dictoinaire de Musique von 1768 einer der meistzitierten
Musiktheoretiker der Folgezeit war. Dieser Aspekt wird in der heutigen Rezeption gerne vergessen, wie sich etwa in Derridas Werk in besonderer Weise darlegt.472
Ein Blick in den Dictionaire de Musique offenbart, dass der Begriff der Perfektion in zweifacher
Weise darin vorkommt. Der Artikel „Parfaite“ schildert, dass sich der Begriff in der Musik im
harmonischen Sinne auf perfekte Akkorde („Accord“), Kadenzen („Cadence“) und Klänge
bzw. Intervalle („Connsonance“) bezieht und im rhythmischen Sinne einen perfekten Modus
(„Modus“) bzw. eine Mensur („Mensur“) bezeichnet.473 Der in den Fußnoten zitierte Artikel
verdeutlicht über die Darlegung der geläufigen Kenntnisse der Harmonie vor allem Rousseaus
Kenntnisse der mittelalterlichen Choralmusik,474 die er sich in Zusammenhang mit seinen Studien zur Notationstheorie in der Auseinandersetzung mit der Mensuralnotation, wie sie in Johannes de Muris Traktaten und Musiktheorie aus dem 14. Jahrhundert – sie wurden bis ins 18.
Jahrhundert gelehrt475 – thematisiert werden,476 erworben hat.
Ohne hier auf die musiktheoretischen Einzelheiten ausführlich eingehen zu wollen, da es uns
schließlich nicht um diese selbst, sondern um das daran geschulte Verständnis des Begriffs der
„perfectibilité“ und „Perfektion“ geht, wird vor allem deutlich, dass Rousseau, wenn er von
einer „perfectibilité“ spricht, um eine harmonische und rhythmische Relation des Menschen zur
472
Vgl. Bosnić 2010, S. 54–65.
473
«PARFAIT. adj. Ce mot, dans la Musique, a plusieurs sens. Joint au mot Accord, il signifie un Accord qui comprend toues
les consonnances sans aucune dissonance ; joint au mot Cadence, il exprime cell qui porte la Note sensible, & la Dominante
tombe sur la Finale ; joint au mot Consonnance, il exprime un Intervalle juste & déterminé, qui ne peut être ni majeur ni
mineur : anisi l’Octave, la Quinte & la Quarte sont des Consonnance parfaites, & ce sont les seules ; joint au mot Mode, il
s’applique a la Mesure par une acception qui n’est plus connue & qu’il faute expliquer pour l’intelligence des anciens
Auteurs.
Ils dividoint le Tems ou le Mode, par rapport à la Mesure, en Parfaite ou Imparfaite, & prétendant que le nombre tenaire étoit
plus parfaite que le binaire, ce qu’ils prouvoint par la Trinité, ils appelloient Tems ou Mode Parfaite, celui dont la Mesure
étoit à trois Tems, & ils le marquoient par un O ou cercle, quelquefois seul, & quelquefois barré,Φ. Le Tems ou Mode
Imparfait formoit une Mesure à deux Tems, & se marquoit par un O tronqué ou un C, trantôt barré. (Voyez Mesure, Mode,
Prolation, Tems.)» (Rousseau 1768, S. 361)
474
Es ist in diesem Zusammenhang kein Wunder, dass Rousseaus Schrift zur Notationstheorie vor allem für den Gesang als
brauchbar begutachtet wurde.
475
Vgl. Michels 2008, S. 269.
476
Vgl. Michels 1970.
137
Natur geht. Dies begründet sich darin, dass Rousseau – versteht man den Begriff der perfectibilité von der Musiktheorie her – von „Perfektion“ in zweifacher Weise sprechen kann: 1. im
harmonischen Sinne von einer Konsonanz, d. h. dem Einklang oder Zusammenklang verschiedener Töne; 2. im rhythmischen Sinne von einer rhythmisch vollkommenen bzw. ganzen Einheit. Daran lässt sich erkennen, dass wenn Rousseau von einer „perfectibilité“ als Charakteristikum des Menschen, sofern er ein „moralisches“ Wesen ist, spricht, er nicht meinen kann, dass
Tugend und Glückseligkeit sich durch die Einheit als Identität, sondern durch die Einheit als
Konsonanz mit der Natur ergeben. Der entscheidende Unterschied liegt dann darin, dass das
hypothetisch angenommene „perfektible“ oder „vollständige“ Subjekt nicht als eine mit sich
identische Einheit gedacht werden kann. Von der Musik her gedacht (am Leitfaden der „perfectio“477 und „perfectiones“478) ist das Subjekt als Einheit im Selbstsein, vielmehr als integrative Einheit zu verstehen – als Einheit, die die verschiedenen Momente der Erfahrung zu einem
„sentiment de l‘existence“ integriert, welches trotz der durch das Bewusstsein und der kulturellen Entfremdung von seiner bzw. der Natur und Ganzheit ein Moment der harmonischen Einheit gewährt. Von hier aus bemessen wird es verständlich, dass Rousseau, sofern er von einer
„Perfektibilität“ des Menschen spricht, nur die Vorstellung einer individuellen, durch die empfindsame Innerlichkeit gewährte Harmonie mit dem Sein vor Augen haben kann. Diese wäre
aber (besonders auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen)
alles andere als gegeben, sondern muss gesucht bzw. „komponiert“ werden, so dass sie dem
Menschen in der Natur gewährt wird. So wird klar, dass es keine Willkür ist, wenn Rousseau
von dem „Schrei“479 oder der „Stimme der Natur“ spricht. Entscheidend ist, dass „perfectio“
bei Rousseau so als ein sensualistisches Richtmaß für die Lebensführung wird480 und somit die
Grundlage eines Individualismus bildet, der als Maßstab seiner Lebensführung nicht mehr die
göttliche „perfectio“ bzw. Vollkommenheit ansetzt, sondern die eigene Glückseligkeit bzw.
Lustgewinnung und Empfindungsfähigkeit.
Man verfehlt jedoch Rousseaus Gedanken der „perfectibilité“, wenn man ihn allein auf den
Begriff eines Strebens oder einer Entwicklung einer innerlichen Harmonie bezöge. Denn der
Begriff scheint in einem besonderen Sinne dadurch modern zu sein, dass sich diese Frage vor
477
„Die Perfectio ist die schematische Zusammenstellung dreier gleichwertiger Zeitteile, eine Geleiterscheinung der Modi;
[...]. Die Perfectio gibt eine Analogie des Taktes, aber nicht diesen selbst.“ (Adler 2012, S. 91)
478
„Harmonisch bilden die Stimmen auf den rhythmischen Schwerpunkt zu Beginn auch in der Mitte sog. Perfectiones [...]
perfekte Konkordanzen aus Einzelklängen, Quarten, Quinten und Oktaven. Dazwischen liegen Dissonanzen.“ (Michels
2008, S. 205)
479
Vgl. Rousseau 2012 b, S. 53.
480Vgl.
Rousseau 2012 a, S. 572 ff.
138
dem Hintergrund des Kulturpessimismus und der dadurch hervorgerufenen modernen Differenzerfahrung des Individuums stellt. Deshalb ist sie aus einem Wissen um die Unmöglichkeit
der Harmonie allererst motiviert. So muss Perfektibilität im Sinne des Antagonismus von Leidenschaft und Sittlichkeit verstanden werden:
„[...] in jenem antagonistischen Verhältnis von Leidenschaft und Vernunft [...], dass sich nicht
als linearer Fortschritt vorgebildet denken läßt, sondern gleichzeitig die Verluste, Verstümmelungen und Entartungen, die von der Vernunft verursacht wurden, zum Vorschein bringt.“481
Insgesamt lässt sich damit sagen, dass Rousseau von „pefectibilité“ nur insofern als positive
Eigenschaft sprechen kann, insofern er sie im Sinne des Leitbegriffs des musiktheoretischen
Begriffs verstehen kann und diese nur in Hinblick auf die ontogenetische, „private“ Entwicklung des Menschen bezogen bleibt. Der Idee einer „perfectibilité“ der Gesellschaft, auch im
Sinne einer „Vervollkommnung des Christentums“, bleibt Rousseau in Hinblick auf die von
ihm analysierte Kulturgeschichte als Geschichte des Sittenverfalls gegenüber pessimistisch eingestellt. So ist Bolle beizupflichten, dass Rousseau der „erste Denker der Moderne [war], der
erkannt hat, daß die Möglichkeit und Fähigkeit des Menschen, sich in Freiheit selbst zu vervollkommnen, eine zutiefst ambivalente Potenz ist“482.
Von hier aus kann deutlich werden, dass allererst die Übersetzung des Begriffs „perfectibilité“
als „Vervollkommnung“, „Vervollkommnungsfähigkeit“ oder „Vervollkommentlichkeit“483
zugleich einen Anlass zur „Über-Setzung“ der Problematik in andere Problemzusammenhänge
evoziert und andere Auffassungen des Begriffs begünstigt. Für den Begriff der Bildung ist dabei
von besonderer Bedeutung, dass der „Perfektibilitätsgedanke“ im Sinne der Vervollkommnung
des Menschen vor allem im deutschsprachigen Raum in Zusammenhang christlicher Glaubensvorstellungen der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wahrgenommen wurde. Daher erklärt
sich auch, dass Rousseaus Werk als Ausgangspunkt für die Bildungsdebatte verstanden werden
kann, die sich ebenfalls wie der Begriff der Perfektibilität ab Mitte des 18. Jahrhunderts im
deutschsprachigen Raum entfaltet – gleichzeitig also mit den kulturkritischen Schriften Rousseaus. Ausgehend von Hornigs aufschlussreichem Artikel, lässt sich sagen, dass die Grundlage
für eine optimistische Auffassung des Begriffs der „Perfektibilität“ als „Vervollkommnungsfä-
481
Behler 1989, S. 61.
482
Bolle 1995, S. 7.
483
Vgl. Benner/Brüggen 1996, S. 14.
139
higkeit“ im deutschen Sprachraum dadurch möglich bzw. geschaffen wurde, dass man „perfectibilité“ als eine „von Gott verliehene und positiv zu wertende Fähigkeit“484 nach 1850 begriff.
Angeregt von Rousseau vollzieht sich die Abkehr von einer durch die göttliche Vorsehung determinierte Geschichte und von der Fremdbestimmung des menschlichen Schicksals hin zu einer „Vorstellung einer naturalen Teleologie“485, die den Begriff der Freiheit und der Selbsterhaltung mit der leibniz-wolffschen Idee einer „prästabilierten Harmonie“ zu verbinden trachtet.
Als Bindeglied zwischen Geschichtsauffassung und Ontotheologie wird der Begriff der „perfectibilité“ zum Grundbegriff einer teleologischen Geschichtsauffassung, die die Geschichte
und einem Verständnis der Geschichte als Vollzugsmedium der Offenbarung göttlicher Vernunft - soeiner Menschheit, die – wie Lessing in der Erziehung zur Menschheit darlegt – zu
einer „moralischen Vollendung avanciert“486.
Vor allem ist es Lessings übersetzerische Tätigkeit und Literaturkritik der 1750er Jahre, die
eine „Über-Setzung“ des rousseauschen Werkes in Gang bringt. Wie Bollacher darlegt, zeigt
schon der frühe Rezensionsartikel, wie sehr Lessing den „allgemeinen Gedanken einer prinzipiellen Perfektibilität aller Dinge“ in sein Werk inkorporiert. In einem Briefwechsel mit Moses
Mendelssohn aus dem Jahre 1756 schreibt Lessing:
„Ich glaube, der Schöpfer muss alles, was er erschuf, fähig machen, vollkommener zu werden,
wenn es in der Vollkommenheit, in welcher er es schuf, bleiben sollte. Der Wilde, zum Exempel, würde, ohne die Perfektibilität, nicht lange ein Wilder bleiben, sondern gar bald nichts
besser als irgend ein unvernünftiges Tier werden; er erhielt also die Perfektibilität nicht deswegen, um etwas Besseres als ein Wilder zu werden, sondern deswegen, um nichts Geringeres zu
werden.“487
An der Ausweitung des Begriffs der „perfectibilité“ als „Vollkommenheit“ wird deutlich, dass
Lessing unter „Perfektibilität“ keine nur anthropologische Kategorie bespricht, sondern einen
über den Menschen hinausgehenden metaphysischen Begriff. Vor dem Hintergrund der bis
1756 publizierten Schriften Rousseaus ist es alles andere als selbstverständlich, wie er zu einer
derartigen Auffassung kommen konnte. Weder legt Rousseau darin explizit dar, dass der
Mensch in einer Vollkommenheit von Gott geschaffen worden ist, noch dass die Fähigkeit zur
Vervollkommnung des Menschen eine göttliche Anlage ist. Mehr als deutlich scheint die metaphysische Auffassung des Begriffs der „Vollkommenheit“ leibniz-wolffscher Provenienz zu
484
Hornig 1980, S. 226.
485
Vgl. Voßkamp 1995, S. 107.
486
Behler 1989, S. 86.
487
Mendelssohn zitiert nach Hornig 1980, S. 226.
140
sein. Denn auch wenn Rousseau davon implizit ausgeht, erörtert er diesen Sachverhalt im Gegensatz zu den genanten Denkern in keiner Weise explizit. Dies ist vor allem in der damaligen
Zeit bemerkenswert.
Rousseau in Zusammenhang mit dem leibniz-wolffschen Begriff der „Vollkommenheit“ oder
„perfectio“ zu lesen, wurde durch das historische Ereignis des Bebens von Lissabon von 1755
und dessen Resonanzen unter den europäischen Denkern und Intellektuellen begünstigt.488
Mehr noch als eine schreckliche Naturkatastrophe wurde das Beben im metaphysischen Rahmen als Erschütterung des „Optimismus“ verstanden und führte als Krise der Annahme der
Gerechtigkeit Gottes zu einer Wiederaufnahme der Problematik um die Theodizee. Ohne diese
Thematik in seinem zweiten Discours zu diskutieren – darin geht es vor allem um die geschichtlichen und nicht um die ontotheologischen Ursachen der Ungerechtigkeit und Ungleichheit der
Menschen – und ohne ein Wissen um die noch bevorstehenden Ereignisse verwendet Rousseau
den Begriff durch eine Anregung des Geschichtsphilosophen Turgot. 489 Unabhängig von der
Frage, ob es sich bei diesem Begriff um eine Neologismus Rousseaus handelt,490 bleibt festzuhalten, dass Rousseau den Begriff, auch wenn er ihn nicht selbst schöpfte und inhaltlich eigenständig benutzte,491 im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Betrachtungen auffasste.
Entscheidend ist, dass diese geschichtsphilosophischen Betrachtungen nicht durch eine spekulative Metaphysik begleitet werden, sondern durch eine spekulative Anthropologie, wodurch
die metaphysische Auffassung der Vollkommenheit und das damit zusammenhängende Problem der Theodizee gar nicht erst in den Blick kommen. Gerade in diesem Sinne ist Cassierers
Satz zuzustimmen, nach dem Rousseau das Problem der Theodizee „über den Kreis der Metaphysik hinausgeführt und es in den Mittelpunkt der Ethik und Politik versetzt“492. Allerdings
wäre das insofern zu verstehen, als dass das metaphysische Problem durch diese „Überführung“
innerhalb von Rousseaus Werk zu Gunsten politischer und ethischer Themen gewissermaßen
aufgelöst wird. In der Konsequenz stellt sich für Rousseau selbst ein metaphysisch-begründeter
Optimismus in seiner Unmöglichkeit dar.
488
Dass das Beben als Ereignis ein europäisches Ausmaß hatte, liegt, wie Mayer schildert, daran, dass bisher kein anderes
„Naturereignis in vergleichbarer Weise von den Medien rezipiert“ wurde. Dabei ist es der Charakter des medialen „Großereignisses“, der die Materialbasis für europaweit geführte Diskussionen und Verständigungen bot (Mayer 2008, S. 244).
489
Vgl. Benner/Brüggen 1996, S. 13.
490
Vgl. Bolle 1995, S. 107.
491
Vgl. Benner/Brüggen 1996, S. 13.
492
Cassirer, S. 208 f.
141
Zu dem produktiven Missverständnis innerhalb der Rezeption kommt es auch durch Rousseaus
veröffentlichte Response auf Voltaires anlässlich des Erdbebens 1756 publizierten Lehrgedichts Poème sur le désastre de Lisbonne ou examen de cet axiom: „Tout est bien“. In diesem
versucht Voltaire die Nutzlosigkeit metaphysischer Spekulation angesichts der Schrecken als
Verblendungszusammenhang darzustellen und als zynisch zu demaskieren.493 Voltaire übt sich
in der Schrift als Advokat des sensiblen Individuums und versucht diesen vor einer Theorie zu
verteidigen, dass sein Leid teleologisch und metaphysisch als opportun zu thematisieren trachtet.494
Den Kern der Streitschrift bildet eine Widerlegung des durch die popesche Formel „Whatever
is, is right“495 („Tout est bien“) zum Ausdruck gebrachten Optimismus, den Voltaire schon im
Vorwort als synonym mit der leibnizschen Theorie der „Welt als beste aller Welten“ und dem
dadurch gelösten Problem der Theodizee kennzeichnet.496 Angesichts der Katastrophe, bei der
zwischen 30.000 bis 100.000 Menschen an einem Tag – ein christlicher Feiertag zudem – gestorben sind und der größte Teil der Stadt Lissabon zerstört wurde, sieht Voltaire den durch die
Formel ausgedrückten Optimismus und damit das Begründungssystem des Optimismus der
spekulativen Metaphysik als zynisch497 und illusionär. Er schreibt:
«Un jour tout sera bien, voilà notre éspérance;
Tout est bien aujourd’hui, voilà l’illusion.
Les sages me trompaient, et Dieu seul a raison.
Humble dans mes soupirs, soumis dans ma souffrance,
Je ne m’élève point contre la Providence.»498
Der Kontrast der Ereignisse von Lissabon mit der metaphysischen Theorie verleitet für Voltaire
zu zwei Schlüssen . Ist die Theorie der „besten aller Welten“, nach der Gott die Welt nach dem
besten Wissen und Willen erschaffen habe, zutreffend, dann zeige sich darin das Bild eines
erbarmungslosen und mitleidslosen Gottes.499 Sofern diese These zutreffend ist, zeigt sich darin
493
«Il avoue donc avec toute la terre qu’il ya du mal sur la terre, ainsi que du bien ; il avoue qu’aucune philosophe n’a pu
jamais expliquer l’origine du mal morale et du mal physique ; il avoue aue Bayle, le plus grand dialecticien qui ait jamais
écrit, n’a fait apprendre à douter, et qu’il se combat lui-même ; il avoue qu’il y a autant de faiblesses dans les lumières de
l’homme que des misères dans sa vie. Il expose tous les systèmes en peu de mots.» (Voltaire 1961, S. 303)
494
Vgl. Voltaire 1961, S. 306.
495
Vgl. Hellwig 2008, S. 217 ff.
496
Vgl. Hellwig, 2008 a, S. 150.
497
Vgl. Voltaire 1961, S. 302.
498
Voltaire 1961, S. 309.
499
Vgl. Voltaire 1961, S. 307.
142
zudem, dass wenn die Welt in Vollkommenheit geschaffen worden ist, dann ist diese Vollkommenheit keine Vollkommenheit, die zum Wohle des Menschen geschaffen worden wäre.500 Zudem legt Voltaire dar, dass die Floskel, dass alles gut sei, den Menschen die Augen vor den
wahren Umständen, in denen er lebt, verschließt und sowohl Kritik, Hoffnung und Handeln in
einer passiven Gleichgültigkeit, einer urteilsfreien Lethargie untergehen lässt.501 Denn wenn
alles schon gut sei, dann wäre auch jede Handlung und Hoffnung, jede Kritik der Umstände
eine Nutzlosigkeit.
Deutlich lässt sich in Voltaires Lehrgedicht die Absicht erkennen, die Metaphysik als politisches Instrument der Unterdrückung des eigenen Verstandesgebrauchs, der selbst-bestimmten
Praxis und Hoffnung auf ein besseres Leben zu entlarven. Wie Hellwig darlegt, geht es Voltaire
weniger darum, die Güte oder Vollkommenheit Gottes anzuklagen, sondern vielmehr darum,
die theoretischen Spekulationen der Philosophen und Theologen als „völlig unzureichend“ darzustellen.502 Wie Noyes des Weiteren erörtert, ging es Voltaire gerade nicht darum, eine „wahre
Teleologie“ zu verwerfen, jedoch mit aller Deutlichkeit darzulegen, dass kein „universelles Gutes“ denkbar sei, dass sich mit der Vernichtung und dem Leid unzähliger Individuen realisiert.503 Er schreibt: „Es ist demnach weniger blasphemisch Gott völlig zu leugnen, als an einen
Gott zu glauben, der ohne Mitleid ist und ungerecht wie wir.“504
Rousseau, dem Voltaire eine Kopie des Poème sur le désastre de Lisbonne ou examen de cet
axiom: „Tout est bien“ zukommen ließ, fühlte sich durch den Essay herausgefordert. Wie Brandes nahelegt, sah Rousseau durch die Poème einen Anlass gegeben, Voltaire in einer öffentlichen Diskussion herauszufordern und publikumswirksam zu übertrumpfen. Er bat Voltaire
mehrmals darum, den Brief als auch seine Antwort publizieren zu dürfen, welches Voltaire, das
Anliegen Rousseaus wohl ahnend, abzulehnen wusste.505 Die Tatsache, dass Rousseau sich
über Voltaires Fügung hinwegsetzte und die Korrespondenz es doch publizierte, ist Indikativ
dafür, dass Rousseau es auf ein publikumswirksames Streitgespräch abgesehen hatte. Ebenfalls
indikativ dafür ist Rousseaus Polemik wider dem voltaireschen „Pessimismus“, dass es sich
dabei um ein Luxusproblem der Philosophen und Intellektuellen besseren Standes handle, mit
500
« L’axiome Tout est bien paraît un peu étrange à ceux qui sont les témoins de ces désastres. Tout est arrangé, tout est
ordonné, sans doute, par la Providence ; mais il n’est que trop sensible que tout, depuis longtemps, n’est pas arrangé pour
notre bien-être présent. » (Voltaire 1961, S. 301)
501
Vgl. Voltaire 1961, S. 308.
502
Vgl. Hellwig 2008, S. 151.
503
Vgl. Noyez 1958, S. 340 ff.
504
Brandes 1923, Bd. 2, S. 112.
505
Vgl. Brandes 1923, Bd 2, S. 116.
143
dem man einfachen Leuten die Hoffnung raube.506 Rousseaus damit einhergehende Selbstdarstellung als einfacher Mensch und die Ergreifung der Seite imaginärer „einfacher Leute“ und
der damit einhergehende Versuch, Voltaire anzugreifen, muss in diesem Sinne als ein unglaubwürdiges Kostümspiel aufgefasst werden. Dies zudem, da die Äußerung, dass Voltaire den Leuten die Hoffnung507 raube, nur bei grober Missachtung der letzten Zeilen des Poème denkmöglich ist, da das Gedicht mit Anrufung der Hoffnung abschließt.
«Au Dieu qu’il adorait dit pour tout prière :
« Je t’apporte, ô seul roi, seul être illimité,
Tout ce que tu n’as pas dans ton immensité,
Les défauts, les regrets, les maux, et l’ignorance. »
Mais il pouvait encore ajouter l’espérance.»508
Rousseaus Brief über die Vorsehung verwendet Voltaires Poème als Projektionsfläche seiner
eigenen Gedanken – es wäre für Voltaire völlig sinnlos gewesen, sich auf ein Streitgespräch
darüber einzulassen. Anstatt sich ernsthaft mit Voltaires Gedanken auseinanderzusetzen, argumentiert Rousseau im Brief auf der Grundlage seiner in dem zweiten Discours entwickelten
These, wonach die Ungerechtigkeit in der Welt und die Ungleichheit der Menschen durch die
Gesellschaft der Menschen verursacht seien.509 Daraus folgert er, dass die Ursache des Bebens
nicht in der Natur Gottes, sondern in der Natur des Menschen zu suchen sei – eine These, die
anlässlich der Naturkatastrophe völlig aus der Luft gegriffen zu sein scheint.
Entscheidend ist für die Rezeption Rousseaus, dass dieser, die Kernpunkte und die politische
Dimension der voltaireschen Schrift übersehend, sich darin als Verfechter der leibnizschen
Schriften positioniert. Auch wenn es, wie Sturma schreibt, Rousseau nicht um die Verteidigung
506
« D’ailleurs, Monsieur, qui dois-je coire que vous avez consulté sur cela ? Des riches, peut-être, rassasiés de faux plaisirs,
mais ignorant les véritables, toujours ennuyés des la vie et toujours tremblans de la perdre ; peut-être les gens de lettres, de
tous les ordres d’homme le plus sédentaire, le plus mal-sain, le plus réfléchissant, et par conséquent les plus malheureux. »
(Rousseau 1974, S. 38)
Nicht nur versucht Rousseau Voltaire in dieser Frage als unglücklichen, künstlichen Intellektuellen darzustellen, sondern
auch, seine Problematik und sein Denken auf seine Herkunft und seinen Stand zu beziehen: Es ist die unverschämte Polemtik, die die Leser, trotz aller im Brief floskelhaft verkündeten Anbiederungen, die Position zu Rousseau deutlich macht.
Es bleibt jedoch fraglich, ob sich Rousseau, trotz aller Insensibilität – vom Eifer ergriffen sich zu behaupten – tatsächlich
darüber im Klaren war, dass er Voltaire damit zutiefst traf.
507
«Tous mes griefs sont donc contre votre poëme sur le désastre de Lisbonne, parce que j’en attendois des effets plus dignes
de l’humanité qui paroit vous l’avoir inspiré. Vous reprochez à Pope et à Leibniz d’insulter à nos maux, en soutenant que
tout est bien, et vous amplifiez tellement le tableau de nos misères, que vous en aggravez le sentiment ; au lieu des consolations que j’espérois, vous ne faites que m’affiger.» (Rousseau 1974, S. 35)
508
Voltaire 1961, S. 309.
509
« Je ne vois pas qu’on puisse chercher la source du mal moral ailleurs que dans l’homme libre, perfectionné, partant corrompu ; et quant aux maux physiques, si la matiere sensible et impassible est une contradiction, comme il me semble, ils
sont inévitables dans tout systême dont l’homme fait partie ; et alors la question n’est point, pourquoi l’homme n’est parfaitement heureux, mais pourqoui il existe ? » (Rousseau 1974, S. 36.)
144
der Positionen Popes und Leibniz ging, sondern vielmehr, um die Darstellung der eigenen Position,510 so positioniert sich Rousseau im Angriff auf Voltaire in Zusammenhang der durch das
Erdbeben wieder aufgekommenen Diskussion um die Theodizee auf der Seite von Leibniz und
Pope.
Rousseau bestimmt die Philosophie, entgegen Voltaires Skeptizismus, als eine Fundamentalwissenschaft,511 wodurch er sich, anders als der mit seinen bisherigen Schriften vertraute Leser
erwarten könnte, auf die Seite der Wissenschaft der Metaphysik stellt. Von dort aus argumentiert Rousseau, dass Voltaires Missverständnis darin bestehe, die Phänomenalität der Welt nicht
ausreichend von der ontotheologischen Verfasstheit der Welt, d. h. der phänomenalen und noumenalen Welt, zu differenzieren. Dadurch aber, dass er dieses nicht tut, kann das Leiden einzelner als Wiederlegung der metaphysischen Perfektion, kann singuläre Imperfektion als Widerlegung der universellen Perfektion aufgefasst werden. Er schreibt:
«Vous distinguez les événements qui ont des effets, de ceux qui n’en ont point. Je doute que
cette distinction soit solide. Tout événement me semble avoir nécessairement quelque effet ou
moral ou physique, ou composé des deux, mais qu’on n’apperçoit pas toujours, parce que la
filiation des évènements est encore plus difficile à suivre que celle des hommes; comme général
on ne doit pas chercher des effets plus considérables que les évènements qui les produisent, la
petitesse des causes rends souvent l’examen ridicule, quoique les effets soient certains, et souvent aussi plusieurs effets presque imperceptibles se réunissent pour produire un évènement
considérable.»512
Eben diese Verteidigung führt Rousseau zu einer Widerlegung der voltaireschen These, dass
wenn das Universum perfekt geschaffen ist, es ein Universum ist, das nicht perfekt für den
Menschen geschaffen ist, und zu der Verteidigung der leibnizschen „These der besten aller
Welten“. Er behauptet, dass auch wenn wir es nicht wahrnehmen, die Ereignisse selbst zur Erhaltung des perfekten Ganzen stattfinden, worin Gott selbst eine Sittlichkeit sehe. Wenig stichhaltig argumentiert Rousseau damit, dass es eine metaphysische Sittlichkeit gibt, die sich unabhängig von den Menschen vollzieht und diesen, da sie eine göttliche ist, notwendig übergeordnet ist.
«Sans doute cet univers matériel ne doit pas être plus cher à son Auteur qu’un seul être pensant
et entant. Mais le systême de cet univers produit, conserve et perpétue tous les êtres pensans et
sentans, doit lui être cher qu’un seul de ces êtres ; il peut donc malgré sa bonté, ou plutôt par sa
bonté même, sacrifier quelque chose du bonheur des individus à la conservation du tout. […]
510
Vgl. Sturma 2001, S. 31.
511
Rousseau 1974, S. 39.
512
Rousseau 1974, S. 40.
145
Or, cette population supposé, la conservation de l’univers semble avoir, pour Dieu-même, une
moralité qui se multiple par le nombre des modes habités.»513
Mit Verwunderung nimmt man wahr, dass Rousseau sich hier zum Verteidiger einer metaphysischen Ordnung und zum Sprachrohr einer konservativen Weltanschauung macht, welche der
Leser als Lehren Leibniz und Popes wiedererkennt. Ein Opportunismus, der ihn völlig den Ansatz von Voltaires Argumentation missverstehen lässt. Er folgert:
«Pour revenir, Monsieur, au systême que vous attaquez, je crois qu’on ne peut l’examiner convenablement, sans distinguer avec soin le mal particulier dont aucun Philosophe n’a jamais nié
l’existence, du mal général que nie l’opptimisme. Il n’est question de sçavoir, si chacun de nous
souffre, ou non; mais s’il étoit bon que l’univers fût, et si nos maux étoient inévitables dans la
constitution de l’univers.»514
Erstaunlich ist, dass der später flammende Vertreter eines Sensualismus hier gerade die Sensation als Punkt gegen die Leugnung der Vollkommenheit Gottes anführt. Dem Satz, dass die
physische Ordnung im Gegensatz zur absoluten, vollkommenen Ordnung einen nur relativen,
akzidentellen Charakter hat, fügt er folgenden Schluss an:515
«Si Dieu existe, il est parfait; s’il est parfait, il est sage, puissant et juste ; s’il est sage et puissant, tout est bien ; s’il est juste et puissant, mon ame est immortelle ; si mon ame est immortelle, trente ans de vie ne sont rien pour moi, et sont peut-être nécessaires au maintien de l’univers. Si l’on m’accorde la premiere proposition, jamais on n’ébranlera les suivantes ; si on la
nie, il ne faut point disputer sur ses conséquences.
Nous ne sommes ni l’un ni l’autre dans ce dernier cas.»516
Über die Darlegung der Rationalität des Glaubens wird in dem Zitat deutlich, dass Rousseau
die göttliche Provenienz des Menschen verteidigt. Das heißt, dass Rousseau der leibnizschen
und popeschen These beipflichtet, wonach der Mensch ein Spiegel der göttlichen Vollkommenheit ist und dieser nur durch Privation böse wird, niemals aber durch sich selbst. Im Paragraphen
42 der Monadologie heißt es, dass alle Geschöpfe ihre „Vollkommenheit“ („perfection“) durch
den Einfluss Gottes haben und ihre „Unvollkommenheit“ („imperfection“) durch ihre eigene
Natur:
513
Rousseau 1974, S. 41.
514
Rousseau 1974, S. 41.
515
Vgl. Rousseau 1974, S. 42.
516
Rousseau 1974, S. 43.
146
«42. Il s’en suit aussi que les creatures ont leur perfection de l’influence de Dieu mais qu’elles
ont leur imperfections de leur nature propre, incapable d’être sans bornes. Car c’est en cela
qu’elles sont distinguées de Dieu. [Theod §20, §27-31, §153, §167, §377 seqq., §30, §380.
abregé object. 5.]»517
Durch die in eckigen Klammern des Zitats angeführten korrespondierenden Textstellen wird
ersichtlich, dass dieser Gedanke an die These der Erbsünde und der natürlichen Schlechtigkeit
des Menschen gebunden ist. In der Theodizee heißt es, „daß es schon vor der Sünde eine ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf gibt“518. Im Gegensatz zu Rousseau geht Leibniz
von der schlechten, von der Erbsünde belasteten Natur des Menschen aus. Es ist allein die Partizipation an der Vollkommenheit Gottes, die den Menschen zum guten, moralischen und sittlichen Verhalten führen kann.
Gott als Schöpfer und Grund, wir zugleich als Kausal- und als Finalprinzip verstanden. Anders
formuliert: Gemäß dem Leitsatz vom zureichenden Grund garantiert demnach Gott, als absolute
Instanz und absolutes Prinzip die Geltung theoretischer und praktischer Sätze.519
«Mais tout ceux qui reconnaissent que Dieu produit le meilleur plan, qu’il a choisi entre toutes
les idées possibles de l’univers ; qu’il y trouve l’homme porté par l’imperfection originale des
créatures à abuser de son libre abirte et à se prolonger dans la misère ; que Dieu empêche la
péché et la misère, autant que la perfection de l’univers, qui est un écoulement de la sienne, le
peut permettre ; ceux-là, dis-je, font voir plus distinctement que l’intention de Dieu est la plus
droite et la plus sainte du monde, que la créature seule est coupable, que sa limitation ou imperfection originale est la source da sa malice, que sa mauvaise volonté est la seule cause de la
misère, qu’on ne saurait être destiné au salut sans l’être aussi à la sainteté des enfants de Dieu,
et que toute l’espérance qu’on peut avoir d’être élu ne peut être fondée que sur la bonne volonté
qu’on se sent par la grâce de Dieu.»520
Wie in Hinblick auf das Zitat und das bisher Erörterte deutlich geworden ist, müsste Rousseau
anhand des Briefs an Voltaire als ein Vertreter der leibnizschen Philosophie erscheinen: auch
er vertritt in den Discours die These, dass die Misere des Menschen auf einen Missbrauch seiner
Vervollkommnungsfähigkeit zurückgeht. Von dort aus erscheint die Interpretation des Werkes
Rousseaus legitim, die besagt, dass Rousseau die Finalursache von der „perfectio“ Gottes als
„ens perfectissimum“ herleitet und versteht. Dadruch aber wird das Missverständnis vorbereitet
ist, dass er den Maßstab der Menschwerdung nicht in der Natur des Menschen sieht, sondern in
517
Leibniz 2002, S. 126.
518
Leibniz GS 1996, Bd. 2.1, S. 241 (§ 20).
519
Vgl. Mittelstraß 2011, S. 19.
520
Leibniz 1996, Bd. 2.1, S. 492 (§167).
147
der Natur Gottes. Dadurch eben halten Rousseaus Gedanken zur „perfectio“ durch ihre scheinbare Kompatibilität mit dem Leibnizianismus Einzug in den deutschen Sprachraum. Dafür
spricht, dass man in der Rezeption von Rousseaus pädagogischen Gedanken in Deutschland mit
dem theologisch geprägten Begriff der Bildung diskutiert. Rousseaus Emile gibt zudem keinen
Anlass, den von Leibniz und Wolff geprägten Interpretationsansatz zu verwerfen. So stellt er
dem Emile die wohlbekannte Rezitierung der Theodizee-Formel „Tout est bien“ voran: „Alles,
was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“521
Diese Ambivalenz begünstigt den Einzug von Rousseaus spekulativem Naturbegriff und seiner
experimentellen und spekulativen Anthropologie in den deutschen Sprachraum und bildet die
Keimzelle für den Anstoß der Diskussion und die Wandlung des Bildungsbegriffs. Gerade eben
dadurch wurde eine Säkularisierung des Bildungsbegriffs stark vorangetrieben. Es erscheint nur
so, als entwickle Rousseaus den Begriff der „perfectibilité“ in Zusammenhang mit der Philosophie von Leibniz, dabei wird er vielmehr in Zusammenhang mit dem französischen Lustdiskurs
geprägt, den man als „Antithese“ zu der von Leibniz vertretenen Ontotheologie verstehen kann.
Stöckmann legt dar, dass Descartes in Passions da l’âme entwickelte späte Affekttheorie die
Grundlage für eine begründungstheoretische Korrelation von Anthropologie und Ästhetik bildet, die besonders in Frankreich bis ins 18. Jahrhundert diskutiert wird:
„Ohne nennenswert vorauszugreifen kann festgehalten werden, dass in der Cartesischen Theorie die Elemente jener korrelativen Verhältnisbestimmung zwischen Vollkommenheit und Lustempfindung liegen, die noch die emotionalistische, empfindsame und anthropologisch-psychologische Theorie der sinnlich-ästhetischen Lust in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als
gültige Fassung des Problems betrachten wird.“522
Folgt man Stöckmanns interessanten Ausführungen, so entfaltet sich vor allem im Werk
Théorie des sentiments agréables von 1747 des in Reims geborenen Jean Louis Lévesque de
Pouillly ein zum „metaphysischen perfectio-Begriff leibniz-wolffscher Provenienz“523 antithetischer Begriff der „perfectio“ bzw. „Vollkommenheit“:
„Vollkommenheit ist demnach primär als die empirisch erfahrbare Qualität von Vollzugstätigkeiten zu verstehen, als Bestandteil der anthropologischen Grundausstattung selber, nicht als
normativ bestimmter Vorstellungsinhalt des denkenden Subjekts. [...] Perfectio, so Pouilly un-
521
Rousseau 2012 a, S. 107.
522
Stöckmann 2009, S. 44.
523
Vgl. Stöckmann 2009, S. 75.
148
missverständlich, ist als selbstreflektives Modell zu denken, wonach jede Wahrnehmungserfahrung als Korrelat der Eigenliebe des Subjekts aufzufassen ist: ‚Jeder Gegenstand, der uns
einen Beweis von unserer [Hervorh. E. S.] Vollkommenheit gibt, wird von uns von innigem
Vergnügen begleitet.‘ Nicht, dass die Lust an das Vollkommenheitsbewusstsein, sondern dass
sie an die empirische Wahrnehmungserfahrung des Subjekts (und die mit dieser gegebene Vervollkommnungsstrebung) zurückgebunden wird, ist hierbei das entscheidende Kriterium.“524
Auch wenn der Autor dieser Arbeit keinen konkreten Hinweis darauf kennt, dass Rousseau de
Pouilly gelesen hat, so ist es jedoch – auch in Hinblick auf Rousseaus (musik-)ästhetische Auffassung der „perfectio“ – höchstwahrscheinlich, dass dieser jene rezipierte.525 Besonders vor
dem Hintergrund der im französischen Lustdiskurs begründungstheoretischen Korrelation von
Ästhetik und Anthropologie lässt sich Rousseaus Begriffsbildung der „perfectibilité“ und die
darin vollzogene Abwendung von der ontotheologischen Auffassung plausibel erklären. Auch
wenn Rousseaus Werk von Ambivalenz durchzogen ist und viele theologische, biblische Motive in seinem Werk anklingen, so muss zumindest konstatiert werden, dass sich in seinem Werk
eine Modulation dieser Motive vor dem Hintergrund des französischen Lustdiskurses vollzieht.
Bolles These, wonach der systematische Kontext und die Legitimation der rousseauschen Anthropologie die „schöpfungstheoretische Grundlegung seines Naturbegriffs“ darstellen, ist von
daher abzulehnen.526 Rousseaus Werk im Rekurs auf diese „schöpfungstheoretische Grundlegung“ zu interpretieren, räumt der Konstellation, innerhalb der sie sich entfaltet, zu wenig Gewicht ein und kontrastiert die in Rousseaus Werk vorhandenen Ambivalenzen und Differenzen.
Entscheidend ist hier auch die Frage, warum Rousseau, wenn er davon ausginge, dieses nicht
explizit thematisiert. Nun, wir wollen damit nicht sagen, dass Rousseaus Werk nicht mit christlichen Motiven verwoben ist, sondern, dass man es in als reaktionär missversteht, sofern man
diese Motive als Leitmotive auslegt und es zugleich unterlässt, die darin vollzogenen Modulationen und Transformationen dieser Motive zu verstehen am Leitfaden neuer Leitmotive und
Problematiken.
Die „Über-Setzung“ des zweiten Diskurses mag wohl durch die von der leibniz-wolffschen
Philosophie geprägten Begriffe und die damit zusammenhängenden Lehrstücke und Themen
ermöglicht,527 jedoch wurde sie auch wesentlich durch die Interessen gegenüber den sich darin
524
Stöckmann 2009, S. 75 f.
525
Dies liegt vor allem nahe, da de Pouillys Schrift zum ersten Mal in Genf 1747 publiziert wurde – Rousseau war Genfer
Ursprungs – und nebst vielen Neuauflagen eine große Verbreitung und eine große Popularität fand (vgl. Stöckmann 2009,
S. 67, Fußnote 87).
526
Bolle 1995, S. 71.
527
Es bleibt von großer Bedeutung zu erwähnen, dass der Übersetzer des zweiten Discours, Moses Mendelssohn, mit Lessing
1755 zusammen die Schrift Pope ein Metaphysiker! verfasst hatte. Die Schrift wurde anlässlich einer Preisfrage der
Académie Royale des Sciences et Belles Lettres von 1753, die die Prüfung des „popischen Systems, welches in dem Satze
alles ist gut enthalten ist“ ausschrieb (vgl. Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 46). Michelsen legt dar, dass die Akademie
149
entfaltenden Neuansätzen motiviert. Vor allem erscheint der Begriff der „Perfektibilität“ als
Lösungsansatz für das Problem, wie die Verbindung von göttlicher Vorhersehung und geschichtlicher Kontingenz zu verstehen ist und zugleich wie die Theodizee aufzufassen sei. So
bemerkte Lessing,528 durch dessen Einwirkung Mendelssohns Übersetzung des zweiten Discours entstand, in seiner Rezension des ersten Discours von 1754 wohlwollend den „speculativischen“ Charakter der rousseauschen Betrachtungen.529 In seinem an seine „Verdeutschung“530 des zweiten Discours angehängten Sendschreiben an Lessing wird deutlich, dass
auch Mendelssohn nebst der Beurteilung der „göttliche Beredsamkeit“, vor allem durch die
„speculativischen Betrachtungen“ über den Gegenstand der Vollkommenheit bzw. der „perfectibilité“ und der damit zusammenhängenden Frage der Möglichkeit der Ausbildung der natürlichen Moralität zur Sittlichkeit ein Interesse an Rousseaus Werk entwickelt.
Trotz aller geglaubten Übereinstimmungen mit Rousseau entdeckt Mendelssohn im Laufe seiner Übersetzung eine Ambivalenz, die ihn, in Gefolgschaft von Leibniz,531 offenbar zu tiefst
beschäftigt. In einem Brief an Lessing schreibt er:
damit beabsichtigte, die leibnizsche Theorie zur Prüfung und zur Kritik auszustellen, und auf Grund von Spannungen innerhalb der Akademie jedoch das popesche System, welches man im Kern mit dem von Leibniz identifizierte, zur Prüfung
ausschrieb (vgl. Michelsen 1979, Bd. 4, S. 82). Wie wir an Voltaires Poème gesehen haben, war die Identifikation des
leibnizschen und popeschen Systems wohl weit verbreitet. Die Abhandlung Pope ein Metaphysiker! widerspricht dieser
Gleichsetzung und versucht dadurch die Lehren von Leibniz gegen den vermeintlichen Angriff der Akademie zu verteidigen (vgl. Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 66). Auch in der Diskussion um das Erdbeben von Lissabon und den im
Anschluss entstandenen Candide wird Mendelssohn diese Position gegen Voltaire angeführt (vgl. Hellwig 2008 a, S. 158).
Durch den geschilderten Umstand ist es deutlich, dass Mendelssohn als auch Lessing bestens mit der Diskussion um die
Theodizee-Formel als auch die Differenz des leibnizschen und popeschen Systems vertraut waren und sich zugleich als
Verteidiger der leibnizschen Position zeigten. Es ist von daher plausibel anzunehmen, dass ihr Interesse als auch die Rezeption der Schriften Rousseaus eben auch durch diesen leibnizschen Leitfaden geprägt ist.
528
Lessing muss als treibende Kraft zur Übersetzung der Schriften Rousseaus gesehen werden. Sein Interesse und sein Wohlwollen gegenüber den Ideen Rousseaus bekunden sich schon in seiner Rezension des ersten Discours vom April 1751. Dort
verteidigt Lessing Rousseaus Kritik gegenüber den Wissenschaften und den Künsten gegen die Kritik Gottscheds. Wie
Kronauer darlegt, ist es vor allem Rousseaus Idee einer „ursprünglichen Moralität, einer schlichten Tugendhaftigkeit“, die
Lessings Interesse an den Schriften Rousseaus entfacht (vgl. Kronauer 1995, S. 28). In Rousseaus Discours sieht Lessing
seine Einsicht „Der Mensch ward zu Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen“ in doppelter Weise entsprochen. Zum
einen in Hinblick auf seinen Skeptizismus gegenüber den Wissenschaften (vgl. Kronauer 1995, S. 29). Darin liegt die Idee
begründet, dass der wissenschaftliche Fortschritt und die Künste allein dem Glück und der Entwicklung der Tugenden des
Menschen dienen sollten. Zum anderen findet sich so bei Lessing als auch bei Rousseau das Primat der Praxis wieder. Wie
Kronauer schildert, ist es gerade dieses Primat, welches für Lessing keinerlei Explikation bedürfe: „Ihre Gedanken berührten sich auf einer Ebene elementarer Menschlichkeit, die sich nicht im (darüber) Reden kundtut, sondern im Handeln.“
(Kronauer 1995, S. 45.) Vielleicht ist es auch dadurch zu begründen, dass Lessing Mendelssohn dazu motivierte, Rousseau
zu übersetzen.
529
Vgl. Lessing WB 1998, Bd. 2, S. 34.
530
Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 83.
Obwohl Mendelssohn damit die sprachliche Übersetzung bezeichnet, ist es jedoch für den heutigen Leser interessant die
Doppeldeutigkeit des heute eher ungebräuchlichen Verbs („verdeutschen“, wie es im Text heißt) auch in Hinblick auf die
mendelssohnsche Auffassung des rousseauschen Werkes zu bemerken.
531
Vgl. Altmann 1969, S. 5–8.
150
„Ich kann in sehr wenigen Stücken mit Rousseau uneins seyn, und mich kann nichts mehr ärgern, als wenn ich in einer philosophischen Staatskunst erwiesen sehe, daß alles nach der Vernunft so hat seyn müssen, wie es bey uns ist. Wenn Rousseau dem gesitteten Menschen nur
nicht alle Moralität abspräche. Für diese bin ich allzu sehr eingenommen.“532
Wie aus dem Zitat vorgeht, kritisiert Mendelssohn vor allem Rousseaus These, wonach der
„gesittete Mensch“, d. h. der gesellschaftliche Mensch, sich von der „ursprünglichen Moralität,
einer schlichten Tugendhaftigkeit“533 – wie Lessing es ausdrückt – entfremdet hat. Den von
Rousseau dargelegten Antagonismus zwischen Kultur und Natur lehnt Mendelssohn ab. Zur
Widerlegung dieser These stellt Mendelssohn den Begriff der „perfectibilité“ in den Mittelpunkt seiner Argumentation.534 Sein Argument liegt darin, dass wenn die Vollkommenheit im
natürlichen Menschen als Möglichkeit angelegt sei, sie erst im gesitteten Menschen wirklich,
d. h. vervollkommnet oder gebildet wird:
„Hat uns die Natur das Vermögen geschenkt, uns vollkommener zu machen, so hat sie zugleich
unserem Wesen gleichsam eingegraben, alle unsere Fähigkeiten in der vollständigsten Harmonie empor zu erheben.“535
Deutlich wird, dass Mendelssohn den rousseauschen Gedanken einer immanenten Entwicklung
theologisch verfremdet. Während die „perfectibilité“ bei Rousseau eine höchst ambivalente
Anlage des individuellen Menschen darstellt und vor dem Hintergrund des Antagonismus von
Vernunft und Leidenschaft, natürlicher Anlage und Kultivierung als Aufgabe freiheitlicher und
glückseliger Lebensführung zu verstehen ist, wird sie so bei Mendelssohn zu einer gattungsgeschichtlichen vertikalen, transzendierenden Bewegung zur vollständigsten Harmonie und Moralität. Damit tilgt Mendelssohn zugleich die in Rousseaus Werk immer wieder zur Sprache
kommende ambivalente Erfahrung der Moderne, die Differenzerfahrung und Zerrissenheit des
modernen Bewusstseins – die Rousseau bis in die Bekenntnisse hinein als Kampf darstellt.
Auch wenn Mendelssohn die kulturkritische Dimension des Werkes Rousseaus wahrnimmt, so
532
Mendelssohn GSJ 1974, Bd. 11, S. 27.
533
Vgl. Kronauer 1995, S. 28.
534
„Rousseau kann sich nicht überwinden, dem natürlichen Menschen die Bemühung, sich vollkommener zu machen (la Perfectibilité) abzustreiten. O! was für siegreiche Waffen hat er durch dieses Eingeständnis seinen Gegnern in die Hände
gegeben! Der Wilde hat ein Bestreben, sich vollkommener zu machen - -.“ (Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 88.)
535
Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 89.
151
ist Scheuerl zuzustimmen, dass diese Dimension „gar nicht voll verstanden oder bagatellisiert“536 wird. Rousseaus Versuch, die „Historizität des Menschen unter möglichster Absehung
von teleologischen Deutungen nachzukommen“537 werde vollkommen unterwandert.
Dabei überwindet Mendelssohn in seiner Auffassung der „Perfektibilität“ den rousseauschen
Materialismus mittels seiner Auffassung vom Ich:
„Die Seele, unser Ich, unser Wesen, nimmt in der Harmonie den obersten Platz ein. Diese muß
vornehmlich ausgebildet, gebessert und die Schranken ihres Daseyns, so viel wir können, erweitert werden.“538
Das Ich, viel mehr als ein an die materiellen Umstände gebundenes Bewusstsein, erscheint hier
als eine in eine prästabilierte Harmonie eingebundene Seele, eine transzendente Entität, deren
Finalursache die Verwirklichung der Harmonie sei, die in ihr der Möglichkeit nach angelegt ist.
In diesem Sinne ist die Selbstbildung als Entwicklung der natürlichen Anlagen des Menschen
als Vervollkommnung einer überindividuellen Harmonie zu verstehen. Deutlich wird, dass
Mendelssohn das Subjekt nicht als empirisches und historisches Wesen thematisiert, sondern
als Monade auffasst. Darin liegt das Argument begründet, dass die Sittlichkeit als Finalursache
der „perfectibilité“ das Ziel der ursprünglichen Moralität des natürlichen Menschen ist und dass
der gesittete Mensch die notwendige Einlösung dieser Vervollkommnungsfähigkeit ist. Moralität erscheint so im „Wilden“ als möglich, im gesitteten Menschen aber erst als wirklich.
Diese wirft zudem ein ganz anderes Bild auf die Kultur.
„Die Musik, die Mahlerey, die köstlichen Speisen und Getränke, wenn sie verdaulich sind, die
herrlichen Werke der Natur und der Kunst, sind milde Geschenke unseres huldreichen Vaters,
die sich wetteifernd bemühen, unsere Seele mit einer himmlischen Fröhlichkeit aufzuklären,
und ihre Kräfte, wenn sie ermüdet sich, anzufeuern, damit sie mit verdoppelter Emsigkeit an
dem grossen Zwecke der Schöpfung arbeiten können.“539
Wie Leibniz thematisiert Mendelssohn die Künste und die Wissenschaft und die dadurch realisierten Dinge als eine Vollzugstätigkeit der „Schöpfung“. In der Metaphysischen Abhandlung
legt Leibniz dies dar:
536
Scheuerl 1985, S. 85.
537
Buck 1973, S. 34.
538
Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 89.
539
Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 90.
152
«Par conséquent la puissance et la science sont des perfections, et entant qu’elles appartiennent
à Dieu, elles n’ont point de bornes. D’où il s’ensuit que Dieu possedant la sagesse supreme et
infinie agit de la manière la plus parfait, non seulement au sens metaphysique, mais encor moralement parlant, ce qu’on peut exprimer ainsi à nostre égard, que plus on sera disposé à les
trouver excellens et entierement saitisaisans à tout ce qu’on auroit mêmes pû souhaiter.»540
Das heißt, dass Mendelssohn nicht die Wissenschaften und Künste – konträr zu Rousseau –als
ein Argument für die Dekadenz des Menschen, sondern erkenntnistheoretische Vollzugsmedien
der göttlichen Vollkommenheit thematisiert. Wie sich im Sendschreiben deutlich abzeichnet,
thematisiert Mendelssohn von hier aus Kultur und Geschichte, d. h. die Entwicklung der
Menschheit aus der Perspektive der Entwicklung der Schöpfungszwecke. Wie Bollacher treffend darlegt, zeigt sich so im Sendschreiben eine:
„teleologisch strukturierte Entwicklungstheorie, in der die Urzustandshypothese idealistisch
überhöht, die Selbstentfaltung des sittlichen Individuums aber zugleich als naturgesetzlich notwendige und unaufhaltsame Verwirklichung des Schöpfungszwecks“541.
Von hier aus ist es nicht verwunderlich, dass Lessing in seiner Stellungnahme zu dem Sendschreiben verwundert auf Mendelssohns Auffassung reagiert:
„Sie betreffen vornehmlich das zweyte Stück, aus welchen Sie, nach den eignen Einräumungen
des Rousseau, die Moralität den Menschen wieder zusprechen wollen; die Perfectibilité. Ich
weis eigentlich noch nicht, was Rousseau für einen Begriff mit diesem Wort verbindet, weil ich
seine Abhandlung noch bis jetzt mehr durchgeblättert, als gelesen habe. Ich weis nur, daß ich
einen ganz andern Begriff damit verbinde, als einen, woraus sich das, was Sie daraus geschlossen haben, schließen ließe. Sie nehmen es für eine Bemühung, sich, vollkommner zu machen;
und ich verstehen bloß die Beschaffenheit eines Dings darunter, vermöge welcher es vollkommener werden kann; eine Beschaffenheit, welche alle Dinge in der Welt haben, und die zu ihrer
Fortdauer unumgänglich nöthig war.“542
Trotz der Verwunderung über die mendelssohnsche Auffassung der „Perfektibilität“ zeichnet
sich auch hier deutlich ab, dass Lessing – anders als Rousseau – den Begriff in einem teleologischen Sinne als Weltbegriff und anthropologischen Grundbegriff auffasst. Tubach hält diese
Stelle insofern für signifikant, da sich darin Lessings Gedanke abzeichnet, wonach das „Vernunftprinzip“ schon im Naturzustand wirkt.543 Folgt man Bollacher, zeigt sich hier Lessings
Prädisposition zu einer an der Perfektibilität orientierten Geschichtsschreibung, die vor dem
540
Leibniz 2002, S. 2 (§1).
541
Bollacher 1978, S. 164.
542
Mendelssohn GSJ 1974, Bd. 11, S. 34.
543
Vgl. Tubach 1960, S. 148.
153
Hintergrund der Ablehnung der rousseauschen Geschichts- und Kulturauffassung, sich durch
die „Werdensstruktur und die Logizität des Leibnizschen Substanzbegriffs, sowie die am Fortschritt der Vernunft orientierte Geschichtsschreibung Voltaires“544 auszeichnet. Festzuhalten
bleibt, dass der Begriff der „perfectibilité“ eine große Wichtigkeit als Bindeglied zwischen der
Ontotheologie und der Geschichtsschreibung schon hier einnimmt.
Erst aber mit der Übersetzung von Rousseaus Brief über die Vorhersehung 1759 als auch dem
Erscheinen des Emile findet auch in Lessings Werk der schon in den 1750er Jahren angeeignete
Begriff der „perfectibilité“ eine systematische Entfaltung. Er steht in Zusammenhang mit Lessings Reflexion über das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte und dem Problem der
Möglichkeit einer geschichtlichen Entfaltung der göttlichen Vorhersehung im freiheitlichen
Handeln des Menschen zum Zwecke eines Fortschritts des Menschengeschlechts.
Lessing Überlegungen über die Geschichte der Religion sind es, die den Begriff der „perfectibilité“ zum Begriff der Bildung transformieren. Das Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion aus den führen 1760er Jahren545 verdeutlich den Rahmen dieser Reflexion
und lässt zugleich den Zusammenhang erkennen, in dem der Begriff der „perfectibilité“ zur
Bestimmung des Begriffs der Bildung beiträgt. Das im Nachlass erhaltene Fragment ist geprägt
von dem Problem des Unterschiedes und des Verhältnisses der „natürlichen“ und der „positiven
und geoffenbarten Religion“. Den Unterschied und das Verhältnis beider „Religions-Wahrheiten“ bestimmt Lessing vor allem historisch. Im vierten Paragraphen des Fragments versteht
Lessing die Abkehr von den „natürlich erkannten Religions-Wahrheiten“ durch die Vergemeinschaftung der Religion und die dadurch begriffliche und diskursive Fassung der Wahrheiten:
„Das ist: so bald man auch die Religion gemeinschaftlich zu machen, für gut erkannte; mußte
man sich über gewisse Dinge und Begriffe vereinigen, und diesen conventionellen Dingen und
Begriffen eben die Wichtigkeit und Notwendigkeit beilegen, welche die natürlich erkannten
Religions-Wahrheiten durch sich selber hatten.“546
Wie deutlich wird, sind es vor allem „das Conventionelle“547 und die Vergemeinschaftung der
natürlichen Religions-Wahrheiten, die die „positive Religion“ von der „natürlichen“ unterscheiden. Kirchenkritisch macht Lessing vor allem deutlich, dass die „positive Religion“ nur
544
Bollacher 1978, S. 163.
545
Der Autor nimmt zur Kenntnis, dass es in der Forschung Schwierigkeiten mit der Datierung des Fragments zu geben scheint.
Während Löwisch es auf 1755 datiert (vgl. Lessing 1969, S. 175), datieren es Göbel (vgl. Lessing WE 1976, Bd. 7, S. 847)
und auch Bultmann/Vollhardt (vgl. Bultmann,/Vollhardt 2011, S. 2) in die Breslauer Zeit ab 1760. Wie es scheint, hat sich
die Datierung in die frühen 1760er Jahre innerhalb der Forschung mittlerweile allgemein durchgesetzt.
546
Lessing WE 1976, Bd. 7, S. 282.
547
Vgl. Lessing WE 1976, Bd. 7, S. 282.
154
ein Derivat der „natürlichen Religion“ darstellt – die Kirche instanziiert die „natürliche Religion“ nicht, sondern instituiert sie. Zugleich aber schränkt er diese Wertung vor allem dadurch
ein, dass er die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft verbindet, zugleich aber die Entstehung der „positiven Religion“ auch als gemeinschaftliche Entscheidung darstellt. Damit weist
Lessing diese als ein Gemeingut aus und stellt sie nicht in den Zusammenhang mit einer durch
die prinzipielle Unbeherrschbarkeit und Unkontrollierbarkeit sozialer Dynamik hervorgehenden Dekadenz. Vielmehr spricht Lessing von einer:
„Unentbehrlichkeit einer positiven Religion, vermöge welcher die natürliche Religion in jedem
Staate nach dessen natürlicher und zufälliger Beschaffenheit modificiert wird [...].“548
Vor allem schildert Lessing hier die Notwendigkeit der „Modifikation“ der „natürlichen Religion“ in Zusammenhang mit der Konstitution des Staates. Dieser weißt er zugleich eine historische Gültigkeit zu, die mit der „natürlichen und zufälligen Beschaffenheit“ gerechtfertigt
wird. Überdies – und dies scheint entscheidend für die sich hier abzeichnende Position Lessings
– erweist sich die „positive und geoffenbarte Religion“ immer nur relativ im Verhältnis zur
„natürlichen Religion“:
„Die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten conventionellen
Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.“549
Lessing lehnt die „positive Religion“ nicht ab, sondern formuliert eine Bedingung, nach der ihr
Nutzen einzuschätzen ist: Sofern die „positive Religion“ der Gesellschaft und der Gemeinschaft
diene, sei sie als „wahr“ einzuschätzen. Sofern die „positive Religion“ die Wahrheit der „natürlichen Religion“ verstelle, sei sie als „falsch“ einzuschätzen. Der darin entfaltete Gedanke,
dass es eine „gute Wirkung“ einer natürlichen Religion und damit einer natürlichen Moralität
auch innerhalb der gesellschaftlichen Sphäre der „Convention“ und der Sittlichkeit geben kann,
unterscheidet Lessings Position von der rousseauschen Kulturkritik. Zugleich ist sie jedoch nur
vorstellbar im Rückgang auf den Begriff der Perfektibilität in der spezifischen Auffassung Lessings.
548
Lessing WE 1976, Bd. 7, S. 283.
549
Lessing WE 1976, Bd. 7, S. 283.
155
Eine Datierung des Fragments nach 1962, d. h. nach dem Erscheinen des Emile, kann als wahrscheinlich gelten, da, wie Barr Nisbet nahelegt, es die die religionsphilosophische Differenzierung aufnimmt, die Rousseau im Teil Profession du foi du Vicaire Savoyard im Emile entwickelt.550 Darin liegt nicht nur die Einsicht bekundet, dass Lessing Rousseaus Emile kannte,
sondern zeigt sich zugleich der Rahmen des Bezugs auf den Emile im Werke Lessings. Es ist
evident, dass das Problem, in dessen Zusammenhang sich Lessing mit Rousseau beschäftigt,
von der religionsphilosophischen Frage geprägt ist, wie eine „gute Wirkung“ der natürlichen
Religion auch innerhalb der „positiven und geoffenbarten Religion“ zu verstehen sei. Anders
formuliert stellt sich darin die Frage, wie der Mensch angesichts der konventionalen, kommunikativen Entfremdung der natürlichen Religion die natürliche Religions-Wahrheit finden
könnte.
Eine eigenständige Lösung der Problematik entwickelt Lessing vor allem in seiner Schrift Die
Erziehung des Menschengeschlechts von 1780. Wie Schmidt-Biggemann darlegt, ist die Schrift
als Auseinandersetzung mit der rationalen Theologie551 zu verstehen und ist vor allem durch
den sogenannten „Fragmentenstreit“552 motiviert. Obwohl Fick diese als eine bloße Synthese
schon formulierter Positionen darstellt und vor allem in der Kombinatorik würdigt, 553 bereitet
sich darin doch der Bildungsbegriff in entscheidender Weise vor. Vor allem wird Erziehung als
Möglichkeit einer Vervollkommnung einer idealen, natürlichen Sittlichkeit verstanden, die in
der gesellschaftlichen Konvention gebrochen worden ist. Gegen jegliche institutionalisierte Erziehung konzeptualisiert Lessing darin die natürliche Offenbarung als einzigen und wahrhaften
Erziehungsgrund, durch den die Entwicklung der Gesellschaft zur Moralität allererst möglich
ist.554 Durch die Korrelation der Vernunft und der Offenbarung entwirft Lessing eine Geschichte der moralischen Entwicklung der Menschheit, die auf dem rousseauschen Bild aufbaut,
dass der Mensch im natürlichen Zustand perfektibel sei. Lessing entwickelt darin freilich keine
systematische Pädagogik,555 eröffnet sie als Möglichkeit durch die „Berufung auf die Vernunft
[sowie das] christliche Geist-,Religions- und Gottesverständnis“556. Wie Fick weiter schildet,
550
Nisbet 2008, S. 397.
551
Vgl. Schmitt-Biggemann 1995, S. 139.
552
Vgl. Fick 2000, S. 344–441.
553
Vgl. Fick 2000, S. 425.
554
Vgl. Lessing WB 2001, Bd. 10, S. 89 ( § 54 u. 55).
555
Dass dies auch nicht seine Absicht sei, bekundet er schon im § 4 der Schrift (vgl. Lessing WB 2001, Bd. 10, S. 75).
556
Fick 2000, S. 427.
156
entfaltet Lessing in der Schrift über Die Erziehung des Menschengeschlechts das Ziel der Erziehung in einer Autonomie der Vernunft, die sich als unabhängig von den Glaubenswahrheiten
auszeichnet.557 In diesem Zusammenhang entwickelt Lessing so eine politische Utopie einer
Gemeinschaft, die ihre Legitimität nicht aus Glaubenswahrheiten generiert, sondern aus der
Autonomie der Vernunft aufbaut. Wenn auch nur indirekt, so wendet sich Lessing in seiner
Schrift gegen jegliche Instanzen, die den menschlichen Geist in den Dienst zu nehmen trachten.558
„Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht aus selbst aus sich heraus haben könnte:
sie giebt ihm das, was er aus sich selbst haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt
auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts worauf die menschliche Vernunft, sich
selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sei gab und giebt ihm die wichtigsten
Dinge nur früher.“559
Lessings pädagogische Wirkung ist vor allem in der Entdeckung des „inneren Impulses spontaner Selbsttätigkeit“ zu verstehen, wie Kurt es formuliert.560 Wie Löwisch darlegt, ist es vor
allem der Begriff der Offenbarung, der, wie im Zitat deutlich wird, Lessing als „Impuls für das
Denken, und Funktion der Spontaneität“561 gilt. Es ist der in die natürliche Disposition des
Menschen hineingelegte „Fingerzeig“ oder „Funke“, der die Vervollkommnung der Vernunft
in Gang setzt.562
Die Entdeckung „spontaner Selbsttätigkeit“ scheint ohne die Auseinandersetzung mit Rousseaus Gedanken zur Erziehung nur schwer denkmöglich – dass dennoch gravierende Unterschiede zwischen beiden Positionen bestehen bleiben, wird aus dem bisher Gesagten denkbar.
Neben den in der Forschung genannten Quellen563 scheint für Lessing der rousseausche Gedanke einer kritischen Urteilskraft und die Ausbildung der Reflexivität564 von zentraler Bedeutung, derer Bildung innerhalb der Erziehung unabhängig jeglicher institutioneller Einflüsse
Vorrang eingeräumt werden müsse. Es ist vor allem Lessings teleologische Auffassung des
557
Vgl. Fick 2000, S. 427.
558
Vgl. Sauer 2012, S. 39.
559
Lessing, WB 2001, Bd. 10, S. 75
560
Kanz zitiert nach Sauer 2012, S. 40.
561
Lessing 1969, S. 158.
562
Vgl. Lessing 1969, S. 158 f.
563
Vgl. Fick 2000, S. 425.
564
Vgl. Löwisch 1969, S. 156.
157
Begriffs der „perfectibilité“ und die in seiner Geschichtsphilosophie entwickelte politische Utopie, welche im Kern durch eine Vermittlung von Vernunft- und Glaubenswahrheiten bestimmt
ist, die im deutschen Sprachraum eine Diskussion nicht über die Erziehung, sondern die Erziehung zum Selbstdenken, zur Autonomie und zur moralischen Bildung entfacht. Vor allem ist
Lessing dabei durch das Werk Rousseaus motiviert, die „Potentiale natürlicher Sittlichkeit und
Solidarität auch und gerade innerhalb des Modernisierungsprozesses wieder zur Geltung zu
bringen“565. Es geht daraus hervor, dass durch die spezifische Auffassung Lessings die „perfectibilité“ als Möglichkeit einer zukünftigen Gemeinschaft in den deutschen Sprachraum übersetzt. So wird durch die teleologische und idealisierende Auffassung Lessings und die damit
zusammenhängende Geschichtsschreibung eine Konstellation geschaffen, die für das folgende
politische Denken entscheidend sein wird. Als Beispiel nennt Schmitt-Biggemann Fichtes „Absolutismus der Freiheit“, der in Lessings und Herders im Rahmen ihrer Geschichtsschreibung
entwickeltem Volksbegriff gründet.566
Mendelssohn und Lessing, welche maßgeblich für die Rezeption Rousseaus im deutschen
Sprachraum gelten können, sind zwei Beispiele dafür, wie das spekulative Denken Rousseaus
in Deutschland aufgefasst wird. Motiviert durch die von Rousseau so ausdrücklich gemachte
Modernitätserfahrung ist es vor allem der methodische Leitfaden des spekulativen Denkens,
der zu der Formulierung des Antwortregisters motiviert. Durch die Rezeption Rousseaus wird
die spekulative Reflexion der Natur des Menschen zu einem Impulsgeber für eine Neubewertung der politischen Verhältnisse und dafür, den Entwurf einer zukünftigen Politik als auch die
Konstitutionsbedingungen zu formulieren.
Vor allem hebt Mendelssohn in seinem Sendschreiben an Lessing – und dies ist der Punkt, dem
Lessing nicht mit einer kritischen Anmerkung begegnet – die Kritik Rousseaus an bisherigen
Naturrechtslehren hervor. Eine Begründung des Naturrechts, wiederholt Mendelssohn, könne
nicht auf einer Vorstellung des Menschen gründen, die sich an einem Bild des Menschen orientiere, „wie er ietzt ist“567. Die Kritik gegenüber Hobbes aufnehmend, schildert Mendelssohn,
dass zur Begründung eines Naturrechts es eines anderen methodischen Leitfaden bedürfe:
„Wenn ein Mahler in seinem Bilde die schicklichste Haltung des menschlichen Körpers treffen
will; so muß er sich einen nackten Mensch in der vortreflichen Stellung einbilden: weil der
bekleidete Mensch in einer gantz anderen Form erscheinet, als die ihm von Natur zukömmt; Er
565
Erhart 1995, S. 51.
566
Vgl. Schmidt-Biggemann 1995, S. 211.
567
Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 92.
158
wird immer noch seinem Bilde nachher die erforderlichen Kleidungen umhängen können, ohne
die natürliche Stellung zu verfehlen.“568
Ausdrücklich wird hier, dass Mendelssohn das spekulative Verfahren und den Leitbegriff der
Natur, so wie es sich in dem zweiten Discours Rousseaus entfaltet, würdigt und aufnimmt. Auch
wenn Mendelssohn seinen Begriff des Naturrechts im Rekurs auf andere Quellen (wie etwa
Puffendorf, Locks oder Wolff) entfaltet, so zeigt sich hier vor allem ein deutlicher Einfluss des
rousseauschen spekulativen Verfahrens. Anlass zu einer positiven Bewertung für Mendelssohn
ist die universelle Gültigkeit des durch das spekulative Verfahren Rousseaus ermittelten Naturrechts. Dies macht er im Sendschreiben deutlich:
„[...] die Gesetze der Gerechtigkeit die aus unserer wesentlichen Beschaffenheit herfliesen, und
wenn sich auch aller Völker der Erde damit wieder vereinigten, nicht verändert werden
könnte.“569
Auch wenn Mendelssohn die spekulativen Verfahren im Sinne Rousseaus positiv rezipiert, so
kritisiert er ausdrücklich Rousseaus Bild eines Wilden, „lasterhaften“ Menschen.570
„Der Wilde hat kein Gefühl von der menschlichen Würde, von der wahren Sittlichkeit und von
der allgemeinen Liebe zur Ordnung und Vollkommenheit. Der sinnliche Wollüstling erniedrigt
die menschliche Würde und kehret alle Sittlichkeit um, indem er den viehischen Genuß, diesen
weichlichen Hausgötzen auf den Altar hebt, und ihm alles menschliche aufopfert.“571
Deutlich zeigt sich in Mendelssohns Worten die Ablehnung des für ihn im Begriff des Wilden
anklingenden Irrationalismus und Hedonismus. Exemplarisch für die Rezeption Rousseaus verkündigt Mendelssohn, dass „tierische“ Wesenszüge, die Leidenschaften als auch die Sinnlichkeit in der Formulierung keine Berücksichtigung finden dürfen, dass dadurch die spezifisch
menschlichen Eigenschaften außer Acht gelassen würden. Wie Altmann darlegt, liegt Mendelssohns „entscheidender Einwand“ gegen den rousseauschen Gedanken darin, dass der Naturzustand historisch zu ermitteln und als „historisch anfänglich Status zu ermitteln sei“.572 Mit Recht
weist Mendelssohn auf das Problem hin, wonach ein allgemeingültiges, vernünftiges Gesetz
nur schwer aus einem historisch-kontingenten Zustand gerechtfertigt werden kann.
568
Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 92 f.
569
Vgl. Mendelssohn GSJ, 1972, Bd. II, S. 92.
570
Vgl. Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 94.
571
Mendelssohn GSJ 1972, Bd. II, S. 94.
572
Vgl. Altmann 1982, S. 183.
159
„Für Mendelssohn ist der Naturzustand kein geschichtlicher Anfang, sondern eine juristische
Fiktion, die einen ‚naturrechtlichen‘ Sinn besitzt. Indem der Mensch als das bestimmt wird,
was ihm auf natürliche Weise und wesentlich zukommt, wird er zwar aus der Gesellschaft gerissen, wie sie jetzt mit all ihren Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten besteht. Aber erst diese
Abstraktion kann deutlich erkennen lassen, was seine eigentliche Bestimmung ist.“573
Wie Geier verdeutlicht, erkennt Mendelssohn die Bedeutung des Naturbegriffs zur Aufklärung
seiner Bestimmungen und seiner Rechte, doch kann dies nur durch eine „abstrakte“, d. h. formale Bestimmung geschehen. Die aus dem fiktiven, spekulativen Naturbegriff abgeleiteten
Rechts- und Moralnormen gelangen zu juristischer Geltung durch die in der Reflexion des Naturzustands zur Geltung kommenden formalen Bestimmungen des Menschen. So ist es allererst
die formale Bestimmung, die die Rechtsgültigkeit der juristischen Fiktion geltend machen kann.
Trotz der Ablehnung der rousseauschen Vorstellung des historischen Naturzustands zeigt sich
in Mendelssohns Sendschreiben eine Übernahme des Fragemusters Rousseaus. Deutlich zeigt
sich diese Übernahme als „Über-Setzung“, da sie, wegweisend für den deutschen Sprachraum,
die sensualistische Fluchtlinie durch eine idealistische Fluchtlinie ersetzt. Das heißt, dass die
Frage nach der Autonomie der Vernunft, der Grundlegung der Sittlichkeit und der Politik als
auch die Frage nach dem Wesen des Menschlichen nur im Rückgang auf formale Bestimmungen und schließlich Vernunftgründe geklärt werden könne.
Im Rekurs auf die Frühzeit der Rezeption in Deutschland hat sich gezeigt, dass sich durch Mendelssohn und Lessing ein spekulativer Denkraum entfaltet, welcher maßgeblich zur Wandlung
und Konstitution der Diskussion um den Bildungsbegriff im deutschen Sprachraum beiträgt.
Wesentlich trägt das spekulative Fragemuster Rousseaus zu einer Wandlung in der Wahrnehmung der Begriffe und der Problemstellungen der deutschen Schulphilosophie bei, wie sie
durch Leibniz und Wolff geprägt worden ist. Besonders auffallend ist, dass der spekulative
Naturbegriff als problematisch empfunden wird und in seiner sensualistischen Grundlegung
durch ein idealistisches Modell ersetzt wird. Der Gedanke, aus der Vorstellung des Wesens des
Menschen, seiner natürlichen Moralität einen von der gesellschaftlichen Historizität unabhängigen Leitfaden der (politischen) Urteilkraft ableiten zu können, bleibt auch durch die „ÜberSetzung“ unangetastet. Wie auch in Frankreich wird dadurch zugleich ein Gegenmodell zu der
Konzeptionalisierung politischer Handlungsregister, wie etwa der Erziehung durch die Soziografie, geschaffen. Während die Spekulation der Soziografie zum Zwecke der Regierung sich
an einer durch mathematische Verfahren geschaffenen Vorstellung des Menschen orientiert,
orientiert sich die philosophische Spekulation an einer Vorstellung des Wesens des Menschen.
573
Geier 2013, S. 185.
160
Während die eine Spekulation in einer praktischen Beobachtung begründet wird, begründet sich
die andere in einer Theorie. Während sich die soziografische Spekulation vor allem an der mathematischen Praxis orientiert, inkorporiert die theoretische Spekulation Vorstellungen aus verschiedenen Bereichen. Dadurch wird sie aber auch zugleich anfälliger für dogmatische und unsachliche Gedanken. Ein großer Unterschied beider Verfahren besteht darin, dass die soziografische Spekulation ein Problembewusstsein entwickelt als Ausgangspunkt für eine Antwort auf
die Problematik des Regierens, während die theoretische Spekulation ein historisches Problembewusstsein als Ausgangspunkt für das Problem der Menschwerdung und Lebensführung, d. h.
der Vervollkommnung des Menschen und des „Menschengeschlechts“ entwickelt. Die Spezifizität der „Über-Setzung“ des spekulativen Verfahrens Rousseaus und des damit verbundenen
Naturbegriffs zeigt sich darin begründet, dass man in Rousseaus spekulativen Begriffen keinen
Rechtsgrund sehen könne. Die diesen mangelnde Rationalität und Formalität ist ein Verständnis
dieser am Leitfaden der Leibniz und Wolffischen Schulphilosophie bedingt und führt zu der
beschriebenen Transformation der Grundbegriffe und des Erkenntnisverfahren.
Rousseaus Werk geht in dieser Transformation nicht unter, sondern entwickelt durch seine Kulturkritik in der „Über-Setzung“ ein Problembewusstsein für die geschichtliche Verfasstheit des
Menschen in der Moderne und der Aufgabe, Menschlichkeit innerhalb der Geschichte zu begründen und zu entfalten. Die Wandlung des Begriffs der „perfectibilité“ zum Begriff der Bildung markiert den spekulativen Raum, in dem für dieses Problem eine Lösung generiert wird.
Die „Über-Setzung“ des Begriffs der „perfectibilité“ durch Lessing und Mendelssohn bereitet
die Ersetzung des Begriffs der Bildung systematisch in den 1770er Jahren vor.
Es ist vor allem Herder, der angeregt von der Lektüre des Emile schwärmerisch das Konzept
eines „Buches zur Menschlichen und Christlichen Bildung“574, einer „Universalgeschichte der
Bildung der Welt“575, in seinem Reisejournal ankündigt und entwirft. Er verkündigt darin:
„Oh ihr Locke Roußeau, und Clarke und Franke und Heckers und Ehlers und Büschings! euch
eifre ich nach; ich will euch lesen, durchdenken, nationalisieren, und wenn Redlichkeit, Eifer
und Feuer hilft, so werde ich euch nutzen, und ein Werk stiften, das Ewigkeiten daure, und
Jahrhunderte und eine Provinz bilde.“576
574
Vgl. Herder 1961, S. 22.
575
Vgl. Wisbert 1987, S. 19.
576
Herder 1961, S. 24.
161
Durch Herders spezifische Auffassung Rousseaus erhält der Begriff der „perfectibilité“ seine
für den deutschen Sprachraum spezifische „Über-Setzung“ in den Begriff der Bildung. In Herders Begriff der Bildung werden vor allem die teleologischen und theologischen Motive hervorgehoben. Die von Rousseau thematisierte individuelle Menschwerdung, die schon bei Mendelssohn und Lessing eine universale, gattungsgeschichtliche Dimension erhielt, wird durch
Herders Begriff der Bildung noch deutlicher im Rahmen einer Schöpfungsgeschichte begriffen.
In seinem Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schreibt Herder:
„Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des
Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feineren Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfühlung und Beherrschung der Erde gesagt habe: denn der
Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung al Er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet. Um sein edelsten Pflichten zu entwickeln, dörfen wir nur sein Gestalt zeichnen.“577
Der Gedanke der Vollkommenheit und der Vervollkommnungsfähigkeit wird darin vor allem
durch den Begriff der Gottesebenbildlichkeit verstanden. Die „perfectibilité“, die bei Rousseau
als Bestimmungskriterium des Menschen in Differenz zum Tier aufgeführt wurde, wandelt sich
hier zur Möglichkeit der Gottwerdung. Durch die Analogisierung der Menschwerdung und der
Gottwerdung im Bild und schließlich im Bildungsbegriff entfaltet sich durch Herders Begriff
eine noch stärkere Dichotomie von Mensch und Tier, wodurch die Idee der Natur des Menschen
im Sinne der Idee der Gottnatur des Menschen verwandelt wird.
„Den Tieren gabst du Instinkt, dem Menschen grubest du dein Bild, Religion und Humanität in
die Seele: der Umriß der Bildsäule liegt im dunkeln tiefen Marmor da; nur er kann sich nicht
selbst aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung, sollten dieses tun
und du ließest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen.“578
Deutlich wird in Herders Auffassung der Menschwerdung durch den Begriff der Bildung, dass
alle Kulturkritik verworfen wird und Kultur (als Spezifikum menschlicher Gesellschaft und
Geschichte) als ein Offenbarungsmedium der göttlichen Vollkommenheit thematisiert wird579
durch das Werden des Menschen nach dem Bild Gottes. Während so erkenntlich wird, dass der
Begriff der Bildung als Auffassung der pefectio und „imago dei“-Thematik in der christlichen
577
Herder WE 1989, Bd. 6, S. 154.
578
Herder WE 1989, Bd. 6, S. 378 f.
579
Leuser legt dar, dass Herder den „tieferen Sinn der Weltgeschichte allein aus der offenbarungstheologischen Perspektive“
erschließt. Dabei sind die Worte der Offenbarung vor allem auch in der Natur und der Geschichte zu vernehmen (vgl.
Leuser 2005, S. 225).
162
Tradition steht,580 so muss jedoch hervorgehoben werden, dass die anthropologische Dimension
des Begriffs Bildung als auch die darin deutlich zur Sprache kommende Idee der „Freiheit-desMenschen-zur-Bildung“ Rousseaus Begriff der „perfectibilité“ nachhallt. Dies verdeutlicht
Herders bekannte Charakterisierung des Menschen:
„Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten
und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die
Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu
leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn
ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage. Er kann dem trüglichsten Irrtum Schein
geben und ein freiwillig Betrogener werden; er kann die Ketten, die ihn, seiner Natur entgegen,
fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen. Wie es also mit
der getäuschten Vernunft ging, geht's auch mit der mißbrauchten oder gefesselten Freiheit; sie
ist bei den meisten das Verhältnis der Kräfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Gewohnheit
sie festgestellt haben. Selten blickt der Mensch über diese hinaus und kann oft, wenn niedrige
Triebe ihn fesseln und abscheuliche Gewohnheiten ihn binden, ärger als ein Tier werden.“581
Die Theodizee-Problematik beantwortend legt Herder dar, dass die Vollkommenheit der Schöpfung besonders in Bezug auf den Menschen nicht prädeterminiert ist, sondern dem Menschen
zur Aufgabe gegeben ist. Vollkommenheit ist der menschlichen Existenz nicht präexistent, sondern entfaltet sich in der Existenz des Menschen. Das Charakteristikum des Menschen ist demnach die ihm gegebene Vollzugsmöglichkeit der Vollkommenheit in der freiheitlichen Bildung
des geschichtlichen Menschengeschlechts. Dadurch wird die Vollkommenheit als Aspekt der
Schöpfung hervorgehoben und die Unzulänglichkeit als Aspekt der Geschichte und des
menschlichen Handelns thematisiert.
Wie Makoto darlegt, ist ein entscheidender Gedanke, der sich in Herders Begriff entwickelt,
die Humanität:
„[...] keine abstrakte Idee, kein normativer Terminus ist, sondern Humanität ihren Sitz im realen
Leben hat. Sie ist geschichtlich verfasst, in der konkreten Lebensweise des Menschen und zu
jeder Zeit und an jedem Ort.“582
Durch Herders geschichtliche Konkretion des Problems der Menschwerdung als Bildung der
Humanität, der Bildung der in den Menschen gelegten „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“583 als Bestimmung des
580
Vgl. Hamada 2001, S. 171.
581
Herder WE 1989, Bd. 6, S. 145f.
582
Hamada 2001, S. 170.
583
Herder zitiert nach Löchte 2005, S. 48.
163
Menschengeschlechts findet eine Vorbereitung einer Pädagogik als formale Wissenschaft584 zur
Umsetzung der aus der spekulativen Anthropologie ermittelten Normen der Humanität statt.
Trotz der von Rousseau übernommenen Fragemuster und Begriffe zeigt sich darin eine deutliche Abkehr von seinem sensualistischen, spekulativen Materialismus, die den Weg für die idealistische Spekulation vorbereitet.
Insgesamt zeigt sich durch den Rekurs auf die Wirkung der Schriften Rousseaus im deutschen
Sprachraum, wie sich durch eine spezifische „Über-Setzung“ der Gedanken Rousseaus ein spekulativer Denkraum entfaltet, in dem sich die Bedingungen der gesellschaftlichen und akademischen Institutionalisierung der Pädagogik entwickeln. Obwohl das spekulative Verfahren als
Fragemuster die Grundlage dieses Denkraumes bildet, so ergibt sich durch die andere Auffassung seiner Grundbegriffe eine kontinuierliche Verschiebung von Deutungs- und Sinnmustern.
Diese kontinuierliche Verschiebung, wie sie an der Entwicklung des Begriffs der Bildung deutlich wird, ist vor allem durch eine von der Leibniz- und Wolffischen Auffassung der Rationalität der Schöpfung motivierte Ausdeutung der Grundbegriffe Rousseaus eingeleitet und gelenkt. Da dieses in einer für die jeweiligen Ansätze spezifischen Form stattfindet, lässt sich
darüber keine weitere Aussage treffen als die Bemerkung, dass durch den Motivationszusammenhang eine Einbettung des rousseauschen spekulativen Fragemusters in einem metaphysischen und dogmatischen Zusammenhang stattfindet.
Gleichzeitig jedoch liegt darin keine „Aufhebung“ der Sprengkraft der Ansätze Rousseaus, sondern sie tragen zu einer Transformation und Naturauffassung bisher bekannter Perspektiven
und Antwortregister bei. Vor allem ist es Rousseaus Einfluss, unter dem sich der aufgeklärte
Rationalismus etwa bei Lessing zu einem „historischen Pantheismus“585 entwickelt und so das
Verständnis der Bildung als eine geschichtliche Aufgabe vorbereitet. In entscheidender Weise
wird so die Frage nach der Vervollkommnung der Schöpfung und einer Umsetzung der sittlichen Vernunft in der Schöpfung zu einer sozialpolitischen Aufgabe. Vor dem Hintergrund von
Marquards Essay586 lässt sich verstehen, dass die durch das Werk Rousseaus in Aussicht gestellten (begrifflichen) Mittel die vom Lissabonner Erdbeben ausgelöste Krise des Optimismus
im deutschen Sprachraum haben überwinden lassen durch das Leitmotiv einer geschichtsphilosophischen Transformation der Problematik der Theodizee. Diese zeigt sich in besonderer
584
Formal ist diese Wissenschaft deshalb, da man – wie bei Mendelssohn deutlich wurde – nur in Hinblick auf die formale
Bestimmung des Menschen einen juristischen und politischen Geltungsanspruch von Normen und Gesetzen rechtfertigen
kann.
585
Vgl. Irrlitz 2010, S. 35.
586
Marquard 2008, S. 205–215.
164
Weise am Begriff der Bildung, der die Wendung der perfectio-Thematik und der ontotheologischen Problematik zu einer sozialgeschichtlichen Thematik und geschichtsphilosophischen
Problematik markiert. (Ob dadurch allerdings das Problem der Theodizee eine endgültige Lösung erfährt, bleibt fraglich.)
Die Kritik und Abkehr von Rousseau an der Lebensführung des Einzelnen orientierten Gedanken, führt dazu Erziehung nicht nur in Zusammenhang mit einer gelungenen Lebensführung
und Selbstwerdung zu thematisieren, sondern als Mittel zur Menschwerdung und Bildung der
Menschheit überhaupt in den Ausblick zu bringen. Die sich darin abzeichnende geschichtsphilosophische Verknüpfung von individuellem Vernunftgebrauch in praktischer als auch theoretischer Hinsicht und der Entwicklung einer kollektiven Vernunft und Sittlichkeit bzw. einer
sich im Kollektiv ausbildenden Vernunft und Sittlichkeit markiert den Punkt einer Abkehr eines
metaphysischen Determinismus als Modell zur Konzeptualisierung der Gesellschaftsentwicklung und zugleich den Keim zur Entwicklung neuer Modelle des Politischen und des politischen
Utopismus.
Durch die „Über-Setzung“ des spekulativen und zugleich im Verfahren tendenziell anarchischen Naturbegriffs Rousseaus am Leitfaden der Ontotheologie erhält dieser eine Grundlegung,
die zu einem sozialpolitischen Optimismus hinsichtlich einer gesellschaftsgeschichtlichen,
menschheitsgeschichtlichen Entfaltungsmöglichkeit der in dem Menschen gelegten Ordnung
führt. In diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass sich durch die spezifische Grundlegung des Naturbegriffs Rousseaus auch eine politische Akzeptanz einstellen kann, da er die –
in Teilen durch christliche Dogmen gerechtfertigte – politische Ordnung im Wesen nicht in
Frage stellt. Zugleich erscheint so die Ausbildung der individuellen Vernunft nicht als Gefahr
für eine politische Ordnung, sondern als Mittel zur Entwicklung der politischen Ordnung aus
dem Wesen des menschlichen Geschöpfs. Der kritische Vernunftgebrauch und die Ausbildung
einer kritischen Urteilskraft kann so nur im Sinne die Assimilierung des Begriff einer natürlichen Teleologie und der Vorstellung einer dadurch antizipierten und realisierbaren (politischen)
Ordnung konzipiert werden. Zwar finden sich in Rousseaus Werk, etwa im Contrat Social, dazu
Ansätze, jedoch wird allererst durch die spezifische „Über-Setzung“ seiner Gedanken in den
deutschen Sprachraum die Möglichkeit einer systematischen Wahrnehmung und Entfaltung
dieser Aspekte entwickelt. Dadurch erhält die spekulative Bewegung Rousseaus eine hermetische Systematik, die ihr in Hinblick auf die Verschiedenheit werkimmanenter Ansätze nur
schwer zugestanden werden kann.
Fassen wird kurz zusammen: Wie gezeigt worden ist, ist die gouvernementale Urteilskraft von
der soziografischen Einbildungskraft im Rahmen der Entstehung des politischen Ökonomismus
165
bestimmt. Die Geltung gouvernementaler politischer Urteilskraft konstituiert sich durch die Soziografie und steht in Zusammenhang mit ihrer Entwicklung. Als Lösung der Problematik des
Regierens liegt ihr Hauptanliegen in der Sicherung der politischen Ordnung und der Entwicklung der Staatsökonomie. Das Kriterium vernünftiger politischer Entscheidung wird im Laufe
des 18. Jahrhunderts zunehmend am Leitbild der mathematisch-statistischen Vernunft angesetzt, wie sie sich innerhalb der Naturwissenschaft entfaltet. Die Erziehung der Bürger findet
ihre Prinzipien in Zusammenhang mit der soziografisch bestimmten Gouvernementalität. Im
französischen Sprachraum finden sich im späten 18. Jahrhundert Ansätze, die, eingenommen
vom Erfolg der Naturwissenschaften und der damit verbundenen Möglichkeit einer undogmatisch-aufgeklärten Urteilskraft und -fähigkeit, vermeinen, die moralische Entwicklung der
Möglichkeit nach durch eine Statistik zu kontrollieren und zu verwalten.
Es ist vor allem Rousseaus Werk, welches für die Erkenntnis der damit einhergehenden Gefahr
des Totalitarismus einsteht und vor dem Hintergrund der Einsicht in die Differenz zwischen
ökonomisch-strategischer, technokratischer Rationalität und ästhetischer und ethischer Vernunft durch den spekulativen Leitfaden der Natur versucht, die Freiräume und die politischen
Mittel zur Schaffung und Erhaltung dieser Freiräume des Individuums zu formulieren. Sein
spekulatives Verfahren zielt so auf eine anthropologische und ethische (sentimentalische)
Grunderfahrung, die als Imperativ die Gestaltung des Politischen fungieren soll. Die Erziehung
zur Selbstständigkeit und die Achtung der eigenartigen Natur des Menschen werden hierbei als
Mittel zur Konstitution und Geltung einer unabhängigen politischen Urteilskraft in Rousseaus
Emile entwickelt.
Wie wir gesehen haben, findet auch in Deutschland eine, wenn auch eigene, emphatische Aufnahme der rousseauschen Gedanken, darunter besonders des spekulativen Verfahrens Rousseaus statt. Der sich in Rousseaus Werk formulierende Individualismus ist vor allem als Impuls
in Zusammenhang mit der Ausbildung des Leitbegriffs und Models modernen Bürgertums587
zu verstehen. Obwohl Rousseau im Gesellschaftsvertrag die Bedingungen eines selbstbestimm-
587
Wir orientieren uns hier an dem Begriff des Bürgertums als Modellbegriff, wie ihn Kocka definiert:
„‚Bürgerliche Gesellschaft‘ meinte ein Modell wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ordnung, die in Überwindung von
Absolutismus, geburtsständischen Privilegien und klerikaler Gängelung das Prinzip rechtlich geregelter individueller Freiheit für alle realisiert, das Zusammenleben der Menschen nach Maßgabe der Vernunft gewährleistet, die Ökonomie auf der
Grundlage rechtlich geregelter Konkurrenz marktförmig organisiert, die Lebenschancen nach Maßgabe von Leistungen
und Verdienst verteilt, die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates einerseits begrenzt und
andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsvorgänge an den Willen mündiger Bürger zurückbindet und
den Bereich von Kunst, Wissenschaft und Religion nicht nur im Sinne der oben umschriebenen bürgerlichen Kultur strukturiert, sondern diesem Bereich zugleich ein hohes Maß von Selbstbestimmung (Autonomie) gewährt.“ (Kocka, 1995, S.
23)
166
ten Bürgertums formuliert, wird u. a. vor dem Hintergrund seiner Dichotomie „natürliche Freiheit“ und „bürgerliche Freiheit“588 und trotz der im Werk durchaus unterschiedlichen Einschätzung natürlicher Moralität deutlich, dass das Ideal der „natürlichen Freiheit“, des autonomen
Subjekts bei Rousseau vorrangig bleibt. So bleibt Rousseaus Werk durch einen Antagonismus
zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit bestimmt.
Der aus der Identifizierung des Subjekts und der Wahrheit hervorgehende, bis hin zur sprichwörtlichen Asozialität radikalisierte Individualismus Rousseaus, der vor allem im Spätwerk
kenntlich wird,589 steht dem Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft entgegen. Vor allem bleibt
die Frage bestehen, wie die Natur des Menschen als konstitutives Moment vernünftiger bürgerlicher Ordnung und Sittlichkeit bedacht werden kann, trotz des Versuchs der Synthese beider
Dimensionen der menschlichen Lebensführung durch die Erziehung im Emile. Kant erkannte
diese Frage und bemerkt kritisch, dass vor allem die das rousseausche Werk durchziehenden
Dichotomien als „extreme“ Problematik für dieses Vorhaben verstanden werden müssen.
„Ganze Absicht des Rousseau: den Menschen durch Kunst dahin zu bringen, daß er alle Vortheile der cultur mit allen Vorteilen des Naturzustandes vereinigen könne. Rousseau will nicht,
daß man in den Naturzustand zurück gehen, sondern dahin zurück sehen soll; Vereinigung der
extreme.“590
Wie dargelegt, wird u. a. durch Lessing, Mendelssohn und auch Herder eine Fluchtlinie zur
Lösung dieser Problematik durch eine andere Auffassung der „perfectibilité“ durch den Leitbegriff der Bildung entfaltet. Durch den Leitbegriff der Bildung wird die Einsicht vorgebracht,
dass nur im Rahmen einer natürlichen Teleologie und Theologie die Potenziale natürlicher Sittlichkeit und Solidarität innerhalb des Modernisierungsprozesses, vor allem entgegen ökonomisch-strategischer und technokratischer Rationalität zur Geltung gebracht werden können.
Das Entstehen des Bildungsbegriffs und die damit verbundene Forderung einer bürgerlichen
Freiheit, d. h. einer von der staatlichen Rationalität autonome Bestimmung der gesellschaftlichen Lebensgestaltung aus natürlichen Vernunftgründen, konstituiert einen Gegenpol zur gouvernementalen Gründung des Politischen. Vor allem ist es die spekulative Anthropologie und
588
Vgl. Rousseau 2013, S. 23.
589
So eröffnet Rousseau seine Träumereien eines einsamen Spaziergängers mit der tragischen Feststellung:
„So bin ich nun allein auf dieser Welt, haben keinen Bruder mehr, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft außer
mir selber.[...] Ich aber, losgerissen von ihnen und von der ganzen Welt: was bin ich selbst? Das bleibt mir noch zu ergründen.“ (Rousseau 2003, S. 7)
590
Kant zitiert nach Irrlitz 2010, S. 34.
167
Methode, die Rousseau als Verfahren der Grundlegung und der Bestimmung der Geltung politischer Urteilskraft ausweist.
Der aus der „Über-Setzung“ des Werkes Rousseaus gewonnene Begriff der Bildung zur Humanität mittels der Ausbildung einer politisch-autonomen Vernunft und kritischen praktischen und
politischen Urteilskraft reformuliert die Forderung einer bürgerlichen Freiheit zu einer geschichtlichen und gesamtgesellschaftlichen, sogar menschheitsgeschichtlichen Aufgabe. Begünstigt durch die historischen Umstände wird diese „Über-Setzung“ und Verschiebung der
rousseauschen Frage, wie der Mensch selbstbestimmt durch seine natürlichen Fähigkeiten und
Bedürfnisse frei sein kann trotz seiner historisch evolvierten gesellschaftlichen Eingebundenheit und Abhängigkeit, im deutschen Sprachraum als gesellschaftlich und politisch relevante
und akzeptierte Aufgabe verstanden.
Vor allem wird durch die in der „Über-Setzung“ idealistische Spezifikation des Naturbegriffs
der Idee vorgebeugt, dass es sich um eine Gefahr für die politische Ordnung handele. Denn
wenn die politische Ordnung gewissermaßen als natürlicher Telos im Menschen verstanden
wird, welches in der Erziehung des Selbstdenkens, der Bildung, notwendigerweise erkannt werden muss, so ist die autonome Vernunft keine der politischen Ordnung entgegengestellte. Die
anthropologische und ethische Grunderfahrung Rousseaus findet dadurch eine Auffassung bzw.
Wendung, die einer potenziellen grundsätzlichen Kritik und Subversion der politischen Ordnung vorbeugt. Das bedeutet zugleich, dass die Selbstgesetzlichkeit der Vernunft nur als Konstitutions- und Legitimationsmoment des Staates, der Gesellschaft verstanden werden kann,
wenn ihr eine von den materiellen, praktischen und empirischen Bestimmungsgründen unabhängige Geltung zugesprochen wird.
2. Bildung zur Mündigkeit: Über Funktion und Bedeutung der Kantischen Philosophie für die politische Geltung des Bildungsbegriffs und
die Institutionalisierung der Pädagogik
Die in verschiedenen Konstellationen durch „private Anstalten“ in Beziehungen der Freundschaft und Patronage entwickelten Ideen nach Mündigkeit, Bildung/Vervollkommnung, vernunftgeleiteter Selbstbestimmung, Liberalismus und Autonomie gegenüber staatlichen und
kirchlichen Autoritäten werden in Zusammenhang mit dem Aufstieg des Bürgertums, d. h. der
materiellen Unabhängigkeit des Bürgertums und dem weiteren Abbau des Ständeunterschieds
168
und der damit verbundenen politischen Schranken,591 zu einem politischen Gemeinwillen und
Anspruch. Die institutionelle Umsetzung einer derartigen Forderung ist jedoch der Notwendigkeit der Konkretion und Systematisierung ausgesetzt, die durch dialogische und polylogene oder diskursive Genetik des Bildungsbegriffs nicht unmittelbar gegeben war. Von daher wird
deutlich, dass die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen nicht-institutionellen,
außerakademischen Konstellationen entwickelten Ideen und verschiedenen Ansätze einer akademischen Systematisierung bedurften. Oder anders: Durch die akademische Systematisierung
erhielten die diffusen diskursiven Motive eine Konkretion, die zu ihrer öffentlichen und staatlichen Akkreditierung beitrug. Die akademische, formelle Systematisierung jener Motive und
damit zusammenhängende gesellschafts- und kulturpolitische Forderungen sind demnach als
Bedingung der Anerkennung der Geltung jener Motive zu verstehen – besonders im Rahmen
und in der Wirklichkeit der Gouvernementalität. Dabei liegt in der Akkreditierung und Institutionalisierung nicht nur die Eingliederung der Forderungen in das allgemeine Staatswesen bzw.
die Staatsraison, sondern auch eine Zergliederung des Geltungsmonopols staatlicher und kirchlicher Autorität.
Obwohl eine Bedingungsmöglichkeit in der Entwicklung der Motive zur Etablierung eines Bestimmungsrahmens des Geltungsbereiches politischer Urteilskraft und die Forderung der bildungspolitischen Umsetzung in der Pädagogik eine ideale Grundlage bilden, so bedarf es jedoch des akademischen Geschicks, diese Forderungen vor dem Hintergrund der im 18. Jahrhundert erfolgenden staatlichen und kirchlichen Zensur, institutionell zu realisieren. Dies vor
allem, da mit den nach der Bildung zur Mündigkeit zusammenhängenden sokratischen Motiven, wie Lessing sie durch Rousseau als vertreten sah,592 eine potenzielle Gefahr für die staatliche Kontrolle über die Geltung politischer Urteile einhergeht. Besonders ist es auch die durch
Rousseau entdeckte Geltung vermeintlich irrationaler, ästhetischer Dimensionen des Menschen, wie die des Gefühls und die Entdeckung der Geltung der individuellen Empfindsamkeit
als Ausgangspunkt und Leitfaden politischer Spekulation, die als Gefahr für die politische Ordnung verstanden werden musste und wurde – wie die Zensur von Rousseaus Schriften darlegt.
(Anders gewendet zeigt sich, dass die Legitimation der Staatsraison durch wissenschaftliche,
mathematische Verfahren, wie die Soziografie, gerade dadurch motiviert ist, sich selbst in der
Rationalität auszuweisen und gegen die vermeidlichen Irrationalismen des Gefühls und des Be-
591
Vgl. Reble 1989, S. 174.
592
Vgl. Kronauer 1995, S. 26 f.
169
gehrens abzugrenzen. Gerade aber die Notwendigkeit der Abgrenzung legt eine irrationale Dimension des Politischen nahe, die man angesichts der politischen Geschichte nicht absprechen
kann.)
Für die Institutionalisierung der Bildung und der kultur- und gesellschaftspolitischen Aufgabe
der harmonischen Bildung der Anlagen des Menschen zu seiner vernunftgeleiteten Mündigkeit
stellt nicht nur die dialogische und polyloge oder diskursive Genetik des Bildungsbegriffs eine
Problematik dar, sondern zugleich die Tatsache, dass sie einer neuen wissenschaftlichen Begründung bedurfte. Denn weder stellt sich durch den sensualistischen und spekulativen Materialismus eine Grundlage, wie in der deutschen Rezeption deutlich erkannt sei, noch der historische Pantheismus bzw. spekulativen Idealismus der „Über-Setzer“ eine in ihrer Geltung unabhängige Lösung für die Frage der geschichtlicher eine kultur-und gesellschaftspolitischen
Vollzugsmöglichkeit der natürlichen Moralität ein. Im ersten Fall so, auf Grund der Problematik der Normbegründung aus dem empirischen Naturzustand. Im zweiten Fall so, weil in dem
Pantheismus bzw. spekulativen Idealismus ein zu großes Konfliktpotenzial mit kirchlichen Institutionen liegt. (Beispiele hierfür sind die Zensur von Lessings Schriften als auch der Pantheismusstreit.) So bieten beide Positionen eine nur unzureichende Lösung der Problematik politischer und sittlicher Ordnung, die, bedingt durch ihre Lösungsansätze, nicht mit der Präzision
und Klarheit naturwissenschaftlicher Mittel konkurrieren kann.
Die institutionelle Akkreditierung hinsichtlich des Problems der systematischen Aufnahme der
Motive (somit der Entsprechung der „Bedürfnisse deutscher Intelligenz“593) und auch hinsichtlich der Problematik einer unabhängigen (nicht-dogmatischen) Wissenschaftlichkeit (somit der
Entsprechung des Maßstabes staatlicher, technokratischer Rationalität) findet in der akademischen Philosophie Kants einen synthetischen Lösungsansatz. Trotz der verschiedenen reformpädagogischen Ansätze, etwa der Philantropen, Pestalozzis etc., findet eine wissenschaftliche
Akkreditierung und Systematisierung der Bildungsidee und der damit zusammenhängenden
Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft eine allgemeine und öffentliche Geltung durch Kant.
Das ist nicht nur Kants akademischem Geschick und seinem Feingefühl gegenüber aktuellen
Fragestellungen zu verdanken, sondern vor allem der Tatsache, dass er durch sein kritisches
Werk eine grundlegend neue Bestimmung der Geltungsbedingungen theoretischer als auch
593
Vgl. Nieser 1992, S. 29.
170
praktischer Urteile schafft. Durch Kant wird die Alternative zwischen „aufgeklärtem Rationalismus“ und „sensualistischen Oppositionsversuchen“594 als Begründungsrahmen des Geltungsanspruchs einer von der Staatsraison unabhängigen politischen Urteilskraft und ihrer Ausbildung gewissermaßen überwunden. Damit erhält auch die Bildung im Hinblick auf eine Pädagogik erstmals einen völlig neuen Begründungszusammenhang. Im Gegensatz zu den großen
pädagogischen Entwürfen neuzeitlichen Erziehungsdenkens klärt Kant die damit zusammenhängenden, aber ungelösten Fragen der Bestimmung des Ortes der Pädagogik im ganzen System menschlicher Tätigkeit, der Geltung der Erkenntnismethode und Prinzipien des Systems
als auch des Verhältnisses der Pädagogik zu den anderen Wissenschaften.595
2.1 Kants Rezeption der Bildungsfrage Rousseaus
1776, in demselben Jahr in dem Kant im Auftrag des Ministeriums Pädagogik lehrt, findet sich
in seinem Aufsätze, das Philatrophin betreffend eine Äußerung, die Kants Auffassung über die
Ziele der Pädagogik deutlich erkennen lässt. Das 1774 eingerichtete Philanthropinum in Dessau
exemplifiziert Kant in dem Text als eine beispielhafte Bildungsanstalt. Er ist insofern interessant, da er nicht nur einer bestimmten theoretischen Konzeption der Erziehung zustimmt, sondern Partei ergreift für ein sozialpolitisches Projekt, dem er revolutionären Charakter zuschreibt. Bedenkt man, dass Kant den Aufsatz im Jahr seiner ersten Pädagogikvorlesung niederschrieb, wird klar, dass Kant seine Pädagogikvorlesung in den Dienst der philanthropischen
Ideen stellt. Eine Annahme, die dadurch bestätigt wird, dass Kant Basedows Bücher in die
Konzeption der Vorlesung miteinbezog. (Dies besonders vor allem dort, wo Basedow sich als
Rezipient Rousseaus zeigt.) Seinen Beifall bekundend schreibt Kant im Aufsatz:
„Jedem gemeinen Wesen, jedem einzelnen Weltbürger ist unendlich daran gelegen, eine Anstalt
kennen zu lernen, wodurch eine ganz neue Ordnung menschlicher Dinge anhebt [...], und die,
wenn sie schnell ausgebreitet wird, eine so große und so weit hinausgehende Reform im Privatleben sowohl, als im bürgerlichen Wesen hervorbringen muß, als man sich bei flüchtigen
Bild nicht leicht vorstellen möchte.“596
594
Vgl. Nieser 1992, S. 29.
595
Vgl. Sünkel 1964, S. 10.
596
Kant AA 1968, Bd. II, S. 447 f.
171
Kant nimmt die Einrichtung des Philanthropinums, einer ursprünglich zur Ausbildung für Pädagogen gedachten Institution, enthusiastisch auf, macht darüber hinaus deutlich, dass eine
durch die Pädagogik neu konzipierte Erziehung insgesamt zu einer „neuen Ordnung menschlicher Dinge“, d. h. zur sittlichen Ordnung im „Privatleben“ als auch im „bürgerlichen Wesen“
befähigt wäre. Dieses „weltbürgerliche“ Anliegen könnten bisherige Erziehungsanstalten nicht
leisten:
„Es fehlt in den gesitteten Ländern von Europa nicht an Erziehungsanstalten und an wohlgemeintem Fleiße der Lehrer, jedermann in diesem Stücke zu Diensten zu sein, und gleichwohl
ist es jetzt einleuchtend bewiesen, daß sie insgesamt im ersten Zuschnitt verdorben sind, daß
weil alles darin der Natur entgegen arbeitet, durch bei weiten nicht das Gute aus dem Menschen
gebracht werden, wozu die Natur die Anlage gegeben, und daß weil wir thiereische Geschöpfe
nur durch die Ausbildung zu Menschen gemacht werden, wir in kurzem ganz andere Menschen
um uns sehen würden, wenn diejenige Erziehungsmetode allgemein in Schwung käme, die
weislich aus der Natur selbst gezogen und nicht von der alten Gewohnheit vorher und unerfahrener Zeitalter sklavisch nachgeahmt worden.“597
Wie deutlich wird, ist Kant der Ansicht, dass bisherige Erziehungsanstalten nicht die Ausbildung der natürlichen Anlagen des Menschen fördern, sondern diese gerade verhindern. Dadurch
binden sie den Menschen in ein seiner Natur nach fremdes Zwecksystem ein und schulen ihn
der alten Gewohnheit nach. Darin zeichnet sich die Erkenntnis ab, dass Erziehungsanstalten
normbegründende und -legitimierende Funktion haben und somit Institutionen der Konventionen und Gewohnheiten sind. Daher kann das alte Erziehungswesen, können die alten Erziehungsanstalten nicht durch sich selbst, d. h. durch „langsame Reform“ verändert werden, sondern bedürfen einer grundsätzlichen und „schnellen Revolution“.598 Notwendig für den Bruch
mit dem durch die Erziehungsanstalten aufrechterhaltenen Normsystem ist eine
„Schule, die nach der ächten Methode von Grunde aus neu angeordnet, von aufgeklärten Männern nicht mit lohnsüchtigen, sondern edelmüthigen Eifer bearbeitet und während ihrem Fortschritte zur Vollkommenheit von dem aufmerksamen Auge der Kenner in allen Ländern beobachtet und beurteilt würde [...].“599
Zwar nur implizit, aber deutlich drückt Kant aus, dass es zu einer Vervollkommnung des Menschen und des gemeinen Wesens, der Ordnung der menschlichen, d. h. sittlichen Dinge eine
Konzeption der Erziehung, einen Entwurf des Leitbegriffs der Erziehung bedarf, die keiner
597
Kant AA, 1968, Bd. II, S. 449.
598
Vgl. Kant AA 1968, Bd. II, S. 449.
599
Kant AA 1968, Bd. II, S. 449.
172
„lohnsüchtigen“, „aufgeklärter“ Männer bedürfe. Entscheidend ist daher ein anderer Rechtsgrund zur Normbegründung, der es erlaubt, die Prinzipien der Erziehung anders als durch konventionelle Normen zu begründen. Nur im Freiraum und im kritischen Verhältnis zu konventionellen Normen ist demnach eine Erziehung als Bildung und Vervollkommnung des sittlichen
Menschen aus seinen natürlichen Anlagen, im Sinne seiner natürlichen Vorsehung denkbar.
Die in den Aufsätzen ausgedrückte enthusiastische Zustimmung des Philanthropismus und dem
damit verbundenen „Perfektibilitätsprogramm“ in praktischer Hinsicht muss als Folge von
Kants Auseinandersetzung mit Rousseau in den 1760er Jahren verstanden werden. Schließlich
stellt der Philanthropismus selbst einen Versuch der institutionellen Umsetzung des rousseauschen Gedankens zur Erziehung dar.600 Kants Interesse an Fragen zur Erziehung, den damit
zusammenhängenden pädagogischen Problemen und der Möglichkeit der sozialpolitischen
Umsetzung des „Perfektibilitäts- bzw- Bildungsprogramms“ sind in den Bemerkungen zu den
um 1764 entstandenen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen überliefert.
Obwohl Kant Rousseau keine Monografie gewidmet hat, werden in den Bemerkungen, die zudem einen den Beobachtungen gegenüber eigenständigen Charakter besitzen, besonders deutlich, wie Kant Rousseaus Denken aufnimmt.601
„Die Erziehung Rousseaus ist das einzige Mittel dem Flor der bürgerlichen Gesellschaft wieder
aufzuhelfen. Denn da die Üppigkeit immer mehr zunimmt wodurch die Noth der Unterdrückung und der Verachtung der Stände und die Kriege entspringen so können die Gesetzte dawieder nichts ausrichten wie in Schweden. Dadurch werden auch alle Regierungen ordentlicher
und die Kriege seltener. Es sollten Censoren gesetzt werden Aber wo werden die Ersten herkommen. Schweitz eintzige Land. Rusland.“602
Mit aller Deutlichkeit tritt hier zutage, dass Kant die Erziehung als grundlegendes Mittel zur
Erhaltung und Durchsetzung der (kosmo-)politischen, sittlichen Ordnung und zum Frieden zwischen den Menschen durch die Lektüre Rousseaus vor Augen tritt. Unverkennbar zeigt sich
zudem, dass Erziehung als ein Instrument zur Konstitution einer bürgerlichen bzw. einer vom
Bürger bestimmten Gesellschaft in den Blick kommt.
600
Vgl. Backes-Haase 1996, S. 226–244.
601
Rischmüller Einschätzung der Bemerkungen als „Nebengedanken“ in ihrer Abgrenzung zu den Hauptgedanken und der
damit einhergehenden Implikation des „Nebensächlichen“ und Hervorhebung ihres assoziativen Charakters ist fragwürdig
(vgl. Rischmüller in: Kant 1991, S. XI). Denn die Abgrenzung der Haupt- und der Nebengedanken setzt nicht nur ein Urteil
bezüglich der Werkeinteilung, sondern auch eine historische Rezeption, in der diese Einteilung entwickelt wurde, voraus.
Diese Voraussetzungen scheinen jedoch einem Werksprozess gegenüber prinzipiell als fremd. „Hauptgedanken“ und „Nebengedanken“ scheinen darin vielmehr einen, wenn auch nicht inhaltlichen, sondern zumindest einen strukturellen Bezug
zueinander zu besitzen. Vielmehr zeigen die Bemerkungen zeigen, wie sich aus der Resonanz des Eigenen und Anderen
die Dynamik des Werks konstituiert und so das resonative Zwischen, aus dem sich Dynamik des Werks entfaltet. Die
Einteilung von Neben- und Hauptgedanken ist demnach nicht der Sache entsprechen.
602
Kant 1991, S. 129.
173
Es kommt im Zitat zum Ausdruck, dass Kant das Bürgertum als einen der „Regierung“ gegenüber unabhängigen Stand charakterisiert, durch den die „Regierungen ordentlicher und die
Kriege seltener“ werden können. Kant wirft in der Bemerkung die Frage der Bildung eines
Bürgertums auf und erklärt nicht nur die Erziehung als wesentliches Mittel, sondern macht
deutlich, dass neue Prinzipien der Erziehung gefunden werden müssen. Denn zum einen weist
er im Zitat oben aus, dass „Censoren“, d. h. gesetzliche, staatliche, dem Menschen äußere Maßnahmen Immoralitäten und sittlicher Dekadenz keine Schranken setzen können. Gleichzeitig
aber hält Kant zugleich die „frommen“, sich in kirchlichen Institutionen vollziehenden Erziehungsmaßnahmen als Maßnahmen zur Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung durch die
Alteration des („inneren“) Dispositionsgefüges für unnütz, da dadurch zwar ein „emsiger Müßiggang bewirkt wird“, die „thätige Empfindsamkeit“ und eine freie Urteilskraft jedoch nicht
hergestellt werden würde. Dieses wird besonders zum Schluss der Beobachtungen deutlich:
„Die Klostergelübde machten aus einem großen Theil nutzbarer Menschen zahlreiche Gesellschaften emsiger Müßiggänger, deren grüblerische Lebensart sie geschickt machte, tausend
Schulfratzen auszuhecken, welche von da in größere Welt ausgingen und ihre Art verbreiteten.
Endlich nachdem das menschliche Genie von einer fast gänzlichen Zerstörung sich durch eine
Art von Palingenesie glücklich wiederum erhoben hat, so sehen wir in unsern Tagen den richtigen Geschmack des Schönen und Edlen sowohl in den Künsten und Wissenschaften als in
Ansehung des Sittlichen aufblühen, und es ist nichts mehr zu wünschen, als daß der falsche
Schimmer, der so leicht täuscht, uns nicht unvermerkt von der edeln Einfalt entferne, vornehmlich aber, daß das noch unentdeckte Geheimnis der Erziehung dem alten Wahne entrissen
werde, um das sittliche Gefühl frühzeitig in den Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer
thätigen Empfindung zu erhöhen, damit nicht alle Feinigkeit blos auf das flüchtige und müßige
Vergnügen hinauslaufe, dasjenige, was außer uns vorgeht, mit mehr oder weniger Geschmacke
zu beurtheilen.“603
Es sind weder didaktische noch organisatorische Fragen und Probleme, die Kant zu seiner Kritik der Erziehungsanstalten verleitet, sondern die dadurch verfolgten Zwecke. Kirchliche und
staatliche Erziehungsanstalten förderten vor allem die Hörigkeit und Nutzbarkeit des Menschen
und erzögen ihn nicht zu einem „thätig“ empfindenden Weltbürger, sondern zu einem kontemplierenden und frommen oder müßiggängerischen und gesetzestreuen Menschen. In beiden Fällen diene die Erziehung nicht dem Menschen, sondern stehe im Zeichen und Dienste des „alten
Wahns“. Dadurch wird jedoch der Bestand der alten Institutionen, Sitten, Rechte und Anstalten
gesichert, nicht aber der Mensch zu seiner Freiheit erzogen und zu seiner Vervollkommnung
gebracht. Erst wenn das „Geheimnis der Erziehung“ – Kant macht die Entdeckung der Erziehung als konstitutiven Faktor der gesellschaftlichen Ordnung kenntlich – dem „alten Wahn“
603
Kant AA 1968, Bd. II, S. 256.
174
entrissen ist, scheint eine bürgerliche Ordnung der Gesellschaft in den Blick gelangen zu können.
Erziehung, wie Kant hier deutlich macht, dient der Erziehung des „Weltbürgers“ bzw. des Kosmopoliten. Dieser ist in seinem Urteil nicht dem „alten Wahn“ hörig, sondern bestimmt seine
Zwecke durch seine Orientierung an der allgemeinen „Menschenvernunft“, wie es später heißen
wird.604 Das heißt, dass der Bürger mündig und das Bürgertum selbstbestimmt nur dann sein
kann, wenn es sich in seinem Urteil und in seiner Willensbestimmung weltbürgerlich, d. h.
jenseits des Standpunkts des Patriotismus und Provinzialismus, orientiert. Auch wenn dies nicht
in aller Weise explizit wird, so scheint Kants frühe Vorstellung eines öffentlichen Gemeinwesens durch Rousseaus Begriff einer republikanischen Volkssouveränität beeinflusst zu sein.
Dieses wird vor allem darin deutlich, dass Kant die Erziehung als Mittel zur Konstitution eines
(welt-)bürgerlichen Gemeinwesens und einer politischen Ordnung verstanden wissen will.
Schließlich ist es auch der Einfluss der kulturkritischen Gedanken Rousseaus, die Kant die Feder bei der Formulierung der Bedingungen dieser Gesellschaft führen: die organisierte Erziehung zum Weltbürger in Unabhängigkeit vom „alten Wahn“. Es ist interessant, dass Kant die
gesellschaftlichen Meinungen und Normen als „Wahn“ bezeichnet, da damit die Einsicht in die
Dringlichkeit kulturellen Wandels zu Tage tritt. Den immer wieder auftauchenden Begriff charakterisiert er in den Bemerkungen vor allem durch die durch die Meinung und nicht durch die
Sache selbst beeinflusste und somit unfreie Urteilsbildung.
„Ein Gut des Wahnes besteht darin daß die Meinung nur allein gesucht die Sache selbst aber
entweder mit Gleichgültigkeit angesehen oder gar gehasset wird.“605
Bezogen auf die gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen legt der Begriff so eine Abweisung der gesellschaftlichen Rationalitätstypen als Geltungsbereiche einer freien Urteilsbil-
604
In der Kritik der reinen Vernunft konzeptualisiert Kant die „allgemeine Menschenvernunft“ als Mittel zur freiheitlichen
Selbstbestimmung des Bürgers. Die Hervorhebung, dass es sich dabei um eine „allgemeine“ menschliche Vernunft handelt,
zeigt jedoch an, dass Kant diese freiheitliche Selbstbestimmung nicht als eine Quelle der Unruhe und Gefahr, sondern als
allgemeines Richtmaß versteht. Das Richtmaß gegenüber dem, was „alter Wahn“ sei und was der freiheitlich-selbstbestimmten Ordnung bürgerlicher Absichten entgegensteht, ist somit das Richtmaß der allgemeinen Menschenvernunft.
„Zu dieser Freiheit gehört denn auch die, seinen Gedanken, seine Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich
zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrien zu werden. Dies liegt
schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat; und, da von dieser alle Besserung, deren unser
Zustand fähig ist, herkommen muß so ist ein solches Recht heilig, und darf nicht geschmälert werden.“ (Kant 1998, S. 796
(A 752/B 781))
Darin liegt zugleich begründet, dass die allgemeine Menschenvernunft das alleinige, transzendentale Richtmaß sein kann für
die Vervollkommnung des sittlichen Menschen.
605
Kant 1991, S. 45.
175
dung und als Vollzugsmedien des „Perfektibilitätsprogrammes“ aus. Bezogen auf die individuelle Erkenntnis polemisiert der Begriff „Wahn“, dass die in der Erziehung vollzogene Vergesellschaftung Ursache für eine Art von Denkstörung sei, die durch die Introjektion der Meinungen anderer bewirkt wird. Überspitzt ausgedrückt versteht Kant den Menschen, der sich in seinem Denken, Urteilen und Handeln an der Meinung der anderen orientiert, als „Wahnsinnigen“
oder „Besessenen“ im sprichwörtlichen Sinne. Im Rückgriff auf die beiden oben angeführten
Passagen zeigt sich, dass durch die durch den „Wahn“ verursachte Unfreiheit keine gesellschaftliche Veränderung eintreten kann. Es scheint angesichts der Bemerkung, dass „Unterwürfigkeit und Freyheit [...] gemeiniglich in gewissem Grade vermengt“ sind und “voneinander
abhängen“606 als auch in Hinblick auf spätere Arbeiten, dass die bissigen Bemerkungen als die
starke Motivation Kants durch Rousseau zu verstehen sind. So lässt die Bemerkung erkennen,
dass Kant keine grundsätzliche Kritik der Institutionen im Blick hat, sondern der Frage nach
der Denkmöglichkeit einer bürgerlich-freiheitlichen Gesellschaft nachgeht. Dies bestärkt etwa
die gegenüber Rousseaus Emile kritisch angeführt Bemerkung:
„Es ist indessen geziemend daß ein Mensch sein Leben dazu verwende um so vielen zugleich
leben zu lehren daß die Aufopferung seines eigenen dagegen nicht zu achten ist. Schulen sind
daher nötig. Damit sie aber möglich werden muß man Emile ziehen. Es wäre zu wünschen daß
Rousseau zeigete wie daraus Schulen entspringen können.“607
Deutlich zeigt sich demnach, dass Kant die Frage nach der rechten Erziehung nicht als Rückzug
in einen sentimentalen Oikos (im Sinne der Privaterziehung und der davon ausgehenden Gefahr
der Dispersion des Sozialen) versteht, sondern als Frage nach der rechten institutionellen, sozialpolitischen Umsetzung versteht. Obwohl Kant bemerkt, dass der „Maßstab der Glückseeligkeit [...] das Hauswesen“608 ist, offenbart die Bemerkung, dass Rousseau die „Üppigkeit“ versucht „aufs Land“ zu bringen,609 in diesem Zusammenhang mit einer kritischen Distanzierung
bezüglich der Verortung der Umsetzung des „Perfektibilitätsprogramms“ in der ruralen Heimlichkeit,610 jenseits urbaner Konvention. Darin zeigt sich, dass Kant eine Vermittlung der Extreme und so eine Aufhebung der strikten Dichotomie(en) Rousseaus ersucht. Dies ist nicht nur
606
Kant 1991, S. 73.
607
Kant 1991, S. 28.
608
Kant 1991, S. 99.
609
Kant 1991, S. 37.
610
In den Bemerkungen finden sich z. B. auch folgende Stellen, die eine Distanzierung Kants von der romantizistischen Idee
eines Landlebens und arkadischen Schäferlebens darlegt (vgl. Kant 1991, S. 16; S. 46).
176
grundlegend für die Idee der Pädagogik als öffentliche und allgemeine Wissenschaft, sondern
offenbar im Kern eine Ablehnung gegenüber einem radikalen Liberalismus.
Auch die Auffassung, dass Kant eine völlige Aufgabe der Meinung, ja der Konvention für sinnvoll halte, ist ebenfalls unwahrscheinlich, da er darlegt, dass die durch Meinung bewirkte „Einfalt und Gleichheit“ die „Gesellschaft“ und „Tractamente“, d. h. Lebensbedingungen, „erleichtern“ und „angenehmer machen“. Darin liegt die Einsicht, dass Meinungen die gesellschaftlichen Verhältnisse „regulieren“ können – etwa im Sinne der Konvention. Kant warnt jedoch,
dass der Menschen durch die Meinung auch zum Knecht werden kann.611 Er schreibt:
„Herrsche über den Wahn und sei ein Mann damit deine Frau dich unter allen Menschen am
höchsten schätze so sey selbst kein Knecht von der Meinung anderer.“612
Obwohl Kant den regulierenden und vergesellschafteten Charakter der Meinung versteht und
selbst die Nachahmung als Dynamik der Verbreitung des moralischen Geschmacks benennt,613
kritisiert er, dass dadurch Regulative geschafft werden, die nur „vergleichungsweise“ 614, nicht
aber frei und absolut urteilen lassen. Das heißt, dass die gesellschaftliche Norm nicht als Grund
einer freien und kritischen Urteilskraft verstanden werden kann. Dies ist besonders für die sittliche Entwicklung des Menschen problematisch.
Auch wenn Kant etwa die „Ehre“ und den „Geitz“ als Formen des Wahns erörtert,615 so scheint
ihm der „moralische Wahn“, d. h. der „Wahn“ als Leitmotiv moralischer Ideen, Urteile und
Handlungen als Hindernis der Vervollkommnung des Menschen:
„Der moralischen Wahn besteht darin daß man die Meinung von einer möglichen moralischen
Vollkommenheit vor eine solche wirklich hält.“616
Moralische Vollkommenheit kann nicht im Sinne einer Meinung verstanden werden, eine alltägliche Auffassung von Moral kann demnach nicht als Grundlegung der moralischen Vervollkommnung des Menschen dienen. Das heißt, dass der „Wahn“ selbst der Idee einer wirklichen
„moralischen Vollkommenheit“ entgegenwirkt. Denn das Meinen hat keine allgemeingültige
611
Vgl. Kant 1991, S. 45.
612
Kant 1991, S. 45.
613
Vgl. Kant 1991, S. 43.
614
„Die Gesellschaft macht daß man sich nur vergleichungsweise schätzt, Sind andere nicht besser als ich so bin ich gut und
aller schlechter so bin ich vollkommen.“ (Kant 1991, S. 73)
615
Kant 1991, S. 45.
616
Kant 1991, S. 128.
177
Grundlage, sondern entfremdet sie den Menschen von seiner naturgegebenen Sittlichkeit, welche allein im Denken in einer allgemeingültigen erschlossen werden könne.
Wie aus dem zitierten Schluss der Beobachtungen deutlich wird, ist der „Wahn“ durch die Erziehung in den Menschen angelegt und verbreitet. Bissig formuliert Kant darin seine Kritik an
der Erziehung durch christliche Institutionen, die nur „Schulfratzen“ schaffen, d. h. einen durch
die in der Erziehung erworbenen Meinungen fremdbestimmten Menschen, der seine Sitte in der
Welt verbreitet und an andere Generationen weitergibt. Es zeigt sich so insgesamt, dass die
spätere Differenzierung der „dreyfachen Unmündigkeit“ schon in den Bemerkungen angelegt
ist und sich in Zusammenhang mit der Lektüre Rousseaus entfaltet.
„Wir sind in einer dreyfachen Unmündigkeit: 1. der häuslichen als Kinder und werden so erzogen, daß als wenn wir Zeitlebens unmündig bleiben sollen, nicht selbst zu denken, sondern all anderer Urtheile Folge zu leisten, nicht selbst zu wählen, sondern nach Beyspielen
(nicht durchs Urtheil unseres eigenen Gewissens, sondern durch die Sententz der durchs Urtheil
unseres eigenen Gewissens, sondern durch die Sententz der Geistlichen verurtheilt oder losgesprochen zu werden.)
2. in einer bürgerlichen. Wir sollen werden nach Gesetzen gerichtet, die wir nicht alle kennen
können, und nach Büchern, die wir nicht verstehen würden. Unsere Freyheit und Eigenthum
ist in de unter der Wilkühr derjenigen Macht, die doch nur darum da ist, um die Freyheit zu
erhalten und sie nur durchs Gesetz einstimig zu machen. Wir sind dadurch so unmündig geworden, daß, wenn dieser Zwang auch aufhörete, wir uns doch selbst nicht regiren könten.
3. in einer frommen Unmündigkeit. Andere, welche die Sprache der heiligen Urkunden verstehen, sagen uns, was wir glauben sollen; wir selbst haben kein Urtheil. An die Stelle des natürlichen Gewissens tritt ein künstliches, welches sich nach der sententz der Gelehrten richtet. und
an die Stelle der Sitten und Tugend treten observanzen. Die Bedingung einer allgemeinen Verbesserung ist Freyheit der
Erziehung, bürgerliche Freyheit und Religionsfreyheit, aber noch sind wir ihrer nicht susceptibel.“617
Der Gedanke einer „dreyfachen Unmündigkeit“ ist schon im Ansatz in den Bemerkungen der
Sache nach formuliert, darin Kant den durch staatliche, gesellschaftliche und kirchliche Institutionen erzogenen und herangezogenen „Wahn“ als Geltungsbereich der Urteilskraft kritisiert.
Die Erkenntnis der „dreyfachen Unmündigkeit“, die sich durch die Lektüre Rousseaus bei Kant
entfaltet, ist von grundlegender Bedeutung für die Idee einer Pädagogik. Denn sie geht aus der
Idee hervor, dass eine Erziehung, deren Prinzipien in der häuslichen Ökonomie, der staatlichen
Ökonomie oder der frommen Erziehung liegen, keine modernen, kosmopolitischen Bürger heranzieht, sondern diese in der häuslichen, bürgerlichen oder frommen Unmündigkeit dem „alten
617
Kant AA 1923, S. 888 f.
178
Wahn“ unterwirft. Damit werden auch die (oben geschilderten) Geltungsbereiche für die Bildung des sittlichen Menschen zurückgewiesen.
Bemerkenswert ist, dass Kant die in den Discours entwickelte Diagnose der geschichtlichen
Entfremdung aufnimmt und auf ihre Gründe hin analysiert. Dabei zeigt sich, dass Kant nicht
nur Rousseaus Gedanken übernimmt, sondern zugleich kritisch beurteilt. Entscheidend ist, dass
Kant die Entfremdung nicht als eine geschichtliche Tatsache, sondern als erkenntnistheoretische Problematik reformuliert. Damit stellt sich die Frage, wie eine Mündigkeit des Menschen,
d. h. von der konventionellen Norm unabhängige Lebensführung, nicht nur lebenspragmatisch,
sondern auch erkenntnistheoretisch möglich ist. So räumt die erkenntnistheoretische Wendung
der Fragestellung der rousseauschen Frage nach dem Ausweg aus der Entfremdung eine allgemeinere Bedeutung und Notwendigkeit ein. Während sich bei Lessing, Mendelssohn und auch
Herder eine Universalisierung der Problematik der Denkmöglichkeit der Vervollkommnung
des Menschen vor allem im theologischen und geschichtlichen Sinne abzeichnete, wie oben
dargelegt worden ist, so ist die Problematik bei Kant in anthropologischer und erkenntnistheoretischer Weise zu einer universalen, d. h. eine über die individuelle Existenz des Menschen
hinausgehende, das Gemeinwesen betreffende Problematik. Wesentlich ist dabei, dass Kant
nicht also eine geschichtliche Entfremdung als Tatsache anerkennt und den ökonomischen Sentimentalismus als Ausweg akzeptiert, sondern die Problematik als erkenntnistheoretisches
Problem versteht und somit eine erkenntnistheoretische Lösung sucht: Erst wenn das Urteil des
Menschen von einer unmittelbaren Reinheit geprägt ist, kann er sich seiner Freiheit sicher sein.
Die erkenntnistheoretische Formulierung und die damit verbundene Auffassung der geschichtlichen Verfasstheit der Entfremdung lässt die Frage nach dem Ausweg der Entfremdung als
eine über-geschichtliche, universal-anthropologische Frage darstellen.
In den Bemerkungen sind es vor allem die Gründe der „Unterwürfigkeit“ des Menschen unter
ihm fremde Zwecke und die damit verbundene Entfremdung von seiner natürlichen Selbstbestimmtheit und „Freyheit“, die Kant interessieren. Er sieht diese nicht als Folge der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft, sondern erklärt sie dadurch, dass die Gesellschaft die „Unterwürfigkeit“ mit der Befriedigung seiner Triebe entlohnt. Gerade weil der Mensch von „vielen
äußeren Dingen ab[hängt]“618 zur Befriedigung seiner natürlichen Triebe. Darunter sieht Kant
618
Kant 1991, S. 70.
179
die physischen Triebe, wie etwa die Ernährung, die psychosozialen Triebe, wie etwa „Ehrbegierde“619 bzw. Anerkennung und andere „Eitelkeiten“620, aber auch den „Geschlechtstrieb“621.
Den leiblichen Menschen thematisiert Kant vorwiegend als Element der „Willkühr“ und bringt
ihn daher nicht in seiner Eigenständigkeit in den Blick, sondern vielmehr als eine Art Instrument der „Willkühr“.
Er lässt erkennen, dass die Gesellschaft auf der Abhängigkeit des Menschen von den „äußeren
Dingen“ zur Befriedigung seiner natürlichen Triebe aufbaut. Das heißt, dass der Wille zur Vergesellschaftung und „Unterordnung“ aus der Tatsache der physischen Abhängigkeit des Menschen von „äußeren Dingen“ abhängt. Wie die Formulierung schon erahnen lässt, sieht Kant in
diesen „äußeren Dingen“ keinen Selbstwert, denn es ist diese Abhängigkeit, die die Wurzel
bildet für die Abhängigkeit und Entfremdung des Menschen.
„Lediglich die Üppigkeit macht die große Reitzung aus und die Cultur der moralischen Empfindungen und des Verstandes kann sie [wohl] kaum zurückhalten, wenn der Geschmack an
Üppigkeit schon gros ist.“622
Es sind die durch die Vergesellschaftung und Kooperation des Menschen erworbenen Güter,
die den Menschen zu einer Abkehr von seiner natürlichen Sittlichkeit und Freiheit verführen.
In der Gesellschaft erfährt der Mensch eine Üppigkeit, die ihn von seinem eigenen moralischen
Empfindungen und Verstandesgebrauch abführt. Gesellschaft nicht als eine Leistung des Menschen durch Kooperation zu schätzen, sondern als Verführerin zu thematisieren, gründet in
Kants Verbindung des Gesellschaftszustandes mit dem christlichen Motiv des Sündenfalls.623
Daher liegt es nahe, die Entdeckung des Grundes für die „Unterordnung“ und die Aufgabe der
natürlichen Freiheit und Sittlichkeit des Menschen auf die Überlagerung der Gesellschaftsanalyse und dem Motiv des Sündenfalls verantwortlich zu sehen.
Trotzdem ist es eine richtige Einsicht Kants, dass die durch die in der Gesellschaft erwirtschaftete „Üppigkeit“ als Belohnung des Verhaltens den Menschen zu einer „Unterordnung“ bewegen kann, sodass er sein Handeln nicht mehr nach seinem moralischen Empfinden, wie etwa
dem Mitleid ausrichtet, sondern der Belohnung unterordnet und sich den gesellschaftlichen
619
Kant 1991, S. 124.
620
Kant 1991, S. 113.
621
Kant 1991, S. 97.
622
Kant 1991, S. 16.
623
Vgl. Rischmüller in: Kant 1991, S. 155.
180
Zwecken dienlich macht. Kant weist so die in der Gesellschaft erfahrene „Üppigkeit“ gewissermaßen als Instrument aus, den Menschen zu einem Verhalten zu erziehen, das seiner natürlichen Sittlichkeit entgegenstehen kann.
„Eben so wie man sagen kann die Natur habe uns eine unmittelbare Neigung zum Erwerb (die
filzige Habsucht) eingepflanzt so wenig kann man sagen sie habe uns einen unmittelbaren Trieb
der Ehre gegeben. Es entwickeln sich beyde und sind beyde [so wie] in der allgemeinen Üppigkeit nützlich [...].“624
Es sind die „gesitteten Verhältnisse“, denen „so viele unnatürliche Begierden“ entspringen,625
und die den Menschen zu einer Unterordnung unter fremde Zwecke verführen. Trotz der Wissenschaften und Künste ist der Mensch, für Kant im Sinne Rousseaus, durchaus auch „gut ohne
Tugend und vernünftig ohne Wissenschaft“ im natürlichen Zustande.626 So meint Kant, dass
die „Schuldigkeit“ der „gemeinschaftliche Eigennutz“627 ist. Er bemerkt, dass „sich ein vollkommenster Mensch der Natur aber nicht der Kunst gedenken“ lässt.628 Dies, da es eine „vollkommenste Welt (moralische) nach der Ordnung der Natur gibt“.629
Erinnert man sich – exemplarisch – an folgende Stelle im Emile, so zeigt sich Kants Kritik der
Erziehung als Form der Vergesellschaftung zum Zwecke der Kontinuität des „alten Wahns“
und die Kritik der physischen Abhängigkeit als ein Reflex auf die rousseauschen Gedanken:
„Bedenkt aber zunächst, daß will man den natürlichen Menschen heranbilden, man deshalb
keineswegs einen Wilden aus ihm machen und ihn in die tiefsten Waldesgründe verbannen
muß; es genügt vielmehr, daß er sich weder durch die Leidenschaften noch durch die Meinungen der Menschen in den gesellschaftlichen Strudel hineinziehen läßt, in den er eingeschlossen
ist; daß er mit seinen Augen sieht, was er mit dem Herzen fühlt; daß keine Autorität ihn beherrscht außer seiner eigenen Vernunft.“630
Allerdings zeichnet sich eine deutliche Verschiebung bezüglich des Antwortregisters bezüglich
der Denkmöglichkeiten der gesellschaftspolitischen Umsetzung des „Perfektibilitätsprogramms“. Kant entdeckt in der Analyse, dass die Leidenschaften eine Problematik für die mo-
624
Kant 1991, S. 18.
625
Kant 1991, S. 14.
626
Kant 1991, S. 14.
627
Kant 1991, S. 119.
628
Kant 1991, S. 129.
629
Kant 1991, S. 17.
630
Rousseau 2012 a, S. 525.
181
ralische Vervollkommnung bilden, der man nicht gesellschaftlich begegnen kann. Im Gegensatz zu Rousseau zeigt sich, dass Kant versucht, den Tugendbegriff von seiner sensualistischen
Definition Rousseaus herauszulösen:
„Die Tugend besteht gar nicht darin daß man mit der erworbenen Neigungen überwiege in besonderen Fällen sondern solche Neigungen suche los zu werden und also [entbehr] gerne entbehren lerne.“631
Deutlich stärker als Rousseau betont Kant, dass die Tugend auf einem „idealischen Gefühl“
gründet.632
Dies zeigt sich besonders auch in Hinblick auf die Interpretation der Glückseligkeit, welche
Kant als Antwort auf die Frage gibt, warum der Mensch, obwohl belohnende und befriedigende
Existenz durch seine “Indienststellung“ seiner Fähigkeiten innerhalb der Gesellschaft möglich
ist, sein Handeln an der „natürlichen Sittlichkeit und Tugend“ ausrichten solle und der Üppigkeit, infolge seiner Neigungen entsagen solle (wodurch potenzielle Konflikte denkbar und
wahrscheinlich sind).
„Es ist gar nicht zur Glückseeligkeit zuträglich die Neigungen bis zur Üppigkeit zu erweitern,
denn weil es [viel] ungemein viele Fälle giebt da die Umstände diese Neigungen nicht günstig
sind gegen einen erwünschten Fall so machen sie eine Quelle von Verdruß Gram und Sorgen
davon der einfältige Mensch nichts weiss.“633
Das moralische, uneigennützige Verhalten,634 das die „Neigungen nicht bis zur Üppigkeit erweitert“, ist insofern möglich, da es eine größere Belohnung verspricht: „Glückseeligkeit“ als
Endzweck der Schöpfung.635 Zwar sieht Kant, dass das „üppige Leben in einem gewißen
631
Kant 1991, S. 60.
632
Vgl. Kant 1991, S. 112.
633
Kant 1991, S. 39.
634
Kants thematisiert Moral als „Uneigennützigkeit“ (vgl. Kant 1991, S. 128).
635
Es ist wichtig zu betonen, dass Kant unter Glückseligkeit niemals die individuelle Glückseligkeit meint. In der Grundlegung
der Metaphysik der Sitten sagt er deutlich:
„Doch ist das Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich, nicht bloß deswegen weil es falsch ist, und die
Erfahrung dem Vorgeben, als ob das Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten richte, widerspricht, auch nicht
bloß weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt, indem es ganz was anderes ist, einen glücklichen als einen
guten Menschen, und diesen klug und auf sein Vorteil abgewitzt, als ihn tugendhaft zu machen: sondern weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laser in eine Klasse stellen und nur den Kalkul besser ziehen lehren, den spezifischen
Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen; […].“ (Kant 2012, S. 83)
Kant nimmt mit der Kritik der individuellen Glückseligkeit deutlich Abstand vor allen von der auf das „moralische Gefühl“
gründenden Moraltheorie. Zwar verteidigt Kant den Standpunkt der Immanenz (er unterscheidet den theologischen und
den ontologischen Begriff der Vollkommenheit), doch meint er nur den Begriff der „ontologischen Vollkommenheit“ als
182
Grade“ die Menschen vermehrt, doch entspringt aus ihr auch eine „Armuth“.636 Die „materialistische“ Orientierung der Neigungen des Menschen an „äußeren Dingen“, die Befriedigung
seiner Lüste mündet nach Kant in einer „Armuth“, da man sich unbeständigen Dingen unterwirft,637 die dem Menschen keinen Halt bieten. Keine „Üppigkeit“, keine „Unmäßigkeit“ kann
weder als Maß für eine Sittlichkeit noch als Maß für eine Sittlichkeit dienen. Da sich die „Übel
bey der sich auswikelnden Unmäßigkeit der Menschen ersetzen“, bedarf es der „Entbehrung“,
um einen Blick auf „Glückseeligkeit“ und „Tugend“ zu eröffnen.
„Die Kunst zu entbehren d. i.: Neigungen in sich nicht aufkeimen zu lassen ist das Mittel der
Glückseeligkeit daher kann man entweder die Ehre d. i. die rühmliche Meinung anderer zu
erwerben suchen oder sich bestreben sich gäntzlich zu entbehren und gleichgültig dagegen zu
sein.“638
„Glückseeligkeit“ als eine „Erhabenheit“ über die leibliche Verfasstheit und als eine Hörigkeit
gegenüber der geistigen Natur des Menschen bedeutet eine deutliche Verschiebung der Ideen
Rousseaus. Gerade der oben geschilderte Gedanke der „leiblichen Vernunft“ und der damit
verbundene – vor dem Hintergrund des von Rousseau geschilderten ontogenetischen Antagonismus von Leidenschaft und Vernunft – eingeschränkte Freiheitsbegriff wird durch Kants Zusammenführung der „Glückseeligkeit“ als Moment der Erhabenheit zu einem absoluten Freiheitsbegriff idealistisch überhöht. Das sich bei Kant abzeichnende asketische Ideal widerstrebt
dem sensualistischen Naturalismus Rousseaus. Obwohl bei Kant als auch bei Rousseau der
Einfluss der Stoiker groß ist, kündigt sich hier an, dass Kant die Natur nur im Sinne eines idealen Logos und Telos beabsichtigt als Norm auszuweisen, wodurch die materialistischen und
sensualistischen Elemente Rousseaus eine völlige Missachtung erfahren.
„Die Hauptabsicht des Rousseau ist daß die Erziehung frey sey und auch einen freien Menschen
mache.“639
Wenn Kant so die Erziehung als Mittel zur Freiheit des Menschen versteht, dann geht es ihm
vor allem um die Entwicklung eines freien Denkens, Urteilens und Handelns – einer autonomen
„rationalen oder Vernunftgründen der Sittlichkeit“ einzig möglichen Ausgangspunkt einer Grundlegung einer Moraltheorie, da „er wenigstens die Entscheidung der Frage von der Sinnlichkeit ab und an den Gerichtshof der Vernunft zieht“ (Kant
2012, S. 84 f.).
636
Vgl. Kant 1991, S. 79.
637
Kant spricht von den „im „Flusse“ vorbeigehenden Dingen (vgl. Kant 1991, S. 39).
638
Kant 1991, S. 55.
639
Kant 1991, S. 124.
183
Vernunft – als einziges „Richtmaaß“ der Sittlichkeit. Demnach ist die Erziehung nur dann ein
wirksames Mittel zur Mündigkeit des Menschen (Kant gebraucht diesen Begriff schon in den
Bemerkungen)640, wenn er durch die Entwicklung der Vernunft und durch die Stimme des natürlichen Logos die „cörperlich“ bedingte und verschuldete Abhängigkeit von gesellschaftlichen Zwecken zur Freiheit überwinden kann. Das heißt, dass Kants Begriff des Asketischen als
Bedingungsmöglichkeit des Bürgertums und auch als dessen Kern auszuweisen versucht.
Trotz der Differenzen in der Auffassung des Naturbegriffs stimmt Kant mit Rousseau grundsätzlich darin überein, dass der Mensch nur am Leitfaden der Natur zu einer freiheitlichen und
selbstbestimmten individuellen und politischen Existenz im Sinne des Weltbürgertums kommen kann.
„Es ist nöthig einzusehen, wie spät sich die Kunst die Zierlichkeit und gesittete Verfassung
hervorfinden und wie sie in einigen Weltgegenden (e. g. wo keine Hausthiere sind) niemals
finde damit man das was der Natur fremd und zufällig ist von dem unterschiede was ihr natürlich ist. Wenn man die Glückseeligkeit des Wilden erwegt so ist es nicht im in die Wälder zu
kehren sondern nur um zu sehen was man verloren habe indem man anderseits gewinnt. Damit
man [mitten] in dem Genusse und Gebrauch der geselligen Üppigkeit nicht mit unglücklichen
und unnatürlichen Neigungen daran klebe und ein gesitteter Mensch der Natur bleibe. Jene
Betrachtung dient zum Richtmaaße. Denn niemals schafft die Natur einen Menschen zum Bürger und seine Neigungen seine Bestrebungen sind blos auf den einfältigen Zustand des Lebens
abgezielt.“641
Unbeeindruckt von den in Rousseaus Ausdruck provozierten Assoziationen und der Polemik642
versteht Kant, dass eine Verbesserung gesellschaftlicher und politischer Umstände und eine
Vervollkommnung des Menschen nur am „Richtmaaße“ der Natur des Menschen eintreten
kann. Erst am „Richtmaaß“ der Natur könne ein „Probierstein“ gefunden werden, um moralischen „Wahn“ von einer natürlichen Moralität und Sittlichkeit zu unterscheiden in Hinblick auf
die Grundlegung der Ethik.
640
Vgl. Kant 1991, S.
641
Kant 1991, S. 29.
642
„Es ist eine Beschwerde vor dem Verstande Geschmack zu haben. Ich muß den Rousseau so lange lesen bis mich die
Schönheit der Ausdrücke gar nicht mehr stöhrt und dann kann ich allererst ihn mit Vernunft untersuchen.“ (Kant 1991, S.
28)
184
2.2 Das Problem der Wissenschaftlichkeit einer spekulativen Anthropologie zur
Orientierung von Bildung
Wie in dem Rekurs auf die Bemerkungen deutlich wird, entwickelt Kant durch die Auseinandersetzung mit Rousseau sein sozialpolitisches Problembewusstsein. Wenn auch nicht unkritisch, so gewinnt er die Einsicht, dass allein das Richtmaß der Natur des Menschen, d. h. zugleich eine Selbstaufklärung des Menschen, eine Vervollkommnung (durch die Erziehung) und
eine „ganz neue Ordnung menschlicher Dinge“ grundlegen könne. Es ist naheliegend, dass der
Wissenschaft vom Menschen, der Anthropologie in diesem Unterfangen eine zentrale Funktion
zukommt. Denn allein sie kann eine Beantwortung der Frage „Was ist der Mensch?“ leisten
und so den Weg für ein Verständnis der Natur ebnen:
„Wenn /es) irgendeine Wissenschaft [dem Menschen vonnöthen] giebt deren der Mensch [wirklich] bedarf so ist es [dieje] die so ihn lehret die Stelle geziemend (gehörig) zu erfüllen (bekleiden) welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist und aus der er lernen kann was [er] man seyn
muß um ein Mensch zu seyn. Gesetzt er hätte [über oder um ] über oder unter sich [betrügerliche] täuschende Anlockungen kennen lernen die ihn unvermerkt [aus] aus seiner (eigenthümlichen) Stelle gebracht haben so wird ihn diese Unterweisung wiederum zum Stande des Menschen zurük führen [und], und er mag sich alsdenn auch noch so klein oder mangelhaft finden
so wird er [doch] doch vor seinen angewiesenen Posten recht gut seyn weil er [weder mehr
noch weniger ist als] (gerade das ist) was er seyn soll.“643
Kant formuliert hier seine Auffassung über die Ziele und den Nutzen einer Wissenschaft vom
Menschen: Sie soll erkennen, welche Stellung der Mensch in der Schöpfung hat, um zu verstehen, was seine Natur ausmacht. Wie in dem projekthaften Entwurf der Bemerkung anklingt
(der in der Bemerkung sogar in anderer Weise wiederholt wird, worin seine Bedeutung für Kant
deutlich wird),644 versteht Kant die Wissenschaft vom Menschen als eine Erkenntnis nicht des
empirischen oder geschichtlichen Menschen, sondern der Zwecke des Menschen als Geschöpf,
d. h. als Mensch, insofern er ein moralisches Wesen ist. Er schreibt:
„Newton sah zuallererst die Ordnung und Regelmäßigkeit mit großer Einfalt verbunden wo vor
ihm Unordnung und schlim gepaarte Mannigfaltigkeiten anzutreffen war und seitdem Cometen
in geometrische Bahnen.
Rousseau entdeckte zu allererst unter den Mannigfaltigkeiten der menschlichen angenommenen
Gestalten die tief verborgenen Natur desselben und das versteckte Gesetz nach welchem die
643
Kant 1991, S. 39.
644
Vgl. Kant 1991, S. 36.
185
Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird. Vordem noch der Einwurf des Alphonsus [weg de Na] und Manes. Nach Newton und Rousseau ist Gott gerechtfertigt und nunmehr ist Popens Lehrsatz war.“645
Jenseits der „Mannigfaltigkeiten der menschlichen angenommenen Gestalten“ ist es demnach
das Ziel einer Wissenschaft vom Menschen, die „tief verborgene Natur desselben und das versteckte Gesetz“, die dem Menschen eigene Rationalität und Selbstgesetzlichkeit zu erkennen,
welches seine „Vorsehung“ freilegt, d. h. die Zwecke des Menschen in der Schöpfung und der
Vervollkommnung der in diese gelegten Ziele. Das heißt, dass eine Anthropologie, wenn sie
die in den Menschen gelegten Sittengesetze zu verstehen trachtet, sich nicht an den empirischen, geschichtlichen Mannigfaltigkeiten orientieren kann: Sie würde von mannigfaltigen Erscheinungen getäuscht, die die „Vorhersehung“ nicht erkennen ließen. Eine Wissenschaft vom
Menschen aber muss als eine Fundamentalwissenschaft konzipiert werden, um den Menschen
an seine „eigenthümliche Stelle“ und seinen „Stande“ zurückführen zu können.
Obwohl in der Bemerkung Kants noch deutlich die Problematik der Theodizee anklingt –
Rousseau wird auch hier als ein Verteidiger des popeschen Lehrsatzes und damit der leibnizwolffschen Lehre verstanden – so zeichnet sich darin jedoch eine völlig andere Konzeption der
Anthropologie ab. Wenn auch indirekt, so spricht Kant der bisherigen (ontotheologischen bzw.
dogmatischen) Metaphysik die Kompetenz ab, die „tief verborgene Natur“ und „versteckte Gesetz“ des Menschen freilegen zu können in einer Art, dass der Mensch sich als aktiver Gestalter
der Weltgeschichte versteht und in seiner Selbstgesetzlichkeit einen Leitfaden als Prinzip der
Gestaltung findet.
Kant bezeichnet Rousseaus spekulative Wissenschaft vom Menschen als einen Ausgangspunkt
für die Konzeption einer Anthropologie als Fundamentalwissenschaft, welche über die Meinungen hinaus, durch die Erkenntnis der Naturgesetzlichkeit des Menschen, d. h. seiner moralischen Selbstgesetzlichkeit, einen Leitfaden freilegen könne, durch den der Mensch zu seiner
freiheitlichen Vorhersehung und „natürlichen Sittlichkeit“646 jenseits seiner modernen Entfremdung finden könne.
„Rousseau hat mich zurecht gebracht. [Ich] Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich
lerne die Menschen ehren und ich würde mich weit unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter
645
Kant 1991, S. 48.
646
Natürliche Sittlichkeit weist Kant in den Bemerkungen als einen „Prüfstein“ aller Dogmatik aus und als Mittel zur vernünftigen Beurteilung der Frage, welcher Glaube zur „Glückseligkeit“ führe und welcher nur in den „Wahn“:
„Diese natürliche Sittlichkeit muß auch der Probierstein aller Religion sein. Denn wenn es ungewiss ist ob Leute in der
anderen Religion können seelig werden und ob nicht die Qualen in dieser Welt sie können zur Glückseeligkeit in der
künftigen verhelfen so ist es gewiß daß ich sie nicht verfolgen müßte. Diese letzte würde aber nicht seyn wenn nicht die
natürliche Empfindung zureichend zu aller Pflichtausübung dieses Lebens wäre.“ (Kant 1991, S. 21)
186
wenn ich nicht glaubte daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die
Rechte der Menschheit herzustellen.“647
Vielmehr als eine Anhängerschaft bemerkt Kant in diesen Bemerkungen, dass Rousseau ihn
auf den Gedanken gebracht habe, dass durch die Betrachtung des Menschen sowohl die Normkritik als auch die Normbegründung möglich sei, durch die die „Rechte der Menschheit“ (wieder-)herzustellen seien. Das Ziel der Wissenschaft vom Menschen ist daher nicht eine Definition oder ein methodisches Verständnis seiner empirischen oder geschichtlichen Verfasstheit
zu finden. Kant weist ihren Zweck in der Frage aus, was der Mensch „seyn muß um ein Mensch
zu seyn“. Kant lehnt damit ein Verständnis der Frage „Was ist der Mensch?“ als Definitionsfrage im platonischen Sinne ab.648
Auch in den 70er Jahren bleibt Rousseau für Kant der Leitfaden für die Ausarbeitung einer
Anthropologie hinsichtlich der Zwecke und der Stellung dieser Wissenschaft vom Menschen.
„Aller Zweck der Wissenschaft ist entweder eruditiv (Gedächtnis) oder Speculation (Vernunft),
Beydes muß darauf hinauslaufen den Menschen verständiger (klüger weise) in der der menschlichen Natur überhaupt angemessenen Welt zu machen und als gnugsamer.“649
Beeinflusst durch Rousseaus Wissenschaftskritik, legt, Kant dar, dass eine Wissenschaft immer
nur dazu diene, dem Menschen ein durch das Gedächtnis oder die Vernunft geleitetes Verständnis zu geben, welches die Welt, derer er ein Bürger ist, angemessener zu gestalten. Wissenschaft
dürfe demnach niemals Selbstzweck sei. Die Wissenschaft vom Menschen versteht Kant als
Fundamentalwissenschaft zugleich als spekulative Wissenschaft: sie versucht, die Ideen als Regulative der sittlichen Welt freizulegen und zu erkennen. In dieser Hinsicht zeigt er sich auch
von Rousseau beeinflusst. Er schreibt:
„Rousseau ist ein Achtungswürdiger Schwärmer; [...].Die schwärmerische Denkungsart ist,
wenn man an sich wahre und bewährte Ideen über die Grenze der aller moglichen Erfahrung
ausdehnt.“650
Das Schwärmen und die Spekulation zeigen sich hier insofern als ähnlich, da sie beide die Ideen
betreffen und Weisen einer vernunftgeleiteten Erkenntnis darstellen, die über die Grenze aller
647
Kant 1991, S. 38.
648
Vgl. Brandt 2007, S. 103.
649
Kant 1991, S. 10.
650
Kant AA 1923, Bd. XV, S. 406.
187
möglichen (sinnlichen) Erfahrung hinausgehen. Beides trifft grundsätzlich auf den Wissenschaftsentwurf der spekulativen Anthropologie zu, sowohl im Falle Rousseaus als auch im Falle
Kants. Allerdings kann man diese Bemerkung auch als eine Kritik an Rousseau verstehen, insofern man sie mit Kants gegenüber Rousseaus Methode abgrenzenden Bemerkung konfrontiert:
„Rousseau. Verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten Menschen an.“651
Es ist eine nur kurze Bemerkung komparativer Art. Dass Kant sie für notwendig und äußerungswürdig hält, zeigt, dass er Rousseaus Werk nicht nur wohlwollend auffasst, sondern seinen Wissenschaftsentwurf der Wissenschaft vom Menschen – es ist eine Bemerkung die Methode der Wissenschaft betreffend – mit Rousseaus spekulativer Anthropologie „auf eine
Ebene“ setzt – um nicht zu sagen identifiziert.
Rischmüller macht darauf aufmerksam, dass diese Bemerkung in Zusammenhang mit der von
Kant 1762 verfassten und 1764 erschienen Preisschrift Untersuchung über die Deutlichkeit der
Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral aufzufassen sei.652 Dem ist völlig zuzustimmen, da die darin entwickelte Unterscheidung der analytischen und der synthetischen Methode
die systematische Grundlage für diese Bemerkung darstellt und zugleich ein Hauptstück in der
gedanklichen Entwicklung Kants und der programmatischen Ausrichtung des kantischen Denkens ist. In der Schrift untersucht Kant die Denkmöglichkeit einer Grundlegung der Theologie
und Moral nach dem Vorbilde der newtonschen Methodik und fragt nach den Bedingungen
ihrer Transposition in die Metaphysik.653 Charakteristisch für die Schrift ist, dass Kant darin
die Klärung der Gewissheit und des Geltungsbereichs von moralischen Grundsätzen über die
Prüfung der die Grundsätze erforschenden Methode versucht zu erlangen. Das Problem, welches Kant zur Beantwortung der Akademiefrage in den Mittelpunkt der Arbeit stellt, befasst
sich damit, wie eine wissenschaftliche Metaphysik jenseits „des ewigen Unbestands der Meinungen und Schulsecten“654 zu einer Erkenntnissicherheit und allgemeinen Verbindlichkeit gelangen könne, die den durch Newtons Physik gewonnenen Erkenntnissen gleichkomme, aber
nicht allein durch eine Übertragung des Kerns dieser Physik, welche im mathematischen Formalismus zu sehen ist, begründet wird. Daher wird, wie Ritter treffend darlegt, derjenige Leser,
651
Kant 1991, S. 16.
652
Vgl. Rischmüller in: Kant 1991, S. 154.
653
Kant AA 1968, Bd. II, S. 275.
654
Kant AA 1968, Bd. II, S. 275.
188
der, wie es im Titel angekündigt wird, eine Erörterung der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral erwartet, enttäuscht werden, da es sich um eine „allgemeine Untersuchung über
die Möglichkeiten metaphysischer und mathematischer Erkenntnisgewißheit“655 handelt.
Gleichzeitig jedoch war der zeitgenössische Leser seit dem Cartesianismus durch die Struktur
der Lehrbücher der Philosophie daran gewöhnt, dass der Darstellung philosophischer Probleme
und Themen eine methodische Erörterung und Einführung vorangesetzt wurde.656 Kants Vorgehensweise dürfte deshalb nicht als ungewöhnlich verstanden werden.
Spannend ist die Schrift insofern, dass sie, da sie zeitgleich oder unmittelbar vor der Auseinandersetzung mit Rousseau entstanden ist, den theoretischen und nicht nur rezeptiven Rahmen
von Kants Überlegungen erkennen lässt. In der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesung
in dem Winterhalbenjahre von 1765-66 bestätigt Kant, dass jene Schrift ihren theoretischen
Bezugsrahmen in den 1760er Jahre bildet:
„1. Metaphysik: Ich habe in der kurzen und eilfertig abgefaßten Schrift zu zeigen versucht:
daß diese Wissenschaft unerachtet der großen Bemühungen der Gelehrten um deswillen noch
so unvollkommen und unsicher sei, weil man das eigenthümliche Verfahren derselben verkannt
hat, indem es nicht synthetisch, wie das von der Mathematik, sondern analytisch ist. Diesem
zufolge ist das Einfache und Allgemeine in der Größenlehre auch das Leichteste, in der
Hauptwissenschaft aber das Schwerste, in jener muß es seiner Natur nach zuerst, in dieser zuletzt vorkommen. In jener fängt man die Doctrin mit den Definitionen an, in dieser endigt man
sie mit denselben und so in anderen Stücken mehr. Ich habe seit geraumer Zeit nach diesem
Entwurfe gearbeitet, und indem mir ein jeglicher Schritt auf diese Wege die Quellen und Irrthümer und das Richtmaß des Urtheils entdeckt hat, wodurch sie einzig und allein vermieden werden können, wenn es jemals möglich ist.“657
Wie Kant zusammenfassend erörtert, liegt die wesentliche Erkenntnis der Untersuchung in der
Einsicht, dass die Metaphysik durch eine Übertragung des mathematischen Formalismus niemals zu sicheren, verbindlichen Grundsätzen und Urteilen kommen könne, denn beide Verfahren unterscheiden sich grundsätzlich durch ihre Anfänge. Die Mathematik beginnt mit abstrakten Begriffen, die nicht vor der Definition gegeben sind,658 und verfährt in ihren Erklärungen
bzw. Erkenntnissen synthetisch. Die Philosophie dagegen ist mit „verworrenen“ Begriffen konfrontiert: ihr Anfang sind die „gegebenen Begriffe“659, d. h. die alltäglichen Erfahrungen und
die Alltagssprache. Da die Anfänge bzw. Objekte der Mathematik „leicht und einfältig“ seien
655
Vgl. Ritter 1971, S. 45.
656
Vgl. Henrich 1967, S. 12.
657
Kant AA 1968, Bd. II, S. 308.
658
Vgl. Kant AA 1968, Bd. II, S. 276.
659
Kant AA 1968, Bd. II, S. 275.
189
und die der Philosophie „schwer und verwickelt“,660 könne man nur auf dem Weg der Analysis
in der Philosophie bzw. Metaphysik zu einem Richtmaß und der Bestimmung des Geltungsbereichs des Urteils (z. B. bezüglich der natürlichen Theologie und Moral) kommen. Nur wenn
man die komplizierten „gegebenen Begriffe“ in einfachere und evidentere Merkmale, in „unerweisliche Grundurtheile“661 überführe, könne man daher prüfen, ob sie einen „zureichenden
Begriff“662 ergeben. Auch wenn Kants Aussagen über die Mathematik heute fraglich sind, so
ist hier die Entdeckung der ursprünglichen Verworrenheit und Kompliziertheit des philosophischen Begriffs als auch der Einsicht, dass es in der Philosophie keine unmittelbare Sicherheit
der Bedeutung der Zeichen gebe,663 eine entscheidende Entdeckung.
„Es ist das Geschäfte der Weltweisheit, Begriffe, die als verworren gegeben sind, zu zergliedern, ausführlich und bestimmt zu machen, der Mathematik aber, gegebenen Begriffe von Größen, die klar und sicher sind, zu verknüpfen und zu vergleichen, um zu sehen, was hieraus
gefolgert werden könne.“664
Aus der Gegenüberstellung beider Verfahrenstypen diagnostiziert Kant, dass die Metaphysik
deshalb noch nicht zu einem der sicheren Beweisgründe gelangt sei, da sie nicht analytisch,
sondern synthetisch und damit „unkritisch“ (= nicht analytisch) gearbeitet habe. Das heißt, dass
sie von einer unmittelbaren Sicherheit der Bedeutung der „gegebenen Begriffe“ ausgegangen
sei und dadurch notwendig nicht zu einer Klärung ihrer Ansichten zu den evidenten Beweisgründen vorgedrungen sei.
Der Rekurs auf die Preisschrift verdeutlicht, dass sich in der Abgrenzung zu Rousseaus „synthetischen Verfahren“ Kants Wissenschaftsanspruch offenbart, an dem er trotz aller Einsicht in
die Dringlichkeit der rousseauschen Gedanken festhält. Offensichtlich anders als Rousseau ist
Kant der Ansicht, dass eine Wissenschaft vom Menschen nur dann eine der newtonschen Physik gleiche Erkenntnisgewissheit haben könne, wenn sie als analytisch verfahrende Metaphysik
konzipiert werde. Wie Rischmüller darlegt, offenbart sich in Kants Abgrenzung zu Rousseaus
„fachübergreifende[m] Versuch, aus der Natur des Menschen seine historische und gegenwärtige Beschaffenheit zu verstehen“, Bedenken, ob aus diesem synthetischen Versuch einer Wis-
660
Kant AA 1968, Bd. II, S. 282.
661
Kant AA 1968, Bd. II, S. 282.
662
Kant AA 1968, Bd. II, S. 277.
663
Vgl. Kant AA 1968, Bd. II, S. 284.
664
Kant AA 1968, Bd. II, S. 278.
190
senschaft vom Menschen eine Grundlegung der „weitreichenden Folgerungen“ geleistet werden kann.665 In Hinblick auf Kants Darlegung, dass Rousseau „synthetisch“ verfahre und beim
„natürlichen Menschen“ anfange, werden nun die darin geäußerten Bedenken kenntlich. Obwohl also Kant an die spekulative Anthropologie Rousseaus anknüpft, so meint er, dass die
synthetische Grundlegung des Verfahrens die damit verknüpften gesellschaftspolitischen Reformen der Entwicklung einer Gesellschaft mündiger Bürger nicht zu leisten vermag. Da das
synthetische Verfahren nicht zu den „unerweislichen Grundurtheilen“ gelangen könne, bleibt
die Frage offen, ob es eine Erkenntnis der unveränderlichen Natur des Menschen zu leisten
vermag. Gerade weil das synthetische Verfahren, da es von ungeklärten, unkritisch aufgenommenen Begriffen ausgeht, keine fundamentale, universell gültige und damit sozial relevante
allgemeingültige und verbindliche Normkritik und Normbegründung einleiten kann. Das heißt,
dass der Begriff des Naturzustands bei Rousseau nicht ein Maßstab und Richtmaß der gesellschaftlichen Entwicklung und menschlichen Vervollkommnung sein kann – er birgt zu viele
unthematisch vollzogene Variablen. Insgesamt zeigt sich darin Kants Gedanke, wonach einer
„metaphysischen Erfahrungswissenschaft vom Menschen“666 eine Analyse der Grundbegriffe
vorausgehen muss.
Obwohl Kant an der Bedeutung einer solchen metaphysischen Erfahrungswissenschaft vom
Menschen festhält, kündigt sich schon hier an, dass eine spekulative synthetische Anthropologie keine Fundamentalwissenschaft nach dem Vorbilde der newtonschen Physik sein könne, da
sie keine der Analytik und Kritik der Qualität der Erkenntnisgewissheit gleichartige Schlüsse
begründen könne. Die damit verbundene Erkenntnis, dass Philosophie, sofern sie „Weltweisheit“, d. h. ein über die staatlichen und dogmatischen Normen hinausgehendes Regulativ der
sittlichen Welt mit verbindlichem Charakter, zu sein trachtet, sich auf eine Gesetzlichkeit beziehen muss, die unabhängig von der phänomenalen Mannigfaltigkeit und den bloß vermeinten
und gegebenen Begriffen eine universale Rechtsgültigkeit haben muss, gehört zu einem Hauptstücke der kantischen Philosophie. Rousseau bringt Kant zwar auf den Gedanken, dass allein
„unter den Mannigfaltigkeiten der menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene
Natur desselben und das versteckte Gesetz“667 dies zu leisten vermag, kündigt aber Bedenken
an der methodischen Umsetzung dieses Gedankens an.
Motiviert und geschult ist dieses Problembewusstsein durch die Auseinandersetzung mit dem
Skeptizismus Humes. Mit dieser hat Kant schon in der Folge des Erscheinens der Übersetzung
665
Vgl. Rischmüller in: Kant 1991, S. 154.
666
Kant AA 1968, Bd. II, S. 309.
667
Kant S. 48.
191
der Vier Abhandlungen 1755 begonnen, wenn man einer Bemerkung Borowskis, ein Schüler
Kants, Glauben schenken kann.668 Da sie der Auseinandersetzung mit Rousseau zeitlich vorausgehen, ist es anzunehmen, dass sie den kritischen Rahmen dieser bilden. Diese Annahme
ist vor allem dadurch gerechtfertigt, dass Kant Rousseau vor allem am Leitfaden des Induktionsproblems kritisiert: ob aus empirischen Erkenntnissen des Menschen allgemeine und notwendige Gesetze abgeleitet werden können, deren Gültigkeit auch in Zukunft gerechtfertigt sei.
2.3 Zum Antagonismus von Humes Skeptizismus und Rousseaus Spekulation
bei Kant
Humes entwickelt die Problematik des Induktionsproblems im Treatise of Human Nature von
1739–1740 und An Enquiry Concerning Human Understanding von 1748669. Das Induktionsproblem besteht wesentlich in der Frage, worin der Grund besteht, wodurch der Zusammenhang
von Ursache und Wirkung auch über die sinnliche Gegenwart der Tatsache und seiner Erinnerung auch in Zukunft gilt. Das Problem betrifft die Grundlagen der allgemeinen Gesetzgebung
und damit der synthetischen Erfahrungsurteile. Hume schließt eine rationale, apriorische Begründbarkeit mit dem Argument aus, dass diesen „Denkakten apriori“ die Erfahrung fehlt, vermittels man die Zukünftigkeit670 von Kausalverbindungen rechtfertigen könne.671 Die Begründung der Konstanz und Identität von Kausalverbindungen zeigt sich nach Hume zudem nicht
über die Erfahrung, da eine solche Beziehung sich nicht beobachten lässt.672 „Alle Ableitung
aus der Erfahrung sind daher Wirkungen von Gewohnheit, nicht der Vernunfttätigkeit.“673
Schlussendlich gibt es daher weder einen rein empirischen noch einen rein rationalen Grund für
die Verbindung von Ursache und Wirkung, somit für die Konstanz der Gesetzmäßigkeiten.
Vielmehr führt Hume die „irrationalen“ Fakultäten des Gedächtnisses und die Synthese der
Gewohnheit als das die kausale Notwendigkeit begründende Prinzip an. Die ontologische Implikation der Problematik wird von daher als aussichtslos verworfen, wodurch sich die episte-
668
Vgl. Irrlitz 2010, S. 52.
669
Vgl. Hume 1989, 1. Buch, 3. Teil; Hume 1993, Abs. IV–VII.
670
Zukünftigkeit bedeutet hier die Konstanz und Identität von Kausalverbindungen und damit von Gesetzmäßigkeiten.
671
Vgl. Hume 1993, S. 37 f.
672
Vgl. Hume 1993, S. 54.
673
Humer 1993, S. 55 f.
192
mologische, „kopernikanische“ Wende des Problems vorauszeichnet. Wenn die Erfahrung keinen notwendigen Grund gibt, so kann dieser auf die Erkenntnisakte, wie z. B. durch die Assoziationspsychologie, zurückgeführt werden.
„Aller Glaube an Tatsachen oder wirkliches Sein, stammt lediglich von irgend einem Gegenstand, der dem Gedächtnis oder den Sinnen gegenwärtig ist, und vom einem gewohnheitsmäßigem Zusammenhang zwischen diesem und einem anderen Gegenstand.“674
Humes Entdeckung, dass Kausalität keine wirkliche Gesetzmäßigkeit sei, ordnet den Begriff
der Kausalität dem Begriff der Subjektivität zu. Wie im Zitat deutlich wird, ist Kausalität, so
gerade auch der Schluss von Gegebenem auf Notwendiges und Verbindliches, eine Angelegenheit der Gewohnheit, nicht der Dinge. Kant nimmt diese Erkenntnis auf und erhebt den Begriff
der Kausalität als Zentralproblem der Kritik der reinen Vernunft. 675 Die transzendentale Fassung des Problems folgt aus der Kritik des subjektiven Verständnisses der Kausalität und
schließlich der Notwendigkeit und Allgemeinheit, die nach Kant in einen Subjektivismus und
Skeptizismus führt. So hält Kant Hume entgegen, dass sein Verständnis von Allgemeinheit,
Notwendigkeit und schließlich von Kausalität keine kritische, strenge Wissenschaft (bzw. eine
Philosophie nach dem Vorbild der strengen Wissenschaft) begründen könne. Vielmehr müsse
man Allgemeinheit und Notwendigkeit, um eine eben solche Wissenschaft zu begründen, im
Rekurs auf die transzendentale Subjektivität definieren. Denn erst die Analyse nicht der empirischen, sondern der transzendentalen Subjektivität, der transzendentalen Fakultäten und Funktionen könne klare Einsichten in die Bedingungsmöglichkeiten des Wissens und somit auch
deren Grenzen fassen.676 Der entscheidende Punkt von Kants Hume-Kritik liegt in der Einsicht,
dass die Synthesis nicht psychologisch,677 sondern im Rahmen eines transzendentallogischen
Apriorismus zu fassen sei678.
Schon in seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie
und Moral von 1764 entdeckt er unter Einfluss der leibnizschen Analysis „unerweisliche
Grundurteile“679, die einer strengen Wissenschaft nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher
Erkenntnis als Grundlage dienen können. Die sich darin abzeichnende transzendentallogische,
674
Hume 1993 S. 59.
675
Vgl. Farr 1982, S. 30.
676
Vgl. Kant 1998, S. 207.
677
Vgl. Kant 1998, S. 154.
678
Vgl. Kant 1998, S. 228ff.
679
Farr 1982, S. 282
193
mittels der Analysis vollzogene Grundlegung der Philosophie nach dem Vorbild der Methode
der newtonschen Physik als Paradigma der Naturwissenschaft ist als eine Grundlage der kantischen Urteilstheorie zu verstehen und als Lösung der Problematik des Humeschen Problems.
Einen Beweis dieser Lösung tritt Kant in der transzendentalen Analytik der Kritik der reinen
Vernunft an. An entscheidender Stelle heißt es am Ende des zweiten Buches der transzendentalen Analytik:
„Auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit derselben in einer transzendentalen Apperzeption, auf eine mögliche Erfahrungserkenntnis
überhaupt beziehen, und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind
zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenständlichen Erfahrung, und haben darum
objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.“680
Synthetische Urteile a priori sind daher nicht nur die „unerweislichen Grundurteile“, die als
Bedingungsmöglichkeit aller gegenständlichen Erfahrung für deren objektive Gültigkeit einstehen, sondern zugleich das Kriterium, nach dem die Schranken der Erfahrung und schließlich
der Erkenntnis bemessbar werden im Rahmen einer reinen Vernunftwissenschaft: Jede wissenschaftliche Metaphysik müsse sich daran bemessen lassen müssen. Obwohl die Idee transzendentaler Naturgesetze sowie des Leitbegriffs des synthetischen Apriori der Kritik der reinen
Vernunft vielerorts und in verschiedener Weise als problematisch gilt, schafft Kant damit eine
zum „neuzeitlichen Begründungsdenken“681 alternative Fundamentalphilosophie.
Kants Grundlegung der Philosophie und Wissenschaft durch die transzendentale Logik der Vermögen zu einer möglichen gegenständlichen Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft, ist
deshalb auch so bedeutsam, da sich dadurch zugleich ein für die Moderne neuer Verständniszugang zum Subjekt etabliert und eine Alternative der Begründung der Moral anbietet. Beide
Momente sind dabei nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in systematischem Zusammenhang mit der kritischen Philosophie. Die Grundlegung der moralischen Urteilskraft aus der
Analyse der reinen praktischen Vernunft erweist sich vielmehr als das eigentliche Ziel der kritischen Philosophie.
Analog zu der Analyse der reinen theoretischen Vernunft analysiert Kant auch die reine praktische Vernunft mittels der transzendentalen Analysis bzw. Kritik. Grundlage dieser Methode
ist eben dieselbe Intuition, dass die Gesetze der Moral, das Sittengesetz sich ausschließlich
durch die Analyse der reinen praktischen und nicht empirisch-praktischen Vernunft begründen
680
Kant 1998, S. 256 (A 158/B 197).
681
Riedel 1989, S. 11–43.
194
lassen können. So ist schließlich der Leitsatz der kantischen Deontologie, der kategorische Imperativ, nur deshalb ein Prinzip der Moral und des Sittengesetzes, da er ein synthetisches Urteil
Apriori ist – gerade dadurch, dass er eine solche Form hat, stellt er ein „unerweisliches Grundurteil“ dar.
Die kantische Antwort auf die Frage, wie Moralität in allgemeiner und notwendiger Weise, wie
Normativität objektiv begründbar ist, ist ohne den in der ersten Kritik entwickelten Leitgedanken des synthetischen Apriori als Bedingungsmöglichkeit nicht nur der gegenständlichen Erkenntnis, sondern aller Erkenntnis – auch der moralischen, praktischen Erkenntnis – undenkbar.
Deshalb gilt auch für die Frage nach der Möglichkeit von Moralität und Sittlichkeit Folgendes:
„Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch ist, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; das Gebot: du sollst
nicht lügen,nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich daran nicht zu
kehren hätten und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt
ist gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in den Begriffen der reinen Vernunft, und
daß jede ander Vorschrift, die sich auf Principien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar in
gewissen Betracht allgemeine Vorschrift, sofern sie sich dem mindesten Theile, vielleicht nur
einem Bewegungsgrunde nach auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann.“682
Strikt unterscheidet Kant praktische Regeln, die auf empirischen Prinzipien beruhen und „moralische Gesetzte“ oder „eigentliche Sittengesetze“, die auf den Prinzipien der reinen praktischen Vernunft beruhen. Wie im Zitat deutlich wird, sind es nur Prinzipien der reinen praktischen Vernunft, die, weil sie als synthetische Urteile a priori Objektivität verbürgen und ihnen
der Status des apodiktischen Gesetzes der praktischen Vernunft zukommen kann, allgemein
und notwendig verpflichtenden Charakter haben.683 Das heißt, dass moralische Gesetze und
somit auch Pflichten nicht im Rekurs auf ein moralisches Gefühl, einen natürlichen Trieb, eine
Leidenschaft, eine Neigung, einen Affekt oder ein Interesse, auf die Natur, Gesellschaft noch
den göttlichen Willen schlussendlich definiert und begründet werden können, sondern nur so
durch die Analyse684 der transzendental-apriorischen Bedingungsmöglichkeiten.685 Diese sind
682
Kant AA, Bd. IV, S. 389.
683
Kant AA, Bd. IV, S. 420.
684
Auch hier zeigt sich, dass der Begriff der Analysis nicht nur methodische Bewandtnis hat, sondern sich auch gegen die
synthetische Vernunft bisheriger Philosophien richtet.
685Kant
AA, Bd. IV, S. 411.
195
formaler, apriorischer Bestimmungsgrund des Willens und „oberste Bedingung aller Maximen“686.
„Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil das
Gesetz unbedingt ist; das Verhältnis eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist Abhängigkeit,
unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine Nötigung, obzwar durch bloße Vernunft
und deren objektives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, die darum Pflicht heißt, weil eine
pathologisch affizierte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür,
einen Wunsch bei sich führt der aus subjektiven Ursachen entspringt, daher auch dem reinen
objektiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein kann, und so eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der eine innerer, aber intellektueller Zwang genannt werden kann, als moralischer Nötigung bedarf.“687
Entscheidend ist, dass Kant die objektive Realität der Sittlichkeit von der Wirklichkeit materieller Bedingungen abgrenzt und zugleich die (formal-transzendentale) objektive Realität der
Sittlichkeit als gesetzgebende und verpflichtende Wirklichkeit über die subjektiv-materiellen
Bedingungen stellt. Nicht nur zeichnet sich dadurch eine formal-intellektualistische Ethik ab,
sondern die Frage der Ethik verlagert sich dahin gehend, wie die objektive Realität der Sittlichkeit eine Wirklichkeit werden kann.688 Deutlich wird dieses im Zitat, in dem Kant die Wünsche,
Affekte und andere „niedere“ Begehrungsvermögen689 gegenüber dem moralischen Gesetz der
reinen praktischen Vernunft und dem oberen Begehrungsvermögen des reinen Willens als
„Willkür“ bezeichnet und ihm somit keinerlei Funktion als dem „Widerstand“ zuschreibt. Des
Weiteren zeigt sich dieses in dem Begriff der Reinheit, der in der kantischen kritischen Philosophie ein nicht nur beiläufiges, sondern zentrales Moment benennt. In der Einleitung der Kritik
der reinen Vernunft – und dies gilt mustergültig auch für die Kritik der praktischen Vernunft
als Kritik der reinen praktischen Vernunft – wird erörtert, dass die Idee der „besonderen Wissenschaft, die Kritik der reinen Vernunft heißen kann“690 auf der Grundlage aufbaut, dass die
Einsicht Analysis in „Reinheit“ möglich ist.691 Kant definiert den Begriff in jener Einleitung
wie folgt:
686
Kant 2003, S. 41.
687
Kant 2003, S. 43 f.
688
Vgl. Kant 2003, S. 75.
689
Vgl. Kant 2003, S. 26–28.
690
Vgl. Kant 2003, S. 81.
691
Mende schildert, dass die Metaphorik der Reinheit das rationalistische Projekt einer reinen Philosophie des Grundes aufnimmt. Mit der epistemologischen Reinheitsmetaphorik ist eine Raummetaphorik verbunden, deren Ziel in einer klaren
„Demarkation“ der Grenzen des Vermögens des Geistes liegt. Zugleich lässt sich dem Artikel entnehmen, dass mit der
Reinheitsmetaphorik nicht nur ein im neuzeitlichen Rationalismus anzutreffendes Projekt einer reinen Fundamentalphilosophie zu verstehen ist, sondern sich durch die Aufnahme der Metapher viele Verbindungen zu anderen „Sprachspielen“
196
„Es heißt aber eine jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders
aber wird eine Erkenntnis schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder
Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist. Nun ist Vernunft das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt.“692
Obwohl Kant die Einsicht in die reinen Prinzipien a priori und somit die Analysis der Vernunftgesetze für möglich hält, so weist er den reinen Vernunftgebrauch in Hinblick auf die theoretische, gegenständliche Erkenntnis strikt zurück – die transzendentale Dialektik in der Kritik der
reinen Vernunft behandelt gerade diese Themen. Wie im Zitat deutlich wird, verweist der Begriff der „Reinheit“ in Zusammenhang mit der Kritik der reinen Vernunft vielmehr auf die Methodologie der Kritik hin, anstatt dieses selbst als Ideal des theoretischen Denkens auszuweisen:
Ein reiner Vernunftgebrauch in Zusammenhang mit dem theoretischen Denken führt zu Paralogismen, Antinomien und Spekulationen jenseits jeder Sachgrundlage. So umschreibt der Begriff der „Reinheit“ in Zusammenhang mit der Analyse der Vernunftprinzipien, dass es analog
zu der physikalischen Erkenntnis möglich ist, diese in reiner Form zu erkennen und als Prinzipien der Erkenntnis zu verstehen. Anders gewendet liegt darin der methodische Versuch einer
Philosophie, sich der doxischen Topologie der Alltäglichkeit zu entziehen und im Logico-Theoretischen in einer reinen Weise, jenseits anzweifelbarer Vorurteile des Meinens und jeder
zweckgebundenen Rhetorik, eine Sicherheit des Denkens zu finden. Das heißt, dass die Unbedingtheit sittlicher Normen nur dann gewahrt werden kann, wenn sie als Vernunftwahrheit und
nicht als eine geschichtlich-materielle Disposition erkannt wird.
Auch wenn Kant den Gedanken der transzendentalen Synthesis erst in den 70er Jahren entwickelt und ihn im Rahmen der transzendentalen Grammatik der Kritik der reinen Vernunft ausarbeitet, so entsteht aus dem Zusammentreffen eines an Humes Schriften geschulten metaphysik- und wissenschaftskritischen Problembewusstseins und dem durch die Lektüre Rousseaus
aufgenommenen Programm einer am Leitfaden einer spekulativen Anthropologie zu entwickelnden Frage der Bildung des sittlichen Menschen und einer bürgerlichen Gesellschaft die
Einsicht in die Notwendigkeit einer Analysis bzw. Kritik als Grundlegung des sozialpolitischen
Programms eines Bürgertums. Das heißt, dass einer jeden empirischen, synthetischen Philosophie eine reine analytische bzw. kritische Philosophie vorausgehen muss, die den Umfang, die
Grenzen und die Prinzipien aller möglichen theoretischen und praktischen Urteile allererst er-
der Reinheitsmetaphorik, welche als ein Spezifikum des europäischen Denkens verstanden werden kann, ziehen lassen
(vgl. Mende 2011, S. 296–305).
692
Kant 2003, S. 80.
197
mitteln muss. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer der synthetischen Philosophie vorausgehenden grundlegenden Kritik bedeutet jedoch keine Aufhebung der Idee der vom „Wahn“ unabhängigen „Weltweisheit“, d. h. einer vom sensus communis unabhängigen moralischen,
praktisch motivierten Urteilskraft als Konstitutionsmoment einer neuen „menschlichen“, sittlichen und politischen Ordnung eines freiheitlich-selbstbestimmten Bürgertums.693 Dies zeigt
sich daran, wie Riedel darlegt, dass das „Programm der moralisch urteilenden Vernunft“, d. h.
einer „a priori urteilenden Vernunft“694, wie sie Kant durch den Einfluss Rousseaus vorschwebt,
sich über die vorkritische Phase bis in die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hält.695
Auch wenn Rousseau Kant im Sinne eines „Programm der moralisch urteilenden Vernunft“ zu
einer „Untersuchung des Grundes“ motiviert,696 so ist es doch Hume, der das methodische Problembewusstsein Kants gegenüber der Programmatik Rousseaus schärft. Dies zeigt sich besonders in Kants Kritik des Naturbegriffs, die ein entscheidendes Abrücken von Rousseau durch
Buffons beeinflussten Naturbegriff konstatiert. In seiner Schrift Von den verschiedenen Racen
der Menschen von 1775 schreibt Kant:
„Die Naturbeschreibung (Zustand der Natur in der jetzigen Zeit) ist lange nicht hinreichend,
von der Mannigfaltigkeit der Abartungen Grund anzugeben. Man muß, so sehr man auch und
zwar mit Recht der Frechheit der Meinungen feind ist, eine Geschichte der Natur wagen, welche
eine abgesonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach von den Meinungen zu Einsichten
fortrücken könnte.“697
Deutlich wird, dass die Naturbeschreibung keinen Ansatz dazu bietet, die Sphäre bloßen Meinens zu überwinden. Auch aber eine Naturgeschichte würde nicht die Einsicht in die Gründe
leisten können, sondern könne vielmehr nur als Ausgangspunkt der theoretischen Erkenntnis
gelten. Für sowohl die Naturbeobachtung als auch die Naturgeschichte, der innerhalb Rousseaus spekulativer Anthropologie eine grundlegende Funktion innewohnt, gilt nach Kant, dass sie
es nicht vermag, „das Pragmatische zu verschaffen“ – wie es im Folgenden heißt.698 Das bedeutet, dass Kant es für plausibel hält, aus der Naturbeschreibung als auch der Naturgeschichte
Prinzipien des moralischen Handelns abzuleiten.
693
Vgl. Riedel 1989, S. 68–70.
694
Vgl. Riedel 1989, S. 34.
695
Vgl. Riedel 1989, S. 92.
696
Vgl. Riedel 1989, S. 25.
697
Kant AA 1968, Bd. II, S. 443.
698
Vgl. Kant AA 1968, Bd. II, S. 443.
198
„Beide Stücke [Mensch und Natur, M. B.] aber müssen darin kosmologisch erwogen werden,
nämlich nicht nach demjenigen, was ihre Gegenstände im Einzelnen Merkwürdiges enthalten
(Physik und empirische Seelenlehre), sondern was ihr Verhältnis im Ganzen, worin sie stehen
und darin ein jeder selbst seine Stelle einnimmt, uns anzumerken giebt.“699
Im Zitat wird deutlich, dass Kant nicht die Auffassung vertritt, dass eine Naturgeschichte einen
Beitrag zu zur Grundlegung einer „menschlichen Ordnung“ leisten könne. Betrachtet man
Kants systematische Stellung seiner Rassentheorie und ihre Zuordnung in der physischen Geografie, so wird deutlich, dass sie keine grundlegende Rolle innerhalb seiner Überlegungen zur
Konzeption einer moralischen Urteilkraft einnimmt. Die Einführung des Begriffs der „Race“ in
das Deutsche und die biologistische Fassung innerhalb seiner Rassentheorie führen vielmehr
vor Augen, welche absurden Schlüsse, wie etwa die qualitative Überlegenheit, der „größte[n]
Vollkommenheit in der Race der Weißen“,700 aus einer empirisch bzw. naturalistisch begründeten Morallehre gezogen werden könnten.
Es ist dem Autor nicht bekannt, ob Kant diese Ablehnung des materialistischen bzw. empirischen Naturalismus auch vor dem Hintergrund der Kritik des naturalistischen Fehlschlusses
von Hume formuliert, doch scheint dieses wahrscheinlich. Die Debatte um die Sein-sollen-Dichotomie oder den Sein-sollen-Fehlschluss, auch bekannt als „naturalistischer Fehlschluss“,
geht zurück auf eine Textpassage von Humes Treatise on Human Nature. In der klassischen
Textpassage im Treatise bemerkt Hume, dass er in „jedem Moralsystem“ stets einen Wechsel
bzw. Übergang von „ist/ist-nicht“-Aussagen, d. h. Sätzen über Tatsachen (Seins-Sätzen), auf
„soll/soll-nicht“-Aussagen, d. h. Sätze über Normen (Sollens-Sätze) bemerkt.701 Diesen „unmerklichen“ und doch grundsätzlichen Wechsel kritisiert Hume als unbegründet, da „der Unterschied zwischen Laster und Tugend nicht ausschließlich auf Beziehungen zwischen Gegenständen beruht und nicht von der Vernunft erfaßt wird“702.
Die Auslegung dieser Passage ist sehr umstritten, da, wie Höffe darlegt, drei wesentliche
Schwierigkeiten mit der Interpretation zusammenhängen.703 Umstritten ist, ob Hume an dem
Übergang von Seinsaussagen zu Sollensaussagen in Moralsystemen eine strikte Ableitung nach
den formalen Regeln der deduktiven Logik kritisiert oder einen anderen Begriff der Ableitung
699
Kant AA 1968, Bd. II, S. 443.
700
Kant, Immanuel, Physische Geografie. In: Kant, Immanuel, Kants Werke, Akademie Textausgabe, Berlin, 1968, Bd. IX, S.
316.
701
Vgl. Hume 1989, Bd. 2, S. 211f.
702
Vgl. Hume 1989, Bd. 2, S. 211f.
703
Vgl. Höffe 1980, S. 9 ff.
199
zu erörtern trachtet. Des Weiteren ist nicht eindeutig klar, ob Hume den Wechsel zwar als unthematisch vollzogen herausstellt, aber dennoch für begründbar hält, sofern er expliziert werden
würde. Ebenso problematisch sei, ob Hume moralische Urteile und menschliche Gefühle miteinander identifiziert, welches entweder als Forderung einer Begründungspflicht des Wechsels
interpretiert werden würde oder als Inkonsistenz innerhalb von Humes Moraltheorie.
Die Schwierigkeit der Passage ist zunächst auf die Frage des Umgangs mit ihr zurückzuführen.
Interessiert den Interpreten die Bedeutung der Passage innerhalb der Moraltheorie und Philosophie Humes überhaupt, die Bedeutung der Passage innerhalb der Konstellation des humeschen Philosophierens oder als ein (formallogisches oder metaethisches) „Gesetz“ – diese
Formulierung, so muss betont werden, ist der Passage als Überschrift von Interpreten herangetragen. Betrachtet man die Passage in einem formallogischen Sinne, wie etwa Ayer und Stevenson, so wird in ihr die Unmöglichkeit bestätigt, deontische Konklusionen aus einer Prämissenmenge von Propositionen oder Tatsachenwahrheiten logisch zu folgern. Da diese Interpretation in den Dienst der Begründung sensualistischer/emotivistischer Positionen genommen
wird – wie in den oben genannten Beispielen –, wird dabei übersehen, dass durch den Zusatz
von Bedeutungspostulaten diese Unmöglichkeit nicht absolut zu verstehen ist.704 Obwohl die
Trennung, die analytische Dichotomie von Seinssätzen und Sollenssätzen intuitiv plausibel erscheint, zeigt sich in einer anderen Hinsicht auch, dass es durchaus schwierig ist, ohne das
jeweils Gemeinte strenge Kriterien für eine derartige Differenzierung zu treffen. Sicherlich ist
eine Reduktion von Normen auf Tatsachen ein Fehlschluss, da, wie Moore zeigt, dass Gute
anders als nur durch Tatsachen definiert werden muss, jedoch übersieht eine strikte semantische
Trennung deskriptiver und normativer Sätze die funktionale und performative Bezogenheit beider Satzmengen.705 Dies gilt nicht nur im performativen, sondern auch im formallogischen
Sinne, wie Kutscheras Versuch einer formallogischen Präzisierung und Begründung des „Gesetzes“ nahelegt. Nach Kutschera ist das Humesche Gesetz keinesfalls in der strengen Unmöglichkeitsbehauptung einer Ableitung zu verstehen. Es besteht in der Unmöglichkeitserklärung
der Ableitung rein normativer Sätze und rein normlogischer Schlüsse, dagegen nicht für analytische Folgebeziehungen.706 Seine Folgerung bezüglich der Bedeutung des Humeschen Gesetzes fällt daher gemäßigt aus:
704
Vgl. Fritz 2009, S. 15.
705
Vgl. Höffe 1980, S. 13.
706
Vgl. Kutschera 1977, S. 13.
200
„Dem Humeschen Gesetz kommt keineswegs die große Bedeutung zu, die ihm in der Literatur,
insbesondere zur Kritik naturalistischer Theorien, oft zugemessen wird. Diese Bedeutung hätte
das Humesche Gesetz nur dann, wenn man in H3 für ‚normlogisch folgen‘ allgemeiner ‚analytisch folgen‘ und für ‚normlogisch wahr‘ ‚analytisch wahr‘ setzen könnte. Das ist aber nicht
zulässig.“707
Deutlich wird dadurch jedoch, dass das Humesche Gesetz, welchem ja nur durch seine Interpreten der Gesetzescharakter durch die Isolation der Passage zugesprochen wurde, kein oder
ein nur schwacher Gesetzescharakter zukommt. Daher liegt die Folgerung nahe, dass wir es mit
einem Problem des Umgangs mit der Passage zu tun haben und die (formallogische) Isolation
dieser den Mehrwert selbst übersteigert oder als Selbstwert in Zusammenhang mit der Philosophie Humes missversteht. Trotz dieser Uneindeutigkeit der Textpassage Humes wird diese, wie
Fritz in seiner Studie herausgearbeitet hat, oftmals in unzulässiger Weise als „Knock-out-Argument“ voreilig gegen einen moraltheoretischen Realismus verwendet – auch wenn er ihn
gegenüber dem Kognitivismus für gerechtfertigt hält.708 Folgerichtig stellt er die Debatte um
die Auslegung der Passage Humes nicht als „Totschlag-Argument“ dar, sondern als Ausgangspunkt einer Debatte um den in der modernen Wissenschaft dadurch aufrechterhaltenen Ausschluss normativer Sätze. Vielmehr kann sich die Bedeutung der Passage in Zusammenhang
mit dem Entwurf einer Pädagogik vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus als bedeutsam erweisen.
Liest man die Passage in Zusammenhang mit der Philosophie Humes, so liegt es nahe, sie als
Einschränkung des Gültigkeitsbereiches der objektiven Vernunft und zugleich als Kritik der
Möglichkeit einer rationalistischen Fundierung und Perspektivierung moralischer Erfahrung
und Urteilskraft zu verstehen. Deutlich wird dies im Treatise on Human Nature, in dem Hume
gegen die Theorie, nach der Menschen nur tugendhaft sein können, sofern sie sich den Motiven
und Geboten der Vernunft fügen und ihre Handlungen danach richten, einwendet, dass die
„Vernunft niemals Motiv eines Willensaktes sein kann“ und „dieselbe auch niemals hinsichtlich
der Richtung des Willens den Affekt bekämpfen kann“.709 Demnach hat die Vernunft nicht nur
kein Vermögen zur Erkenntnis des moralisch Guten und Schlechten, sondern sie ist auch unfähig, Einfluss zu nehmen auf den Willen und die Handlungen des Menschen. Vielmehr bedarf
es eines unmittelbareren moralischen Empfindens, dem des Mitgefühls und der Sympathie, um
tugendhaft zu handeln.
707
Kutschera 1977, S. 12
708
Vgl. Fritz 2009, S. 167 u. 192.
709
Hume 1989, Bd. 2, S. 150 f.
201
„Da die Vernunft allein niemals eine Handlung erzeugen oder ein Wollen auslösen kann, so
schließe ich, daß dieses Vermögen auch nicht im Stande ist, das Wollen zu hindern oder mit
irgendeinem Affekt oder einem Gefühl um die Herrschaft zu streiten. [...] Die Vernunft ist nur
der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen,
als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.“710
Anknüpfend an „moral sense“-Theoretiker seiner Zeit hebt Hume hervor, dass moralische Unterscheidungen nicht aus der Vernunft abgeleitet werden können, sondern vielmehr durch einen
moralischen Sinn, ein moralisches Empfinden wahrgenommen und beurteilt werden:
„Die unterscheidenden Eindrücke, durch die wir das sittlich Gute und das sittlich Schlechte
erkennen, sind also nichts anderes als besondere Lust- und Unlustgefühle; daraus folgt, daß es
bei allen Untersuchungen über diese sittlichen Unterscheidungen genügt, wenn wir die Gründe
aufweisen, die uns bei der Betrachtung eines Charakters Befriedigung oder Unbehagen empfinden lassen. Hierdurch wird uns klar, warum ein Charakter Lob und Tadel verdient.“711
Gemäß der empiristischen Maxime, nach der alle Vorstellungen auf einfache Eindrücke zurückgeführt werden müssen, argumentiert Hume, dass die kennzeichnenden Eindrücke sittlicher, d. h. hier moralischer Urteile und Vorstellungen keine logischen Atome sind, sondern
vielmehr „besondere Lust- und Unlustgefühle“. Das heißt, dass unsere Handlungen nicht oder
nur indirekt durch Gründe der Vernunft geleitet, geordnet und motiviert sind, sondern durch
Affekte der Lust- und Unlust. Die Bestimmung der Tugenden712 erfolgt für Hume demnach aus
den Affekten.
„Die Hypothese die von uns vertreten wird, ist einfach. Sie besagt, daß die Moralität durch das
Gefühl bestimmt ist. Sie definiert die Tugend als jede geistige Handlung oder Eigenschaft, die
in einem Zuschauer das angenehme Gefühl oder Billigung hervorruft, und das Laster als dessen
Gegenteil.“713
Würde Hume das moralische Urteil alleine dem „moral sense“ zuschreiben und so das Moralische mit dem Gefälligen und Nützlichen identifizieren, würde er nicht nur Gefahr eines Relativismus des moralischen Urteils laufen, sondern auch den Einfluss des Tatsachenurteils auf das
Handeln maßlos unterschätzen. Anders als im Treatise beschreibt Hume daher in seiner Untersuchung über die Prinzipien der Moral die Vernunft zwar nicht als Ursprung und Vermögen
710
Hume 1989, Bd. 2, S. 153.
711
Hume 1989, Bd. S. 213.
712
Hume unterscheidet „nützliche“ und „angenehme“ Tugenden. Für den Katalog der Tugenden, die Hume aufstellt, vgl. Lüthe
(1991, S. 60).
713
Hume 2003, S. 128.
202
moralischer Urteilskraft, dennoch als eine Art Korrektiv bzw. Regulativ des „inneren Sinns
oder Gefühl“. Dort heißt es:
„Um aber den Weg für ein derartiges Gefühl zu bahnen und eine richtige Einschätzung seines
Gegenstandes zu erhalten, finden wir, daß oft viel Denken vorausgehen muß, daß feine Unterscheidungen gemacht, richtige Schlußfolgerungen gezogen, entfernte Vergleiche aufgestellt,
komplizierte Verhältnisse untersucht, allgemeine Tatsachen festgestellt und bestimmt werden
müssen. [...] ein falscher Geschmack kann oft durch Argumente und Reflexion berichtigt werden.“714
Deutlich wird hier, dass die Vernunft nicht völlig ohnmächtig ist, Einfluss zu nehmen auf das
Verhalten und moralische Empfinden des Menschen. Wichtig ist es jedoch zu verstehen, dass
die Vernunft nicht direkt Einfluss nehmen kann auf das moralische Urteil, sondern indirekt.
Indirekt ist der Einfluss – wie auch im Zitat deutlich wird – dadurch, dass die Vernunft Urteile
über Tatsachenwahrheiten trifft und durch ein sachliches Verstehen eines Sachverhaltes den
Weg für ein moralisches Bewerten „bahnt“.715 Dass ein Kausalverhältnis zwischen beiden Vermögen besteht, liegt daran, dass sie beide Vermögen eines Subjekts bzw. des Geistes sind. Dass
eine grundlegende Differenz zwischen beiden Vermögen besteht, liegt daran, dass sie sich in
verschiedener Weise auf einen Sachverhalt beziehen:
„Hieraus resultiert der große Unterschied zwischen einem faktischen und einem rechtlichen
Irrtum, und dies ist der Grund warum der eine normalerweise ein Vergehen ist, der andere
nicht.“716
Deutlich wird hier die Unterscheidung, dass die Vernunft ihr Urteil (bzw. Irrtum) über den
Wahrheitsgehalt und die Faktizität einer Aussage/Sachverhaltes beurteilt, die „moral sense“
dagegen über die Moral oder die Gerechtigkeit einer Aussage bzw. eines Sachverhaltes. Anders
als im Treatise betont Hume die Interdependenz beider Vermögen in Hinblick auf ein gerechtes
moralisches Urteil:
„Da der Nutzen einer jeden Eigenschaft oder Handlung eine wichtige Grundlage des moralischen Lobs sein soll, ist es offensichtlich, daß die Vernunft in jeder Entscheidung dieser Art
eine beträchtliche Rolle spielen muß; denn nur dieses Vermögen kann uns über eine Tendenz
von Eigenschaften und Handlungen Auskunft geben und ihre nützliche Folgen für die Gesellschaft und deren Eigentümer selbst aufzeigen.“717
714
Hume 2003, S. 7.
715
So heißt es in der Untersuchung: „Die Vernunft beurteilt entweder Tatsachen oder Verhältnisse.“ Hume 2003, S. 126.
716
Hume 2003, S. 130.
717
Hume 2003, S. 124.
203
Anders, als man demnach durch die polemische Rede von der „Vernunft als Sklavin der Affekte“ vermuten könnte, betont Hume die Interdependenz der geistigen Vermögen, der Handlung und dem moralischen Urteil:
„In moralischen Überlegungen hingegen müssen wir schon mit allen Gegenständen und ihren
Verhältnissen zueinander bekannt sein. Und wir treffen unsere Wahl oder geben unseren Beifall
auf der Basis eines Vergleichs des Ganzen. [...] Alle Umstände des Falls müssen schon bekannt
sein, bevor wir ein Urteil des Tadels oder des Billigung fällen. Sollte ein wichtiger Umstand
noch unbekannt oder zweifelhaft sein, dann müssen wir zunächst unsere Untersuchung oder
unsere intellektuellen Fähigkeiten anwenden, um uns seiner zu versichern und jede moralische
Entscheidung oder jedes moralische Gefühl erst einmal aufschieben.“718
Eine Art Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit des moralischen Urteils ergibt sich nur dann,
wenn die Tatsachen und der Sachverhalt vollständig erfasst sind. Es ist stark zu vermuten, dass
Hume hier eine relative Vollständigkeit im Sinne hat und nicht meint, dass ein Sachverhalt
absolut verstanden sein müsse. Ein solcher Anspruch würde zu einer quasi-unendlichen Suspension des moralischen Urteils führen, da es schwer vorzustellen ist, dass die Komplexität
eines Sachverhalts jemals vollständig von einem Individuum erfasst werden könne – im Sinne
streng wissenschaftlicher Kriterien. Obwohl es Hume nicht um die Vollständigkeit in einem
streng wissenschaftlichen Sinn gehen kann, meint er auch nicht eine Vollständigkeit im Sinne
einer unthematisch-alltäglichen Erschlossenheit im pragmatischen Sinne der Gewohnheit. Da
eine solche Erschlossenheit der Umwelt vielmehr den „irrationalen“ Vermögen, wie etwa der
Gewohnheit, zuzuschreiben ist, kann Hume diese nicht meinen. Vielmehr ist es schlüssig, einen
gemäßigten Anspruch der Vollständigkeit der Erfassung des Sachverhalts qua Vernunft anzunehmen, da diese über die „Tendenz von Handlungen und Eigenschaften Auskunft geben“
kann, was der Verstand nicht kann. Das heißt, dass Hume hier die praktische Vernunft von der
objektiven Vernunft unterscheidet. Was demnach die objektive Vernunft auszeichnet, ist die
Reflexion der Affekte und Sinneseindrücke in Hinblick auf Wahrheit im Sinne der Tatsachenwahrheit. Was dagegen die praktische Vernunft charakterisiert, ist die Reflexion der Affekte
und Sinneseindrücke in Hinblick auf ein moralisches Urteil. Das heißt, dass die praktische Vernunft im Gegensatz zur objektiven Vernunft, die sich durch eine gewisse Autarkie im Urteil
auszeichnet, immer angewiesen ist auf das moralische Empfinden. Denn für sich kann die Vernunft nach Hume – im praktischen oder objektiven Gebrauch – selbst kein Sittengesetz und
keine moralische Norm/kein moralisches Urteil begründen. Während so das moralische Empfinden durch die objektive Vernunft aufgehoben wird, ist sie durch die praktische Vernunft nur
718
Hume 2003, S. 129.
204
temporär suspendiert bzw. tritt durch diese in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. (Hume
drückt im Zitat die prinzipielle Aufschiebbarkeit und Aussetzung des moralischen Gefühls aus
– dabei ist zu beachten, dass in der englischen Sprache der Begriff des „sense“ vielmehr auch
auf den Begriff der Sinneswahrnehmung („sense perception“) hinweist als auf das Gefühl.)719
Somit handelt es sich beim „moral sense“ nicht nur um ein subjektives „Gefühl“ im Sinne etwa
einer Emotion, sondern um eine Art Sensibilität affektiver Gebundenheit: Vernunft bleibt immer nur Instrument zur Verwirklichung dieser Sensibilität.
So bleibt zu betonen, dass Hume Vernunft, wenn er sie in Hinblick auf ihre Praxis definiert,
gerade in instrumenteller, niemals in autarker oder absoluter Weise thematisiert. Vielmehr als
eine Grundlegung und als Prinzip moralischen Handelns bleibt die Vernunft eine Möglichkeit
der Übersteigung des Menschen aus seiner affektiven Gebundenheit. So wird schließlich deutlich, dass es nach Hume zwar keine Grundlegung von Moralität durch die Vernunft geben kann,
dieses jedoch kein dem moralischen Handeln völlig außenstehendes Vermögen ist. Die Unterscheidung von Sein und Sollen, von Tatsachen und Werten bezieht sich nicht auf eine Unabhängigkeit der Vermögen des Geistes, sondern vielmehr gegen einen Reduktionismus. Gerade
weil die Vernunft „kühl und distanziert“ ist und „uns von den bekannten oder vermutete[n]
Überständen und Verhältnissen zur Entdeckung des Verborgenen und Unbekannten führt“,
bleibt sie in diesen Weisen ein wichtiger Einfluss auf das moralische Urteil und die moralische
Handlung.720 Auch wenn das moralische Empfinden ein Prinzip moralischer Urteile und Handlungen ist, so ist für eine moralische Sensibilität die Vernunft von vordringlicher Bedeutung.
Denn wie die Komplementarität von Vernunft und Gefühl deutlich macht, erweisen sich Moralität und moralische Sensibilität nicht nur als ein unthematischer Vollzug affektiven Lebens,
sondern ist als Dialektik von Empfindsamkeit und Distanznahme zu verstehen. Ohne eine solche (gestisch-pragmatische) Dialektik wäre die Ausbildung, Erziehung und Kultivierung moralischer Sensibilität und moralischer Subjektivität nicht zu verstehen.
Kant macht dagegen deutlich, dass auch wenn das Leben des Menschen, sofern er beabsichtigt
sittlich zu handeln, sich durch den Antagonismus von Vernunft und Gefühl auszeichnet, es nur
die reinen formalen Bestimmungen der Prinzipien der praktischen Vernunft sind, die ein allgemeines Richtmaß für Sittlichkeit sein können. Der Satz aus der Kritik der praktischen Vernunft,
wonach die „reine Vernunft für sich allein praktisch“ ist und dem Menschen „ein allgemeines
Gesetz“, ein „Sittengesetz“ gibt,721 drückt diesen Sachverhalt nicht nur aus, sondern schließt
719
Vgl. Lüthe 1991, S. 63.
720
Hume 2003, S. 133.
721
Vgl. Kant 2003, S. 42.
205
auch die Kritik des humeschen Empirismus ein.722 Schon in der Grundlegung der Metaphysik
der Sitten legt Kant dar:
„Empirische Prinzipien taugen überall nicht dazu, um moralische Gesetze darauf zu gründen.
Denn die Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftigen Wesen ohne unterschied gelten sollen,
die unbedingte praktische Notwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der
Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen
Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist.“723
Nur wenn die reinen formalen Bestimmungsgründe des Willens ermittelt sind, können demnach
moralische Gesetze begründet werden, welche eine den newtonschen Gesetzen ähnliche Objektivität und Notwendigkeit besitzen und eben dadurch – da es sich um Sittengesetze handle –
einen allgemeingültigen und notwendig verpflichtenden Charakter haben. Weder lehnt Kant
Rousseaus noch Humes Gedanken zur Grundlegung einer moralischen, bürgerlichen Ordnung
ab noch löst er das damit verbundene Problem eines Mangels einer allgemeinen Gültigkeit und
verpflichtenden Notwendigkeit, welches in Kants Augen weder der Empirismus noch der Sensualismus lösen könne. Es ist entscheidend, dass Kant durch die Kritik versucht, eine Rechtsgültigkeit des rousseauschen Programms der Perfektibilität zu denken. Denn allererst damit
zeichnet sich eine gegenüber dem „alten Wahn“ kritische praktische Urteilskraft zum Zwecke
einer bürgerlichen politischen Ordnung als in der „allgemeinen Menschenvernunft“ begründeten und notwendigen Urteilskraft ab und nicht bloß eine politische Polemik. Kants Gedanke
einer Grundlegung einer kritischen praktisch-politischen Urteilskraft in der Kritik der transzendentalen Fakultäten zeichnet sich somit als entscheidend für die sozialpolitische Anerkennung
bzw. die Akkreditierung des rousseauschen Programms der Perfektibilität des Menschen im
Sinne der Idee der Vervollkommnung der sittlichen Ordnung aus. Zugleich überwindet Kant
durch die kritische Grundlegung der sozialpolitischen Impulse Rousseaus den kulturphilosophischen Pessimismus.724 Denn eine wesentliche Erkenntnis der Kritik liegt darin, dass in der
allgemeinen Menschenvernunft, in der (vernünftigen) Natur des Menschen als animal rationale
das Richtmaß liegt, woraus „alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muß“725.
722
Vgl. Kant 2003, S. 16 f.
723
Kant 2012, S. 83.
724
Deutlich bringt Kant diesen Optimismus etwa in seiner Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig
sein, taugt aber nicht für die Praxis zum Ausdruck. Er verteidigt gegen Mendelssohn die These, dass die Kultur als ein
beständiges Fortschreiten zum Besseren zu verstehen sei.
„Ich werde also annehmen dürfen: daß, da das menschliche Geschlecht beständig im Fortrücken in Ansehung der Cultur, als
dem Naturzwecke desselben, ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines
Daseins begriffen sei, und daß dieses zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen sein werde.“ (Kant AA, Bd. VII,
S. 308 f.)
725
Kant 1998, S. 796.
206
Noch vor dem Herauskommen der Schriften zur praktischen Philosophie formuliert Kant diese
aus der Kritik der reinen Vernunft entnommenen Erkenntnis in populärer Form:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel
des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist
also der Wahlspruch der Aufklärung.“726
Kant bringt den optimistischen Gedanken zum Ausdruck, dass in der Selbstaufklärung der Vernunft des Menschen die allgemeinen Potentiale seiner Vervollkommnung liegen. Der Gedanke,
dass der Mensch in sich das allgemeingültige Richtmaß zu seiner sittlichen Vervollkommnung
auch gegenüber dem „alten Wahn“ trägt, erweist sich damit als Einsicht in die realistische Möglichkeit des sozialpolitischen Utopismus Rousseaus und zugleich als denkmögliches sozialpolitisches Projekt. Das durch die allgemeine Menschenvernunft gegebene Richtmaß zeigt sich
im Gegensatz zu empirischen oder sensualistischen Quellen moralischer Prinzipien als Quelle,
aus der ein allgemeiner Rechtsanspruch sich begründen lässt. Erst durch die Denkmöglichkeit
dieses Rechtsanspruchs durch die kritizistische, transzendentalphilosophische Grundlegung ist
eine gesellschaftliche Anerkennung der Notwendigkeit einer Ausbildung einer von der Ökonomie der Häuslichkeit als auch der politischen Ökonomie unabhängigen kritischen Urteilskraft
auch auf institutioneller Ebene ersichtlich. Diese Notwendigkeit folgt jedoch nicht nur aus den
durch die Analyse der Vernunft freigelegten Rechtsansprüchen der theoretischen und praktischen Urteilskraft, sondern aus dem Ausweis des Vernunftgebrauchs als eigentliches und wesentliches Mittel der Menschwerdung. Bedingung dieser Annahme ist das Postulat der Vernunftnatur des Menschen.
In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht kennzeichnet Kant
das kritische Unternehmen als die in der vorkritischen Phase konzipierte „metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen“ und versucht ihren Zweck in Zusammenhang mit der
Herstellung einer allgemeinen, dem Sittengesetz entsprechenden und verwaltenden bürgerlichen Ordnung darzulegen. Angesichts der Verwirrungen des Publikums gegenüber dem Zweck
und der Notwendigkeit der so umfangreichen Kritik der reinen Vernunft und darüber hinaus
dem kritischen Programm weist Kant den dadurch gewonnen „Leitfaden a priori“ als Regulativ
einer Gesichte in „weltbürgerlicher Absicht“ aus. Kant weist das kritische Unternehmen als
eine spekulative Anthropologie aus, die im Unterschied zur empirischen und geschichtlichen
726
Kant 2006, S. 9.
207
Anthropologie niemals nur als Selbstzweck verstanden werden dürfe, sondern eben in Hinblick
auf die „vollkommene bürgerliche Vereinigung der Menschengattung“727 verstanden werden
müsse.
„Daß ich mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat,
die Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen wollte: wäre
Mißdeutung meiner Absicht; es ist nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf
(der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte.“728
Obwohl Kant fast entschuldigend darlegt, dass er die empirisch abgefasste Historie und damit
auch Wissenschaft vom Menschen „verdrängen“ wolle, erklärt er diese im Zusammenhang mit
der Idee der Ausbildung einer bürgerlichen, freiheitlichen und sittlichen Ordnung für unnütz.
Nur über einen analytischen Einblick und die Freilegung der sich in der Mannigfaltigkeit der
Geschichte offenbarenden transzendentalen, vernünftigen Naturgesetzlichkeit des Menschen
könne ein reiner, formaler Leitfaden zur Umsetzung der weltbürgerlichen Absichten auch über
die materiellen geschichtlichen Bedingungen gefunden werden. Nichts anderes also als der
Ausweis der Notwendigkeit einer transzendental-formalen Analyse zur Gewinnung eines Leitfadens für die geschichtliche Entwicklung und Vervollkommnung des Menschen versucht Kant
hier geltend zu machen. Dies nicht nur entgegen zeitgenössischen Positionen des „Historizismus“ in Deutschland,729 sondern auch gegen die im französischen Materialismus und späteren
Positivismus grundgelegte Konzeptualisierung der Vervollkommnung des Menschen. Mit allem Nachdruck macht Kant geltend, dass die empiristische und historizistisch begründete spekulative Anthropologie einen Relativismus nicht überwinden kann und damit die Bestimmung
des Menschen nicht umsetzen könne.
Entscheidend ist, dass Kant in den Ideen seinen „philosophischen Versuch“ als Mittel der Zuführung des von der Natur intendierten Zwecks des Menschen, der Werdung des mündigen
Menschen darstellt:
„Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines
thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene
Vernunft, verschafft hat. Die Natur thut nämlich nichts überflüssig und ist im Gebrauche der
Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf
727
Kant AA1968, Bd. VIII, S. 29.
728
Kant AA 1968, Bd. VIII, S. 30.
729
Vgl. Riedel 1989, S. 148–170.
208
sich gründende Freiheit des Willens gab, so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht in
Ansehung seiner Ausstattung. Er sollte nämlich nun nicht durch Instinct geleitet, oder durch
anerschaffene Kenntniß versorgt und unterrichtet sein; er sollte vielmehr alles aus sich selbst
herausbringen.“730
Wenn die „Vernunft und darauf sich gründende Freiheit“ das eigentliche Mittel zur Teilhabe
an der „Glückseligkeit und Vollkommenheit“ sei, dann ist es notwendig die Transzendentalphilosophie als Wissenschaft von der Vernunft als Erkenntnis der Bedingungsmöglichkeiten der
Perfektibilitätund auch Zwecke der Perfektibilität zu verstehen
„Ich habe aus der Kritik der reinen Vernunft gelernt, daß die Philosophie nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften,
oder sonst etwas Ähnliches sei; sondern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens,
Denkens und Handelns; sie soll den Menschen nach allen seinen Bestandteilen darstellen, wie
er ist und sein soll, d. h., sowohl nach seinen Naturbestimmungen, als auch nach seinen Moralitäts- und Freiheitsverhältnis.“731
Retrospektiv bekundet sich in der Passage der Schrift Der Streit der Fakultäten nicht nur, dass
Kant die kritische Philosophie als eine Philosophie vom Menschen und im Dienste des Menschen versteht, sondern auch, dass die kritische Philosophie zugleich diese Funktion einnimmt.
Alle bisherige Philosophie habe den Menschen zu einer determinierten „Maschine“ gemacht,
die Kritik verstehe ihn dagegen als „aktive Existenz“ – sie versucht von daher die Zwecke und
Ziele jener Existenz aus der Selbstaufklärung des Menschen zu leisten.732 Das heißt, dass Kant
indirekt die Transzendentalphilosophie gegenüber allen anderen Ansätzen als einzige Methode
zur Vervollkommnung des Menschen und zur Umsetzung des Programms der Bildung des mündigen, durch den Vernunftgebrauch selbst aufgeklärten Bürger macht. Damit formuliert sich
zugleich die für Kants Ansatz grundlegende Bedingung, dass eine Vernunftwissenschaft die
von der geschichtlichen, materiellen Disposition des Menschen unabhängig die überzeitigen
und formalen Prinzipien erkennen kann - ohne Rekurs auf ein dogmatisches Argument -die
Rechtsgültigkeit des Denkens, Urteilens und Handelns auch gegenüber allen politischen Institutionen eine Legitimität bzw. einen Rechtsanspruch einfordern könne.
Das kritische Programm zeigt sich so insgesamt als ein Lösungsversuch der methodischen Defizite eines sozialpolitischen Programmes, welches durch die geschichtlichen Umstände des
aufkommenden Bürgertums eine Lebensdringlichkeit aufweist. Entscheidend ist, dass Kant
730
Kant AA 1968, Bd. VIII, S. 19.
731
Kant 2005, S. 79 f.
732
Vgl. Kant 2005, S. 80.
209
durch die Ergründung der von den dogmatischen, geschichtlichen, empirischen oder naturalistischen Dimensionen der Erfahrung unabhängigen transzendentalen Prinzipien einen Begründungszusammenhang für die Konzeptualisierung einer bürgerlich-libertären, sittlichen Ordnung schafft, den alle bisherigen (spekulativen) Anthropologien nicht geleistet haben. Die bürgerliche Gesellschaft könnte innerhalb der Moderne nur dadurch auch eine gewaltlose staatliche
Akzeptanz finden, da sie in der transzendentalphilosophischen Reflexion ihrer Naturrechtlichkeit eine Grundlegung findet. Es ist hierbei entscheidend zu verstehen, dass der „Leitfaden a
priori“ nicht nur eine wissenschaftslogische Relevanz besitzt, sondern sich in Zusammenhang
mit seiner Entwicklung in seiner sozialpolitischen Relevanz auszeichnet. Besonders in Zusammenhang mit Kants entwickelter Pädagogik als Wissenschaft der Erziehungskunst zeigt sich,
inwiefern die Kritik das sozialpolitische Programm vorbereitet und begründet.
2.4 Bildung und Kritik: Kants Grundlegung der Pädagogik in bildungspolitischer Absicht
Wie Koch treffend formuliert, ist Kant der Erste, der eine wissenschaftliche Pädagogik, d. h.
eine Wissenschaft von der Erziehungskunst verlangt,733 zugleich diese aber auch erstmals wissenschaftstheoretisch bzw. kritisch begründet. Durch die Komplementarität von kritischem
Werk und Pädagogik entsteht erstmals eine Grundlegung einer Wissenschaft, die versucht eine
Idee der Erziehungskunst wissenschaftlich zu begründen, die jenseits der Regierungskunst und
Haushaltsökonomie, jenseits von Gewohnheit und Tradition versucht, Prinzipien und Zwecke
allgemein gültig und notwendig zu erkennen und zur Diskussion zu stellen. Entscheidend ist,
dass durch die Grundlegung der Pädagogik Kants die akademische Akkreditierung der Erziehungskunst, eine bürgerliche Wissenschaft entsteht, die eine Normdiskussion institutionalisiert
mit dem Zweck der “Freisetzung des Bürgers“:
„Erziehung besteht also im Freisetzen von Menschen. Und das Freisetzen besteht im Fragen,
Zweifeln, im Begründen, um damit die eigene individuelle Vernünftigkeit des sich-bildenden
Menschen herauszufordern, damit er sich ans Denken und nicht an Götter, nicht an anderer
Menschen Meinung, nicht an ‚die Gesellschaft‘, nicht an Institutionen, nicht an sogenannte Bedürfnisse bedingungslos binde.“734
733
Vgl. Koch 1989, S. 115.
734
Ruhloff 1975, S. 8.
210
Die „Freisetzung des Menschen“, die Ausbildung zur Mündigkeit, bedeutet nicht, dass der
Mensch sich zu einer Autarkie emanzipieren solle, sondern sich in Verantwortung gegenüber
der in seiner Vernunftnatur, als Definitionsmerkmal des Menschen, verstehen solle. Im Zentrum der Pädagogik Kants steht nicht die Frage einer Selbstbestimmung des Individuums, sondern die Selbstaufklärung des Menschen in Hinblick auf den sittlichen Fortschritt der Menschengattung und der Selbstbestimmung einer bürgerlichen Ordnung. Die Pädagogik erweist
sich so mehr noch als die Institutionalisierung der Wissenschaft von den Prinzipien und Gründen der Erziehungskunst vor dem Hintergrund der Erkenntnis in die Bedeutsamkeit der „Erziehungs- und Regierungskunst“ für den Fortschritt und die Vervollkommnung des Menschen,
sondern auch als Akkreditierung des „herrlichen Ideals eines allgemeinen Reichs der Zwecke
an sich selbst (vernünftiger Wesen)“735 zum Zwecke einer „neuen menschlichen Ordnung“.
Bis auf die hier schon behandelten Fragmente sind Kants Überlegungen zur Pädagogik in der
von Theodor Rink herausgegebenen Schrift Immanuel Kant über Pädagogik von 1803 überliefert. Wahrscheinlich durch eine seit den 90er Jahren progressive Abnahme der physischen und
geistigen Kräfte736 hatte Kant seinem Schüler Rink die Herausgabe seiner Notizen zur Pädagogik anvertraut. Der Text weist starke stilistische und formale Differenzen zu dem von Kant
selbst herausgegebenen Schriften auf, die hier nicht in aller Tiefe besprochen werden können.
Es ist aber wahrscheinlich, dass die Notizen, die Kant Rink übergeben hat, zum größten Teil
die Grundlage seiner seit 1774 gehaltenen vier Vorlesungen über Pädagogik sind, die er darauf
aufbauend frei gehalten haben könnte. Eine Vorlesungsnachschrift ist nicht bekannt, jedoch ist
Lehmann davon überzeugt, dass es sich hier um den „Vorlesungskant“737 handelt. Dieses
scheint die Unterschiede zu den publizierten Texten zu einem Teil erklären zu können, da Kants
735
Kant 2012, S. 111.
Das heißt zugleich, dass Kants Vorstellung der bürgerlichen Ordnung immer auch durch die christlichen Vorstellungen
beeinflusst wurde. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass sie, wie Fischer darlegt, innerhalb der Pädagogik keine positive
Berücksichtigung findet, da sie „keinerlei Vernunftrecht“ hat (vgl. Fischer 1999, S. 203). In Hinblick auf Religion bemerkt
Kant in der Schrift über Pädagogik, dass man die Kinder über die „Ordnung und Schönheit der Naturwerke“ unterrichten
solle und „nachher diese selbst aber Gott zuschreiben“ (vgl. Kant 1965, S. 80). Auch wenn dem so ist, ist es keinesfalls
Kants Verständnis der Pädagogik, dass sie das Kind in den Dogmen unterweisen solle. Zentral ist vielmehr die Überzeugung, dass man nicht mit der Theologie anfangen solle und das Kind in die Dogmen unterrichten solle, sondern man „muß
[…] bei dem Kinde von dem Gesetze, das es in sich hat, anfangen“ (vgl. Kant 1965, S. 81). Wissenschaftlich trennt Kant
den Bereich der Religion und der Pädagogik, gerade auch, weil die Pädagogik eine Institution zur Selbstaufklärung und
Freisetzung des Menschen zur Mündigkeit darstellt.
Man darf in Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff und dem Vervollkommnungsbegriff nicht vergessen, dass diese stark
mit der Idee der Gottwerdung des Menschen als auch der Gottnatur des Menschen verwoben sind. Man denke hierbei an
Kant, der in der Kritik der praktischen Vernunft das Gottespostulat wieder aufgreift und so einen Religionsbegriff in dem
kritischen Unternehmen der Philosophie im praktischen Sinne wieder einführt (vgl. Schwarz 2005, S. 86 ff.).
736
Vgl. Weisskopf 1970, S. 323.
737
Vgl. Lehmann 1961, Bd. 1, S. 8.
211
Vortragsweise als relativ spontan charakterisiert werden könne.738 Doch muss betont werden,
dass es sich bei der Schrift Immanuel Kant über Pädagogik in keiner Weise um ein authentisches Manuskript handelt, welches eines der vier kantischen Vorlesungen über Pädagogik dokumentiert. Denn Rink hat nicht nur den Großteil der Abschnitte stilistisch überabrietet, sinngemäße Erweiterungen eingeführt hat, sondern auch verschiedene Teile selbstständig hinzugefügt.739 Es scheint daher gerechtfertigt, es Rink zum Vorwurf zu machen, dass er sich nicht mit
Kant über die Herkunft oder die Systematik der Schrift verständigt habe, wie es Weisskopf
tut.740 Allerdings ist Kauder zuzustimmen, dass nicht sämtliche Probleme und Widersprüche
des uns vorliegenden Textes auf ein editorisches Versagen Rinks zurückzuführen sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die in der Schrift vorliegenden Gedanken „stringent und sinnvoll rekonstruiert“ werden können,741 da Weisskopfs Ergebnis einer ungewissen Urheberschaft
grundlegend auch aus seiner philologischen Kritik der Editionstätigkeit Rinks und weniger einer systematischen Aufmerksamkeit geschuldet sei.742 Der Hinweis Holsteins, dass die uns
überlieferte Schrift in Begriffen und Denkstrukturen des kritischen Gesamtwerks entspricht,743
müssen wir als methodischen Hinweis lesen. Systematischer Leitfaden für die Schrift müssen
die Begriffe und Denkstrukturen des kritischen Gesamtwerks darstellen, da allererst von dort
aus Anknüpfungen und Veränderungen dazu zu erkennen sind, die den programmatischen Charakter des Werkes verstehen lassen. Denn die Annahme der Entsprechung der Begriffe und
Denkstrukturen darf nicht dazu verführen, die Pädagogik als einen Teil der kritischen Fundamentalphilosophie auszulegen, sondern von dort aus ihr programmatisches Verhältnis und ihre
Differenz in den Blick zu bringen. Denn was Foucault über das Verhältnis von Anthropologie
und Kritik feststellt, das gilt auch für das Verhältnis von Pädagogik und Kritik:
„Einerseits kündigt ihn die Kritik an und macht ihm im Inneren einer empirischen Philosophie
Platz; wobei die Anthropologie [resp. die Pädagogik] ihrerseits weder auf die Kritik verweist
noch auf die organisatorischen Prinzipien, die sie ausbaut. Andererseits nimmt die Anthropologie [resp. die Pädagogik] wie von selbst die Gliederungen der Kritik und die traditionelle
Teilung der Vermögen auf; wobei die Kritik, trotz ihrer impliziten und konstanten Beziehung,
keinen Begründungswert für die Anthropologie [resp. die Pädagogik] erhält; sie beruht zwar
auf deren Arbeit, sie verwurzelt sich jedoch nicht in ihr.“744
738
Vgl. Jachmann 2012, S. 132 f.
739
Vgl. Weisskopf 1970, S. 330.
740
Vgl. Weisskopf 1970, S. 326.
741
Vgl. Kauder 1999, S. 26.
742
Vgl. Kauder 1999, S. 43.
743
Vgl. Holstein in: Kant 1965, S. 6.
744
Vgl. Foucault 2010, S. 80 f.
212
Der Vergleich zwischen der Anthropologie und der Pädagogik ist nicht nur deshalb plausibel,
weil es sich bei beiden um Vorlesungen als auch um späte, nachkritische Werke handelt und
beide überdies in einem thematischen Verhältnis stehen, sondern weil beide Texte programmatisch die Kritik auf der „populären Ebene des Ratschlags, des Berichts und des Beispiels wiederholen“745. Wie Foucault treffen formuliert, gilt auch für die Pädagogik, dass sie ein inneres
Verweisungsverhältnis zum kritischen Werk hat. Denn einerseits ist die Kritik aus der Einsicht
in die Notwendigkeit eines alternativen Begründungszusammenhangs für die Pädagogik und
Moraltheorie als Grundlegung einer neuen sittlichen Ordnung entstanden und andererseits ist
die Pädagogik selbst eine Vermittlungsinstanz des kritischen Denkens, deren Prinzipien deshalb
in diesem Gründen müssten. Im Rückgriff auf das bisher Erörterte ist die These naheliegend,
dass die Pädagogik eine implizite und konstante Beziehung zur Kritik hatte,746 jedoch nicht in
ihr verwurzelt ist, doch durch ihre Arbeit allererst prinzipiell begründet wird.
Dieses Verhältnis von Pädagogik und kritischem Werk liegt in dem Entwicklungsgang des kantischen Problembewusstseins begründet, wie er oben geschildert worden ist. Kant entdeckt zwar
die sozialpolitische und kulturelle Notwendigkeit und die Funktion der Erziehung durch die
Auseinandersetzung mit Rousseau, doch zeigen schon die frühen Bemerkungen, dass er
Rousseaus Prinzipien der Erziehung, insbesondere einer an der Selbstgesetzlichkeit des einzelnen Kindes und der privaten Häuslichkeit orientierten Erziehung, nicht zustimmt. Als wesentlich hatte sich erwiesen, dass Kant die Grundlegung der Erziehung und der Sittlichkeit mittels
der synthetischen Methode als auch des Naturbegriffs Rousseaus nicht für einen Ausgangspunkt zur Grundlegung der gesamtgesellschaftlich relevanten Erziehung hält, derer es bedürfte
zur Begründung einer bürgerlichen Ordnung. Das heißt, dass Rousseaus Kulturpessimismus
zwar erkennt, dass die Regierungs- und die Erziehungskunst wesentliche Probleme der Vergesellschaftung und der Konstitution einer sittlichen Ordnung darstellen, zugleich der Gedanke
der der negativen Erzeihung sich einer Aueinandersetzung mit diesen Problemen verwährt.
Kants zentrale Forderung der Pädagogik, welche auch gegen Rousseau gerichtet ist, lautet deshalb, dass die „Erziehungskunst oder Pädagogik […] judiciös werde“747, wenn sie die Vervollkommnung, d. h. „alle Naturanlagen des Menschen proportionierlich und zweckmäßig entwickelt, und so die ganze Menschengattung ihrer Bestimmung zuführe“748. Wie Koch erörtert,
745
Foucault 2010, S. 81.
746
Man bedenke, dass Kant seit 1776 seine Vorlesungen über Pädagogik hielt und sie dadurch eine gewisse Gleichzeitigkeit
zum anderen Werk hat. So ist sie mit der Entfaltung des Werkes verwoben und ist nicht nur als eine begrenzte Phase zu
verstehen.
747
Kant 1965, S. 33.
748
Kant 1965, S. 32
213
liegt in dieser Forderung die Erkenntnis, dass Prinzipien den Zusammenhang der Erkenntnis
stiften und den Ausgangspunkt einer Systematisierung bilden, auf der eine Wissenschaft allererst gegründet werden kann und so ein Plan des Handelns entwickelt werden kann.749 Die Forderung Kants nach einer wissenschaftlichen Pädagogik ist von daher mit der Forderung nach
der Einsicht in die Prinzipien grundlegend verbunden, da sich die Wissenschaftlichkeit nur an
der Einsicht in die Prinzipien messen lassen kann.
Zugleich stiften Prinzipien in einem anderen Sinne einen Zusammenhang. Sie ermöglichen
nicht nur eine Systematisierung der Zwecke und Gründe, sondern, da es sich bei der Pädagogik
um Prinzipien der praktischen Vernunft handelt, leiten eine Normdiskussion. Damit begründet
sich eine gesellschaftliche Normdiskussion und schließlich so ein kommunikativer oder diskursiver Zusammenhang des Sozialen. Dass Kant dieses auch so vor Augen hat, zeigt sich in der
Forderung:
„Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden, und die
auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können.“750
Kant weist darin die Pädagogik als Wissenschaft aus, die im Interesse der Allgemeinheit und
keiner bestimmten sozialen Gruppe oder staatlichen Institutionalisierung fungiert. Es geht darum, eine Normdiskussion zum Wohle aller zu führen in Hinblick auf eben einen sittlichen
Fortschritt der Menschengattung. Man muss sich dabei deutlich vor Augen halten, dass dieses
Programm einer wissenschaftlichen Pädagogik gegen das höfische Bildungsideal als auch gegen die Alternative von religiöser und lebenspraktisch orientierter Erziehung strebt.751 Ein Programm, das sich, wie wir oben erörtert haben, durch den Einfluss Rousseaus als Regulativ in
Kants Gedankenentwicklung schon in den Bemerkungen bekundet.
Mit der Forderung nach einer judiciösen, d. h. auf Urteilen mit wissenschaftlicher Geltung aufbauenden Erziehungskunst richtet sich Kant gegen jegliche Erziehung, die sich nach den gegenwärtigen Verhältnissen richtet. Wenn das Hauptgeschäft der Erziehung sei, „überall die
richtigen Gründe“ aufzustellen und diese den Kindern begreiflich zu machen, dürfe sie nicht
„mechanisch“ sein. Erziehung dürfe nicht „ohne Plan nach den gegebenen Umständen“, d. h.
den Gewohnheiten und Traditionen geordnet werden, da sie die Kinder nicht „nur nach dem
749
Vgl. Koch 1989, S. 117.
750
Kant 1965, S. 36.
751
Vgl. Irrlitz 2010, S. 502.
214
gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen besseren Zustande des menschlichen Geschlechts“752
erziehen sollte.
„Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird
sie nie ein zusammenhängendes Bestreben werden, und eine Generation möchte nierderreißen,
was die andere schon aufgebaut hätte.“753
Darin liegt, dass Pädagogik eine Wissenschaft sein muss, die um seine Zukunft bedacht sich
aktiv an der Bildung des Menschen beteiligt und nicht unreflektiert die in den Gewohnheiten
und Traditionen vertretenen und vermittelten Prinzipien und Gründe vermittelt. Es ist ungültig,
sich in der Pädagogik nach dem Gegebenen zu richten, da das Gegebene für sich nicht normbegründend sein kann.
Kants Ablehnung einer mechanistischen Erziehung und die Forderung einer „judiciösen“ Pädagogik sind zugleich verbunden mit der Idee einer formalen Wissenschaft und dem Gedanken,
dass die materiellen Umstände niemals einen Leitfaden einer wissenschaftlichen Pädagogik geben könnten. Dieser auf u. a. auf dem naturalistischen Fehlschluss basierende Gedanke zeigt
sich zugleich als Grundlegung der Pädagogik als formale Wissenschaft. Vor dem Hintergrund
des naturalistischen Fehlschlusses ist es für Kant grundlegend, dass die empirischen Wissenschaften und auch die Erkenntnis der Umstände niemals eine normbegründende Funktion haben
könnten.754 Auch für die Pädagogik gilt, dass die guten Zwecke nur dann allgemeingültig und
notwendig erkannt werden können, wenn sie in ihrer formalen, transzendentalen Struktur erkannt werden – rein von den Umständen. Auch dann ist gesichert, dass die Geltung des Urteils
über den Wandel der Phänomene auch in Zukunft eine Gültigkeit besitzt. Kants kritische
Grundlegung der Pädagogik muss daher auch als Versuch verstanden werden eine Fundamentalphilosophie zu entwerfen, die jenseits des bloßen Meinens auch ein sicheres Urteil geltend
machen kann wider einen historischen Relativismus und sensualistischen Subjektivismus. Normen können nur dann eine allgemeine Gültigkeit haben, wenn sie nicht auf einem relativen und
kontingenten Sachverhalt gründen, sondern nur dann, wenn sie von einem Sachverhalt unabhängig erkannt werden.
752
Vgl. Kant 1965, S. 33.
753
Kant 1965, S. 33.
754
Kant macht dies in der Schrift über Pädagogik an folgender Stelle deutlich:
„Durch die Vernunft sieht man die Gründe ein. Aber man muß bedenken, daß hier von einer Vernunft die Rede ist, die
noch geleitet wird. Sie muß also nicht räsonieren wollen, aber es muß auch ihr über das, was die Begriffe übersteigt nicht
viel vorräsoniert werden. Noch gilt es hier nicht die spekulative Vernunft, sondern die Reflexion über das was vorgeht,
nach seinen Ursachen und Wirkungen. Es ist eine ihrer Wirtschaft und Einrichtung praktische Vernunft.“ (Kant 1965, S.
63)
215
Das in der vorkritischen Zeit entworfene Projekt einer alternativen Grundlegung der Moralphilosophie, wie sie in Kants kritischen Schriften zur praktischen Philosophie unternommen werden, stellt von daher die Pädagogik als Wissenschaft in Ausblick. Patzig spricht von daher von
einer
„Art Arbeitsteilung zwischen praktischer Philosophie und Pädagogik im Rahmen einer gemeinsamen Aufgabe, nämlich der moralischen Erziehung und der Klärung ihrer Grundlagen“755.
Schon seit den Bemerkungen hat sich gezeigt, dass Kant die Normproblematik als ein für die
Pädagogik zentrales Thema versteht. Kants schon früh angelegte Erkenntnis, dass die Normen
„nicht identisch[…] mit der historischen und darum überholbaren Erscheinung von Normen
ist“756, wie oben erörtert, führt zu folgender, für die Moderne folgenreichen Einsicht, die Heitger schildert:
„Der formale Charakter von Normativität ist Ausdruck der Anerkennung des Subjekts in seiner
Normkompetenz, in seiner Möglichkeit, vorliegende, vorgegebene Normen zu prüfen, zu kritisieren und zu begründen. Die vorauszusetzende Partizipation des Subjekts an diesem Prinzip
ist die Bedingung der Möglichkeit von Normkritik, von rückhaltlosem Fragen und Prüfen; sie
macht normative Ansprüche dialogfähig und stiftet so die Möglichkeit ihrer pädagogischen
Vermittlung.“757
Entscheidend ist demnach, dass Kant über die Reflexion der Bedingungsmöglichkeiten theoretischer und praktischer, schließlich auch ästhetischer Urteile die in der „allgemeinen Menschenvernunft“ begründete Normkompetenz des Subjektes erkennt. Subjektivität wird so gegenüber
dem Staat, der Kirche und dem durch Gewohnheit und Tradition geprägten sozialen Umfeld zu
einer normgebenden, normbegründenden Instanz. Das Vernunftgesetz, welches er in sich trägt,
das allgemeine Reich der Zwecke, an dem er im Gegensatz zum Tier durch seine Vernunftnatur
einen Anteil hat, ermöglicht es darüber hinaus, das Subjekt als ein autonomes, zur Freiheit bestimmtes Wesen zu charakterisieren. Während der Einzelne als normkompetent zu verstehen
ist, ist der Mensch, sofern er ein Vernunftwesen ist, durch die allgemeine Menschenvernunft
auch als ein normbegründendes Wesen zu verstehen.
755
Patzig 1985, S. 35.
756
Vgl. Heitger 1985, S. 115.
757
Heitger 1985, S. 115.
216
„Ob aber der Mensch nu von Natur aus moralisch gut oder böse ist? Keines von beiden, denn
er ist von Natur aus gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich
bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt.“758
Weder von Natur aus moralische gut oder böse, ist die Anlage und Aufgabe des Menschen seine
ihn definierende Vernunftfähigkeit auszubilden. Da der Mensch nicht von Geburt an vernünftig
ist und die Fähigkeit ausgebildet ist, vernunftgemäß zu handeln und zu urteilen, muss er erzogen
werden. Seine Instinktarmut zwingt ihn dazu, „sich selbst einen Plan seines Verhaltens zu machen“759. Erziehung wird somit nicht nur als eine Akzidenz des Menschseins erfahren, sondern
als der der Menschwerdung zugrunde liegender Prozess.
„Der Menschen kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung
aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch
Menschen die ebenfalls erzogen sind.“760
Darin liegt zugleich begründet, dass der Mensch ein wesentlich soziales Wesen ist. Zum Menschen wird der Mensch nur durch die Erziehung durch andere Menschen. Die Ausbildung der
Naturanlagen des Menschen beschreibt Kant als einen sozialen Prozess, die Vervollkommnung
des Menschen als einen kulturellen Prozess. Die Bildung der Vernunft und die Konstitution des
Sozialen sind für Kant komplementäre Prozesse. Dabei ist es hier verwunderlich, dass sich in
der Pädagogik eine viel offenere Topologie und eine weniger hermetische Architektur der Vermögen andeutet. Denn zum einen wird dargelegt, dass die Vermögen sich ausbilden und sich
ihr Verhältnis durch die Erziehung bestimmen lässt, und zum anderen ergibt sich eine neue
Theorie der Zweckmäßigkeit, die in die Geschichtlichkeit und Geschicklichkeit des Menschen
eingebunden ist. In gewisser Weise trifft Deleuzes These hier zu, wonach Kant durch die Kritik
der Urteilskraft zur Theorie einer „zweckmäßigen Übereinstimmung der Vermögen“ als „Gegenstande einer besonderen Genese“ gekommen ist und dass er annimmt, dass „die zweckmäßige Beziehung der Natur und des Menschen […] das Ergebnis einer praktischen, rein menschlichen Tätigkeit“ ist.761 Da an dieser Stelle kein Platz ist, den entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der Pädagogik und der Kritik der Urteilskraft zu untersuchen, muss diese These
als Bemerkung hypothetisch bleiben.
758
Kant, Immanuel 1965, S. 79.
759
Kant 1965, S. 27.
760
Kant 1965, S. 29.
761
Deleuze 1990, S. 139 f.
217
Aus dem Gesagten folgt, dass es das wesentliche Ziel der Pädagogik ist, dem Menschen seine
Normkompetenz zu vermitteln. Den Menschen zu einem moralischen Menschen zu bilden und
zu kultivieren, bedeutet, ihn nicht nur zu seiner Freiheit zu führen mittels der Bildung seiner
Urteilsfähigkeit, sondern ihm zu vermitteln, dass er als freiheitliches Wesen sich in seiner Freiheit nur im Bezug auf die Vernunft und die dadurch faktisch gegebenen Sittlichkeit zu verstehen
hat. Denn so zeichnet sich die Freiheit als eine Freiheit zur Verantwortung aus. Pflicht und
Schuld sind jedoch Bezugsgrößen, die dem Menschen nicht äußerlich sind, sondern der Mensch
hat allein eine Pflicht und Schuld vor sich selbst. Menschwerdung und Bildung bedeutet von
daher eine Vernahme der Stimme des Gewissens.
„Das Gesetz in uns heißt Gewissen. Das Gewissen ist eigentlich die Applikation unserer Handlungen auf dieses Gesetz.“762
Es ist gerade auch die Würde des Menschen, die Kant über das Gewissen und die Gewissenhaftigkeit des Menschen definiert. Mit dem Begriff des Gewissens führt Kant zugleich eine
religionsphilosophische Dimension in die Philosophie ein. Denn er sagt, dass der Mensch nur
dann sein Gewissen verantwortungsvoll und ehrfürchtig übernimmt, wenn er es als Repräsentanten Gottes denkt.763 So ist der Mensch, sofern er als moralisches, gewissenhaftes Wesen
kultiviert ist, nicht nur Mensch geworden, sondern in gewisser Weise auch das Abbild Gottes.
Beide Dimensionen – Menschwerdung und Gottwerdung – bleiben in Kants Pädagogik, wenn
auch nur in sekundärer Hinsicht, untrennbar miteinander verflochten. In der Metaphysik der
Sitten legt Kant dar, dass das „Gewissen als subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten
wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden“764 muss. Schon zuvor in der Grundlegung
der Metaphysik der Sitten entwickelt Kant den Begriff der Würde des Menschen geradezu aus
diesem Verhältnis des Gewissens als vox dei, die nur der Mensch in der Lage ist zu vernehmen:
„Und hierin liegt das Paradoxon: daß bloß die Würde der Menschheit als vernünftiger Natur
ohne irgend einen andern dadurch zu erreichenden Zweck oder Vorteil, mithin die Achtung für
eine bloße Idee dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willen dienen sollte, und daß gerade in dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern die Erhabenheit derselben bestehe und die Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjekts, ein gesetzgebendes Glied
im Reich der Zwecke zu sein; denn sonst würde es nur als dem Naturgesetze seines Bedürfnisses unterworfen vorgestellt werden müssen.“765
762
Kant 1965, S. 81.
763
Vgl. Kant 1965, S. 81.
764
Kant AA 1968, Bd. VI, S. 439.
765
Kant 2012, S. 78 f.
218
Die Bildung des Menschen zu seiner moralischen Erhabenheit über seine natürlichen Bedürfnisse zeigt sich somit auch als eine moraltheologische Dimension der Pädagogik. Dies spiegelt
sich im Aufbau der Pädagogik-Schrift. Diese beginnt mit der Bildung der physischen oder „materialen Vollkommenheit“ des Menschen und führt schließlich über die Ausführungen über die
praktische oder die „formale Vollkommenheit“ des Menschen zur „Ansehung der Religiosität“.766 Darin lässt sich eine deutliche Hierarchisierung feststellen, die über die Editionsarbeit
Rinks eine systematische Grundlegung in der praktischen Philosophie Kants findet.
So besitzt die Pädagogik neben ihrer sozialpolitischen Programmatik eine Funktion innerhalb
einer „Moraltheologie“767 oder „Ethikotheologie“768. In der Kritik der reinen Vernunft spricht
Kant von einer „Moraltheologie“, die er konzeptuell im Paragraphen 86 der Kritik der Urteilskraft weiterentwickelt. In der Kritik der reinen Vernunft definiert Kant:
„Die Moraltheologie ist also nur von immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestimmung
hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen, und nicht schwärmerisch oder wohl gar frevelhaft den Leitfaden einer moralisch gesetzgebenden Vernunft im
guten Lebenswandel zu verlassen, um ihn unmittelbar an die Idee des höchsten Wesens zu
knüpfen, welches einen transzendenten Gebrauch geben würde, aber eben so wie der der bloßen
Spekulation, die letzten Zwecke der Vernunft verkehren und vereiteln muß.“769
Die Pädagogik als eine Vollzugsgestalt der Menschwerdung, als ein Geschick, den Menschen
seiner eigentlichen „Bestimmung im System aller Zwecke“ zuzuführen und ihn auszubilden,
„einer moralisch gesetzgebenden Vernunft im guten Lebenswandel“ zu folgen, muss von daher
auch in Zusammenhang mit der Moraltheologie verstanden werden. Die Idee einer Pädagogik
als eine Erziehung des moralischen Menschen und als eine Beihilfe zu seiner Vervollkommnung verfolgt die Idee einer Moraltheologie in pragmatischem Sinne. Deutlich wird dies in der
Metaphysik der Sitten, in der Kant die Vervollkommnung des Menschen als eine Bewegung
des Emporsteigens charakterisiert.
„Wenn von der dem Menschen überhaupt (eigentlich der Menschheit) zugehörigen Vollkommenheit gesagt wird: daß, sie sich zum Zweck zu machen, an sich selbst Pflicht sei, so muß sie
in demjenigen gesetzt werden, was Wirkung von seiner That sein kann, nicht was blos Geschenk ist, das er der Natur verdanken muß; denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie kann also
nichts anders sein als Cultur seines Vermögens (oder der Naturanlage), in welchem der Ver-
766
Für die Unterscheidung von der Vollkommenheit vgl. Kant (Die Metaphysik der Sitten, aa vi S. 386).
767
Vgl. Kant 1998, S. 850.
768
Vgl. Kant 2006, S. 370–376 (§ 86).
769
Kant 1998, S. 850.
219
stand als Vermögen der Begriffe, mithin auch deren, die auf Pflicht gehen, das oberste ist, zugleich aber auch seines Willens (sittlicher Denkungsart) aller Pflicht überhaupt ein Gnüge zu
thun. 1) Es ist ihm Pflicht: sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Thierheit (quoad actum),
immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist sich Zwecke zu setzen, empor zu
arbeiten: seine Unwissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrthümer zu verbessern,
und dieses ist ihm nicht blos die technisch=praktische Vernunft zu seinen anderweitigen Absichten (der Kunst) anräthig, sondern die moralisch=praktische gebiete es ihm schlechthin und
macht diesen Zweck ihm zur Pflicht, um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein. 2)
Die Cultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich
die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird, zu erheben und ihm aus Pflicht zu gehorchen, welches innere moralisch=praktische Vollkommenheit ist, die, weil es ein Gefühl der
Wirkung ist, welche der in ihm selbst gesetzgebende Wille auf das Vermögen ausübt darnach
zu handeln, das moralische Gefühl, gleichsam ein besonderer Sinn (sensus moralis), ist, der
zwar freilich oft schwärmerisch, als ob er (gleich dem Genius des Sokrates) vor der Vernunft
vorhergehe, oder auch ihr Urtheil gar entbehren könne, mißbraucht wird, doch aber eine sittliche Vollkommenheit ist, jeden besonderen Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zum Gegenstande zu machen.“770
Kant nimmt hier sowohl das Thema der Instinktarmut des Menschen auf, welches er hier zugleich mit dem Begriff der Pflicht in Verbindung bringt. Die Kultivierung der menschlichen
Naturanlagen steht dadurch nicht nur als ein „technisch-praktischer“ Aspekt der Vervollkommnung dar, sondern die Bildung der Vermögen des Menschen wird unter den globalen Zweck
einer „inneren moralisch-praktischen Vernunft“, einer „sittlichen Vollkommenheit“ gestellt.
Die von der Pädagogik geführte Entwicklung der Menschwerdung charakterisiert Kant deshalb
als ein Emporsteigen, da es sich um eine distanzierende Bewegung aus der „Rohigkeit der Natur“ hin zu einer „reinsten Tugendgesinnung“ handelt. Darin wiederholt Kant die christliche
Abwertung des Diesseits als Abwertung der leiblichen Natur des Menschen. Deutlich wird dies,
sofern man sich die hierarchische Architektonik der Vernunft vergegenwärtigt. Durch den Begriff des Emporsteigens veranschaulicht Kant eine Bewegung der Einkehr und Hinwendung
der Gesinnung zu den praktischen Regulativen der praktischen Vernunftideen, die keine Eintrübung durch natürliches Begehrungsvermögen besitzen. Gleichzeitig aber nimmt er damit augustinische Motive auf, denn die Einkehr hin zur innersten Natur des Menschen ist eine Hinwendung zur Reinheit und Erhabenheit Gottes. Kant nimmt das Leitthema der Confessiones
des Augustinus auf, welches als die Freilegung des Gotteswirkens im Subjekt zu verstehen ist.
Vor allem ist es interessant, dass Kants Pädagogik sich nicht auf Grund seines sozialpolitischen
Programms mit Kritik durch die Institutionen von Staat und Kirche konfrontiert sah, sondern
auf Grund der moraltheologischen, religionsphilosophischen Aspekte. Dies ist verständlich, da
770
Kant AA, Bd. VI, S. 387.
220
Kants Charakterisierung des Emporsteigens eine Bewegung jenseits der Dogmen und Doktrinen der Kirche bezeichnet: eine Bewegung einer natürlichen Religiosität, die gegen die Kirche
(ἐκκλησία) als vor Gott versammelte Gemeinschaft, die nur dann eine Politik der Macht entfalten kann, wenn es sich dabei um nicht nur innerlich vor Gott versammelte Menschen handelt.
Liest man die Vorrede zu der Schrift Der Streit der Fakultäten, so wird deutlich, dass auch wenn
dieser moraltheologische Aspekt nicht durch die durch Rink herausgegebenen Notizen zur Pädagogik erkenntlich wurde, er jedoch durch andere Schriften in die Aufmerksamkeit der kirchlichen und auch staatlichen Instanzen kam, die in der Spätphase Kants einen systematischen
Zusammenhang besitzen. Die Lektüre des Textes offenbart, dass Kant sich selbst als „Lehrer
der Jugend“ mit der Anschuldigung einer „Entstellung und Herabwürdigung mancher Hauptund Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums“ konfrontiert sah.771 Während Kant
sich gegenüber einer staatlichen Zensur seiner Schriften auf Grund der Forderung der Autonomie der Vernunft, „d. h. frei (Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß) zu urteilen“772, durch
die Differenzierung zwischen einem „Privatgebrauch“ und einem „öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft“ hat schützen können,773 so wird dieses in Hinblick auf seine aus der Kritik der
dogmatischen Metaphysik im kritischen Werk und seiner Konzeption der praktischen Vervollkommnung des Menschen aus der Vernunft heraus schwierig. Eine Aussage, dass es zu einem
„wahren Religionsglauben bloß Vernunft erfordert“774, scheint dieses nicht zu beheben.
Es scheint jedoch auch nicht die Absicht zu sein, seine Haltung gegenüber dem kirchlichen
Wahn zurückzunehmen, da nicht die Religion, sondern allein die Kritik der Vernunft einem
republikanischen Staat775 nicht schadet:
„Und so haben die Theologen der Fakultät die Pflicht auf sich, mithin auch die Befugnis, den
Bibelglauben aufrecht zu erhalten: doch unbeschadet der Freiheit der Philosophen ihn jederzeit
der Kritik der Vernunft zu unterwerfen, welche im Falle einer Diktatur (des Religionsedikts),
die jener oberen etwa auf kurze Zeit eingeräumt werden dürfte, sich durch die solenne Formel
bestens verwahren: Provideant consules, ne quid Respublica detrimenti capiat.“776
771
Vgl. Kant 2005, S. 6–8.
772
Vgl. Kant 2005, S. 49.
773
Kant 2006, S. 13.
774
Vgl. Kant 2005, S. 49.
775
Kant lehnt eine Demokratie ab und gibt sich als Befürworter eines republikanisch regierenden Monarchen (vgl.: Kant 2005,
S. 104).
776
Kant 2005, S. 77.
221
Selbst in Fragen bezüglich der Theologie und schließlich auch der Religion hält Kant die Kritik
der Vernunft als Richtmaß aller Streitigkeiten. Dies gerade auf Grund der Annahme, dass die
Kritik der Vernunft die Fragen an einem allgemeingültigen Leitfaden zu klären vermöge, als es
die Dogmen und Edikte der Kirche erlaubten. Die Reinheit, mit der Kant durch das kritische
Unternehmen vermeint die Bedingungsmöglichkeiten des Menschen erkennen zu können, weist
die Philosophie als eine den anderen Wissenschaften übergeordnete Wissenschaft aus – zumindest insofern, dass sie die Grenzen sicherer Erkenntnis am genauesten ermitteln könne und somit auch gerade in Sachen der Regierungskunst einen allgemeingültigen, im Sinne der Menschengattung Leitfaden zu bieten vermöge. Dies gilt auch in Sachen der Erziehungskunst, der
gegenüber er der Kirche keinen praktischen Nutzen abspricht in Hinblick auf einen Fortschritt
der Menschengattung:
„Und so ist, zwischen dem seelenlosen Orthodoxism und dem vernunfttötendem Mystizism,
die biblische Glaubenslehre, so wie sie vermittelst der Vernunft aus uns selbst entwickelt werden kann, die mit göttlicher Kraft auf aller Menschen Herzen zu gründlichen Besserung hinwirkende und sie in einer allgemeinen (obzwar unsichtbaren) Kirche vereinigende, auf dem
Kritizism der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre.“777
Es muss als eine Provokation verstanden worden sein, wenn Kant von einer „unsichtbaren“,
d. h. nicht institutionellen, historisch realisierten Kirche gesprochen hat und zugleich diese in
ihrer Bedeutung für den gesellschaftlichen, sittlichen Fortschritt zurückweist bzw. zumindest
als sehr gering einschätzt. Dies ist jedoch angesichts der Religionskriege und angesichts der
faktischen Wirkung kirchlicher Erziehung keine Polemik, sondern eine Reaktion auf ein realpolitisches Problem der Zeit. So bleiben Kants Entwurf und seine philosophischen Grundlegungen einer Pädagogik letztlich unverständlich, wenn sie nicht auch als eine Response auf die
Probleme der Regierungsgeschicke zu verstehen sind mit einer sich verändernden gesellschaftlichen Strukturdynamik, einem wachsenden Pluralismus der Leben- und Glaubensformen und
einer steigenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. So ist die Idee einer durch die
Autonomie der Vernunft fundierte politischen Urteilskraft und der durch Pädagogik vermittelte
Mündigkeit in ihrer politischen Dimension zu verstehen. Obwohl die Einsicht in die Notwendigkeit einer (von den Meinungen, den empirischen Wissenschaften und dem Doktrinen und
Dogmen des Glaubens) unabhängigen kritischen Philosophie fundierte und in der Pädagogik
am dadurch freigelegten apriorischen Leitfaden pragmatischen Vollzug jener sittlichen Ordnung, Mehr als nun deutlich geworden sein sollte nun, dass Kants Einsicht in die Notwendigkeit
777
Kant 2005, S. 67.
222
eines apriorischen Leitfadens zur Grundlegung einer sittlichen Ordnung und eines bildungspolitischen Geschicks nicht als eine Antwort auf die Probleme der Regierungskunst zu , zugleich
aber auch als eine für die Moderne spezifische Einsicht, dass die Herausbildung normativer
Ordnungen ein aktiver, durch jeden mündigen Bürger vollzogener Prozess ist. Schließlich haben die Religionskriege und andere große Konflikte der Zeit danach vor Augen geführt, dass
durch die gesellschaftlichen Institutionen allein keine sittliche und friedliche Ordnung gewährleistet ist, sondern es auch der aktiven, aufgeklärten und somit normkompetenten Bürger zur
Herausbildung und Aufrechterhaltung sittlicher bzw. normativer Ordnungen bedarf. Es ist ein
wesentlicher Zug der kantischen Philosophie, dass sie erkennt, dass es für den sozialen Fortschritt und die Entwicklung und Erhaltung sittlicher Normsysteme in der Moderne einer politischen Urteilkraft bedarf, die unabhängig von dem Einfluss der Tradition, gesellschaftlicher Institutionen und Meinungen den Bürger zur Freiheit durch vernünftige Selbstbestimmung führt
und ihn davor bewahrt, in seiner Vernunft fremde Zwecksysteme eingebunden zu werden. Der
Einfluss Rousseaus schließlich lässt Kant erkennen, dass politische Urteilskraft kein gegebenes
Vermögen ist, sondern – dies macht die Pädagogik mehr als deutlich – als Geschick allererst
ausgebildet werden muss und über die Vernunftnatur des Menschen einem jeden Einzelnen,
jedem Individuum durch seine Natur aufgetragen ist und in seine Verantwortung gelegt wird.
Arendt hat in ihrem Hinweis vollkommen recht, dass es schwer ist, über Kants politische Philosophie zu sprechen, da er niemals über sie geschrieben hat.778 Es ist eben auch richtig, dass
Arendt darlegt, dass in Hinblick auf die Bemerkungen es nicht richtig ist, dass Kant das Politische im Gegensatz zum Sozialen erst als Problem im Spätwerk entdeckt – wird haben oben
ausführlich auf den Zusammenhang der Probleme in Kants Werk hingewiesen – und sein gesundheitlicher Zustand es ihn hat versäumen lassen, eine „vierte Kritik“ zu schreiben.779 Allerdings ist es, wie hier gezeigt worden ist, in Hinblick auf die Gedankenentwicklung Kants seit
den Bemerkungen, dass Kant die Pädagogik seit Beginn als politische Philosophie in pragmatischer Hinsicht konzipierte und schließlich auch kritisch begründete. Da ein zentrales Thema
von Kants politischer Philosophie der Gedanke ist, dass es notwendig ist, den Naturzustand zu
verlassen, um zu einer sittlichen Ordnung im bürgerlichen Sinne und zu Menschenrechten zu
kommen, ist die Pädagogik der Schlüsselpunkt und das Vollzugs- und Konstitutionsmedium
des Politischen. Was Pestalozzi über seine Pädagogik sagt, kann auch für Kant gelten: „Der
Anfang und das Ende meiner Politik ist Erziehung.“780 Denn obwohl die Probleme und Themen
778
Vgl. Arendt 2012, S. 16.
779
Vgl. Arendt 2012, S. 19 f.
780
Pestalozzi zitiert nach Hebenstreit 1996, S. 135.
223
der vorkritischen Zeit, zu denen Kant im Spätwerk zurückkehrt, durch die kritische Philosophie
eine andere Rahmung gefunden haben, haben sie sich weder so stark verändert, dass sie nicht
mehr zu erkennen sind, noch haben sie für Kant an Lebensdringlichkeit verloren. Im Falle der
Pädagogik kann man gar nicht von einer völligen Unterbrechung sprechen, da er seine Vorlesung auch während der Ausarbeitung der Kritiken hielt. Es wäre besser, sie als eine „Ritornell“
innerhalb von Kants Werk aufzufassen im Sinne von Deleuze und Guattaris: als eine das Werk
durchziehende, nicht aber mit ihm gleichzusetzende, ordnende Begrifflichkeit, die eine Präsenz
in verschiedenen Themen besitzt, jedoch allererst in Differenz zu diesen eine Intensität entfaltet
und einen Denkraum eröffnet.781
Trotz der vielen wichtigen Anmerkungen scheint Arendts These, wonach ein für die politische
Philosophie grundlegender Begriff der Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft „verborgen“
ist, scheint es nicht nur unverständlich angesichts der Thematik und der Problemstellung des
Werkes,782 sondern angesichts dessen, dass der Begriff der Urteilskraft in seiner gesellschaftlichen und politischen Dimension eine Bestimmung in den Pädagogik-Vorlesungen erhält – gerade auch, wenn man wie Arendt Politik als einen „allgemeinen Bereich der gemeinsamen
menschlichen Angelegenheiten“ versteht.783 Urteilskraft, welche „in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen zwischen dem Verstande und der Vernunft ein Mittelglied ausmacht“784,
zeigt sich als ein „Talent“785: es ist zum einen eine „Gabe“, d. h. in der Natur des Menschen der
Potentialität nach angelegtes, universelles Vermögen; zum anderen ist es eine „Begabung“, ein
„Können“, d. h. ein je nach Ausbildungsgrad anzutreffendes, individuelles Vermögen. In der
Kritik der reinen Vernunft charakterisiert Kant es wie folgt:
„Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist die Urteilskraft
das Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft, und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte
der Erkenntnis abstrahiert; so bleibt ihr nichts übrig, als das Geschäfte, die bloße Form der
Erkenntnis in Begriffen, Urteilen und Schlüssen analytische auseinander zu setzen, und dadurch
formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen. […] Wollte sie nun allgemein
zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter
stehe oder nicht, so könnte dies nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber
erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft, und
781
Vgl. Deleuze/Guattari 1996, S. 27; Deleuze/Guattari 1992, S. 424–479.
782
Vgl. Vollrath 1993, S. 42.
783
Hermenau 1999, S. 52–53.
784
Kant 2006, S. 4.
785
Kant 1998, S. 235 (A132 f./B171 f.).
224
so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt werden
will.“786
Deutlich wird, dass die Urteilskraft als Vermögen sich mit dem Besonderen und Singulären
beschäftigt und in Hinblick auf den verständigen und vernünftigen Gehalt analysiert. Die Urteilskraft ist insofern ein dynamisches, in der Alltäglichkeit, für das Handeln und alle menschlichen Angelegenheiten grundsätzlich wichtiges Vermögen. Erst durch die Urteilskraft kann
der Mensch einschätzen, wie er handeln soll, kann er erkennen, welche Regeln in einem bestimmten Sachverhalt richtig sind. So verstanden ist die Urteilskraft das Vermögen, durch das
sich die Freiheit des Menschen im Handeln realisiert. In der Vorrede der Kritik der Urteilskraft
macht Kant nochmals deutlich, dass allererst durch die Urteilskraft der Einfluss des Freiheitsbegriffs in der Sinnenwelt realisiert werde.787 Die durch die Kritiken gewonnenen Einsichten
in den richtigen theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch, in die Bedingungen und die
Möglichkeiten des menschlichen Handelns aus seiner Vernunftnatur heraus findet erst eine
praktische Realität durch eine an der Urteilskraft ausgerichteten Praxis. Die durch die Kritik
der praktischen Vernunft erkannten Grundsätze einer sittlichen Ordnung können nur durch die
Urteilskraft einen Einfluss auf die Sinnenwelt haben und so schließlich auch auf die politische
Ordnung. Obwohl die Urteilskraft „leer“ ist und des Beistandes der „regulativen Ideen“ der
Vernunft bedarf, scheint das moralische Geschick des Menschen ohne die Urteilskraft nicht
denkbar. Eine nicht auf den Sachverhalt Rücksicht nehmende Umsetzung von Ideen muss immer als eine Gewalt verstanden werden, da sie die Singularität des Sachverhalts nicht berücksichtigt. Ohne die Urteilskraft, die die Ideen als Regularien versteht, findet eine Vermittlung
zwischen der Singularität des Sachverhaltes statt und der Universalität der Ideen bzw. Sittengesetze. Ohne eine solche vermittelnde Instanz wäre verantwortliches Handeln, eine Responsivität auf das Andere gar nicht erst denkbar.
Arendts Hinweis, dass Kant Urteilskraft als einen „Weltsinn“788 versteht, ist insofern zuzustimmen, als dass Kant mit dem Begriff der Urteilskraft die in der vorkritischen Zeit realisierte Idee
einer Philosophie als „Weltweisheit“789 umsetzt. Der Gedanke, dass Kants „eigentliche politische Philosophie aus der Erörterung des Phänomens der Schönheit hervorgeht“790 und man
786
Kant 1998, S. 235 f.
787
Vgl. Kant 2006, S. 14.
788
Arendt 2002, Bd. 1, S. 572.
789
Kant AA 1968, Bd. II, S. 278.
790
Arendt 2002, Bd. 1, S. 575.
225
„[a]nstelle des Wortes Geschmack […] bei Kant überall Urteilsfähigkeit einsetzen“791 kann,
scheint problematisch. Zunächst insofern, als dass Kant die Urteilskraft in Zusammenhang mit
dem „Geschmack“ und dem „Phänomen der Schönheit“ erörtert. Denn darin liegt keine „eigentliche politische Philosophie“, sondern eine Erörterung der Urteilskraft, die zwar eine Analytik der Urteilskraft liefert und somit Hinweise auf die Bedingungsmöglichkeiten der Urteilsfähigkeit des Menschen auch in politischer Hinsicht, darin jedoch nicht die Funktion und die
Bedeutung der Urteilskraft im politischen und sozialen Sinne erörtert. Eine „eigentliche politische Theorie“ müsste dieses leisten. Gerade auch in dem Hinblick, dass die Kritik der Urteilskraft die Urteilskraft nur im ästhetischen Sinne, nicht aber im praktischen Sinne als „Talent“
oder als „Geschick“ in Zusammenhang mit der Problematik einer phronesis entwickelt.
Es ist sicherlich sinnvoll, bei Kant verschiedene Begriffe der Urteilskraft bzw. verschiedene
funktionale Erörterungen des Vermögens der Urteilskraft nicht miteinander zu vermischen.
Während Kant in der Kritik der Urteilskraft das Vermögen der Urteilskraft in seiner transzendentalen Dimension erörtert, entwickelt er in der Pädagogik einen Begriff der Urteilskraft im
praktischen und politischen Sinne. Dass dieser das Verständnis der Urteilskraft im praktischen
und politischen Sinne bei Kant einen Vorrang einnimmt, macht der Blick in die Entwicklung
der vorkritischen Philosophie deutlich, jedoch auch die Stelle in der Kritik der reinen Vernunft,
in der Kant die vornehmliche Funktion der Urteilskraft veranschaulichend schildert:
„Daher ist diese [die „Urteilskraft als besonderes Talent“, M. B.] auch das Spezifische des sogenannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann; denn, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und
gleichsam einpfropfen kann; so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem
Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben
möchte ist, in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher. Ein Arzt daher, ein
Richter, oder ein Staatskundiger, kann viel schöne pathologische, juristische oder politische
Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann,
und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in
abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto auch darunter gehöre, nicht unterscheiden kann,
oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden ist. Dies ist auch der große Nutzen der Beispiele: daß sie die Urteilskraft schärfen.“792
791
Arendt 2002, Bd. 1, S. 577.
792
Kant 1998, S. 236 f. (A 173/B 134)
226
Kant vermittelt in dieser Passage eine Vorstellung und einen Begriff der Urteilskraft, die nicht
auf den ästhetischen Diskurs der Zeit Rücksicht nehmen. Die Schilderung der Urteilskraft erörtert vor allem ihre soziale und politische Funktion als Geschick. Kant nennt die Berufe des
Arztes, des Richters und des Staatskundigen als beispielhafte Berufe, in denen die Urteilskraft
eine grundsätzliche Rolle spielt. Wohlgemerkt sind alle diese Berufe mit hoher politischer oder
sozialer Relevanz verbunden, wodurch die Funktion der Urteilskraft nochmals deutlich in jener
Funktion hervorgehoben wird.
Wichtig ist die der Passage zugrunde liegende Unterscheidung von „natürlicher Urteilskraft“
und künstlicher Urteilskraft. Wie Kant erörtert, können Arzt, Richter und Staatskundiger sehr
wohl geschult sein in dem Gebrauch der Urteilskraft, doch können sie noch so viele „schöne
pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben“, ohne dass sie die Urteilskraft in einem richtigen Sinne gebrauchen. Das heißt, dass sofern Regeln der Urteilskraft durch
ihr außenliegende Regeln bestimmt sind, eine Uneigentlichkeit, eine Künstlichkeit der Begriffe
Urteile, und Schlüsse vorliegt. Demnach ist das Geschick der Urteilskraft dann als künstlich zu
charakterisieren, wenn es durch externe Regeln bestimmt ist. Kant nimmt hier nicht nur das
Thema des „Wahns“ auf, sondern zugleich das Thema der Mündigkeit. Was Kant schildert, ist
die Unmündigkeit: der Gebrauch des Verstandes bzw. der Urteilskraft unter der Leitung und
Regulation anderer („fremder Einsicht“). Wenn der Mensch sich seiner Urteilskraft unter der
Leitung gesellschaftlicher Regulative bedient, ist er nach Kant unmündig, unfrei und schließlich
erfährt er dadurch eine Entfremdung: er wird einem seiner natürlichen Gesetzlichkeit fremden
Zweck untergeordnet. Somit kann der Mensch auch, wenn er seinen Naturzustand überwunden
in der Kultur zu seiner Freiheit gefunden hat, diese wieder durch eben diese Kultiviertheit verlieren. Die Unfreiheit des Menschen in der Moderne lege demnach besonders auch in dem
Sachverhalt, dass er, sofern er sich in seinem Geschick durch gesellschaftliche Konventionen
leiten lässt, seiner Urteilskraft beraubt und in seiner Urteilsfähigkeit getrübt wird.
Zur Ausbildung und Kontinuität normativer Ordnungen bedarf es jedoch einer mündigen Urteilsfähigkeit:
„Durch die Bildung zur Klugheit aber wird er zum Bürger gebildet, da bekommt er einen öffentlichen Wert. Da lernt er sowohl die bürgerliche Gesellschaft in seiner Absicht lenken, als
sich auch in die bürgerliche Gesellschaft schicken. Durch die moralische Bildung endlich bekommt er einen Wert in Ansehung des ganzen menschlichen Geschlechts.“793
793
Kant 1965, S. 41 f.
227
Die Klugheit kann der Mensch nur durch das rechte Einschätzen des Sachverhaltes erlangen,
wozu er vermittels der Urteilsfähigkeit in der Lage ist. Erst durch die Bildung der Klugheit, der
Urteilsfähigkeit ohne die Leitung „fremder Einsicht“, wird der Mensch zum Bürger und hat
einen öffentlichen Wert. Kant legt dar, dass die Urteilskraft durch pädagogische Maßnahmen,
etwa „durch Beispiele“, geschärft werden kann. Das heißt, dass die Pädagogik dem Menschen
kein bloßes Wissen vermitteln solle, sondern das „Talent“ der Urteilsfähigkeit ausbilden solle,
die im Handeln die Pflicht gegenüber dem Sittengesetz einbezieht und die Freiheit als Verantwortung wahrnimmt:
„Kurz, er soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten,
wenn man will, daß er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll. Eine solche
Lehrart erfordert die der Weltweisheit eigene Natur.“794
Da Kant sich über die didaktische Umsetzung dieses pädagogischen Programms im Klaren ist,
fordert er, dass man „Experimentalschulen“795 errichte. Vornehmliche Aufgabe der „Experimentalschulen“ sei es, Pläne und Methoden zur Umsetzung der zentralen pädagogischen Frage
„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“796 zu entwickeln. Kant erkennt, dass das
Feld der Pädagogik durch die Antinomie von Einwirkung und Freiheit in ihrer Dynamik strukturiert ist.797 Darin zeigt sich ein Problembewusstsein gegenüber der didaktischen Umsetzung
der a priori gewonnenen Prinzipien und Regulative. Die pädagogische Arbeit bedarf gerade bei
den unterschiedlichen Dispositionsgefügen der einzelnen Kinder eines ständig neuen Beurteilens der richtigen Mittel zur Umsetzung einer Erziehung zur Mündigkeit. Daher kritisiert Kant
auch, dass der Arzt, Richter und Staatskundige, obwohl sie auf ihrem Feld noch so verständig
sein mögen, keine Lehrer sein können, die die Ausbildung einer „natürlichen Urteilskraft“ leiten könnten. Dies, da Bildung im Wesentlichen nicht die Vermittlung von Wissensinhalten
durch Fachkundige darstellt, sondern eine von Pädagogen methodische Ausbildung des Geschicks der richtigen Urteilskraft. So kommt es nicht darauf an, „Gedanken zu lernen“,
„sondern es kommt vorzüglich darauf an, daß Kinder denken lernen. Das geht auf Prinzipien
hinaus, aus denen Handlungen entspringen.“798
794
Kant AA 1968, Bd. II, S. 306.
795
Kant 1965, S. 37.
796
Kant 1965, S. 40.
797
Vgl. Nießler 2009, S. 9.
798
Kant 1965, S. 36.
228
Vor allem liegt der Wert des Denkens und auch des Geschicks der Urteilskraft darin, dass durch
ihre Ausbildung eine Differenz im Denken entsteht, ein Abstand, der die Gewohnheiten, Traditionen und Konventionen beurteilen lässt in Hinblick darauf, ob sie der Entwicklung des Menschen zuträglich sind. So ist die Urteilskraft nicht nur als ein Mittler zwischen Vernunft und
Verstand zu verstehen, sondern gerade auch als Bedingung der Differenz beider in Hinblick auf
die Praxis. Erst durch die Differenz kann sich ein reflektierender Abstand konstituieren, aus
dem eine praktische Klugheit allererst entspringen kann.
Es erweist sich so, dass die Forderung einer wissenschaftlichen Pädagogik die „eigentliche politische Philosophie“ Kants darstellt. Dies zeigt sich, wie auch Koch darlegt, in Kants Forderung
einer wissenschaftlichen Pädagogik, welche prinzipiell „praktisch, mithin normativ“ motiviert
ist, in seinem Interesse an der Realisierung der menschlichen „Bestimmung“ motiviert ist. 799
Daher ist sie als ein sozialpolitisches Projekt zu verstehen. Wie wir gesehen haben, bleibt Kants
Grundlegung der wissenschaftlichen Pädagogik untrennbar mit dem fundamentalphilosophischen Projekt einer „metaphysischen Erfahrungswissenschaft vom Menschen“ verbunden, welches bei Kant durch kritische Philosophie geleistet wird. Umgekehrt zeigt sich so, dass die wissenschaftliche Pädagogik im Sinne und in der Tradition Kants immer auch eine Fundamentalphilosophie oder Metaphysik impliziert. Da die Pädagogik gewissermaßen die praktische
„Vollzugsgestalt“800 dieser Fundamentalphilosophie ist, steht und fällt die Bedeutung des durch
die Pädagogik umgesetzen sozialpolitischen Projekts mit der Plausibilität jener fundamentalphilosophischen Grundlegung.
Neben den Aspekten des durch die transzendentalphilosophische Methode geschuldeten Formalismus und der Orientierung am Universalismus sind, wie Arendt formuliert, vor allem die
Aspekte der kantischen Philosophie in Hinblick auf ein politisches Denken problematisch in
Zusammenhang mit dem Zweck- und Fortschrittsdenken als auch dem Vervollkommnungsgedanken. Im Denktagebuch charakterisiert sie Kants kritische Philosophie als einen letzten Versuch, die theistische Metaphysik zu retten, die die „Natur als eine aufsteigende Ordnung der
Freiheit, verstanden bis zur allgemeinen Subjektivität Gottes“ versteht.801 Tatsächlich zeigt
sich, dass Kant, obwohl er die dogmatische Metaphysik destruiert, im Zusammenhang der praktischen und politischen Philosophie und der damit zusammenhängenden bildungspolitischen
Idee der Vervollkommnung verschiedene dogmatischer Elemente wiedereinführt bzw. beibehält. Wie Arendt darlegt, liegt in der Vernunftorientierung der Ethik, dem Sachverhalt, dass der
799
Koch 1989, S. 129.
800
Ruhloff 1985, S. 52–54.
801
Vgl. Arendt 2002, Bd. 1, S.
229
praktischen Vernunft „die alleinige Zuständigkeit für moralische Fragen“ zugesprochen wird,
eine Abkehr von der Erfahrungswirklichkeit – eine „Flucht aus dem Besonderen“, die nicht nur
durch die transzendentalphilosophische Methode begründet ist in ihrer Orientierung und Analyse der transzendentalen Subjektivität, sondern durch die für die praktische Philosophie grundlegende „Moraltheologie“802 oder „Ethikotheologie“803.
Es scheint plausibel, die „Flucht aus dem Besonderen“ in Verbindung zu bringen mit Kants
methodischer Ausrichtung der Logik und Wissenschaftslehre an dem Vernunftvermögen des
Menschen und dem damit verbundenen Werte-Universalismus, wie Klages sie für die Tradition
der europäischen Philosophie erstmals als „Logozentrismus“ darstellt. 804 So führt, wie Arendt
darlegt, die Orientierung an der praktischen Vernunft als einziges Vermögen, als einzige Instanz
des Räsonierens praktischer Fragen, zu der erstaunlichen Konsequenz, dass in der Kritik der
praktischen Vernunft und auch anderen praktischen Schriften
„von dem sogenannten Mitmenschen kaum die Rede ist. Es geht wirklich nur um das Selbst
und die in der Einsamkeit funktionierende Vernunft.“805
Worauf Arend hier hinweist, ist, dass die für den Logozentrismus charakteristische Ausrichtung
am Vernunftvermögen des Menschen in Hinblick auf eine politische Philosophie problematisch
ist, da sie niemals die Verantwortung des Menschen gegenüber dem Mitmenschen thematisiert,
niemals eine Theorie der Begegnung aufstellen könne. Die dem Logozentrismus geschuldete
methodische Orientierung an der Selbstgesetzlichkeit des Menschen entdeckt zwar den Einzelnen in seiner Normkompetenz, vergisst jedoch, die Rolle des Anderen (der Vernunft) in der
Konstitution normativer Ordnungen zu thematisieren.
Das mit der Pädagogik verfolgte Ziel der Erziehung mündiger und autonomer Bürger, der Erweckung der Rationalität des Menschen, ist mit der „Geschichte des bürgerlichen Aufstiegs“
verwoben, jedoch nicht auf diese allein zurückzuführen. Es ist nicht „das Bürgertum“, „welches
Bildung zu einem organisierten Instrument der Befreiung macht“806, sondern das im Bürgertum
entwickelte Bildungsdenken und die Bildungspraxis finden eine politische Gestalt und Wirklichkeit durch die kantische Philosophie. Festzuhalten bleibt daher, dass durch Kants Forderung
und Grundlegung einer wissenschaftlichen Pädagogik sich ein institutioneller, akademischer
802
Vgl. Kant 1998, S. 850.
803
Vgl. Kant 2006, S. 370–376 (§ 86).
804
Vgl. Klages 1969, Bd. 1, S 374/590.
805
Arendt 2002, Bd. 2, S. 818.
806
Vgl. Heydorn 1972, S. 7.
230
Bildungsdiskurs etabliert, der auf der Voraussetzung gründet, dass ein Fortschritt zu einer „sittlichen“, „menschlichen“ und bürgerlichen Ordnung als Realisierung des „Reichs der Zwecke“
in der Sinnenwelt nur durch die Ausbildung der im Menschen potenziell, in seiner Vernunftnatur angelegten Normkompetenz.
Die Leitbegriffe der Pädagogik sind die Begriffe der Mündigkeit und der Autonomie: die Forderung der Selbstgesetzlichkeit. Der diesen Leitbegriffen zugrunde liegende Gedanke ist, dass
sich Freiheit und Gesetzlichkeit nicht durch eine Entgegensetzung bestimmen lassen, sondern
sich durcheinander erörtern.807 Das heißt, wie Khurana weiter darlegt, dass ein Gesetz nur dann
normativ ist, wenn der Mensch selbst Urheber dieses Gesetzes ist. Insgesamt ist Autonomie
streng von dem Begriff der Emanzipation zu trennen, da der Begriff der Autonomie keine „Freiheit von Gesetzen, sondern Freiheit in Gesetzen“808 bezeichnet. Der Begriff der Autonomie bei
Kant lehnt Gesetze nicht ab, sondern fordert in nachdrücklicher Weise, dass allein der Mensch
gegenüber den in seiner Vernunft offenbarten Gesetzen eine Pflicht und Verantwortung hat.
Gleichzeitig haben der Begriff der Autonomie und der Begriff der Mündigkeit jedoch eine
emanzipierende Wirkung, da sie als Leitbegriffe der Pädagogik eine Freiheit des Menschen
gegenüber jeglicher Fremdgesetzlichkeit einfordern.
Kants politische Philosophie gewinnt ihre Durchsetzungskraft durch eine prinzipielle Ausrichtung an der Vernunft. Die strikte Ablehnung des Sensualismus, des Empirismus und des „Antieudämonismus“ als Voraussetzung dieser Ausrichtung hat, wie Hösle postuliert, die „deutsche
Kultur bis heute nachhaltig geprägt“, insofern, dass sie eine Bereitschaft der Bürger legitimiert
und verstärkt, die Ausbildung des Rechtsstaates vor die persönlichen Interessen und affektiven
Bindungen zu setzen.809 Dies ist eben dadurch denkbar, dass sich Kant von der Entstehung der
bürgerlichen Gesellschaft die Realisierung der menschlichen Freiheit im Sinne der Realisierung
des Reiches der Zwecke versprach.
Es gehört zu den problematischsten Stücken des Logozentrismus Kants, dass damit tendenzielle
Weltvergessenheit einhergeht und eine Selbstüberhöhung des Geistes durch den Glauben gefördert wird, dass allein die Form der Urteile ein Leitfaden für das sittliche Verhalten sein
könne. Das damit verbundene Problem liegt in dem Sachverhalt, dass Kant die Urteilskraft an
das autonome Subjekt bindet und damit den wichtigen Gedanken Rousseaus untergräbt, wonach das Geschick der Urteilskraft von der Ausrichtung an dem Besonderen des Sachverhalts
abhängt und nicht von dem im Subjekt liegenden universalen Logos.
807
Vgl. Khurana 2011, S. 7.
808
Vgl. Khurana 2011, S. 7.
809
Vgl. Hösle 2013, S. 75.
231
3. Pädagogik und die Problematik ihrer transzendentalen Grundlegung
Die Gründung des modernen Gemeinwesens ist ohne oben beschriebenes Erziehungsgeschick,
in dem sich das politische Bewusstsein und Geschick des modernen Bürgers konstituiert, nicht
denkbar. Als prinzipielle Vollzugsmomente unterschieden wir die häusliche oder private Erziehung, welche ihre Prinzipien in der häuslichen Ökonomie, der Tradition und der Gewohnheit
findet, die staatliche Erziehung, welche im Rahmen der Ausbildung der Gouvernementalität
eine Anordnung findet, und deren politischer Realismus und Imagination und Geltungsanspruch sich durch das Verhältnis zu den Naturwissenschaften bestimmt, und schließlich die
Pädagogik als Vollzugsmoment des politischen Utopismus, welche ihren Geltungsanspruch
und ihre Grundlegung in der Philosophie findet. Obwohl die kirchliche Erziehung seit dem 18.
Jahrhundert für die Bestimmung des Gemeinwesens auch durch die Ausformung des „Bildungssystems“ seine Bedeutung verliert, so ist der Begriff der Bildung konzeptuell durch den
Begriff der Vollkommenheit im Sinne der perfectio geprägt. Ohne diesen theologischen Aspekt,
dem damit verbundenen normativen Anspruch ist die breite Anerkennung und Institutionalisierung des Bildungsbegriffs im 18. Jahrhundert kaum vorstellbar. Allerdings muss diese nur indirekte Sinnaufladung des Begriffs auch als Ausgangspunkt einer säkularen Auffassung des
Begriffs im 19. Jahrhundert und darüber hinaus verantwortlich gemacht werden.
Es ist von größter Bedeutung, dass durch die Entfaltung des Bildungssystems eine Gewaltenteilung eintritt, insofern, dass die Erziehung des Menschen zum Bürger, die Ausbildung seines
politischen Bewusstseins und Geschicks, nicht nur durch einen Faktor bestimmt ist, sondern
sich im Spannungsfeld verschiedener Faktoren entfaltet, von denen die für das Gemeinwesen
wichtigsten oben besprochen worden sind. Eine differenzierte politische Urteilsfähigkeit findet
seine Grundlegung in der Gewaltenteilung der Erziehung. Kants Forderung einer wissenschaftlichen Pädagogik als eine Keimzelle bürgerlicher Autonomie, Freiheit durch die Erziehung zur
Mündigkeit, ist für die Gewaltenteilung ein wesentlicher Schritt, da sich durch seinen Einfluss
und in Auseinandersetzung mit seinen Schriften eine wissenschaftliche Pädagogik etabliert. Allerdings findet weder Kants Pädagogik eine unmittelbare Anhängerschaft und Wirksamkeit
noch findet der Leitbegriff seiner Pädagogik eine uneingeschränkte Aufnahme. Festzustellen
ist vielmehr, dass der anspruchsvolle Begriff der Mündigkeit im 19. Jahrhundert als kritische
Kategorie, bis auf eine kurze Phase seiner politischen Radikalisierung in der Märzrevolution
von 1848, nicht nur seine wissenschaftliche Subversion erfährt, sondern von konservativen
232
Kräften nach dem Scheitern der Revolution(en) als politischer Utopismus verworfen wurde.810
Mithin wird der Leitbegriff der Mündigkeit zu einer Forderung sozialistischer und sozialdemokratischer Opposition und findet weder als politischer Faktor noch als pädagogischer Leitbegriff eine Resonanz.811 Wie wir im Folgenden sehen werden, ist der Verlust des politischen
Regulativs der Mündigkeit als Einbruch der in der Aufklärung konzipierten pädagogischen Gewaltenteilung zur Gründung des Politischen als sittliches und freiheitliches Gemeinwesen im
bürgerlichen Sinne zu begreifen.
Es ist richtig, dass durch die Ereignisse der Revolution als auch durch die Napoleonischen
Kriege die Problematik und die Möglichkeit des Terrors mit der Forderung bürgerlicher Autonomie erkannt worden sind und dass diese geschichtliche Erfahrung sicherlich auch zu einem
Einbruch der Enthusiasmus gegenüber der Idee einer Mündigkeit verstanden werden muss. Zugleich muss jedoch deutlich gemacht werden, dass eine gedankliche Assoziation des revolutionären Terrors und der Idee der Mündigkeit, da es sich um zwei völlig verschiedene politische
Momente handelt, unmöglich ist. Die gewaltgestützte Emanzipation einer politischen Gruppe
ist von der Idee der Mündigkeit des Individuums schon dadurch zu trennen, als dass der Begriff
der Emanzipation in sich gerade keinen Pflichtbegriff trägt. Demgegenüber bedeutender für das
Verständnis des Bedeutungsverlustes des Begriffs der Mündigkeit ist jedoch, dass dem Begriff
im Prozess der Profilierung der Pädagogik als Wissenschaft, in kritischer Auseinandersetzung
mit Kant, eine grundsätzliche Kritik widerfährt.
Obwohl Kants Forderung nach einer wissenschaftlichen Pädagogik als auch die Idee einer Pädagogik als autonome Wissenschaft im Anschluss eine unmittelbare Aufnahme finden, so finden jedoch Kants Ausführungen über das Wesen der Pädagogik keine unmittelbare Rezeption.
Es ist dabei nicht nur die Textgrundlage, sondern es sind vor allem die nicht ausgeführten systematischen Fragen, die eine Rezeption verhindern. Über Fragen zur Bestimmung des Umfangs
und der Bereiche der pädagogischen Wissenschaft (vor allem ihr Verhältnis zur Philosophie)
und didaktische Fragen hinaus lässt Kant vor allem die Frage der Grundlegung der Pädagogik
in Hinblick auf die Denkmöglichkeit einer Wirksamkeit der Pädagogik unbeantwortet. Zumindest, so zeigt der Blick auf frühe Rezipienten der Forderung Kants, bedurfte es der philosophischen Fachwissenschaft, um die Grundlegung der Pädagogik im Sinne Kants nachvollziehen
und beurteilen zu können. Mit dieser Kritik jedoch steht und fällt zugleich der normative Anspruch jener Philosophie als bildungspolitisches Projekt.
810
Vgl. Hoyer 2006, S. 20–21.
811
Vgl. Hoyer 2006, S. 21–22.
233
In das Zentrum der Pädagogik stellt Kant, wie wir gesehen haben, die Frage, wie man die Freiheit beim Zwange kultivieren solle. Zum einen schließt die Frage den didaktischen, praktischen
Problemkomplex in sich ein, wie der Pädagoge unter Achtung der natürlichen Disposition des
Kindes die Sensibilität für die moralische Verantwortung kultivieren kann und soll; zum anderen schließt die Frage die für die Denkmöglichkeit der Pädagogik grundsätzliche Problematik
ein, worin der Grund und die Leitbegriffe der Pädagogik bestehen: insbesondere wie die Freiheit des Menschen zu begreifen sei und wie diese in Hinblick auf die Herausarbeitung der pädagogischen Zwecke verstanden werden solle. Es gibt in diesem für die von Kant aufgestellte
Frage im Ausblick auf die Wissenschaftlichkeit eine natürliche Hierarchie bzw. einen natürlichen Vorrang der Fragen. Bleibt die Frage der Gründung, des Ausgangspunkts und des Felds
der Pädagogik unbeantwortet, so ist die Pädagogik als Wissenschaft undenkbar, da nicht unterscheidbar von einer im wissenschaftlichen Sinne unsystematischen Erziehung.
Obwohl Schleiermacher neben Herbart als Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik gilt
und gelten kann, so zeigt sich vor allem in Auseinandersetzung mit ihren Positionen, weshalb
und wie der Begriff der Mündigkeit ab dem 19. Jahrhundert seine Bedeutung verlor.
3.1 Metaphysischer Realismus als Rahmen einer wissenschaftlichen Pädagogik
bei Herbart
Herbart wird 1809 als zweiter Nachfolger auf den Lehrstuhl Kants nach Königsberg berufen.
Dort richtet er, Kants Forderungen nach einer wissenschaftlichen Pädagogik und Experimentalschulen folgend, ein pädagogisches Seminar ein und auch eine Versuchsschule.812 Schon
aber in seiner Schrift Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung von 1804 entwickelt Herbart grundlegende Punkte seines pädagogischen Systems813
durch die Auseinandersetzung mit Kant.
812
Vgl. Raithel/Dollinger/Hörmann 2009, S. 131.
813
Vgl. Benner 1986, S. 58.
Obwohl Herbart seine Pädagogik darüber hinaus in Auseinandersetzung mit anderen Zeitgenossen entwickelt, so unterscheidet sich Herbart von Pädagogen wie Pestalozzi durch das „meta-wissenschaftliche Axiom, Wissenschaft müsse formal
und struktural auf einem Prinzip beruhen bzw. von einem Prinzip ausgehen (vgl. Müßener 2002, S. 13). Eine Annahme,
die nicht nur den „Systemwillen“ Herbarts kenntlich macht, sondern zudem einen Wissenschaftsanspruch in die Folge
Kants stellt. Auch eine „Zweck-Pluralität“ der Philantropen lehnt Herbart daher ab (vgl. Müßener 2002, S. 18).
234
Herbart schließt in der Schrift an die von ihm in seiner Vorlesung aufgeworfene Frage an, wie
die Verbesserung des Politischen, die praktische Kultur durch die theoretische Kultur herbeigeführt werden soll.814 Die Frage nach der Wirksamkeit der Ideen der Aufklärung, die nach
dem Scheitern der Revolution ist darin einbegriffen und somit die Frage, wie der Zusammenhang von Theorie und Praxis im Handeln realisiert werden kann – Herbarts frühe Schriften
reflektieren vor allem Theorie-Praxis Modelle. Geprägt von dem in Schillers Briefen Über die
ästhetische Erziehung des Menschen entwickelten ästhetischen Utopismus, entfaltet Herbart in
seinem Text von 1804 erstmals die Idee einer Grundlegung der Pädagogik durch bzw. in Auseinandersetzung mit der Ästhetik. Im Kern liegt darin das Anliegen beschlossen, den kantischen
Dualismus mit den denkerischen Mitteln der Kritik der Urteilskraft zu überwinden. 815 Dies ist
besonders in Hinblick auf die Beantwortung der Frage nach der Wirksamkeit der Ideen der
Aufklärung und deren Umsetzung als politische Regulative als auch in Hinblick auf die Beantwortung der Frage nach der Denkmöglichkeit der Wirksamkeit der Pädagogik wichtig. Ein Abrücken vom Utopismus eines bürgerlichen und sittlicheren Gemeinwesens, der durch die Pädagogik eine politische Umsetzung finden solle, ist damit nicht zu konstatieren.
Wie auch Kant stellt Herbart die Moralisierung des Menschen als Zweck der Erziehung dar,
aus dem er später auch eine allgemeine Pädagogik abzuleiten versucht.816 Zu Beginn der Schrift
von 1804 lässt Herbart verlauten: „Man kann die eine und ganze Aufgabe der Erziehung in den
Begriff Moralität fassen.“817 Obwohl Herbart, wie Müßener konstatiert, in sowohl seinem Wissenschaftsbegriff als auch in der Orientierung der Pädagogik an Kant anschließt, 818 so kündigt
sich schon in der Schrift ein entscheidender Unterschied zu Kants Fassung des Begriffs der
Moralität als Grundbegriff der Pädagogik an:
„Moralität als höchster Zweck des Menschen und folglich der Erziehung ist allgemein anerkannt. […] Aber Moralität als ganzen Zweck des Menschen und der Erziehung aufzustellen,
dazu bedarf es einer Erweiterung des Begriffs derselben, einer Nachweisung seiner notwendigen Voraussetzung als der Bedingungen seiner realen Möglichkeit.“819
814
Vgl. Benner 1986, S. 250.
815
Vgl. Heesch 1999, S. 43.
816
Vgl. Herbart 1986, S. 71–191.
817
Herbart 1986, S. 59.
818
Vgl. Müßener S. 11–25.
819
Herbart 1986, S. 59.
235
Dadurch, dass Herbart hier den für Kants transzendentalphilosophische Methode grundlegenden Begriff der „Bedingung der Möglichkeit“ aufnimmt, wird deutlich, dass Kants Transzendentalphilosophie im Mittelpunkt der Kritik steht. Herbart kündigt gegenüber diesen Zweifeln
an, ob sie als Ausgangspunkt zur Gründung einer Pädagogik – als Ansatz zur Beantwortung der
Frage, wie Erziehung möglich ist – überhaupt zu verstehen sind.
Die Zweifel Herbarts werden in Hinblick auf die Beschäftigung mit dem für die Pädagogik als
Wissenschaft so zentralen Problem des Theorie-Praxis-Verhältnisses verständlich, welches
Herbart zuvor reflektiert. Herbart versteht in seiner Vorlesung von 1802 – ganz im Gegensatz
zu Kant –, dass die Pädagogik kein bloßes Praktisch-Werden der in der Philosophie verstandenen Ideen ist, sondern sich durch eine völlig neuartige Situation auszeichnet. Obwohl er darlegt,
dass es der Pädagogik an „philosophischer Umsicht durch allgemeine Ideen“820 bedarf, lässt
sich die Situation der Pädagogik nicht allein als Situation der Anwendung der aus der philosophischen Besinnung gewonnenen Prinzipien verstehen. Herbart versteht sehr wohl, dass die
Pädagogik auch in ihrer Funktion als Gründung des Politischen, als ein neuer, moderner Typ
von Wissenschaft aufgefasst werden muss, der durch die Dichotomie von Theorie und Praxis
nicht recht begriffen werden kann. Vielmehr handelt es sich um ein Handeln, dass Wissen und
Kunst in sich vereint und aufeinander bezieht. Etwa auch im Sinne der Idee der Weltweisheit
versteht Herbart den Pädagogen als „Wissenskünstler“, der Wissen und Welt miteinander ins
Spiel bringt. Darin liegt im Wesen ein pragmatisches bzw. auf die Praxis ausgerichtetes Wissenschaftsverständnis.
Als Charakteristikum des Pädagogen fordert Herbart den „Takt“, welcher „zwischen Theorie
und Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied“821 bildet:
„(J)ener Takt […] bildet sich erst während der Praxis; er bildet sich durch die Einwirkungen
dessen, was wir in dieser Praxis erfahren, auf unser Gefühl; diese Einwirkung wird anders und
anders ausfallen, je nachdem wir selbst anders oder anders gestimmt sind; auf diese unsere
Stimmung sollen und können wir durch Überlegung wirken; von der Richtigkeit und dem Gewicht unser Überlegungen, von dem Interesse und der moralischen Willigkeit, womit wir uns
ihr hingeben, hängt es ab, ob und wie sie unsere Stimmung vor Antretung des Erziehungsgeschäftes, und folglich ob und wie sie unsere Empfindungsweise während der Ausübung dieses
Geschäfts und mit dieser endlich jenen Takt ordnen und beherrschen werden, aus dem der Erfolg oder Nichterfolg unserer pädagogischen Bemühungen beruht. Mit anderen Worten: durch
Überlegung, durch Nachdenken, Nachforschen, durch Wissenschaft solle der Erzieher vorbereiten – nicht sowohl seine künftigen Handlungen in einzelnen Fällen, als vielmehr sich selbst,
820
Vgl. Herbart 1986, S. 56.
821
Vgl. Herbart 1986, S. 56.
236
sein Gemüt, seinem Kopf und sein Herz zum richtigen Aufnehmen, Auffassen, Empfinden und
Beurteilen der Erscheinungen, die seiner warten, und der Lage, in die er geraten wird.“822
Der Takt, den Herbart hier als „Herzstück“ der Pädagogik beschreibt, zeigt sich nicht nur als
die wissenschaftlich ausgebildete, man könnte sagen disziplinierte Urteilskraft. Herbart versteht
die Urteilskraft als ein Geschick. Interessant ist hierbei, dass die Stimmung und das Gefühl als
Teil dieses wissenschaftlichen Geschicks aufgefasst werden und nicht als bloß subjektiv ausgegrenzt werden müssen. Vielmehr werden Gefühle, Stimmungen etc. als „Instrumentarien“
mit in den Wissensprozess eingebunden, da sie allein eine Sensibilität gegenüber dem Besonderen, Singulären konstituieren. Gleichzeitig zeigt sich, dass sie nicht als bloßer Schein verstanden werden, sondern – wie wir auch später sehen werden –immer auch als „Hinweis auf
Sein“ verstanden werden.823
Vor dem Hintergrund des nun skizzierten Problemkomplexes von Theorie – Praxis, lässt sich
nun Herbarts Kritik an der transzendentalphilosophischen Methode deutlicher verstehen. In
Hinblick auf die Idee einer Pädagogik als Geschick zeigt sich, dass Herbarts Forderung der
Gründung der Pädagogik in der Reflexion der „Bedingungen [der] realen Möglichkeit“ und der
„notwendigen Voraussetzungen“ der Moralität und der daraus folgenden Erweiterung des Begriffs der Moralität nicht nur die Kritik einer methodischen Einseitigkeit der Transzendentalphilosophie in sich einschließt, sondern auch, dass aus der für die Transzendentalphilosophie so
zentralen Methode der Reflexion der transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit ein für die
Pädagogik falsches Verständnis der Funktion des moralischen Wollens hervorgeht.
Hopfner legt dar, dass sich Herbarts Kritik an Kants Grundlegung der Pädagogik vor allem in
Hinblick auf die Kritik des Formalismus und des Rigorismus der Transzendentalphilosophie
verstehen lässt.824 Obwohl der logische Formalismus der Transzendentalphilosophie die Möglichkeitsbedingungen formal-gültiger Urteile darlegen könne, könnte er nicht zu einer Erkenntnis beitragen, welches Urteil und welches Handeln in Bezug auf den singulären Sachverhalt
opportun wäre. Weder also ließe der Formalismus die Wechselwirkung des Geistigen und des
Körperlichen begreifen noch die Umweltlichkeit des Subjekts verstehen. Die Kritik des Rigorismus führe im Kern die Einsicht, dass „ethische Systeme“, wie das kantische System, welches
822
Herbart 1986, S. 57.
823
Als wohl zentraler Satz von Herbarts Metaphysik kann folgender gelten:
„Das Zurückbleibende, nach aufgehobenem Sein, ist Schein. Dieser Schein, als Schein, hat Wahrheit. das Scheinen ist wahr.
Nun liegt es im Begriff des Scheins, daß er nicht in Wahrheit das sei, was er scheint. Sein Inhalt, sein Vorgespiegeltes,
wird in dem Begriff ‚Schein‘ verneint. Damit erklärt man ihn ganz und gar für nichts, wofern man ihm nicht von neuem
(ganz fremd dem, was durch ihn vorgespiegelt wird) ein Sein wiederum beifügt, aus welchem man dann noch das Scheinen
abzuleiten hat. – Demnach: wie viel Schein, so viel Hindeutung aufs Sein.“ (Herbart SW, Bd. 2, Aalen, 1964, S. 187)
824
Vgl. Hopfner 1999, S. 124.
237
die Moralität allein der Aktivität der Vernunft des Subjekts zuschreibe, nicht nur ein „übermenschliches Ideal der Vernunft“ postuliere, sondern das Subjekt auch „mit übermenschlichen
Anforderungen“ konfrontiere.825 In Hinblick auf die Pädagogik ließe sich darin die Kritik formulieren, dass der Rigorismus der Sensibilität des Pädagogen gegenüber der individuellen Disposition des Schülers im Wege stehe, da dieser unabhängig von der Disposition des Schülers
die Unterordnung unter das Sittengesetz fordere, „ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen“ 826. Das heißt,
dass Moralität nicht allein an der Form des kategorischen Imperativs beurteilt werden könne,
dass dieses den Sachverhalt methodisch ausgrenze und missverstehe. In Hinblick auf die Praxis
sieht sich die Pädagogik, pointiert formuliert, nicht mit transzendentalen Ichheiten konfrontiert,
sondern mit „Wesen mit Nöten und Wünschen“827. Ohne den Einbezug der Praxis ist die Ausbildung eines „pädagogischen Takts“828, wie Herbart sie fordert, schlicht undenkbar.
Neben der transzendentalphilosophischen Methode, die als Analytik der transzendentalen Bedingungsmöglichkeiten zur universalen und notwendigen Klärung der Geltung praktischer, moralischer Urteile zu verstehen ist (unter Auslassung einer Reflexion der empirischen und realen
Dimensionen moralischen Urteilens und Handelns), steht für Herbart vor allem auch die kantische Vorstellung vom Menschen einem Verständnis der Wirksamkeit der Pädagogik entgegen.
Kant definiert den Menschen als „Bürger zweier Welten“ und unterscheidet (um einem naturwissenschaftlichen Reduktionismus der Anthropologie vorzubeugen)829 strikt eine empirische,
mechanische Dimension des menschlichen Handelns und eine intelligible, transzendentale Dimension des menschlichen Handelns. Kant begreift den Menschen vorwiegend in seiner Autonomie, durch seine absolute Spontaneität oder transzendentale Freiheit. Als intelligibles Wesen,
in seiner Vernunftnatur, steht der Mensch nicht unter dem Gesetz der Kausalität, sondern unterliegt als Vernunftwesen dem Sittengesetz. Die Bestimmung des Menschen durch den im Begriff der Sittlichkeit eingeschlossenen Begriff der „transzendentalen Freiheit“ verleitet Herbart
zur Annahme, dass sich die Transzendentalphilosophie und die Pädagogik gegenseitig ausschließen.
825
Hopfner 1999, S. 128.
826
Kant 2003, S. 98.
827
Prange 2004, S. 178.
828
Vgl. Benner 1986, S. 31–57.
829
Vgl. Benner 1986, S. 64 ff.
238
„Wie dachte sich Kant moralische Erziehung? Als eine Wirkung auf transzendentale Freyheit?
Unmöglich, denn der Begriff der letzten hört auf, so bald man sie nicht rein aus dem Causalnexus herausdenkt. Sie thut, was sie thut, von selbst; man kann sie durch nichts hindern, ihr nichts
erleichtern. Sie erfindet Maximen; was der Lehrer dazu spricht ist gleichgültig. […] Sie begreift
und nimmt an, was in ihr selbst absolut anhebt. – So beschreiben und Kant und seine Nachfolger
transcendentale Freyheit; - und so vernichten sie alle Pädagogik, - denn mit der Hauptsache,
der sittlichen Erziehung, fällt das Ganze.“830
Wie Asmus treffend formuliert, kritisiert Herbart hier vor allem Kants „Konstruktion eines
überzeitlichen intelligiblen Ichs, das als nichtbeeinflussbare Willkür der sittlichen Bestimmung
jeder erzieherischen Einwirkung unzugänglich sei“831. Das Hauptziel der Erziehung nach Herbart, die moralische Charakterbildung des „Zöglings“,832 welche in der Ausbildung der moralischen Willensbildung und Urteilskraft zu verstehen ist, ist undenkbar, wenn man die moralische
Willensbildung unabhängig von jeglicher kausalen Beeinflussung verortet.
Nicht also nur die methodische Wendung zu den transzendentalen Bedingungsmöglichkeiten,
sondern auch der Begriff der „transzendentalen Freiheit“ als Bestimmung des Menschen in Zusammenhang mit dem idealistischen Begriff der Sittlichkeit werden von Herbart als Ausgangspunkt für die Gründung der Pädagogik als Wissenschaft zurückgewiesen. Problematisch ist
hierbei, wie Kühne hervorhebt, dass die transzendentalen Systeme Sittlichkeit „als vorgegeben“
erachten und „sittliches Verhalten als eine Aeusserung der Freiheit“ erwarten.833 Man muss hier
jedoch Kants „transzendentales System“ nicht vorschnell mit den „idealistischen Systemen“ in
Verbindung bringen. Denn Kants Begriff der „transzendentalen Freiheit“ muss als Lösungsversuch in Bezug auf eine – oben dargelegte – Problemkomplexität verstanden werden. Der Begriff
der „transzendentalen Freiheit“ ist für Kant kein Ausgangspunkt, sondern vielmehr eine Folge
seiner Gedankenentwicklung in Zusammenhang mit der Suche nach einem bürgerlichen Gemeinwesen und politischen Utopismus. Es bleibt wichtig daran festzuhalten, dass die Originalität der kantischen Pädagogik nicht in der Pädagogik selbst liegt, sondern dass Kant die für die
Grundlegung einer bürgerlichen Gesellschaft so bedeutsame Frage entwickelt, wie die Freiheit
beim Zwange kultiviert werden könne. Kants akademische Akkreditierung der wissenschaftlichen und öffentlichen Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung bezüglich der Möglichkeiten der Erziehung autonomer Bürger als auch der Vorlage einer formalen Lösung stellt die
830
Hebart zitiert nach Gerdenitsch 2010, S. 101.
831
Asmus 1972, S. 14.
832
Im Sinne von Herbarts Leitsatz der Pädagogik:
„Machen, daß der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: dies oder nichts ist Charakterbildung!“ (Herbart 1986, S. 61)
833
Vgl. Künhe 1976, S. 109.
239
große synthetische Leistung dar, von der Herbart und andere profitieren. Die wissenschaftliche
Frage nach einer wissenschaftlichen Pädagogik läuft immer auch Gefahr, den politischen Utopismus, der in der Forderung liegt, zu übersehen.
Entscheidend ist hier jedoch, dass Herbart Kants Philosophie aus der Perspektive der Nachgeborenen durchdenken kann und sie vor allem auch vor dem Hintergrund der von Kant ausgehenden Ansätze und Entwicklungen beurteilt. Herbarts Blick auf Kant ist durch die Kenntnis
der Philosophie Fichtes geprägt, den er als Student hörte und dessen „Produktionsidealismus“834 Herbarts Blick auf die problematischen Aspekte der „transzendentalen Systeme des
Idealismus“ lenkte. Auf Grund der komplizierten Konstellation, aus der sich die herbartsche
Philosophie heraus entwickelt, bleibt es zu berücksichtigen, dass Herbart schließlich auch durch
seine Perspektive der Rezeption weder nur als Kant-Kritiker noch als Kantianer bezeichnet
werden kann.835
Wie Kühne treffend resümiert, sind es drei Kritikkomplexe, die Herbart gegen den Idealismus
und gegen Kant als Idealist verstanden hervorbringt: 1. Transzendentale Freiheit und Fatalismus; 2. Inconsequenzen und Utopien „idealistischer“ Pädagogik; 3. Auffassung des Subjekts.836
Der erste Kritikkomplex bezieht sich auf Herbarts Besorgnis über die Konsequenzen der Freiheitslehre. Schon in der Schrift von 1804 rückt Herbart den Begriff der transzendentalen Freiheit, da er durch Kant dem Kausalnexus gegenübergestellt wird und so eine kausal unbeeinflussbare Dimension darstellt, in die Nähe des Begriffs des Schicksals („moira“).837 Der damit
zusammenhängende Glaube, dass die Freiheit des Menschen nicht gestaltbar sei, identifiziert
Herbart im Kern als Fatalismus. In diesem Zusammenhang kann man durchaus kritische Töne
Herbarts gegenüber den bei Kant und beim Idealismus präsenten dogmatischen Elementen erkennen.
Der zweite Komplex der Kritik bezieht sich vor allem auf Fichtes politische Philosophie. Herbart wirft ihm, auf Grund mangelnder Kenntnisse der Praxis als auch auf Grund eines mangelnden richtigen Verständnisses des „psychologischen Mechanismus“,838 eben der „realen Bedingungsmöglichkeit“, einen utopischen Charakter vor. Ob diese Thesen im Einzelnen zutreffen,
sei an anderer Stelle im Text diskutiert, jedoch bringt Herbart in diesem Zusammenhang einen
834
Vgl. Frank 1997, S. 98 u. 133.
835
Vgl. Benner 1986, S. 150–156.
836
Vgl. Kühne 1976, S. 87–113.
837
Vgl. Kühne 1976, S. 91.
838
Vgl. Kühne 1976, S. 101.
240
sehr wichtigen Punkt auf. Er kritisiert, dass der Begriff des Staates für eine Grundlage der Erziehung nichts tauge, da der Begriff des Staates selbst schon „vorhandene und fertige Vernunftwesen“ voraussetzt. Da Kinder keine Vernunftwesen in diesem Sinne sind, ist eine Ableitung
der Prinzipien der Erziehung aus dem Begriff des Staates schlichtweg undenkbar. In diesem
Punkt spricht Herbart nicht nur die Notwendigkeit einer autonomen Pädagogik an und die Ablehnung der Politisierung der Pädagogik, sondern er begreift im Kern, dass der Staat immer im
Prozess der Bildung begriffen ist. Müsse ein Staat immer erst „gebildet“ werden, ist Fichtes
politischer Utopismus fehl am Platze. Die Gründung des Politischen ist ein kontinuierlicher
Prozess und darf keinen Staat voraussetzen. Das heißt, dass das Politische immer das Fragwürdige ist.
Drittens kritisiert Herbart im Wesen die transzendentalen und idealistischen Auffassungen des
Subjekts. Wie Kühne ausarbeitet, ist für Herbart die Grundlegung der Pädagogik in einem „apriorisch-statischen“ Begriff der Subjektivität, die das Ich als etwas „Fertiges“ auffasst, undenkbar.839 In seiner kritischen Schrift Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik schreibt
er:
„Die Ichheit erzeugt sich fort und fort; [38] sich sammelnd wächst sie, und als ein wachsender
Faden durchläuft sie theils die Lebenszeit, theils den Reichthum der Gedanken, theils Pläne und
Maximen; doch sucht sie auch oft mühsam genug sich selbst in den verschiedenen Vorstellungsmassen; und klagt, bey weitem nicht ganz, und nicht von selbst mit sich Eins zu seyn.
Diese Klage erschallt bald aus der einen, bald aus der andern Vorstellungsmasse; denn das Ich
ist vielwegs stets einerley Wissen und Wollen von sich.“840
Sünkels These,841 wonach Herbart statisch denke, zeigt sich in Hinblick auf diese Auffassung
des Ich als Fehleinschätzung. Der hier skizzierte Begriff der Ichheit zeigt sich hier als ein höchst
dynamischer und genetischer Begriff. Als zentrales Merkmal könnte man hier die Idee der Ichheit als „sammelnd wachsende“ Dynamik verstehen: ein Ich, welches sich als Fluchtpunkt der
Erfahrungen, Vorstellungen und Gedanken ausformt im Sinne eines Ichs, welches zwar als Bewusstsein potenziell immer anwesend ist, jedoch niemals Herr seiner Erfahrungen, Gedanken
und Vorstellungen ist. Im Begriff der Sammlung ist nicht nur die Komplexität der Ichheit bedacht, sondern auch die Attentionalität des Bewusstseins. Denn der Sammlung bedarf es nur,
wenn die Zerstreuung mitbedacht ist.
839
Vgl. Kühne 1976, S. 107.
840
Herbart SW 1989, Bd. 10, S. 18.
841
„Herbart denkt statisch, Schleiermacher dynamisch; Herbart abstrakt und ungeschichtlich, Schleiermacher konkret und geschichtlich; Herbart weist die Parteilichkeit des Zeitalters als pädagogisch schädlich zurück, Schleiermacher bezieht sie als
fruchtbar ein; Herbart will Ruhe, Schleiermacher Bewegung.“ (Sünkel zitiert nach Fuchs 1998, S. 94 ff.)
241
„Das Ich ist kein reales Prinzip. Beym reifen Manne zwar ist es ein mächtiger Strom. Aber beim
Kinde floss dieser Strom aus tausend Bächen zusammen, welche sich führen, was die Umgegend darbot. Und deshalb ist die Erziehung die Bedingung der Humanität.“842
Fragilität und Komplexität der Ichheit denkt Herbart als zentrales Moment von seiner Genese.
Das Ich ist weder ein reales noch konstantes Prinzip. Es entwickelt sich zu einem „mächtigen
Strom“ im Sinne einer mehr oder weniger organisierten Sammlung beim Erwachsenen, ist beim
Kinde aber noch eine unorganisierte Erfahrungs-, Vorstellungs- und Gedankenvielfalt. Gleichzeitig wird deutlich, dass Herbart nicht annimmt, dass diese Vielheit beim Erwachsenen aufgehoben ist, sondern sie in eine Richtung gelenkt, d. h. organisiert – wie der Begriff des „Stromes“
nahelegt. Deutlich zeigt sich in Herbarts Kritik des Ich eine phänomenologische Sensibilität für
den Menschen und die Ablehnung einer intellektualistischen Auffassung.843
Vor dem Hintergrund des Erörterten lässt sich feststellen, dass Herbart in der Auseinandersetzung mit Kant und dem Idealismus zwei wesentliche Punkte für seine Gedankenentwicklung
gewonnen hat. Obwohl er, erstens, eine „metaphysische Erfahrungswissenschaft des Menschen“ in Hinblick auf die Pädagogik und die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der
Moralisierung des Menschen für notwendig hält, so versteht er nicht das Problem der Geltung,844 sondern das Problem der Genesis im Zentrum jener Wissenschaft zur Grundlegung der
Pädagogik. In Herbarts frühen Schriften wird, wie wir gesehen haben, besonders deutlich, dass
eine Pädagogik, sofern sie die Moralisierung des Menschen als wesentliche Aufgabe betrachtet,
nur dann wissenschaftliche sein kann (und keinem „unrealistischen“ Utopismus verfolgt), wenn
sie die Entwicklungen und Wandlungen der Strukturen, Erfahrungen des menschlichen Erlebens verstehen kann. Von hier aus erkennt Herbart, zweitens, dass eine „metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen“ als Entwicklungspsychologie – auch wenn er dies noch
nicht so nennt – entwickelt werden muss.
„Wir wollen unsern Geist kennen lernen, wie er wirklich ist; und wir halten uns weit entfernt
von idealistischen Träumen, wie wir ihn gern haben möchten, wenn wir uns selbst beliebig
machen und einrichten könnten.“845
842
Herbart SW 1989, Bd. 10, S. 19.
843
Prange hat in diesem Sinne zu Recht Herbarts Begriff des Ich als „sammelnd wachsende“ Dynamik mit der Phänomenologie
Hermann Schmitz in Verbindung gebracht (vgl. Prange 2004, S. 178).
844
Benner schreibt dazu:
„Gegen Kant wendet Herbart jedoch ein, daß dessen praktische Philosophie die Aufgabe, die Urteilskompetenz des individuellen Gewissens zu orientieren, nicht zu Ende gedacht habe, weil sie die Legalität, sofern diese sich auf den empirischen
Charakter des Menschen bezieht, letztlich doch material bestimme, die Moralität des intelligiblen Charakters aber nahezu
unbestimmt belasse: […].“ (Benner 1986, S. 153)
845
Herbart HSW, 1850, Bd. 6, S. 176.
242
Kaiser-El-Safti erörtert, dass Herbart der erste Philosoph war, der trotz Kants Warnungen vor
einer wissenschaftlichen Psychologie,846 vor dem Hintergrund der Erkenntnis über die Unvereinbarkeit der Transzendentalphilosophie und der Pädagogik, diese beabsichtigte zu entwickeln. In seiner Schrift Ueber die dunkle Seite der Pädagogik formuliert Herbart diese Forderung konkret:
„Die Pädagogik hängt demnach mit einer anderen Philosophie zusammen, als mit der Kantischen, Fichteschen, Schelling’schen; ja auch als mit der Leibnizschen; denn bey der prästabilierten Harmonie würdem dem Erzieher und Zögling nichts anderes übrig bleiben, als durch die
Gottheit hindurch mit einander zu correspondieren.
Die Idee einer mathematischen Psychologie erlaubt dagegen nicht blos anzunehmen, dass man
auf den Zögling wirken könne, sondern auch, dass bestimmten Einwirkungen bestimmte Erfolge entsprechen, und dass man dem Vorauswissen dieser Erfolge sich druch fortgesetzte Untersuchung, nebst zugehöriger Beobachtung, mehr und mehr annähern werden.“847
Die Idee einer „mathematischen Psychologie“ stellt Herbart der genannten transzendentalen
oder idealistischen Positionen diametral gegenüber. Nur durch eine „mathematische Psychologie“ ließe sich die Möglichkeit der Pädagogik denken. Herbart will mit der Vorstellung aufräumen, dass der Mensch sich in seiner „transcendentalen Freyheit“ beii sich allein
„nach inneren Gesetzen sich entfaltendes Ganzes bilde[n], welche man wohl Pflege und Nahrung anbieten, aber keine andre Entwickelung, als die ihm ursprünglich eigne, aufdringen
könne“848.
Die Kritik an der methodischen Ausrichtung der Transzendentalphilosophie und des Idealismus
aufnehmend fordert Herbart eine „mathematische Psychologie“, d. h. zunächst eine an den naturwissenschaftlichen Methoden ausgerichtete Psychologie, die die Entwicklungsgesetzte der
Psyche versteht in Hinblick auf die sie beeinflussenden Faktoren und Variablen. Herbart beabsichtigt, die Idee der Psychologie nicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft zu entwickeln,
sondern in Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen dieser. Wie Henckmann darlegt, hat es
Herbart seiner Philosophie „zur Pflicht gemacht auf dem aktuellen Stand insbesondere der Biologie, Physik und Chemie zu bleiben“849. Vor allem kann die Kritik der strikten Dichotomie
der Erkenntnisvermögen als auch von Mensch und Tier bzw. Natur als ein Ausgangspunkt einer
846
Vgl. Kaiser-El-Safti 2003, S. XVIII.
847
Herbart SW 1989, Bd. 3, S. 151.
848
Herbart SW 1989, Bd. 3, S. 151.
849
Henckmann in: Herbart 1993, S. XV.
243
allgemeinen Naturphilosophie gelten, in der sich nicht nur diese (wertenden) Dichotomien aufheben, sondern die die Kluft der Naturphilosophie und empirischen Naturwissenschaften wieder überbrücken lässt. In den Aphorismen zur Einleitung in die Philosophie wird die Absicht
einer umfassenden Naturphilosophie deutlich:
„Metaphysik, nämlich ist die Lehre von der Begrifflichkeit der Erfahrung, oder, wenn man will,
Naturphilosophie. Die Natur giebt viel zu beobachten und zu experimentiren; daraus entsteht
die Physik und Chemie. Aber die Beobachtungen und Experimente geben viel zu denken; daraus entsteht die Metaphysik.“850
Zwei wesentliche Punkte von Herbarts Ausrichtung der Philosophie sind in dem Zitat benannt.
Zum einen bestimmt Herbart die Metaphysik funktionslogisch als eine „Lehre von der Begrifflichkeit der Erfahrung“. Darin liegt nicht nur eine Ablehnung der dogmatischen Metaphysik
beschlossen, sondern zugleich die Idee, dass die Metaphysik die Erfahrung reflektieren und
explizieren solle und dass in einer Weise, wie es die Naturwissenschaften nicht können. Gleichzeitig ist darin implizit begriffen, dass die Metaphysik der Begrifflichkeiten der Erfahrung in
der Kontinuität einer kritischen Philosophie im Sinne Kants stehe.851 In einer anderen Hinsicht
zeigt sich in Herbarts Charakterisierung der Metaphysik als Naturphilosophie nicht nur ein Immanentismus, der zwar in seiner Ausrichtung die Naturwissenschaften berücksichtigen will,
doch einen Empirismus, Positivismus oder Materialismus als reduktionistisch verwirft.
„Die Philosophie muß anfänglich die Frage, ob wir die Dinge an sich, oder nur Erscheinungen
erkennen können, unterschieden beiseite setzen. Zuerst ist es nötig, den Realismus in seiner Art
zu vollenden, nämlich durch gehörige Bearbeitung der widersprechenden Erfahrungsbegriffe,
wenigstens der allgemeinsten unter denselben, des Begriffs der Veränderung und des Dinges
mit mehreren Merkmalen, an welche die Untersuchung über Raum, Zeit und Bewegung sich
von selbst anschließen. […] alsdann [lässt] das idealistische Problem sich auf eben dem Wege
entscheiden, wie die vorigen; nämlich durch die gehörige Behandlung derjenigen Widersprüche, die in den Begriffen des Ich, und eines Subjekts mit vielen Vorstellungen, gefunden werden.“852
850
Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 586.
851
Zur Rezeption der kritischen Philosophie vgl. Herbart (SW 1989, Bd. 3, S. 61–71).
852
Herbart 1993, S. 275 f.
244
Philosophie erfährt durch Herbart eine pragmatische Bestimmung, da er ihr wesentlich die wissenschaftstheoretische Funktion zuteilt, die Begriffe zu bearbeiten. Er hebt damit eine Charakteristik der Philosophie hervor, die sie zugleich von den anderen Wissenschaften unterscheidet:
die Reflexion ihrer Grundbegriffe. Als eine wesentliche Aufgabe der Philosophie versteht Herbart die „Koordination der Ergebnisse der Einzelwissenschaften in der philosophischen Reflexion“853. Wie Träger es pointiert formuliert, steht im Zentrum einer so verstandenen pragmatisch ausgerichteten Philosophie „die Welt und die Bearbeitung der Begriffe, die der Mensch
davon hat“854. Metaphysik und Spekulation sind damit nicht mehr ausgerichtet an dem Denkmöglichen, sondern an dem Wirklichen.855 Wie Baumann darlegt, versucht Herbart dadurch die
Extreme eines reinen Empirismus und eines reinen Rationalismus zu vermeiden.856
„Die Metaphysik hat keine andere Bestimmung, als die nämlichen Begriffe, welche die Erfahrung ihr aufdringt, denkbar zu machen.“857
Metaphysik findet bei Herbart eine zentrale Aufgabe in der Begriffsarbeit. Sie überprüft die
Konsistenz und Kohärenz der Begriffe. Das heißt, dass es Herbart an der Klarheit und Deutlichkeit des Denkens gelegen ist, die er durch die Begriffsarbeit der Metaphysik allererst eingeleitet sieht. Dabei muss jedoch festgehalten werden, dass er die Metaphysik nicht allein in
der Logik auflöst, sondern als Vorbereitung und Nachbearbeitung der Spekulation:
„Wirft man einen, durch metaphysische Elementar-Begriffe geschärften speculativen Blick auf
den Menschen, so stellt sich derselbe dar als ein Aggregat von Widersprüchen; und die Meinung, als ob empirische Menschenkunde eine ächte Erkenntnis gewähren könnte, verschwindet
sogleich.“858
Durch die Begriffsarbeit der Metaphysik soll dasjenige, was sich der Erfahrung „aufdrängt“,
was sich ihr in der Beobachtung und den Experimenten der empirischen Wissenschaften aufdrängt, denkmöglich werden. Einen reinen Empirismus hält Herbart für naiv und – durch mit
dem metaphysisch „geschärften Blick“ – für in sich widersprüchlich. Deutlicher wird das Verhältnis von Metaphysik und Spekulation durch die Berücksichtigung eines Abschnitts aus der
853
Hühn 2009, S. 28.
854
Träger 1982, S. 132.
855
Vgl. Baumann 1998, S. 22.
856
Vgl. Baumann 1998, S. 22.
857
Herbart 1993, S. 285 f./Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 269.
858
Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 305.
245
Einleitung zu seinem Werk Psychologie als Wissenschaft. Darin legt Herbart dar, dass die Wissenschaft nicht allein bei dem „unmittelbar Gegebenen“ ansetzen könne, da dieses nur als „Erscheinung“ zu verstehen sei. Zugleich aber ist der Schein des „unmittelbar Gegebenen“ nicht
als bloßer Schein im Sinne der Täuschung zu verwerfen, sondern erscheint in der Mannigfaltigkeit des Gegebenen als das Reale. Allein die empirischen Wissenschaften vermögen es nicht
zu leisten, das Reale zu denken, wie es die Philosophie kann. In den empirischen Wissenschaften wird die Wirklichkeit „nur“ in ihrem Charakter als Phänomen bedacht. Für Herbart aber
bleibt das Reale ein Metaphysicum.
Wie es im Zitat deutlich wird und auch in Rücksicht auf diese Passage, lässt sich verstehen,
dass Metaphysik und Spekulation ihre Funktion bei Herbart im Rahmen einer Phänomenologie
des Realen einnehmen. Als Lehre von den Begriffen besteht die Aufgabe der Metaphysik darin,
die in den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften sich aufdrängenden, phänomenbedingten Widersprüche zu begreifen, um ausgehend davon die spekulative Reflexion der Philosophie einzuleiten. Wie auch Hegel ist Herbart der Überzeugung, dass die Widersprüche der
Begriffe geklärt werden müssen. Im Gegensatz zu Hegel sieht Herbart den Widerspruch nicht
als Teil und Ansporn und Antrieb („aiguillon“) der Bewegung des Geistes, die diesen in sich
„aufhebt“ und integrativ überwindet, sondern als eine Gleichartigkeit von Ungleichartigem im
Begriff, die, da sie die Erkenntnis des Realen verhindert, aufgelöst werden muss.859
„Es giebt Wahrheit. Es giebt zu allererst Wahrheit, innere Wahrheit in den Dingen selbst. Was
ist, kann sich nicht um sein eigenes Seyn betrügen. Und auch der Schein – dieser täuscht zwar
in dem, was er als ob es wäre, vorbildet und vorspiegelt, aber das Scheinen selbst ist nicht
Schein, sondern Wahrheit.“860
Entschieden wehrt sich Herbart dagegen, dass das natürliche Bewusstsein Ausgangspunkt für
eine Phänomenologie des Geistes sein solle, wie es in Hegels Schrift gemacht wird. Darin lehnt
Herbart Hegels Wissenschaftsverständnis ab, wonach sie im Rahmen einer Selbstbewusstwerdung des Geistes verstanden wird.861 Denn für Herbart ist es ein entscheidendes Moment der
Philosophie, die „Rückkehr zur Erfahrung“ als Versuch mit „gefundenen Theorie[n] die Erfahrung besser“862 zu verstehen.
859
Vgl. Pettollo 2001, S. 13.
860
Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 591.
861
Briese schildert diese isolierte Position in der philosophischen Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die Konkurrenzen
zwischen Hegel und Herbart sehr eindrücklich (vgl. Briese 1998, S. 71–89).
862
Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 610.
246
Der Grundsatz von Herbarts Metaphysik „Wieviel Schein, soviel Hindeutung aufs Sein“863
dreht gewissermaßen die idealistische Theorie, dass alle Vorstellungen Vorstellung für ein
„Ich“ sind, um. Wie Träger darstellt, ist Herbarts Ansatz systematisch im Fichtes „Nicht-Ich“
zu sehen, ohne eine synthetische Verknüpfung oder Auflösung dieses „Pols“ in einem „Ich“.864
Denn nur dadurch könnten der Erkenntnisanspruch und die Wissenschaftlichkeit der theoretischen Philosophie eingehalten werden. Wie Heesch deutlich macht, liegt die Bedeutung Herbarts darin, einen neuen Typus von Wissenschaft ausgearbeitet zu haben, der die Frage nach
dem „material bestimmten Wesen der Sachen zugunsten der Bestimmung von Relation und
Funktionen“865 stellt. Der Schein ist gerade eine Hindeutung auf Sein866 und nicht auf die „Thathandlung“ des Ich, die transzendentale Freiheit und absolute Spontaneität des Geistes.867
Mit der Bestimmung der Aufgabe der allgemeinen Metaphysik und der Spekulation im Rahmen
einer Phänomenologie oder Erscheinungslehre des Realen versucht Herbart, die kritische Bestimmung der Philosophie beizubehalten und den Blick für die realen Möglichkeiten der Bedingung zu ebnen. Erst wenn alle Widersprüche beseitigt sind, so wird das Reale denkbar. Dies
ist jedoch keine rein philosophische Formel, sondern weist auf ein methodisches Prinzip Herbarts selbst hin, welches die Gedankenentwicklung seines Werkes bestimmt. Immer wieder sind
es Widersprüche, die Herbart zu entscheidenden gedanklichen Entwicklungen vorantreiben. So
ist auch der Satz, wonach die Psychologie aus der allgemeinen Metaphysik zu folgen habe, kein
nur wissenschaftstheoretisches Prinzip, sondern eine Methode.868
863
Herbart SW 1964, Bd. 2, S. 14/Vgl. Herbart 1993, S. 285.
864
Einher mit der Ablehnung des Idealismus (in Form von Fichte und Schelling) Herbarts geht eine Ablehnung der Philosophie
Spinozas als „dogmatischer Realismus“. Somit ist Herbarts „kritischer Realismus“ nicht nur durch den Anschluss an Kant
zu charakterisieren, von dem er jedoch in wesentlichen Punkten abkehrt, sondern auch durch die Ablehnung des dogmatischen Realismus (vgl. Träger 1982, S. 3).
865
Heesch 1999, S. 63.
866
„Was als seyend gedacht wird, heißt in so fern ein Wesen. Losgerissen hingegen vom Seyn, bloß als Was gedacht, soll es
die Bezeichnung: Bild, erhalten.“ (Herbart SW 1964, Bd. 2, S. 190)
Oft wird auf den Anschluss der Philosophie Herbarts an die Philosophie von Leibniz hingewiesen. Doch kann die im Zitat
vorgeschlagene Differenz von „Seyn“ und „Bild“ gerade auch aus dem Rückgriff auf atomistische Theoriemodelle der
Antike verstanden werden. Im antiken Atomismus klärt die Differenz (Sein/Bild) zwei Dinge. Zum einen den Zusammenhang von Sein und Werden. Zum anderen veranschaulicht und klärt sie die epistemologische Möglichkeit vom Wissen und
die Art der Wahrnehmung von den kleinsten unteilbaren Bestandteilen der Wirklichkeit, den Atomen. Leukipp, Demokrit
und Epikur verstehen die Wahrnehmung durch Bilder (eidola, typoi, lat. simulacra) erzeugt. Ohne hier auf die einzelnen
Variationen eingehen zu können, hat man es bei diesen Eidola mit kleinen Medien zu tun, die der Wahrnehmung ein Bild
des Dinges vermitteln. Zusammengesetzt aus Atomen lösen sie sich von der Oberfläche der Dinge ab, um dann durch die
Luft gewissermaßen der Wahrnehmung „zuzufliegen“. Im Flug verändern sich die Bilder, sodass sie bei ihrer Ankunft kein
originäres Abbild der Dinge darstellen. Konsequent hierzu unterteilt Herbart die Ontologie in zwei Gebiete: die „Synechologie“ und die „Eidologie“.
867
Vgl. Herbart 1993, S. 326.
868
Vgl. Herbart 1993, S. 281
247
Der Widerspruch des idealistischen Subjektbegriffs stellt für Herbart einen solchen entschiedenen Widerspruch dar, denn durch die Auflösung des Widerspruchs eröffnet und bestimmt sich
für ihn das Feld der Psychologie. Aus der Kritik der Einheit der Identität des Subjekts als Widerspruch entwickelt Herbart die Konzeption der Theorie des Realen als Grundlegung der Psychologie. Diese setzt die Identität des Seelischen nicht voraus, sondern untersucht die Gesetze
der Zusammensetzung, der Wechselwirkung des Seelischen durch das sogenannte Reale, die
als kleinste Elemente oder Monaden die Dinge und die Erfahrungsrealität bilden, mit mathematischen Mitteln.
Herbart sieht die idealistische Grundlegung der Philosophie im „Ich“ als theoretische Fehlentscheidung an, als einen „Rückzug“ vom Wirklichen, da dieses nur eine scheinbar sichere
„Grundlage für alles Wissen“869 schafft. Er weist wesentliche Probleme im fichteschen „Ich“Begriff nach, der nach Herbart als Grundlage für die Entwicklung der hegelschen Philosophie
zu verstehen ist. Herbart argumentiert, dass die Bestimmung des „Ich“ als Selbstbewusstsein
zu einem regressus ad infinitum führt und nur als Widerspruch denkbar ist. Denn das Ich erkläre
sich als Selbstbewusstsein durch sich selbst. Das Selbst, wie es sich in der Selbstanschauung
jedoch zeigt, ist nur als ein stetiger Wechsel und Veränderung denkbar. Definiere man so das
Ich durch die in der Selbstanschauung gegebene kontingente Erfahrung, so wäre das Ich immer
ein anderer und nicht als Grundlage einer Philosophie denkbar. Um das Ich als sichere „Grundlegung“ der Philosophie zu fassen, bedürfe es der Abstraktion, wodurch man sich von dem
wirklichen Gehalt entfernt. Ohne aber eine solche Vorstellung und Erfahrung eines stabilen Ich
würde man zwar durch eine „starke, unmittelbare Überzeugung“870 dazu verleitet, eine Entität
hinter der Kontingenz der Erfahrung anzunehmen, sei jedoch nicht dazu in der Lage, auf die
Existenz dessen zu schließen. „Das Ich ist also ein Vorstellen ohne Vorgestelltes; ein offenbarer
Widerspruch.“871
Wir müssen Herbarts Kritik am Subjektbegriff des Idealismus nicht nur als Polemik gegen die
„Modephilosophie“872 der Zeit lesen, so wie sie Herbart auffasst, sondern sie auch als Ausgangspunkt seiner Psychologie reflektieren. Die Auflösung des Widerspruchs des Subjektbegriffs lenkt Herbarts Blick auf die Zusammensetzung und Komplexität der Vorstellungen, in
denen sich das Seelische konstituiert.
869
Herbart 1993, S. 202.
870
Vgl. Herbart 1993, S. 199.
871
Herbart 1993, S. 202
872
Vgl. Herbart SW 1989, Bd. 3, S. 317–352.
248
Vor diesem Hintergrund ist nicht nur zu verstehen, warum Herbart den vielseitigen Begriff der
Bildsamkeit873 in das Zentrum seiner Forschung stellt, sondern auch, warum gerade diese genetische Kategorie den Blick seiner Forschung über die Pädagogik hinaus leitet.
„§ 1 Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zöglings.
Anmerkung. Der Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weiteren Umfang. Er erstreckt sich
sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungsmäßig läßt er sich verfolgen bis zu denjenigen
Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehen. Von der Bildsamkeit des
Willens zeigen sich Spuren in den Seelen edler Tiere. Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.“874
Obwohl wir diese Stelle erst 1835 in Herbarts Umriß pädagogischer Vorlesungen finden, so ist
der Begriff schon in der Allgemeinen Vorlesung von 1805 genannt und darüber hinaus an zahlreichen Stellen im Werk. Aus Paragraph 1 geht nicht hervor, warum Herbart den Begriff als
Grundbegriff versteht, jedoch wird dies durch den folgenden 3. Paragraphen geklärt. Dort
grenzt er ihn gegen „Philosophische Systeme“ ab, in denen „entweder Fatalismus oder transzendentale Freiheit angenommen wird“875. Damit wird klar, dass der Begriff der Bildsamkeit
in der Kritik des Subjektbegriffs, der Kritik des damit zusammenhängenden Begriffs der Moralität bzw. der unbedingten Sittlichkeit, der methodischen Kritik der transzendentalen oder
idealistischen Ausrichtung der Philosophie und der Frage nach der Erweiterung des Begriffs
der Moralität in Hinblick auf seine realen Bedingungsmöglichkeiten steht. Der Begriff der Bildsamkeit ist aus dem Zusammenhang der Kritik geboren, zugleich jedoch auch ins Positive gewendet mit dem wissenschaftlichen Projekt einer Grundlegung der Pädagogik Herbarts, das,
wie wir gesehen haben, sich in der Dimension des Versuches einer Erweiterung des transzendentalen Begriffs der Moralität und Berücksichtigung des „intersubjektiven Dialog[s] der Miteinander-Handelnden“ verstehen lässt.876 Bildsamkeit ist von daher kein Schlagwort der Pädagogik Herbarts, sondern bezeichnet zugleich eine zentrale systematische Leitfigur der Entfaltung einer metaphysischen Erfahrungswissenschaft vom Menschen zur Grundlegung der Pädagogik.
873
Einen Überblick über den Forschungsstand und eine hervorragende Analyse der verschiedenen Facetten des Begriffs liefert
Anhalt (2004, S. 99–138).
874
Herbart 1964 a, S. 5.
875
Herbart 1964 a, S. 5.
876
Vgl. Benner 1986, S. 69 f.
249
Wie Bildsamkeit als Leitbegriff einer solchen Wissenschaft zu verstehen ist, entwickelt Herbart
in Auseinandersetzung877 mit der leibnizschen Monadologie. Die Auseinandersetzung mit
Leibniz ist geprägt von der Frage, wie sich die „Mechanik des Geistes“ verstehen lässt. Wie
Heesch deutlich macht, schließt Herbart von daher an Leibniz „mechanistische[…] Anthropologie“ an und verweigert sich gegenüber Leibniz’ idealistischem Autonomiebegriff.878 Die in
der Auseinandersetzung mit der Monadologie entwickelte Ontologie versucht im Kern die Bildsamkeit von der materiellen Seite her zu verstehen. (Sie kann aber zugleich als Vorarbeit und
Grundlegung der Psychologie gelten,879 da, wie oben erörtert, für Herbart die Psychologie aus
der allgemeinen Metaphysik hervorgehen muss.) Wie oben im Zitat von Herbart deutlich
wurde, erstreckt sich der Begriff der Bildsamkeit „auf die Elemente der Materie“. Er ist von
daher nicht nur ein anthropologischer Grundbegriff, sondern eine zentrale Kategorie der Naturphilosophie Herbarts. Betrachtet man Herbarts Idee einer integrativen Naturphilosophie, so
wird durch diesen Begriff der Mensch als Teil der Natur verstanden. So soll schließlich auch
die Komplexion des Seelischen als ontologisches Problem verstanden werden.880 So versucht
Herbarts Ontologie das Problem des Dings an sich dahin gehend zu lösen, dass er nicht in einem
idealistischen Monismus führt: Er konstituiert sich die Erscheinungswelt aus einer Pluralität
und Komplexität von „Realen“ nach dem Vorbild monadologischer und atomistischer Vorbilder.
„In welchem Raume den befinden sich die Monaden? Doch wohl nicht im sinnlichen; denn der
sinnliche Raum ist in uns, als unsere Vorstellung. Also in einem solchen Raume, worin eine
Intelligenz, welche die Monaden kennt (etwa die Gottheit) sie erblickt: und wohinein wir, die
wir sie zwar nicht anschauen, aber als intelligible Gründe der Sinnenwelt annehmen, sie in der
Mitte unseres metaphysischen Denkens ebenfalls setzen. Darum ist die Theorie des intelligiblen
877
Wir sprechen hier von einer Auseinandersetzung, um dem Gedanken vorzubeugen, dass es sich bei Herbarts Ontologie um
einen „Leibnizianismus“ handle. Denn wie Zimmerman in seiner vergleichenden Studie herausarbeitet, handelt es sich bei
Herbarts Theorie der Realen nicht um eine Monadologie im Sinne Leibniz’:
„Es wird uns nicht mehr Wunder nehmen dürfen, wenn wir nach genauer Prüfung in Herbart's Lehre eine so sehr umgestaltete Monadologie erkennen sollten, daß wir am Ende zweifelhaft werden, ob sie auch diesen Namen führen dürfe; nicht
mehr Wunder nehmen, wenn an die Stelle der lebensvollen, in stetem Wechsel und ununterbrochener Thätigkeit forthandelnden Monas, die eine unendliche Menge wirklicher vorstellenden Zustände in sich und eine eben so große Zahl wirklicher Beschaffenheiten an sich zu beherbergen vermag, die, ein lebendiger Spiegel in jedem Augenblicke der Zeit das unbegränzte Universum repräsentiert, wenn an deren Stelle ein seiner inneren Qualität nach unerkennbares, schlechtweg gesetztes Etwas treten sollte, ohne innere Kräfte, Streben und Tendenzen ohne Vielheit von Eigenschaften und Attributen,
ohne inneren Reichthum an wirklichen und wirkenden Zuständen, ein reines, starres bewegungsloses Sein, dessen streng
einfache Qualität sich weder zu äußern noch zu erkennen zu geben vermag.“ (Zimmerman 1849, S. 11)
878
Vgl. Heesch 1999, S. 35.
879
„Der Pädagoge und Psychologe Herbart setzt die Metaphysik nicht unter deren Voraussetzungen an, im Gegenteil sind sie
Folgen seines philosophischen Denkens. Im Zentrum von Philosophie steht vielmehr die Welt und die Bearbeitung der
Begriffe, die der Menschen davon hat.“ (Träger 1982, S. 132.)
880
Durch Herbarts Kritik ist nicht nur das „Ich“ nicht mehr als Fundament des Wissens denkbar, sondern bestimmt gleichzeitig
das realistische Unternehmen durch die „Subsumption des Ich […] unter die Lehrsätze der Ontologie“ (Herbart HSW 1850,
Bd. 8.2, S. 211, § 312).
250
Raumes ein unentbehrliches Hauptstück der allgemeinen Metaphysik; und die Verwechslung
der Begriffe und Erklärungen, die für den intelligiblen Raum gelten, mit denen, welche den
sinnlichen oder psychologischen Raum betreffen, ist einer der tiefsten Gründe der Verkehrtheit
dessen, was bisher Metaphysik geheißen hat.“881
Als Ausgang der Monadologie versteht Herbart die Monaden als letzte Elemente des Wirklichen, als „Reale“. Er trennt sie strikt von jeder empirischen Erscheinung und sieht sie als Elemente des intelligiblen Raumes.882 Diesen „einfachen Wesen“ kommt keine empirische Wirklichkeit zu:
„Die Wesen haben gar keine räumlichen Prädikate, am wenigstens räumliche Kräfte; ihre Kohäsion und Repulsion ist gerade das, was man erklären, nicht was man voraussetzen soll. […]
für einfache Wesen (und auf diese muß die Naturphilosophie zurückgehen, um den festen Boden des Realen zu finden) ist kein Raum gegeben; er muß samt allen seinen Bestimmungen
gemacht werden.“883
Gerade diese Unterscheidung zeigt sich durch Herbarts Kritik der Vorstellung des Raumes als
Kontinuum in § 129 und § 139 des Lehrbuch. Raum und Zeit können, in Hinblick auf Herbarts
Logik, dem Realen nicht zugeschrieben werden, da es „widerspruchsvolle Erfahrungsbegriffe“
seien, somit keine ontologischen Bestimmungen des Realen. Als letzte Einheiten haben diese
Realen kein Bewusstsein und keine Perzeption, sondern konstituieren gewissermaßen das, was
ist, bzw. geben das Gegebene. Man könnte hier vielleicht besser von einem Wirklichen sprechen, denn die Realen konstituieren durch ihre Wirklichkeit die Erfahrungsrealität.
Herbart führt die Realität und Bewegung der Erscheinungswelt auf die Wirklichkeit und die
Verhältnisse der Realen zurück. Er unterscheidet die Veränderung in der Erscheinungswelt von
jenem „wirklichen Geschehen“.884 Hatten wir schon verstanden, dass der intelligible Raum sich
durch die Verhältnisse der Realen konstituiert, so ist nun zu verstehen, wie die Dynamik dieses
Verhältnisses zu fassen ist. Für das Verständnis der Dynamik wirklichen Geschehens ist es
881
Herbart 1993, S. 304 f.
882
Der Begriff des intelligiblen Raumes ist nur schwer nachzuvollziehen: er scheint, wie auch andere Begriffe, von den Naturwissenschaften durchaus hervorzugehen, jedoch besteht Herbart darauf, ihn als metaphysischen Begriff zu behandeln.
Gleichzeitig aber bezeichnet Herbart ihn als einen „Hilfsbegriff“:
„Der intelligible Raum ist ein Hilfsbegriff, welcher entspringt, indem von dem nämlichen Wesen sowohl das Zusammen
als auch das Nichtzusammen soll gedacht werden. Dies ist aber notwendig, weil Bewegung der Veränderung muß vorausgesetzt werden. Es gibt eine ursprüngliche Bewegung, bloß darum, weil der Raum, und folglich die Ruhe an einem Orte,
gar kein reales Prädikat der Wesen sein kann, daher es ein Wunder ist, wenn sich nichts alles gegeneinander auf alle mögliche Weise (jedoch gleichförmig) bewegt.“ (Herbart 1993, S. 278)
Deutlich wird, dass Herbart die Konstitution des Raumes als eine ursprüngliche Bewegung der Realen versteht.
883
Herbart 1993, S. 326.
884
Vgl. Herbart 1993, S. 279.
251
grundsätzlich, dass Herbart den Elementen dieses Geschehens einen Selbsterhaltungstrieb zuschreibt. Demnach ist der Bewegungstrieb der Realen als „conatus preservandi“ zu verstehen,
etwa auch im Sinne eines Strebens nach Existenz.885 Aus dieser Bestimmung der Realen leitet
Herbart ab, dass die Realen in ihrem Strebevermögen sich gegenseitig hemmen.886 Herbart
spricht hier nicht von einer Negation, da sich die Elemente der Wirklichkeit nicht gegenseitig
negieren können. Dadurch, dass die Realen im Verhältnis stehen und dieses Verhältnis als ein
Verhältnis des Strebevermögens im Sinne des Kraftverhältnisses aufzufassen ist, ordnen sich
die Realen. Im Verhältnis, d. h. der Komplexion der Realen, entspringt die Materie. So erklärt
Herbart im Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie:
„Die ist das Prinzip der Attraktion; sogleich wird sich auch das der Repulsion zeigen, und in
beiden zusammengenommen der Ursprung der Materie. […]
Da nun der Zustand sich nach der Lage weiter nicht richten kann, so muß abermals sie sich
nach ihm richten. Das heißt: die vielen Elemente, nachdem sie, vermöge ihrer Bewegung, schon
ganz eingedrungen waren, müssen wieder zum Teil herausweichen, und können nicht eher ruhen, als bis Attraktion und Repulsion im Gleichgewichte sind.“887
Die Materie „verdichtet“ sich gewissermaßen durch die Komplexion, durch Attraktion und Repulsion der Realen. Dieser Satz bleibt auch noch grundlegend für die Konzeption der Psychologie Herbarts. Im Lehrbuch der Psychologie heißt es:
„Die Erklärung der Materie beruhet ganz und gar darauf, dass man zeige, wie den inneren Zuständen der Wesen (den Selbsterhaltungen) gewisse Raumbestimmungen, als nothwendige
Auffassungs- Weisen für den Zuschauer, zugehören; die, eben weil sie nichts reales sind, sich
nach jenen inneren Zuständen richten müssen, so dass ein Schein von Attraction und Repulsion
entspringe.“888
Die Verhältnisse der Realen und die Prinzipien des wirklichen Geschehens konstituieren das
Mannigfache der Vorstellungen – affizieren das Seelische. Herbart versucht konsequent die
Formen der Anschauung als auch die „geistige Regsamkeit“ durch die Verhältnisse der Realen
885
„Die Wesen erhalten sich selbst, jedes in seinem eignen Innern, und nach seiner eignen Qualität, gegen die Störung, welche
erfolgen würde, wenn das Entgegengesetzte der mehreren sich aufheben könnte.“ (Herbart 1993, S. 207)
886
Vgl. Herbart 1993, S. 279.
887
Herbart 1993, S. 331.
888
Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 365.
252
zu erklären.889 Von daher ist die Ontologie wegbereitend für die Psychologie und die Psychologie gewissermaßen ein Teilaspekt der Ontologie.890 So leitet Herbart in seinem Lehrbuch zur
Psychologie den Begriff der Seele durch „Lehnsätze aus der Metaphysik“ ein:
„Die Seele ist ein einfaches Wesen; nicht bloss ohne Theile, sondern auch ohne irgend eine
Vielheit in ihrer Qualität.
Sie ist demnach nicht irgendwo. Dennoch muss sie in dem Denken, worin sie mit andern Wesen
zusammengefasst wird, in den Raum und zwar für jeden Zeitpunct an einen bestimmten Ort
gesetzt werden. Dieser Ort ist das Einfache im Raume, oder das Nichts im Raume, ein mathematischer Punct.“891
Wie deutlich wird, bestimmt Herbart die Seele als ein Reales, welches er in dem wirklichen
Geschehen der Realen verortet. Als Reales ist die Seele als Einfaches vorgestellt, welches weder eine „ursprüngliche Selbstthätigkeit“ noch Vorstellungen, Gefühle oder Begierden hat. Herbart argumentiert, dass die Seele als unbestimmte Entität zu fassen sei – in ihr liegen weder
Formen der Anschauung noch Gesetze des Wollens oder Handelns – und das Seelische sei völlig aus dem wirklichen Geschehen der Realen zu erklären.892 Dabei wird die Seele als Reales
selbst in das wirkliche Geschehen gesetzt, das Seelische aber als Erscheinungsweise, gar Effekt
dieses Geschehens.
„Die Selbsterhaltung der Seele sind (zum Theil wenigstens und so weit wir sie kennen) Vorstellungen, und zwar einfache Vorstellungen, weil der Act der Selbsterhaltung einfach ist, wie
das Wesen, das sich erhält. Damit besteht aber eine unendliche Mannigfaltigkeit von mehrern
solchen Acten; sie sind nämlich verschieden, je nachdem die Störungen es sind. Dem gemäss
hat die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen und eine unendliche vielfältige Zusammensetzung
derselben gar keine Schwierigkeit.“893
Konsequent führt Herbart die Bildung des Seelischen und die Realität der Erscheinungswelt auf
die Wirklichkeit der Realen in ihren dynamischen Verhältnissen zurück. Dabei spricht Herbart
von einer Abfolge im Sinne einer Komplexitätssteigerung des Seelischen. So beschreibt er als
erste Folge des wirklichen Geschehens einfache Vorstellungen, die sich dann zu Gefühlen und
889
Vgl. Herbart 1993, S. 332
890
Zugleich wird das Verhältnis von Ontologie und Psychologie als ergänzend bzw. komplementär charakterisiert:
„Die Psychologie wirkt auch auf die allgemeine Metaphysik zurück, indem sie den Ursprung der Formen der Erfahrung erklärt,
welche dort bloß als gegebene angenommen werden.“ (Herbart 1993, S. 281)
891
Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 363.
892
Vgl. Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 364.
893
Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 364.
253
Begierden komplizieren. Die Ausbildung von Begriffen894 und das Selbstbewusstsein895 müssen in diesem Sinne als spätere „Complexionen“ verstanden werden.
„Unsere Vorstellungen sind stärker, schwächer, klärer, dunkler; ihr Kommen und Gehen ist
schneller oder langsamer, ihre Menge ist in jedem Augenblick größer und kleiner, unsere Empfänglichkeit für Empfindungen, unsere Reizbarkeit für Gefühle und Affecten schwebt unaufhörlich zwischen einem Mehr oder Weniger. Diese und unzählige andere Größenbestimmungen, welche bei den geistigen Zuständen augenscheinlich Vorkommen, hat man sehr mit Unrecht für Nebenbestimmungen des Wesentlichen gehalten, und dies ist der wahre Grund, weshalb man die strenge Gesetzmäßigkeit dessen, was in uns vorgeht, nicht entdecken konnte.“896
Auf der Grundlage der so verstandenen Ontologie und der daraus folgenden Theorie hält Herbart die Anwendung der Mathematik auf die Psychologie für grundlegend denkbar und möglich. Wie im Zitat deutlich wird, versteht Herbart das Seelische als eine Mechanik oder Physik,
deren Gesetzmäßigkeit mittels der Begriffe der Mathematik erst richtig erfasst und erklärt werden kann. In seinem schon genannten Lehrbuch zur Psychologie sind schon erste Anwendungen
der Mathematik auf die Psychologie enthalten, jedoch wird diese in der Schrift Psychologie als
Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung, Mathematik und Metaphysik in dem zweiten und
dritten Abschnitt in den Grundlinien ausgearbeitet. Obwohl Herbart in dieser Wendung der
Psychologie und schließlich so auch der Philosophie und Metaphysik die Nähe der Gemeinschaft der für den Fortschritt so vielversprechenden Naturwissenschaften versucht, so sind doch
große Vorbehalte gegenüber seiner Mathematisierung der Psychologie hervorgebracht worden.897 Es ist jedoch nicht abzuweisen, dass Herbarts gegen Kant gerichteter Versuch einer Anwendung mathematischer, quantitativer Begriffe auf die Psyche ein wichtiger Schritt in Zusammenhang mit einer Destruktion der klassischer Topoi bezüglich der Psyche ist, ohne sie als
philosophische Kategorie auszuschließen durch einen naturwissenschaftlichen Reduktionismus.
Obwohl die Bedeutung des herbartschen Programms einer konsequenten Grundlegung der Pädagogik und Ausrichtung der Philosophie an der realen Bedingungsmöglichkeit dem Entwurf
einer spekulativen Phänomenologie des Realen oftmals auf Grund der geschichtlichen und politischen Wirksamkeit und Wertung des Idealismus verkannt wird, ist sie nicht zu unterschät-
894
Vgl. Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 392 ff.
895
Vgl. Herbart SW 1989, Bd. 4, S. 364 f.
896
Herbat SW 1989, Bd. 4, S. 98.
897
Vgl. Eckhardt 2010, S. 50.
254
zen. Herbarts Ontologie der Realen öffnet nicht nur den Blick der Philosophie für die umweltliche Bestimmtheit des Menschen, sondern bedenkt zugleich sein Mitsein. Schließlich zeigt
sich, dass die Erfahrungsrealität des Menschen sich durch das wirkliche Geschehen des Mitseins der Realen konstituiert. Obwohl Herbart eine substanzontologische Perspektive verfolgt,
so zeichnet sich diese konsequent als Versuch einer Abkehr logozentrischer Traditionen aus.
Für eine heutige Philosophie ist sie vor allem aussichtsreich, da sie erkennt, dass die Frage, was
es heißt, uns zu denken, versucht von den Realbedingungen aus zu denken und die Gründung
des Politischen nicht allein nur als einen formal-idealistischen Entwurf zu verstehen.
Obwohl Herbart eine Politisierung der Pädagogik strikt ablehnt898 und die Autonomie der Wissenschaft verfolgt in Hinblick auf eine Bildung des Menschen, bedenkt er in seiner Ontologie
das politische Wesen des Menschen in seiner Bildsamkeit im Mitsein. Darin zeigt sich der Begriff der Bildsamkeit des Menschen als ein wichtiger Schritt hin zu einem realistischen, nichtintellektualistischen Denken des Mitseins. Dieses vollzieht Herbart auch methodisch durch die
bewusste Suche nach einem Anschluss der Philosophie an die Erkenntnisse der Naturwissenschaften.
Böhm erinnert daran, dass der Begriff der Bildsamkeit von Herbart als metaphysischer Begriff
eingeführt worden ist und dass die Loslösung des Begriffs aus diesem Zusammenhang „dem
Einzug des technisch-technologischen Machbarkeitsdenken[s] Tür und Tor öffnet“899. Es ist
entscheidend, dass man Herbarts Ausrichtung der Pädagogik völlig missversteht, wenn man mit
dem Begriff der Bildsamkeit die Idee einer unendlichen, technologischen Formbarkeit des
Menschen im Sinne einer Notwendigkeit der Fremdbestimmung des Menschen sieht. Ganz im
Gegenteil bedenkt Hebrat, wie Anhalt darlegt, durch den Begriff der Bildsamkeit den Educanden als „Akteur der Erziehung“ hinsichtlich der „Eigendynamik der Bildsamkeit“ und „Selbstreferentialität und Selbstregulation der Bildsamkeit“, zugleich aber auch Erziehung als intersubjektiven Prozess.900 Verstünde man Herbarts Begriff der Bildsamkeit in einem technologischen Sinne, so würde man ihn als Erzieher und nicht als Pädagogen verstehen, insofern, dass
898
In Hinblick auf Hebrarts Schrift Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung von 1810 und damit über Herbarts Verhältnis
zur Politik bemerkt Benner treffend Folgendes:
„Die politische Hoffnung, durch Schulreform könnten Gesellschaftsreformen eingeleitet werden, teilte Herbart nicht. Die
pädagogische Praxis als ein Mittel in den Dienst politischer Reformen zu stellen, hielt er für grundsätzlich unvereinbar mit
der Aufgabe der Bildung, weil eine teleologische Ausrichtung der Ziele pädagogischen Handelns zwangsläufig mit der
Idee der Bildung jedes Einzelnen zu größtmöglicher Vielseitigkeit und universeller Handlungskompetenz in Widerspruch
geraten müsse: […].“ (Benner 1986, S. 203)
Das heißt, das Herbart einen instrumentellen Gebrauch der Pädagogik ablehnt und sogar, dass er Kants Idee der Pädagogik
als Praktisch-Werden der in der Analyse der praktischen Vernunft erkannten Zweckmäßigkeit des Menschen ablehnt.
899
Böhm 1995, S. 153.
900
Anhalt 2004, S. 114–132.
255
der Pädagoge die Autonomie des Educanden grundsätzlich mitbedenkt. Böhms Hinweis, dass
Herbart den Begriff der Bildsamkeit als „Kampfbegriff gegen die Idee der transzendentalen
Freiheit und insbesondere gegen Fichte und Kant ins Feld geführt“ hat und so um ein Verständnis der Autonomie in Zusammenhang mit seinen realen Bedingungsmöglichkeiten bemüht war,
ist grundsätzlich richtig für ein Verständnis des Begriffs, jedoch bleibt der Ausdruck, besonders
aus heutiger Sicht, unglücklich gewählt, da er gerade die Autonomie des Menschen nicht expliziert. So bleibt festzuhalten, dass mit Herbarts Einrücken des Blicks der Pädagogik auf die
Bildsamkeit auch ein Abrücken des Blicks von der Mündigkeit als sozialpolitische Forderung
der Autonomie (zur Sittlichkeit) durch den eigenen Verstandesgebrauch einhergeht. Es bleibt
ein Charakteristikum, dass Herbart den sozialpolitischen Utopismus, der an dem Projekt der
Pädagogik gebunden ist, völlig übersieht und in seiner Profilierung der wissenschaftlichen Pädagogik nicht bedenkt und entfaltet. Die in Herbarts Leitbegriff der Bildsamkeit einbegriffene,
systematisch und wissenschaftstheoretisch richtige, aber sozialpolitisch unbedachte Radikalität
der Kritik der transzendentalen Freiheit ist als ein Grund für den Abriss der Rezeption des Gedankens der Mündigkeit und den damit verbundenen bildungspolitischen Anspruch zu verstehen.
3.2 Zur dialektischen Grundlegung der Pädagogik bei Schleiermacher
Auch bei Schleiermacher, der zwischen 1810 und 1815 als Mitglied der Preußischen Sektion
von Kultus und Unterricht maßgeblich an der preußischen Bildungspolitik und -organisation
beteiligt war,901 findet der Begriff der Mündigkeit keine Rezeption. Obwohl aber Schleiermacher in seiner Vorlesung Grundzüge der Erziehungskunst von 1826 ein rechtliches und staatliches Mündigkeitsverständnis von einem pädagogischen Mündigkeitsverständnis unterscheidet902 und damit an einer Autonomie des pädagogischen Urteils und der Pädagogik festhält, so
offenbart eine Durchsicht seiner Texte zur Pädagogik, dass der Begriff der Mündigkeit kein
Leitbegriff der Pädagogik mehr darstellt. Dies auch angesichts der mit Humboldt903 geteilten
Ablehnung einer zu großen Einflussnahme der Konzeptualisierung der Bildung durch die Politik. In Schleiermachers Schrift Über den Beruf des Staates zur Erziehung heißt es:
901
Vgl. Raithel/Dollinger/Hörmann 2009, S. 124 f.
902
Vgl. Schleiermacher 2000, Bd. 2, S. 105.
903
Vgl. Humboldt 2010, S. 22.
256
„Staat und Erziehung sind zwei Begriffe, welche an und für sich nicht zusammenfallen; denn
der Staat ist ein Verhältnis der erwachsenen Menschen unter sich, und in dem Begriff liegt
keine Beziehung darauf, woher die Erwachsenen kommen; und Erziehung ist ein Verhältnis der
Generationen unter sich, indem die eine erzieht und die andere erwogen wird, und die Erziehung
kann sehr gut gedacht werden ohne den Staat und vor ihm.“904
Deutlich tritt hier Schleiermachers Abgrenzung der Begriffe des Staates und der Erziehung zutage. Seine Unterscheidung wird damit begründet, dass der Begriff des Staates und der Erziehung unterschiedliche soziale Relationen umfasst. Während die Politik die Relation der Erwachsenen untereinander bezeichnet, bezeichnet die Erziehung die Relation der Generationen
untereinander. Obwohl diese Begriffe so klar und deutlich voneinander geschieden scheinen,
so versteht sie Schleiermacher in der Frage nach der sittlichen Kontinuität bzw. Konstanz und
Vervollkommnung der politischen Ordnung doch aufeinander bezogen:
„Insofern der Staat derselbe bleibt, aber so, daß Vervollkommnung nicht ausgeschlossen wird,
sondern das geistige Leben sich in ihm steigert, so müssen auch die Handlungen sich gleich
bleiben dem Typus nach, aber fortschreiten der Vollkommenheit nach. Dies gemeinsame Leben
im Staate ist etwas so Bedeutendes, daß von einer gewissen Ansicht aus die gesamte sittliche
Tätigkeit darin aufgeht; und wenn wir auch diese Ansicht nicht teilen können, so geben wir
doch zu, daß in Beziehung auf die richtige Gestaltung und Anordnung des gemeinsamen Lebens
im Staate eine Theorie notwendig ist, welche ergibt, wie jenes Ziel zu erreichen, daß der Staat
bei dem Wechsel der Generationen fortbestehe und sich in seiner Gesamttätigkeit steigere. Es
ist dies die Politik. Beide Theorien, die Pädagogik und die Politik greifen auf das vollständige
ineinander ein, beide sind ethische Wissenschaften und bedürfen einer gleichen Behandlung.
Die Politik wird nicht ihr Ziel erreichen, wenn nicht die Pädagogik ein integrierender Bestandteil derselben ist, oder als ebenso ausgebildete Wissenschaft neben ihr besteht. […] Die Pädagogik ist eine rein mit der Ethik zusammenhängende, aus ihr abgeleitet angewandte Wissenschaft, der Politik koordiniert.“905
Obwohl Schleiermacher den Begriff des Staates und der Erziehung voneinander differenziert,
so spricht er der wissenschaftlichen Pädagogik, da sie mit der Ethik, im Sinne einer vom Staate
unabhängigen Wissenschaft der Moral und Sitte, zusammenhängt. Er legt dar, dass eine „Steigerung“ des geistigen Lebens – man könnte vielmehr sagen: die Entwicklung des kulturellen
Lebens – als auch eine Entfaltung des geselligen Lebens zum Zwecke der Wohlfahrt eines Staates nur dann denkbar ist, wenn die Bewegung des Staates, d. h. der geschichtliche Fortschritt
von Generation zu Generation, nicht nur durch die Politik als Wissenschaft, d. h. durch die
politische Ökonomie oder Staatswissenschaft, sondern auch durch die Pädagogik reflektiert,
reguliert und geleitet wird. Pädagogik ist deshalb von so großer Bedeutung, da sie die Prinzipien
904
Schleiermacher 2000 f, Bd. 1, S. 275.
905
Vgl. Schleiermacher 2000 j, Bd. 2, S. 12.
257
der Bildung des Staates durch Erziehung über die Generationen hinweg bedenkt und das Staatsgeschick auch über ökonomische Faktoren hinweg lenkt. Daraus wird vor allem schon deutlich,
dass Schleiermacher die Pädagogik nicht als Möglichkeit der Vervollkommnung eines Ideals
des sittlichen Menschen bzw. einer sittlichen Ordnung begreift im Sinne der leibnizschen Tradition, sondern die Aufgabe der Pädagogik darin versteht, die Erziehung als soziales Faktum
und Geschick in ihrer geschichtlichen Gestalt und ihrer Funktion zu reflektieren. Winkler liest
in dieser Aufgabe die Einsicht Schleiermachers in das Paradox moderner, d. h. funktional differenzierter Gesellschaften.906 Dieses besteht in der Einsicht, dass moderne Gesellschaften, da
sie funktional differenziert sind, im Sinne ihrer Funktionalität interner Differenzen bedürfen.
So ist aber gerade die Pädagogik und so sind die Erziehungssysteme in der Situation, sowohl
die Aufgaben der Sozialisation, Reproduktion und Integration des Individuums zu übernehmen,
zugleich aber auch den Prozess individueller Bildung zu fördern im Ausblick auf die Schaffung
funktionaler Differenzen. Deutlich wird durch Winklers systemtheoretisch geprägte Einschätzung Schleiermachers zum einen, dass Schleiermachers Reflexion der Pädagogik auf die Frage
Kants reagiert, wie die Freiheit beim Zwange kultiviert werden könne, zum anderen aber, dass
diese Frage, anders als bei Herbart, in der Beantwortung der Frage allein einen Anschluss an
die Naturwissenschaft sucht. Man könnte im Sinne von Scholtz oder Hermann von einer geisteswissenschaftlichen Profilierung der Pädagogik sprechen und in Hinblick auf die Rezeption
von einer sozialphilosophischen bzw. soziologischen Akzentuierung.907 Dieses jedoch insofern,
da wie Frank darlegt, Schleiermacher die „transzendentale Revision“ an die Hermeneutik heranträgt und so eine Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit des Verständnisses geschichtlicher Äußerungen und Lebens-Äußerungen systematisch vorbereitet.908 Darin, so Frank an anderer Stelle, offenbart sich die für die „existenzial-ontologische und neomarxistisch-pragmatizistische Hermeneutik“ die grundlegende Einsicht in eine „kommunikative[…] Basis des Wissens“909. Mehr aber noch als die Erkenntnis der „Vernunft als ‚diskursives Vermögen‘“910, wie
Winkler diese Einsicht zusammenfasst, liegt darin ein „post-modernes“ Verständnis der Moderne vorbereitet, wonach die Entfaltung der Moderne von Antagonismen durchzogen und bestimmt ist. Hier ist der Hinweis Sünkels entscheidend, wonach Schleiermacher fordert, dass die
906
Vgl. Winkler 2000, Bd. 1, S. XIII.
907
Vgl. Winkler 2000, Bd. 1, S. VIII.
908
Vgl. Frank 1999, S. 7 f.
909
Frank 1977, S. 121.
910
Winkler 2000, Bd. 1, S. VIII.
258
Pädagogik die „streitenden Tendenzen“, die „politisch-sozialen und ideologischen Widersprüche“ als auch die „parteilichen Antithesen“ des Zeitalters nicht ausklammern dürfe, sondern zu
einer Lösung der dringlichen Zeitfragen beitragen müsse.911 Gleichzeitig muss jedoch Arndts
Hinweis beachtet werden, dass es sich bei Schleiermachers Denken um eine Metaphysik handelt und alle Versuche eines ethischen, psychologischen, anthropologischen oder dialogischkommunikativen Wissensprozesses, der Wissensentfaltung, im Anschluss an Schleiermacher
zumeist diese metaphysische Dimension seiner dialektischen Philosophie missachten.912 Dies
liegt nicht nur an einer nur mangelnden Kenntnisnahme des konstellationalen Prozesses und
der Responsivität des Denkens Schleiermachers, sondern an der damit bedingten schlichten
Überforderung durch sein höchst responsives und produktives Denken.
Der Entwicklungsgang von Schleiermachers Denken, darunter auch der Pädagogik, ist in diesem Sinne als ein offener Prozess zu verstehen, dessen Dynamik von einer hohen Rezeptivität
gegenüber dringlichen Zeitfragen und Themen geprägt ist. In diesem Sinne ist Diltheys Bemerkung, wonach Schleiermachers „Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke“ einem
„gründlichen Verständniß“ bedürfen,913 richtig, gleichzeitig aber ist es wichtig, dass diese Bemerkung nicht als eine Forderung zu einem monumentalisierenden Biografismus aufzufassen
ist, sondern als Hervorhebung der Bedeutung der Konstellationen, in denen Schleiermacher
gearbeitet hat. Scholtz schreibt hierzu:
„Ausgang von konträren Gegensätzen, Kreuzungen zweier Gegensatzpaare, Bindungen und
Durchdringungen von Gegensätzen im Bereich endlicher Wirklichkeit, quantitatives Überwiegen eines Poles gegenüber dem anderen, relative Gegensätze zwischen den Individuen und
Seinsbereichen, Orientierung am Organismus und Ausgriff auf das Ganze – darin hat man mit
Recht die Hauptkennzeichen von Schleiermachers dialektischer, konstruktiver Methode gesehen. Sie schließt eine bestimmte Ontologie mit ein: Alles Seiende erscheint als in sich gespannte, Gegensätze bildende Einheit; die Realität insgesamt als ein Kontinuum, in dem keine
schroffen Gegensätze die Individuen trennen.“914
Schleiermachers Methode ist dialektisch. Sein Begriff der Dialektik unterscheidet sich grundsätzlich von Hegels Begriff der Dialektik. Obwohl beide den Begriff der Dialektik, wie in Auseinandersetzung mit der Philosophie Platons entwickeln verwehren sie sich Hegels Interpretation der Dialektik Platons als “reine Dialektik“ im Sinne einer „sich selbst entwickelnde[n] oder
911
Vgl. Sünkel 1964, S. 24.
912
Vgl. Arndt 2003, S. 136 f.
913
Vgl. Dilthey GS 1970, Bd. XIII.1, S. XXXIII.
914
Scholtz 1984, S. 57.
259
bewegende[n] Idee“.915 Wie Rohls weiter darlegt, geht Hegels „reine Dialektik“ von einer Erkennbarkeit des Absoluten aus und versteht sich als spekulative Theologie.916 Schleiermacher
begreift dagegen die Dialektik als eine dialogische, man könnte sagen diskursive Wechselwirkung: als sich im Gespräch „bildende Dialektik“917.
„Dialektik nach der Ableitung von διαλέγεσθαι heißt bei Plato und seinen Nachfolgern im
Grunde nichts als Kunst, ein Gespräch zu führen.“918
Deutlich wird hier die immanentistische Auffassung des Werdens des Wissens durch die Dialektik als Gesprächskunst.
3.2.1 Ansatzpunkt der Dialektik Schleiermachers
Wie Gadamer betont, kann die Bedeutung der Platon-Studien Schleiermachers nicht hoch genug bemessen werden, die ihn zeit seines Lebens begleiteten.919 Allerdings ist zu vermuten,
dass sich die im Zitat ankündigende spezifische Lesart und Interpretation der Dialektik Platons
zugleich von Schlegel nicht unbeeinflusst war. Denn Schlegel, der Schleiermacher zur PlatonÜbersetzung antrieb und mit dem er sich eine Wohnung zwischen Dezember 1797 bis Herbst
1799 teilte,920 definiert Dialektik 1796, d. h. zeitlich noch vor der Verfassung der Dialektik
durch Schleiermacher, folgendermaßen:
„[50] Sehr bedeutend ist der Griechische Nahme Dialektik. Die ächte Kunst (nicht der Schein
wie bey Kant), sondern die Wahrheit mitzuteilen, zu reden, gemeinschaftliche die Wahrheit zu
suchen, zu widerlegen und zu erreichen (so bei Plato Georgias – cfr. Aristoteles); ist ein Theil
der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophie.“921
Die Mitteilung der Wahrheit in der Gemeinschaft – ein Motiv, welches heute von Nancy entwickelt wird – zeigt sich hier zumindest als eine Idee, die von Schlegel früher als bei Schleier-
915
Rohls 2001, S. 492.
916
Rohls 2001, S. 493.
917
Schleiermacher zitiert nach Burdorf/Schmücker 1998, S. 10.
918
Schleiermacher 1976, S. 47.
919
Gadamer 1972, Bd. 3, S. 141–149.
920
Vgl. Nowak 2001, S. 91.
921
Schlegel 2007, S. 60.
260
macher vertreten ist. Wie im Zitat deutlich wird, wird die Dialektik hier als „notwendiges Organon der Philosophie“, als zentrales “Werkzeug“ zur Grundlegung aller Erkenntnis und Methode der Philosophie herausgehoben.
In der dialektischen Grundlegung der Philosophie zeichnet sich ein grundsätzlich anderer Wissens- und Methodenbegriff als bei Kant ab. In dieser Auffassung und beurteilenden Setzung der
Dialektik wendet sich Schlegel explizit gegen Kants Auffassung der Dialektik:
„So verschieden auch die Bedeutung ist [der Dialektik, M. B.], in der die Alten dieser Benennung einer Wissenschaft oder Kunst sich bedienten, so kann man doch aus dem wirklichen
Gebrauche derselben sicher abnehmen, daß sie bei ihnen nichts anderes war, als die Logik des
Scheins. Eine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben, daß man die Methode der Gründlichkeit, welche die
Logik überhaupt vorschreibt, nachamete, und ihre Topik zu Beschönigung jedes leeren Vorgebens benutzte. Nun kann man es als eine sichere und brauchbare Warnung anmerken: daß die
allgemeine Logik, als Organon betrachtet, jederzeit eine Logik des Scheins, d. i. dialektisch sei.
Denn da sie uns gar nichts über den Inhalt der Erkenntnis lehret, sondern nur bloß dem Verstande, welche übrigens in Ansehung der Gegenstände gänzlich gleichgültig sein; so muß die
Zumutung, sich derselben als eines Werkzeuges (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse, wenigstens dem Vorgeben nach, auszubreiten und zu erweitern, auf nichts als Geschwätzigkeit hinauslaufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach
Belieben anzufechten.“922
Bei Kant ist die Dialektik eine bloße „Logik des Scheins“, nicht der „Wahrscheinlichkeit“ oder
„Erscheinung“.923 Die Logik des Scheins besteht darin, dass der „subjektive Grund des Urteils
für objektiv gehalten wird“924: es ist ein transzendenter überschwänglicher Gebrauch der Vernunft, der keiner Erfahrung entspricht.925
Als Destruktion aller bisherigen Metaphysik untersucht Kant den dialektischen Gebrauch der
reinen Vernunft hinsichtlich ihrer „Paralogismen“, „Antinomien“ und „Ideale“. Auch in der
praktischen Vernunft destruiert Kant die Dialektik der praktischen Vernunft in Hinblick auf die
Idee eines „höchsten Gutes“. In aller Ausführlichkeit trachtet Kant danach, den Erkenntnisanspruch der reinen Vernunft zu zerstören und damit alle spekulative Metaphysik zu desillusionieren. Kant behandelt die Dialektik so ausführlich, weil es eine „natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft“ gibt, die selbst wenn das „Blendwerk“ aufgedeckt wurde,
nicht aufhören wird, die Vernunft „in augenblickliche Verwirrungen zu stoßen, die jederzeit
922
Kant 1997, S. 138 f.
923
Vgl. Kant 1998, S. 405.
924
Vgl. Kant 2001, S. 104 f. (§ 40).
925
Vgl. Kant 2001, S. 111 (§ 45).
261
gehoben zu werden bedürfen“926. Die Ablehnung der Dialektik kann nicht deutlicher ausgedrückt werden als mittels der Charakterisierung als „Geschwätzigkeit“ und Überheblichkeit im
Sinne der Rhetorik. Als bloßer „Kunstgriff“ trägt Dialektik nichts zur Erkenntnis bei, sondern
errichtet ein bloßes Blendwerk und muss „am Gerichtshofe einer kritischen Vernunft, welche
Gesetzte verlangt, in ganzen Haufen auf einmal abweisen“927. Kant beschreibt in der transzendentalen Dialektik das Phänomen, dass der Geist allein durch seine Begriffe (auch ohne jegliche
Erkenntnis) immer auch dazu verleitet wird, über die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten
hinaus zu spekulieren. Die kantische Auffassung der Dialektik als transzendentale Dialektik ist
jedoch zugleich ein nur eingeschränktes Verständnis, das mit dem klassischen Verständnis
bricht – es gar ausgrenzt.
Schlegels Wiederaufnahme der Dialektik ist geprägt von dem Versuch, die kritische Philosophie um das klassische Verständnis der Dialektik zu erweitern und damit die durch die einseitige Auffassung der Dialektik aufgekommenen Probleme zu revidieren. So ist das Motiv der
Wiederaufnahme der Dialektik durch Schlegel von der Einsicht in die Gemeinschaftlichkeit des
Denkens und dem daraus resultierenden Erkenntnis der Zusammengehörigkeit von Rhetorik
und Verstehen getragen. Damit benennt er Schlegels Projekt einer historischen Fassung der
Transzendentalphilosophie928 in praktischer, poietischer Hinsicht als „Universalφ[philosophische] Kunst“ und „pragmatische Dialektik“929, welche im Kern folgende Frage stellt: Wie sollen die Bewegung der Begriffe und das Werden des Wissens ohne Einbezug jener Gemeinschaftlichkeit (auch der Gemeinschaft der (Gott-)Natur) zu verstehen sein?
Schlegel schreibt in der Rhapsodie, „die strenge Absonderung ist nur das Werk des Verstandes“930. Darin wird eine Kritik der transzendentalphilosophischen Methode kenntlich, die in der
Kritik den Menschen analytisch aus seiner Bedingtheit absondert und ihn in einer unwirklichen
Freiheit erscheinen lässt. Die Dialektik wäre somit nicht nur als Überwindung der durch die
kritische Methode aufgestellten Dichotomien zu verstehen in Hinblick einer „lebendigen Kritik
des Geistes“931, wie er rückblickend formuliert. Über Kant schreibt Schlegel: „K.[ant.] hat eine
926
Kant 1998, S. 409.
927
Kant 1998, S. 824 (A787/B815).
928
„Alle Transc[endental]φ[philosophie] ist zugleich theoretisch und practisch. Dieß übersehen zu haben, ist wohl ein Hauptfehler von Kant. – Auch in d[er] φ [Philosophie] soll nur d[as] Classische kritisiert werden, das Transcendentale aber
historisiert. Alle φ [Philosophie] als Kunst soll – κ [Kritik] sein. Das meynt und weiß er aber gar nicht. –“ (Schlegel KFSA
1963, Bd. XVIII, S. 92 [756])
929
Vgl. Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 117 [1063].
930
Schlegel zitiert nach Arndt/Jascheke 2012, S. 225.
931
Schlegel KFSA 1971, Bd. XIX, S. 346 [296].
262
große Vorliebe alles zu trennen. Seine schlechte Sprache Beweis eines Mangels an Mittheilungssinn und fähigkeit.“932 Schlegel kritisiert, dass Kants „Vorliebe alles zu trennen“, d. h.
seine analytisch-kritische Methode, den Zusammenhang des Ganzen vergisst, so bliebe das
„System reiner Vernunftbegriffe eine Wolkenjuno“933 und die „Kritik der r.[einen] V.[ernunft]
ein großes logisches Experim[ent]“934. Kant verkenne darin das „Wesen der Philosophie“, welches Schlegel in der Erkenntnis der „Allheit d.[es] Wissens“935 sieht: so enthalte eine „stricte
φσ [Philosophie] […] wohl nichts als eine Char[akteristik] d[es] Universums“936 etwa im Sinne
einer „universelle[n] Grammatik“937. Unter Einfluss des Neuspinozismus versucht Schlegel gewissermaßen die Transzendentalphilosophie nicht von der Endlichkeit her zu entwerfen, sondern von der Unendlichkeit. Die „abstrakte“ Philosophie Kants habe kein Gespür für das Ganze
– „vom Zusammenhang des Unendlichen und Endlichen keine Ahnung“938. Es ist daher nicht
verwunderlich, wenn Schlegel behauptet, dass „Mystik offenbar d[ie] Grundlage der Transc[endental]φ[philosophie]“939 ausmache. Er unterscheidet dabei die Mystik von der (traditionellen)
theologischen Mystik und konzeptualisiert sie als eine Bewegung eines organischen, synthetischen Wissens in Zusammenhang mit einer „Universalwissenschaft“ und „Universalkunst“.940
Das dominante Motiv der Fragmente der Lehrjahre, in dem die Ideen und Gedanken Schlegels
fragmentarisch, ohne explizit systematische Ausarbeitung überliefert sind, wie sie hätten Gesprächsgrundlage und Einfluss für Schleiermacher sein können,941 ist das einer organischen
Philosophie die Natur als ein „Wachsen“:942 als Einheit von Bewegung und Materie943 und als
Offenbarung der Liebe Gottes.944 (Diese christologische Dimension auszuführen, besagt ein
932
Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 22 [52].
933
Vgl. Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 60 [406].
934
Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 62 [421].
935
Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 13 [101].
936
Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 70 [494].
937
Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 71 [506].
938
Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 64 [443].
939
Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 93 [762].
940
Vgl. Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 123 [6–9].
941
Es ist belegt, dass Schleiermacher die Notizhefte Schlegels zwischen Ende 1797 und Anfang 1798 liest und nicht zuletzt
deshalb Schlegel „auf dem theoretischen Gebiet zumeist eher als der Gebende als der Nehmende“ zu sehen sei (vgl. Arndt
2013, S. 31).
942
Vgl. Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S.152 [344].
943
Vgl. Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 154 [377].
944
Vgl. Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 153 [359; 361].
263
Fragment, dass die „ganze Natur […] Christus“ sei, der „Geist – die Tiefe, der Vater, das Centrum“.945 In diesem Sinne fasst Schlegel alles Denken als „Dividieren“ auf.946) Schlegel zeigt
sich in den Fragmenten bemüht, die Einzelwissenschaften in den Zweck der Betrachtung der
Natur als Ganzes,947 d. h. in den Rahmen einer spekulativen Naturphilosophie, einer universalen
„Charakteristik des Universums“ zu setzen.
Ansatzpunkt für diese Philosophie findet Schlegel in der transzendentalen Dialektik Kants, da,
wie Arndt und Zovko darlegen, Schlegel hier die „Schnittstelle“ sieht, wo Endliches und Unendliches aufeinandertreffen und sich Wahrheit vollzieht.948 Dies wird verständlich, wenn man
sich etwa folgende Stelle der Transzendentalen Dialektik in den Sinn ruft:
„Diese vollendete Größe des Umfangs, in Beziehung auf eine solche Bedingung, heißt Allgemeinheit (Universalitas). Dieser entspricht in der Synthesis der Anschauungen die Allheit (Universitas) oder Totalität der Bedingungen. Also ist der transzendentale Vernunftbegriff kein anderer, als der von der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Da nun das
Unbedingte allein die Totalität der Bedingungen möglich macht, und umgekehrt die Totalität
der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vernunftbegriff überhaupt
durch den Begriff des Unbedingten, so fern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält
erklärt werden.“949
Schlegel knüpft systematisch an den Hinweis Kants an, wonach das „Unbedingte allein die
Totalität der Bedingungen möglich macht“. Angetrieben von einer, kritisch eingeschränkten,
„Sehnsucht nach dem Unendlichen“950 erfährt der Begriff der Unbedingtheit eine durch Jacobi
vermittelte neuspinozistische Ausdeutung. Daher wird deutlich, warum Schlegel die Mystik als
Grund der Transzendentalphilosophie auszuweisen versucht. Das in der Transzendentalen Dialektik entdeckte Verhältnis von Unbedingtem und Bedingtem nimmt Schlegel als Ausgangspunkt einer Neubestimmung und grundlegenden Transformation der kritischen Philosophie im
Sinne einer „Totalization von unten herauf“.951
945
Vgl. Schlegel, KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 161 [451]
946
Vgl. Schlegel KFSA 1967, Bd. II, S. 178 [90].
947
„El[ementar] Tr[anzendental] Absol[ut] συστ[Systematisch] Natur, φ[Philosophie] π[Poesie] η[Ethik] ist Gottheit und
μ[Mythologie] φ[Physik] H[istorie] ist Menschheit. Eine Charakteristik d[es] Universums < das `̔̔ευ και πάυ der φσ[Philosophie]> würde alle diese umfassen. –“ (Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 137 [177]).
948
Vgl. Arndt/Zovko in: Schlegel 2007, S. XXIV.
949
Kant, Immanuel 1998, S. 428 [A322/B 379].
950
„Das Wesen der Philosophie besteht in d[er] Sehnsucht nach d[em] Unendlichen und in d[er] Ausbildung d[es] Verstandes
[…]“ und „Gedanke d[er] Gottheit d[as] einzige in der φσ[Philosophie]. –“ (Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 418 [1168
& 1172]).
951
Vgl. Arndt 1997, S. 39–63.
264
„Es giebt nur Ein wirkliches System – die große Verborgene, die ewige Natur, oder die Wahrheit. – Aber denke Dir alle menschliche Gedanken als ein Ganzes, so leuchtet ein, daß die
Wahrheit, die vollendete Einheit das nothwendige, obschon nie erreichbare Ziel alles Denkens
ist.“952
Wie deutlich wird, beabsichtigt Schlegel nicht, die kritische Dimension der Transzendentalphilosophie in der Vollfüllung „Sehnsucht nach dem Unendlichen“ 953 oder „unwiderstehliches
inneres Geistesbedürfnis zu Spekulazion“ zu verwerfen. Schlegel versucht die kritische Dimension der Philosophie zu wahren, durch die Behauptung, dass Wahrheit nicht als Einheit, d. h.
ursprünglich und prinzipiell erkannt werden kann. Er legt nahe, dass der Sinn nur „dividierter
Geist“ ist, niemals aber einheitlicher Geist.954 Vielmehr „offenbart“ sich Wahrheit im dialektischen Wahrheitsgeschehen – im Zwischen der dialektischen Oppositionen.
Durch die Grundlegung der Philosophie in der Dialektik verschiebt sich der Blick des Denkens.
Schlegel – und dies ist für Schleiermacher u. a. bedeutend – bereitet eine Wertschätzung des
Individuums vor, eine historische Entfaltung des genetischen Denkens als auch ein anderes
Wahrheitsverständnisses. Ersteres so, da jedes Seiende, jedes Individuum als Emanation der
Gottnatur955 und auch als eine endliche, bedingte Äußerung, Ausbildung und Ausdruck des
Unendlichen, Unbedingten verstanden werden muss.956 So schreibt Schlegel: „Der Menschen
ist eine Mikrokosmus; zur Char.[akteristik] d[es] Individuums gehört Char.[akteristik] d[es]
Universums. –“957 Zweitens ist die naturphilosophische Gedanke, wonach die Natur als ein
Wachsen verstanden muss, dessen Teil der Mensch mit der Auslegung der(Natur-)Geschichte
als Offenbarungsgeschichte verbunden.
„Die Offenb.[arung] über das Univ.[ersum] gar nicht bloß theoretisch, sondern auch [durch die
reine Praxis gelangt man dazu. – (Der Primat d[es] Praktischen könnte auch bloß idealistsich
seyn.)“958
952
Schlegel zitiert nach Arndt/Jaeschke 2013, S. 114.
953
Schlegel KFSA 1964, Bd. XII, S. 8 f.
954
„[28] Sinn (für eine besondere Kunst, Wissenschaft, einen Menschen, usw.) ist dividierter Geist; Selbstbeschränkung, also
ein Resultat von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung.“ (Schlegel 1988, Bd. 1, S. 240)
955
Vgl. Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 292 [1157].
956
„Die ganze Natur teilt sich in Produkte, Proceße und Elemente.“ (Schlegel KSFA 1963, Bd. XVIII, S. 148 [304]).
957
Schlegel KSFA 1963, Bd. XVIII, S. 229 [418].
958
Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 292 [1156].
265
Es ist entscheidend, dass Schlegel die Offenbarung nicht nur in der transzendentalen Dialektik
verortet, sondern auch als Naturgeschichte und Geschichte.959 Durch das „Primat des Praktischen“ bereitet sich so ein Primat des Historischen960 vor. Dialektik wird somit zugleich nicht
als ein reines bzw. logisches, sondern als ein wirkliches Geschehen verstanden. Drittens leitet
Schlegel durch den Anschluss an die Dialektik eine Aufmerksamkeit gegenüber der gemeinschaftlichen Dimension des Denkens ein. Dialektik wird bei Schlegel nicht wie bei Kant als
Aufdeckung des Scheins, sondern als „kritischer Prozeß […] „gemeinschaftlichen Ausbildens“961 der Wahrheit verstanden. Darin liegt nicht nur die Ablehnung des Begriffs des transzendentalen Ich, des „Ich denke“,962 sondern daraus folgt eine Neufassung des Begriffs der
Wahrheit. Während Kant von einer Korrespondenz- bzw. Kohärenztheorie der Wahrheit ausgeht,963 so plädiert Schlegel, wie es Gray treffend ausdrückt, für eine „Komplexitätstheorie der
Wahrheit oder der Wahrheitsfindung“964. Diese resultiert aus der Einsicht in das dialektische,
gemeinschaftliche Wahrheitsgeschehen des Denkens, welches im Kern sich als relativ und symbolisch charakterisieren lassen muss. (Dabei ist es hier sicherlich auch im Blick auf Schlegels
Biografie richtig zu sagen, dass Schlegel die in den Jenaer und Berliner Kreisen erfahrene Gemeinschaftlichkeit gewissermaßen in die Philosophie übersetzt hat bzw. sie philosophisch reflektiert.) Schlegel schreibt:
„<Axiome. Jedes System ist nur Approximation seines Ideals. Die σκ[Skepsis] ist ewig. Die
W[issenschaft] darf Symbole brauchen die Wahrheit kann nur producirt werden – [das Denken
ist produktiv,) liegt in der Mitte der Indifferenz. – Alle Wahrheit ist relativ Alles Wissen ist
symbolisch.>“965
Obwohl hier ein deutlicher Einschlag des fichteschen „Produktionsidealismus“ zu vernehmen
ist, so ist hier doch etwas anderes gemeint. Die Hervorhebung der Mitte der Indifferenz verweist
auf das dialektische Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit, welches bei Schlegel mit
959
„Hist.[orie] geht aus von Ontologie und kehrt wieder dahin zurück.“ (Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 350 [352])
960
Schlegel ist sich des Unterschieds von Geschichte und Historie dabei völlig bewusst:
„Geschichte muß sorgfältig unterschieden werden von Historie – Historie ist eine φλ[philologische Behandlungsart, die
wohl auf andre Gegenstände noch als die Geschichte gehen könnte. Geschichte ist d[er] Inbegriff d[er] vergangenen
Menschheit; nicht zu trennen von d[er] Ahndung d[er] künftigen. – Sie ist die σϑ[Synthese] von Natur und Kunst . nicht
die Kunst von Natur und Geschichte. – “ (Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 389 [828])
961
Arndt/Zovko in Schlegel Hamburg, 2007, S. XXV.
962
„Das Transcendentale Ich ist nicht verschieden von d[em] transcendenntal[en] Wir. Es ist kein persönliches.“ (Schlegel
KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 31 [135])
963
Vgl. Kant 1998, S. 289 [A191].
964
Vgl. Gray 2009, S. 63.
965
Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 417 [1149].
266
dem Begriff der Ironie besetzt ist. Wenn Schlegel also sagt, dass Wahrheit relativ ist, dann
meint er relativ in Hinblick auf diese Indifferenz und die Idee, dass jenes antinomische Verhältnis niemals eine synthetische Auflösung findet, sondern gewissermaßen der Kern der Entwicklung des Menschen und seines Wissens bildet. Anders als Kant also sieht Schlegel in der transzendentalen Dialektik die Möglichkeit zur Formulierung eines schöpferischen, gemeinschaftlichen Denkens und in gewisser Weise auch eine Erkenntnis in das Wesen des historischen Menschen als historisch gebrochenes Subjekt.
Aus der Einsicht in die komplexe Relativität der Wahrheit und des Sinns966 erklärt Schlegel,
dass es unmöglich sei, eine Philosophie aus sich selbst zu entwickeln. 967 Der Anfang der Philosophie sei immer relativ in Hinblick auf eine historische Situation und eine Geselligkeit: „Philosophiren heißt die Allwissenheit gemeinschaftl[ich] suchen.“968 So ist Schlegels Projekt „Universalwissenschaft“ und „Universalkunst“969 im Sinne eines poetologischen Wissenschaftsentwurfes als dialektisches und dialogisches Projekt der Philosophie angelegt.970 Der Begriff der
„Symphilosophie“ bringt diese Einsicht auf den Begriff:
„Sympathie d[er] Bildung, Symphilosophie ist das Wesen der Freundschaft. Die alten φσ [Philosophen] waren die größten Virtuosen darin. –“971
Als „Philosophie der Philosophie“972 umschreibt Schlegel mit dem Begriff der „Symphilosophie“ die Idee einer Philosophie als gemeinschaftliche Schöpfung, die im Kern darin als Verständigung und Verstehen der Wahrheit zu charakterisieren wäre. Der Gedanke, wonach Sinn
ein Resultat der „Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ sei, ist sicherlich auch in Zusammenhang mit der Idee einer „Symphilosophie“ zu verstehen, eines mitteilenden Philosophierens, bei dem die Entäußerung des Sinns im Mitsein zu einem zentralen Moment des dialektischen Wahrheitsprozesses zu denken ist. Das heißt, dass Schlegel Philosophie als „Symphilosophie“ nicht nur als ein systematisches Wissenschaftsprojekt entwirft, sondern auch als ethisches Projekt. So schreibt er, dass eine „συστ συμφ [systematische Symphilosophie] […] eine
966
„Sinn für d[as] Weltall ist Hist[orischer] Geist.“ (vgl. Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 129 [91])
967
Vgl. Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 408 [1054].
968
Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 515 [97]
969
Vgl. Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 123 [6–9].
970
Vgl. Schlegel KFSA 1971, Bd. XIX, S. 157 [37]
971
Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 142 [242].
972
Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 314 [1445].
267
vollständige φ[Philosophie] für d.[en] Menschen“973 sei. Somit wird deutlich, dass es der lebendige Geist in seinen historischen Individuationen und Bildungen ist, den Schlegel als Ausgangspunkt der Philosophie systematisch ausarbeitet.
„Unsere Philosophie fängt nicht wie andere mit einem ersten Grundsatze an, wo der erste Satz
gleichsam der Kern oder der erste Ring des Kometen, das übrige ein langer Schweif von Dunst
zu sein pflegt, - wir gehen zwar von einem kleinen, aber lebendigen Keime aus, der Kern liegt
bei uns in der Mitte.“974
Schlegels Auffassung des Philosophierens ist durch die Auseinandersetzung mit den platonischen Dialogen geprägt. Sie exponieren die Mitte, den „lebendigen Keim“, durch den sich das
Philosophieren ereignet. In seiner Schrift Die Philosophie Platons behauptet er, dass diese Dialoge weder als unvollständig Lehre noch als Hinweis auf die esoterischen Lehren zu lesen
sind, sondern selbst das Wesen der Philosophie darstellen.
„Die Philosophie, ganz rein gedacht, hat keine eigene Form und Sprache; das reine Denken und
Erkennen des Höchsten, Unendlichen kann nie adäquat dargestellt werden. Solle die Philosophie sich aber mittheilen, so muß sie die Form und Sprache annehmen, sie muß alle möglichen
Mittel versuchen, die Darstellung und Erklärungen des Unendlichen so bestimmt, klar und deutlich zu machen, als nur immer geschehen kann; sie wird in dieser Hinsicht das Gebiet der Wissenschaft und Kunst durchschweifen, um alle Hülfsmittel, die zu ihrem Zwecke dienen können,
sich auszuwählen. Die Philosophie, insofern sie alle Arten des menschlichen Wissens in der
Kunst umfaßt, kann sich die Form, die Sprache und Terminologie jeder anderen Wissenschaft
und der Kunst aneignen, ja es sogar nicht einmal nöthig, daß es eine der Form nach vollendete
Wissenschaft sey, welche Philosophie ihre Terminologie hergebe; auch das gemeine, praktische
Leben hat seine bestimmte Sprache, die Philosophie kann diese höher potenzieren, eine würdigere Bedeutung, einen höheren Sinn hineinlegen, und sie dann zu ihrem Zwecke gebrauchen.
So wie die Philosophie als Wissenschaft selbst noch nicht vollendet ist, so ist es auch ihre Sprache nicht; auch dieser liegt ein fortgehendes Streben zum Grunde, das Unendliche in immer
bestimmteren, schicklicheren, klareren Worten, Ausdrücken und Formeln aufzufassen, darzustellen.“975
Kritisch formuliert Schlegel, dass es weder ein reines Denken noch eine Erkenntnis des Höchsten gibt, sondern dass Philosophieren immer im „gemeinen, praktischen Leben“ eine Gestalt
hat. Die Einsicht in die Grenzen des Geistes sieht Schlegel jedoch nicht als eine „Kränkung“,
sondern wendet diese in einen schöpferischen Optimismus. So sind mit seiner Einsicht in die
„Gemeinschaftlichkeit des Denkens“, die er in Platons Dialogen paradox als „gemeinschaftliches Selbstdenken“976 exponiert, nicht nur die Grenzen und die Struktur des Denkens, so auch
973
Schlegel KFSA 1963, Bd. XVIII, S. 225 [368].
974
Schlegel KFSA 1964, Bd. XII, S. 328.
975
Schlegel S. 209 f.
976
Vgl. Schlegel 2007, S. 205.
268
der Entfaltung des Wissens formuliert, sondern sind auch die Möglichkeit bedacht. Entscheidend ist hier, dass Schlegel einen Begriff des Enthusiasmus entwickelt, der die in der kantischen
Philosophie einseitig kritisch ausgearbeiteten Bedingungsmöglichkeiten der Erkenntnis in einen historisch-schöpferischen Optimismus transformiert.
3.2.2 Schleiermachers dialektische Grundlegung der Pädagogik
Sind die Anfänge der Philosophie Schleiermachers als „negativ“ einzustufen, 977 so vollzieht
sich durch das Verhältnis zu Schlegel eine Wendung zu einem „positiven“ Philosophieren.978
In einem Brief an die Schwester schreibt Schleiermacher über die Beziehung zu Schlegel:
„Kurz für mein Dasein in der philosophischen und literarischen Welt geht seit meiner näheren
Bekanntschaft mit ihm gleichsam eine neue Periode an.“979
Nicht nur wird Schleiermacher in seinen bisherigen Ansichten bestätigt, sondern es findet, wie
Jaescheke und Arndt schreiben, durch die „literarische Ehe“980 eine Verschiebung des Horizontes statt, in dem sich Schleiermachers bisheriges Denken bewegte.981 Oftmals scheint die Bedeutung Schlegels für die Horizontverschiebung der Philosophie Schleiermachers unerkannt
auf Grund der paradoxen und fragmentarischen Form seines frühromantischen Denkens. Dennoch sind schon wesentliche Themen systematisch vorbereitet, die Schleiermacher in einer anderen Form „publikumsverträglicher“ ausarbeiten wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das
„symphilosophische“ Verhältnis beider zu Gunsten eines der Begriffsfreunde ausgelegt werden
sollte. Doch ist es wesentlich zu verstehen, dass die wegweisenden Themen durch das „Symphilosophieren“ ausgebildet wurden, die da heißen: „Platon, Hermeneutik, Dialektik“.982 So
bleibt festzuhalten, dass die dialektische Grundlegung der Philosophie, so auch der Pädagogik,
bei Schleiermacher durch das Verhältnis zu Schlegel motiviert ist.
977
Vgl. Arndt in: Schleiermacher 1986, S. XVIII.
978
Die in der Zeit des Zusammenlebens mit Schlegel verfassten Schriften, Versuch einer Theorie des Geselligen Lebens und
Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern sind nicht nur wichtige systematische Werke Schleiermachers, sondern letzteres Werk bildet auch die Grundlage seiner öffentlichen Bekanntheit.
979
Schleiermacher KGA, Bd. V.2, S. 177.
980
Arndt 2009, S. 3–14.
981
Arndt/Jaeschke 2013, S. 129.
982
Arndt resümiert: „Er [Schleiermacher, M. B.] tut dies, indem er den in dem symphilosophischen Theorielabor erzeugten
Ideenvorrat sich systematisch gerichtet aneignet und damit eine diskursive Form jenseits der Paradoxien der Frühromantik
transformiert. Wie tief aber dieses Vorhaben in der häuslichen und philosophischen Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel
zurückgehenden Konzeptionen – in Stichworten: Platon, Hermeneutik, Dialektik – von Schlegel in unmittelbaren Umkreis
der Begegnung mit Schleiermacher ausgearbeitet worden waren.“ (Arndt 2009, S. 14)
269
Der Einfluss durch Schlegel ist jedoch nicht bloß aus der persönlichen Nahbeziehung beider zu
verstehen, sondern muss selbst systematisch bedacht sein. Dies deshalb, da der Hinweis auf das
Faktum einer Nahbeziehung selbst weder die gegenseitige „intellektuelle“ Attraktion noch das
gegenseitige existenzielle Interesse klärt. Zu bedenken bleibt, welche für Schleiermacher lebensdringlichen Fragen im „symphilosophischen Theorielabor“983 eine Perspektive und Fluchtlinie erhalten, die Schleiermachers Denken nachhaltig prägen bzw. beschäftigen werden.
Schleiermachers erster Berliner Zeit von 1796–1802, die Zeit, in der er Schlegel trifft, geht die
Zeit der Jugendjahre und des Studiums (1768–1796) voraus. Die im ersten Band der Kritischen
Gesamtausgabe der Schriften Schleiermachers als Jugendschriften betitelten Manuskripte liefern den Ansatzpunkt, von dem aus eine Klärung der obigen Frage möglich wird. Allein der
Blick in die Texte legt zunächst erhebliche Schwierigkeiten für den Rezipienten offen, da die
Themen, mit denen sich Schleiermacher beschäftigt, und allein die genannten Werke zu zahlreich sind, als dass man eine einfache Antwort auf die Frage geben könnte. Auffällig ist zunächst, dass das anfängliche Interesse für die Nikomachische Ethik des Aristoteles seit etwa
1789 hinter die Beschäftigung mit der Ethik Kants zurücktritt. Zwar finden sich weiterhin Manuskripte zur antiken Philosophie – ein Studium, das Schleiermacher zeit seines Lebens verfolgen wird –, jedoch scheint hier, dass das Interesse an Fragen der zeitgenössischen Ethik eine
größere Dringlichkeit einnimmt. Der Blick in Nowaks Buch über Schleiermacher liefert einen
Ansatzpunkt zur Klärung der Frage, warum dieses so ist und wie dies zu verstehen sei.
Nach einer wohl zur Publikation bestimmten Übersetzung des 8. und 9. Buches der Nikomachischen Ethik, die zu Schleiermachers Enttäuschung nicht publiziert wurden, wandte er sich
der kantischen Philosophie zu.984 Wie Nowak schildert, fühlte sich sein akademischer Lehrer
Eberhard985 stark durch die zunehmende Diskussion und den wachsenden Einfluss herausgefordert, wodurch auch Schleiermacher zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants verleitet wurde.986 Eberhards Bemühungen gegen die Erkenntniskritik Kants waren
von dem Standpunkt geleitet, wonach Leibniz schon eine Erkenntniskritik vertreten habe, die
die Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit, so auch die Differenz synthetischer und
analytischer Urteile gekannt habe.987 Kants transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie, so
schildert Herms, war in Eberhards Augen nicht nur ein überflüssiges Unternehmen, sondern
983
Vgl. Arndt 2009, S. 14.
984
Vgl. Nowak 2001. S. 36.
985
Zu Eberhards Verhältnis zu Kant Vgl. Kertscher 2012.
986
Vgl. Nowak 2001. S. 37.
987
Vgl. Herms 1974, S. 66–82.
270
stelle eine gefährliche Engführung und Beschneidung der Philosophie insgesamt dar. 988 Obwohl Schleiermacher von Nowak als unabhängiger Student dargestellt wird – ein Bild, welches
die Manuskripte bestätigen –, so ist diese Kritik nicht spurlos an Schleiermacher vorbeigegangen. Auch wenn die Herms die Vermutung vorlegt, dass Schleiermacher die hallischen Einwände gegen Kants Theorie der Sittlichkeit im Philosophischen Archiv vermutlich nicht gelesen habe,989 so nimmt Schleiermacher in seinem Manuskript Über die Freiheit die im Philosophischen Archiv von Schwab aufgestellte Position gegen Kants „Zerreißung des Ich“990 auf.
In seinem Aufsatz Ueber zweyerley Ich, und den Begriff der Freyheit in der Kantischen Moral
kritisiert Schwab die Unterscheidung des „sinnlichen“ oder „empirischen“ und des „übersinnlichen“, „reinen, vernünftigen“ Ich.991 Im Kern kritisiert Schwab die kantische Trennung der
empirischen bzw. psychologischen Apperzeption und der reinen, ursprünglichen bzw. transzendentalen Apperzeption, welche Kant explizit gegen die leibniz-wolffsche Philosophie“ richtet.992 Schwab berührt einen entscheidenden Punkt der Transzendentalphilosophie, da die Behauptung der transzendentalen Apperzeption nicht nur als ein Unterscheidungskriterium zu der
genannten Tradition verstanden wird,993 sondern ein argumentatives Hauptstück zur Grundlegung der kritischen Philosophie ist. Denn Kant versteht mit dieser Trennung die Grundlegung
der Einheit der logischen Geltungsansprüche und deren Rechtfertigung und Geltungsbereich.
(Was auch entscheidend ist, dass aus der kantischen Unterscheidung die Problematik des Dings
an sich hervorgeht.)
Neben der Widersprüchlichkeit der Argumentation hebt Schwab zwei Probleme mit der Dichotomie hervor: Zum einen wird durch die Trennung des sinnlichen und des übersinnlichen Ich,
d. h. durch die Isolierung des übersinnlich rein-vernünftigen Ich, die Idee der Unabhängigkeit
des Menschen von der Naturnotwendigkeit postuliert. Dabei sei es völlig absurd anzunehmen,
988
Vgl. Herms 1974, S. 66–82.
989
Vgl. Herms1974, S. 75.
990
Vgl. Herms 1974, S. 76.
991
Vgl. Schwab 1968, S. 69 f.
992
„Die Leibniz-Wolffische Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur unserer Erkenntnisse einen ganz unrechten Gesichtspunkt angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen bloß als logisch betrachtete, da er offenbar transzendental ist, und nicht bloß die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit, sondern den
Ursprung und Inhalt derselben betrifft, so daß wir durch die erste Beschaffenheit der Dinge an sich selbst nicht bloß undeutlich, sondern gar nicht erkennen, und, so bald wir unsre subjektive Beschaffenheit wegnehmen, das vorgestellte Objekt
mit den Eigenschaften, die ihm die sinnliche Anschauung beilegte, überall und nirgend anzutreffen ist, noch angetroffen
werden kann, indem eben diese subjektive Beschaffenheit die Form desselben, als Erscheinung bestimmt.“ (Kant 1998, S.
118 (A 44/B 62))
993
Wie sehr Kant selbst noch in diese Tradition verwickelt war, kann hier nicht besprochen werden.
271
dass alle unsere Handlungen allein von einer reinen, apriorischen Vernunft bzw. einem Sittengesetz verursacht bzw. motiviert sein könnten. Ein gemäßigter Determinismus könne dagegen
nicht abgestritten werden:
„Daß nicht alle unser Handlungen in unserer Gewalt sind, das giebt allerdings die LeibnizWolffische Philosophie zu, und welche Philosophie muß das nicht zugeben , wenn sie dem
Menschen nicht eine absolute Freyheit, d. i. eine Freyheit, die er nicht hat, und nicht haben
kann, einräumen will? Aber das behauptet jene Philosophie, daß der Mensch als ein Geist, das
Prinzip der Thätigkeit in sich selbst hat, und daß er durch die Ausbildung und den Gebrauch
seiner Vernunft, sich von dem Einfluß der äußeren Dinge und der Herrschaft der Sinnlichkeit
immer unabhängiger, mithin immer freier machen, und sich dadurch dem Urbild der höchsten
Vernunft und der absoluten Freyheit immer mehr nähren könne.“994
Nebst der gezielt eingesetzten Polemik zur Verteidigung der leibniz-wolffschen Philosophie
fällt auf, dass Schwab hier vor allem den kantische Optimismus bezüglich der Bildung und der
moralischen Vervollkommnung des Menschen entschieden zurückweist. Dies scheint – gerade,
da dieser Begriff, wie wir gesehen haben, die Grundlage der Pädagogik Kants darstellt – für
Schleiermacher eine wichtige, vorbereitende Einsicht zu sein, die er schließlich auch in seiner
Pädagogik grundsätzlich übernehmen wird.
Zum anderen kritisiert Schwab, dass es durch die Dichotomie möglich wird, das Ich als ein von
der Ichheit völlig unterschiedliches Substrat zu verstehen. So kann es als Abbild „der höchsten
Vernunft und der absoluten Freyheit“ in den „Rang einer Gottheit“ erhoben werden. Er schreibt:
„Diese fehlerhafte Grundanlage ist die gänzliche Isolierung des Uebersinnlichen von dem Sinnlichen durch die gewaltsamste Abstraction, die je ein Philosoph gemacht hat. […] Aber das ist
noch niemand eingefallen, das vernünftige Ich ganz von dem empirischen Ich und der Sinnenwelt zu trennen, und demselben Prädicate beyzulegen, wodurch es in den Rang der Gottheit
erhoben wird.“995
Schwab scheint hier nicht nur eine Einsicht in die beschränkte Freiheit des Menschen zu fordern, welche die leibniz-wolffsche Tradition schon längst geleistet hat,996 sondern eine damit
verbundene Demut des Menschen gegenüber einer göttlichen Vernünftigkeit und Freiheit einzufordern. Damit zeigt sich Schwab als ein konservativer Geist, nicht nur insofern, dass er
994
Schwab 1968, S. 80.
995
Schwab 1968, S. 76.
996
„Nach dieser Philosophie [gemeint ist die Leibniz-Wolffische Philosophie, M. B.] hat die menschliche Seele Spontaneität
oder Selbstthätigkeit; und diese Selbstthätigkeit äußert sie besonders in dem Zustande der deutlichen Vorstellung des Denkens. Freylich ist diese Spontaneität nicht absolut, weil die menschliche Seele ihrem Wesen nach eingeschränkt ist, und in
einem System existiert, wo die Substanzen sich miteinander wechselweise einschränken.“ (Schwab 1968, S. 77)
272
meint, eine Tradition verteidigen zu müssen, sondern besonders auch im politischen Sinne.
Schwab verkennt völlig – vielleicht auch absichtlich –, dass das kantische Postulat einer transzendentalen Freiheit als Regulativ einer sittlichen, bürgerlichen Ordnung aufzufassen ist und
im Kern einen politischen Charakter hat bzw. einen politischen Utopismus begründet. Zwar ist
der Hinweis auf die beschränkte Handlungsgewalt des Menschen wichtig, doch wehrt der Vermerk, dass die Handlungsgewalt des Menschen eingeschränkt ist, jeden Versuch ab, die politische Handlungsgewalt, d. h. den Menschen in seiner Normkompetenz zu verstehen.
Dass Schleiermachers Problembewusstsein von der hallischen Konstellation gebildet ist, zeigt
sich in den frühen Manuskripten, die die Idee einer „Ethik der Individualität“ verfolgen und so
die im Philosophischen Archiv angesichts der Einsicht in die mit dem kantischen Dualismus
einhergehenden Probleme aufgestellte Forderung einer Rückkehr zu einem substanziellen und
einfachen Ich.997 So ist es kein Zufall, dass Schleiermacher in seinem Manuskript schreibt:
„Kurz es ist umsonst den Menschen zu theilen, alles hängt an ihm zusammen, alles ist eins;
[…].“998 Damit ist nicht nur ein Beleg für den direkten Einfluss Schleiermachers durch die hallische Schulphilosophie eberhardscher Prägung gegeben, sondern es zeigt sich, dass das Manuskript Über die Freiheit, welches zwischen 1790–1792 datiert wird, auf die Zeit nach dem Erscheinen des Philosophischen Archiv zu datieren wäre. Ohne dieser Frage weiter nachzugehen,
ist hier für unsere Untersuchung zunächst aufschlussreich, dass Schleiermachers philosophisches Problembewusstsein sich im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und
Theologie und zwischen leibniz-wolffscher Metaphysik und Transzendentalphilosophie entwickelt.
Obwohl Schleiermachers Problembewusstsein stark von den Themen und den Problemen geprägt ist, welche er in der hallischen Konstellation kennengelernt hat, so zeigt sich jedoch, dass
er eine Parteinahme für die leibniz-wolffsche Tradition nicht einfach akzeptiert. In seinem Manuskript Über das höchste Gut versucht Schleiermacher eine eigenständige Position in dem
Problemfeld zu finden. In dieser frühen Auseinandersetzung mit der „Moraltheologie“ 999 oder
„Ethikotheologie“1000 kritisiert Schleiermacher diese, insofern sie philosophische und theologische Motive vermischt und so gegen die eigenen Prämissen verstößt.1001 In dem frühen Manuskript zeigt sich zum ersten Mal die Idee, dass das höchste Gut nicht durch die Vernunft im
997
Vgl. Eberhardt 1968, S. 114–120.
998
Schleiermacher KGA 1984, Bd. I.1, S. 241.
999
Vgl. Kant 1998, S. 850 (A 819/B 847).
1000
Vgl. Kant 2006, S. 370–376 (§ 86).
1001
Vgl. Rohls 1997, Bd. 1, S. 327.
273
kantschen Sinne bestimmt werden könne und eine Ethik nicht von der allgemeinen Sittenlehre
und apriorischen Vernunft verstanden werden könne. Wie daraus deutlich wird, betrifft die Kritik Schleiermachers nicht nur periphere Argumente der kantischen Ethik, sondern berührt im
Wesen die Fragen der Grundlegung der Ethik selbst. Die Grundlegung der Ethik in der transzendentalphilosophischen Methode, so könnte man resümierend darlegen, führt für Schleiermacher weder zu einer treffenden Bestimmung der Freiheit, noch der Rechten Auffassung von
Individualität.
Noch in dem frühen Manuskript Über das höchste Gut versucht Schleiermacher die Aufhebung
des kantischen Dualismus und eine Neubestimmung der Apperzeption durch den Begriff des
Gefühls.1002 In jenem Manuskript, welches Querverbindungen zu anderen Manuskripten aufweist1003 und somit nicht als singulärer Entwurf zu gelten hat, wird der Versuch der Grundlegung einer Theorie des „Sittengefühls“1004 kenntlich, welches Schleiermacher als vermittelndes
Prinzip zwischen phänomenaler und noumenaler Welt, zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis versteht.1005 In dem Manuskript Über die Freiheit, welches zwischen 1790–
1792 entstand, weitet Schleiermacher diese Erkenntnis aus und argumentiert gegen Kant, dass
von der empirischen und psychologischen Apperzeption keine reine oder transzendentale Apperzeption zu unterscheiden sei. Das heißt, dass das Ich nicht als ein abstraktes, intellektuelles
Vermögen zu verstehen ist, sondern seine Realität sich in den unmittelbaren Gefühlsregungen
entfaltet. Moralische Gefühlsregungen, wie das „Sittengefühl“ als auch das „Freiheitsgefühl“,
bilden das „Selbstgefühl“ des Menschen aus.1006 Wie Arndt treffend bemerkt, liegt in diesem
die entschiedene Abkehr bzw. Überwindung der kantischen „Sollensethik“: durch die Abkehr
von der Idee eines „zweyerley Ich“ und der Idee einer „transzendentalen Freiheit“ begründet
Schleiermacher eine „Ethik als Theorie der individuellen Freiheit.1007
1002
Wahrscheinlich ist diese Lösung nicht unbeeinflusst durch Eberhard. Vgl. Grove 2012, S. 119–131.
1003
Vgl. Meckenstock in Schleiermacher KGA 1984, Bd. 1, S. XLI.
1004
Vgl. Schleiermacher KGA1984, Bd. 1, S. 124 f.
1005
Feil sieht darin den „grundlegenden philosophischen Ansatz“ Schleiermachers:
„Schleiermachers grundlegender philosophischer Ansatz zeichnet sich, […], vor allem dadurch aus, dass das Gefühl als
eine vermittelnde Instanz zwischen Denken und Sein und auch zwischen Denken und Tun aufgefasst wird. Diese ermöglicht
die immer wieder zur Sprache gebrachte ontologische Erweiterung des transzendentalen Subjekts Kants, insofern Denken
und Sein aufgrund dessen nicht mehr als durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt angesehen werden müssen.“ (Feil
2005, S. 133)
Darin liegt die grundsätzliche Einsicht, dass das „In-der-Welt-Sein“ des Subjekts, so könnte man sagen, nicht über den
Intellekt zu erfassen ist, sondern in dem Gefühl erschlossen liegt. Dies daher, da Schleiermacher, wie Thandeka erörtert,
im Gegensatz zu Hegel und Fichte einen Intellektualismus als absolutes Prinzip der Philosophie ablehnt (vgl. Thandeka
1995, S. 2).
1006
Vgl. Schleiermacher 1984, Bd. 1, S. 282 f.
1007
Vgl. Arndt 2013, S. 6.
274
Wie auch bei Herbart ist die Ablehnung des Begriffs der transzendentalen Freiheit entscheidend
für die Konzeption der Pädagogik. Denn es eröffnet sich durch die Ablehnung der kantischen
Moral eine Perspektive auf den Menschen in seiner „Eigentümlichkeit“, dazu mehr später. In
den frühen Manuskripten entscheidend sind die Abhängigkeit der Handlungsgewalt und die
Entwicklung des Menschen in seiner Umwelt:
„Es bleibt uns also nur noch die Einschränkungen übrig welche der Mensch in sofern er nicht
als äusseres Naturding betrachtet wird durch den Einfluß seines Willens und seines Handelns
auf den Willen und das Handeln anderer verursacht. Die Gemeinschaft des Menschen mit anderen Menschen in so fern sie willkührlich handelnde Wesen sind heisst Geselligkeit. Liesse
sich diese aber mit ihren Folgen ebenfalls blos als etwas zufälliges denken, welches nicht unter
Regeln stände die sich darauf allein beziehen und daraus hergenommen sind, so würde sie ebenfalls nicht hierher gehören, nur sofern diese Gemeinschaft unter eigenthümlichen Gesetzen als
Bedingung ihrer Möglichkeit steht lebt der Mensch im geselligen Zustand. […] Um also über
die Anwendbarkeit und die Bedeutung von so gewöhnlichen Ausdrücken bürgerliche und politische Freiheit nach unserer Erklärung zu entscheiden ob und in wie fern sich die Handlungen
die durch Gesetz dieser Zustände bestimmt sind in der Reihe und eine Reihe anfangend denken
lassen.“1008
Vielleicht durch die Ereignisse der Französischen Revolution beeinflusst, kündigt sich hier eine
starke Zurücknahme der Idee bürgerlicher und politischer Freiheit an, schließlich auch von
Kants eindeutigen Überzeugung der Rationalität individueller Freiheit und liberalen Rechtsverständnisses1009. Individuelle Freiheit sei keineswegs von der transzendentalen Freiheit aus zu
verstehen und damit die skeptische Distanz gegenüber der politischen Forderung nach Freiheit
eine Spiegelung der „Verhältnisse im damaligen Deutschland“1010. Zugleich kündigt sich in
dem Zitat eine deutliche Annäherung an Kant an – schließlich spricht er von „Bedingungen der
Möglichkeit“. So zeigt sich hier, dass Kant Schleiermacher zu einer „beobachtenden Erforschung des sittlichen Innenlebens des Menschen, einfach in seinem tatsächlichen Verlauf“1011
anregt. Wie Grove nahelegt, könnte man hier eine „immer größere Annäherung an die Kantische Argumentation“1012 sehen. Tatsächlich könnte die in dem Manuskript Über den Wert des
Lebens geäußerte Ansicht, wonach der Mensch ein „freigelassener des Schicksals […] gleich
1008
Schleiermacher 1984, Bd. 1, S. 356.
1009
Vgl. Irrlitz 2010, S. 38.
1010
Arndt 2013, S. 7.
1011
Fuchs 1969, S. 49.
1012
Grove 2004, S. 26.
275
einem mündigen Sohn“1013 sei, eine Annäherung an Kant darstellen. Dagegen ist hier zu beachten, dass Schleiermacher nicht nur bezüglich der Grundlegung der Ethik starke Vorbehalte gegen die kritische Philosophie hat und zugleich eine doch skeptische Haltung gegenüber der Idee
der transzendentalen Freiheit. Freiheit bleibt eine im Gefühl und nicht in der Politik realisierbare Dimension. Die Spannung zwischen der kritischen Philosophie und der Schulphilosophie
findet nach Ansicht des Autors keine Auflösung zugunsten einer Tradition. Vielmehr zeigt sich
ausgehend von der Kritik an der Grundlegung der kantischen Ethik eine Suche nach der Grundlegung einer Ethik und schließlich Wissenschaftssystematik jenseits der Transzendentalphilosophie und jenseits der leibniz-wolffschen Tradition.
Aus der Kritik grundlegender Punkte der kantischen Philosophie und dem Entwurf einer „Ethik
der Individualität“ stellt sich für Schleiermacher Frage, wie Individualität zu denken sei. Vor
dem erörterten Hintergrund müsse dieses als Verhältnis von Denken und Sein, als Verhältnis
des Individuellen und Allgemeinen, als Verhältnis von Natur und Freiheit und schließlich als
Verhältnis des Endlichen und des Unendlichen gedacht werden – eine Frage, für die sich, wie
wir gesehen haben, auch Schlegel interessiert. Es finden sich in den frühen Manuskripten durch
Jacobis Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn Ansätze, die aufgekommenen Fragen nach einem principium individuationis in der Kontrastierung
der Philosophie Kants mit derjenigen Spinozas zu entwickeln. In dem Manuskript Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems von 1793 bzw. 1794 geht es Schleiermacher nicht um
eine historisch genaue Darstellung der Philosophie Spinozas, sondern er ringt um eine Vermittlung der kritischen Philosophie und der Theologie und Kosmologie Spinozas. Interessant ist
hier, dass Schleiermacher sich gegen die leibniz-wolffsche Philosophie wendet und die überzeugendere, „siegreiche“1014 Position bei dem „antidualist“ Spinoza sieht.1015 Spinoza könne
das Verhältnis des Endlichen und Unendlichen in einer besseren Weise als Leibniz Monadologie lösen. Spinoza sei in der Erklärung dieses Verhältnisses, so resümiert Schleiermacher,
„Kant […] weit näher als jeder andere“1016:
„Wenn ich Spinozas dunkle Terminologie über dieses Lehrstück [die „Inhärenz der endlichen
Dinge in dem Unendlichen“ (Vgl. ebd.), M. B.] in unsere Sprache übertrage, so finde ich folgendes: die endlichen Dinge sind ein aus einer durch die Theile des unendlichen verbreiteten
ungleichförmigen Vereinigung der entgegengesetzten modorum der Attribute entstehender
1013
Schleiermacher KGA 1984, Bd. 1, S. 429.
1014
Vgl. Schleiermacher KGA 1984, Bd. 1, S. 569.
1015
Vgl. Schleiermacher KGA 1984, Bd. 1, S. 580 ff.
1016
Schleiermacher KGA 1984, Bd. 1, S. 576.
276
Schein. Wo sollte Spinoza ein anderes Schema zur Verdeutlichung jenes Verhältnißes des wandelbaren Scheins zum beharrlichen Wesen hernehmen, als das von Substanz und Accidenz.
Spinoza ist also allerdings Kant auch hierin weit näher als jeder andere. Raum und Zeit ist auch
bei ihm nicht nur die Form, sondern der Ursprung alles wandelbaren und aller Veränderung;
was also dadurch bestimmt ist, ist auch bei ihm nicht im Ding selbst, sondern nur Modifikation
eines Dinges, Raum und Zeit ist das modificirende Medium, nur daß es dieses nicht in uns,
sondern in einem unbekannten unendlichen Stoff hinein verlegte.“1017
Schleiermacher sieht die endlichen Dinge als „Schein“ bzw. Erscheinung oder Manifestation
des Unendlichen. Der „bloße“ Schein der Dinge bei Kant erhält so eine metaphysische bzw.
theologisch-kosmologische Dimension. Zugleich wird durch den Begriff des Scheins die Substanzmetaphysik kritisch eingeschränkt: denn weder sind die endlichen Dinge identisch mit
dem Unendlichen noch ist eine Erkenntnis des Absoluten unmöglich.1018
Schleiermachers Spinoza-Studien, die Herms wohl zurecht als „Jacobistudien“ bezeichnet, bieten nicht nur die Basis der Auseinandersetzung mit Schlegel, sondern führen zu einer deutlichen
Modifikation der spekulativen Anthropologie als Grundlegung der Pädagogik. Die in der Auseinandersetzung mit Jacobis „Metaphysik der Individualität“ gewonnenen Einsichten werden
auch als Rahmen der Grundlegung der Pädagogik dienen.
Obwohl die Frage einer Pädagogik zunächst nicht im Vordergrund steht, so sind schon seit 1793
Reflexionen zu pädagogischen Fragestellungen überliefert. Der Text Über den Geschichtsunterricht verdeutlicht, dass Schleiermacher die Fragen der Pädagogik von der Praxis der Erziehung her versteht (er verdient seinen Lebensunterhalt mit der Pädagogik) und sie nicht nur als
ein nebensächliches Problem einer allgemeinen pädagogischen Wissenschaft und Theoriebildung auffasst. In seinen späteren Vorlesungen finden vor allem auch Fragen der richtigen Einwirkung des Erziehers auf den Zögling eine breite und detaillierte Diskussion.
Dass die Praxis kein nur nebensächliches Problem der pädagogischen Wissenschaft ist, ist nicht
nur aus einem Pragmatismus zu verstehen, sondern liegt selbst in der Sittenlehre Schleiermachers begründet. Dies schon daher, da er die Pädagogik als eine „von der Sittenlehre ausgehende
Disziplin“ versteht und der Ort der Pädagogik aus dem System der Ethik verstanden werden
muss.1019 In seiner Theorie des geselligen Betragens bekundet sich der Versuch der Bildung
und Sittlichkeit, sich in der Geselligkeit ausbildende und regulierende Faktoren zu begreifen.
1017
Schleiermacher 1984, Bd. 1, S. 575 f.
1018
Vgl. dazu: Herms 1974, S. 121–163.
1019
Vgl. Schleiermacher 2000 j, Bd. 1, S. 204 u. S. 211 ff.
277
Anders als Kant wird Moralität nicht aus dem Verhältnis zu einem allgemeinen, reinen Sittengesetz konzipiert, sondern als „individuelles Allgemeines“ der Wechselwirkungen der Menschen.
„Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als ihr außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines
jeden soll gehen auf die Tätigkeit der übrigen, und die Tätigkeit eines jeden soll sein seins
Einwirkung auf die anderen. […] Die Wechselwirkung ist sonach in sich selbst zurückge-
hend und vollendet; in dem Begriff derselben ist sowohl die Form als der Zweck der
geselligen Tätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus.“1020
An Kants Kategorie der Wechselwirkung anknüpfend1021 argumentiert Schleiermacher, dass
Wechselwirkung nicht nur konstitutiv für die Gemeinschaft ist, sondern auch für die Sittlichkeit. „Sittlich kann man nicht sein ohne alle“1022 – dies ist eine Grundeinsicht der konventionalistischen Ethik Schleiermachers, wie Berben erörtert, dessen Idee darin besteht, dass Vollzug
und Zweck der Sittlichkeit durch die „Gemeinschaft der Individuen nach vernünftigen selbstgegebenen Gesetzen“ realisiert werden.1023 Bildung und Sittlichkeit ist nicht in Verantwortung
gegenüber einer „extramundanen“ bzw. „supramundanen“1024 Instanz zu verstehen, sondern als
„sittliche Ökonomie“ im „freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen“.1025 Schleiermacher schreibt:
„Beides, das Bilden und Unterhalten der Gesellschaft, kann nicht getrennt, sondern muß als
eines gedacht werden. Denn die Gegenwart mehrerer Menschen in einem Raum um des geselligen Zwecks ist nur der Körper der Gesellschaft. Dieser muß erst durch die Tätigkeit des einzelnen belebt werden, und weil es eine durchaus freie Tätigkeit ist, kann dies Leben nur durch
eine ununterbrochene Fortsetzung derselben erhalten werden.“1026
1020
Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 19 f.
1021
Wie Kant in der Transzendentalen Analytik im Abschnitt Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien der Kritik
der reinen Vernunft herausstellt, ist die „Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden“ konstitutiv für eine
Gemeinschaft. Kant ordnet den Begriff in die Kategorie der Relation ein, welche dem disjunktiven Urteil entspricht. Gemeinschaft bestimmt sich primär nicht durch die Qualität, Quantität und Modalität, sondern durch die Relation.
1022
Schleiermacher zitiert nach Berben 1998, S. 183.
1023
Vgl. Berben 1998, S. 183.
1024
Kritisch konfrontiert Schleiermacher Kant mit der Frage:
„Wodurch wird nun Kant genöthigt oder auch nur veranlaßt, ein außerweltliches Ding als Ursache der Verstandeswelt
anzunehmen? weiß er denn ob überhaupt die Kategorie der Causalität auf die Noumena anwendbar ist?“ (Schleiermacher
KGA 1984, Bd. 1, S. 570)
1025
Vgl. Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 15.
1026
Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 18.
278
Sehr spannend ist, dass Schleiermacher versucht, Sittlichkeit mehr noch als alle zuvor als einen
sozialen Prozess zu verstehen – ja gerade sie damit identifiziert. Je freier die Geselligkeit ist, d.
h. je weniger äußere Zwecke, wie etwa die „öffentliche Gewalt“ und Milieubeschränkungen,
auf die Wechselwirkung unter den Menschen einwirken, desto mehr kann sich die Sittlichkeit
realisieren, da sich jeder als Gesetzgeber, jeder in seiner normkonstitutiven Funktion begreifen
muss.1027 Hier bereitet Schleiermacher, wie Arndt vermerkt, die für die Gesellschaftstheorie des
19. und 20. Jahrhunderts wichtige Unterscheidung von Gemeinschaften (altgr.: koinonai) und
Gesellschaften (altgr.: synousia) vor, wie sie später etwa durch Tönnies geprägt wurde.1028
Gleichzeitig formuliert Schleiermacher unter Einfluss der rousseauschen „citoyen-Romantik“1029 die Idee einer gemeinschaftlichen Geselligkeit als Ideal einer sittlichen Ordnung.
Wie diese zu realisieren sei, beantwortet Schleiermacher mit der Einführung des Gebots des
„Schicklichen“, welches besagt, „daß nichts angeregt werden soll, was nicht in die gemeinschaftliche Sphäre aller gehört“1030. Schicklichkeit besteht jedoch nicht aus einer Unterordnung
der „Eigenthümlichkeit“ unter die Konvention, sondern aus einem Handeln in Verantwortung
und einer eigentümlichen Aufnahme der Dinge, die als Schicklich verstanden werden und zur
jeweiligen Gemeinschaft gehören, welche die Umwelt des Handelns bildet.
„Ich soll meine Individualität, meinen Charakter mitbringen, und ich soll den Charakter der
Gesellschaft annehmen; beides soll in demselben Moment geschehen, soll eins und in einer
Handlungsweise vereinigt sein.“1031
Es liegt auf Grund Schleiermachers Theorie des „Sittengefühls“ nahe, hier eine Theorie des
Taktgefühls zu lesen. Dies ist auch nicht fern, da Schleiermacher die schickliche Handlungsweise zwischen Virtuosität und Theorie anlegt, d. h. zwischen einfühlendem Takt, der sich auf
die individuelle Handlungssituation bezieht, und der Reflexion der allgemeinen sittlichen Normen und Ordnung. Gleichzeitig liegt mehr darin, da in dem oben zitierten Gebot die Sprache
mitbedacht ist als eine wesentliche Dimension der „Schicklichkeit“:
„[…] ich soll so den Ton der Gesellschaft halten, und mich in Absicht auf den Stoff durch sie
leiten und beschränken lassen [….] wobei es mir aber frei bleibt, innerhalb der Sphäre meine
1027
Vgl. Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 20.
1028
Vgl. Arndt 2013, S. 55 f.
1029
Vgl. Arndt 2013, S. 54.
1030
Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 21.
1031
Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 23.
279
eigenthümliche Manier vollkommen walten zu lassen, und diese grenzen hatten diejenigen
überschritten, welche eine völlige Ungebundenheit für sich in der Gesellschaft verlangten.“1032
„Gesellige Kommunikation“, wie es Lau treffend benennt,1033 wird mit dem Ideal einer sittlichen Ordnung freier normativer Selbstbestimmung verbunden. Dabei berücksichtigt Schleiermacher, dass (Gesprächs-)Stoff und Manier in einem Spannungsverhältnis stehen und die
Schicklichkeit nicht als Konkordanz mit der Sitte zu verstehen ist, sondern als „eigenthümliche“
Bezugnahme zu dieser. So ist hier eine Theorie der Rhetorik, der Ironie und des Humors angelegt. Nicht allzu fern ist so die These, dass hier die Salonkultur zu einer „Gesellschaftsutopie“
stilisiert wird.1034 Gleichwohl dieser These abwertend klingen könnte, findet hier keine bloße
„romantische Schwärmerei“ statt. Vielmehr finden wir in der Theorie des geselligen Betragens,
wie Pleger darlegt, einen für die moderne Gesellschaft sozialpolitisch wichtigen Versuch der
Bestätigung verschiedener „Lebensbereiche[…] in ihren Grenzen“, des Nachweises ihres „relativen Rechts“ und die Inschutznahme sozial schwächerer „Organisationsformen wie Familie,
‚freie Geselligkeit‘ und Wissenschaft vor der stärkeren wie Kirche und Staat“1035. Dabei ist es
wichtig, dass Schleiermacher hier nicht nur eine bestehende Gesellschaftsform beschreibt, sondern ein normatives Ideal „konstruiert“. So ist mit der „Theorie“ des geselligen Betragens zugleich ein Entwurf eines normativen Regulativs verbunden, welches, wie Oberdorfer kommentiert, ein Bildungsprogramm impliziert.1036
Was diesen Text so grundlegend für das bildungspolitische Geschick der Pädagogik Schleiermachers macht, ist, dass Schleiermacher die Bedeutung der Pädagogik und eines Bildungsprogramms im Rahmen der Konstitution des Politischen entwirft und zugleich den Wirkbereich
durch die Theorie der Wechselwirkung bestimmt. Es ist für die Grundlegung der Pädagogik
besonders wichtig, dass Schleiermacher hier die Konstitution und Genese der praktischen Vernunft aus dem Prozess der Wechselwirkung beschreibt. Denn er definiert den Wirkungsbereich
der Pädagogik und findet einen Ansatz für die durch Kant aufgestellte Grundfrage der Pädagogik, wie die Freiheit beim Zwange zu kultivieren sei. Anders als Kant wird hier jedoch die
individuelle Freiheit im Gesellschaftsprozess bedacht und nicht bloß zum Problem gemacht,
wie man ein allgemeines Sittengesetz aus der natürlichen Bestimmtheit des vernünftigen Menschen gegen die Umwelteinflüsse im Individuum vervollkommnen und ausbilden kann.
1032
Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 24.
1033
Vgl. Lau 1999, S. 255.
1034
Vgl. Altenhofer 1993, S. 186 f.
1035
Pleger 1988, S. 57.
1036
Vgl. Oberdorfer 1995, S. 503.
280
So begreift Schleiermacher das Ideal der Vervollkommnung grundlegend anders als Kant:
„Die gesellige Vollkommenheit, die dem Gesetz des Schicklichen entspricht, besteht aus zwei
Elementen. Es gehört dazu einmal eine gewisse Elastizität, eine Fertigkeit, die Oberfläche, die
man der Gesellschaft darbietet, nach Erfordern auszudehnen, oder zusammenzuziehen: man
muß eine Menge von Gegenständen innehaben, und wenn die Gesellschaft beweglich ist, viele
derselben leicht und schnell durchlaufen können; dann aber auch wieder alles übrige leicht vergessend, genugsam bei einem kleinen Stoff verweilen, und ihn auf mannigfache Art geduldig
auf- und abzuwickeln verstehen. Diese Elastizität muss aber zweitens mit einer gewissen Undurchdringlichkeit verbunden sein. Die eigene Kraft und Art muß überall in gleichem Maße
bestehen, und sich tätig und reagierend offenbaren, der Stoff sei groß oder gering, geläufig oder
entfernt. Beides zusammengenommen weiß ich mit keinem passenderen Namen zu belegen als
mit dem der Gewandheit; kein mir bekanntes Wort drückt besser die Fähigkeit aus, sich in
jedem Raum zu fügen, und doch überall in seiner eigensten Gestalt dazustehen und sich zu
bewegen.“1037
Die Form der Schicklichkeit beschreibt Schleiermacher mit den anschaulichen Begriffen der
„Elastizität“ und „Undurchdringlichkeit“ oder „Gewandheit“. Das Individuum soll sich in seiner Geselligkeit zwar den Umständen anpassen, dies jedoch in einer Art, in der seine Eigentümlichkeit bewahrt bleibt. Dabei markieren die beiden Begriffe nicht nur die aufeinander bezogenen Dimensionen, in denen sich die „gesellige Vollkommenheit“ realisiert, die dem „Gesetz des Schicklichen“ entspricht, sondern umschreiben zugleich die gesellschaftlichen Anforderungen an das Individuum.
Es ist hier nicht verwunderlich, dass Schleiermacher vor dem Hintergrund seines sittlichen Ideals der „geselligen Kommunikation“ und der Theorie der Wechselwirkung die Anforderungen
des Subjekts in Bezug auf den Begriff des Interesses definiert. So sollen Menschen am gemeinschaftlichen Interesse durch Bildung, Wissen und Informiertheit partizipieren. Gleichzeitig
zeigt sich, dass Schleiermacher den Begriff der Bildung nicht als Selbstzweck stilisiert. Als
Voraussetzung der „geselligen Kommunikation“ steht Bildung im Verhältnis zu einer bestimmten Menge an versammelten Menschen, einer bestimmten sozialen Situation. Der Begriff des
„gemeinschaftlichen Spielraums“1038 verdeutlicht, dass die Bildung des Menschen in der „geselligen Kommunikation“ eine dialogische Aussetzung, eine diskursive Zerstreuung erfährt und
in gewisser Weise aufs Spiel gesetzt wird. Aufs Spiel gesetzt wird sie, da sich die „freie Geselligkeit“ immer als Transgression über die Sozialisation und die Bildung der Person bestimmt.
Insofern ist hier Reuter und Frank zuzustimmen, dass Schleiermacher in seiner Theorie der
1037
Schleiermacher 2000 e, Bd. 1, S. 26.
1038
Vgl. Schleiermacher 2000 e, Bd. 1; S. 26.
281
Geselligkeit die „Brechung der Selbstmacht neuzeitlicher Subjektivität“ verursacht.1039 Die
Entfremdung, die Aussetzung der Person in der Gemeinschaft, wird jedoch zugleich als Möglichkeit der Gemeinschaft, der Geselligkeit und schließlich auch des Glücks im Sinne einer
„geselligen Vollkommenheit“ thematisiert.
Die ideale Geselligkeit, so könnte man sagen, konstituiert sich im freien Spiel der Vermögen
der Sozii im gemeinschaftlichen Werden der Gefährten und Freunde. Schleiermacher weiß jedoch um die „unendliche“ Fragilität und die prinzipielle „Un-Möglichkeit“ dieser Vorstellung,
die als stetige Herausforderung zu verstehen ist.1040 Es ist selten, dass Menschen sich zu einer
Gemeinschaft fügen und sich eine über die Konventionen der Sittlichkeit hinausgehende „gemeinschaftliche Sphäre“ bildet. Gleichzeitig aber entfaltet sich aus dieser Vorstellung die Forderung des Feingefühls an den gebildeten, sich bildenden Menschen: Für die Fragilität der Geselligkeit ist es von größter Bedeutung, mit wem man spricht, an wen man sich bzw. die Rede
richtet. Zwar „ent-spricht“ man mit der Bildung dem Anspruch der anderen, ist zugleich aber
immer verantwortlich gegenüber der anderen Person in ihrer Eigentümlichkeit in der Begegnung. Geselligkeit, Gemeinschaftlichkeit – so könnte man Schleiermacher auch verstehen – ist
nicht gegeben, sondern konstituiert sich durch den Takt der Begegnung, der Achtsamkeit in der
Wechselwirkung. Dies zumindest wird sich als eine Grundeinsicht und Zweckbestimmung seiner Pädagogik erweisen.
Bevor wir jedoch diese erörtern, sollte schon in der Darstellung des Manuskriptes Versuch einer
Theorie des geselligen Betragens deutlich geworden sein, dass Schleiermacher darin nicht nur
einen Lösungsansatz für die in der Auseinandersetzung mit Kants Ethik gewonnenen Ansprüche und Anforderungen einer Ethik findet, sondern dass die Dialektik die zentrale Methodik
zur Umsetzung dieser ist. Die 1788–1799 verfassten, nach Grundsätzen der Dialektik strukturierten Text, angebotenen Lösungsansätze, zeigen einen starken Einfluss Schlegels. (Hier sei
daran erinnert, dass Schleiermacher Schlegels Einsichten aus den oben referierte Notizheften
Ende1797/Anfang 1798 liest.) Obwohl Schleiermacher seine Dialektik systematisch erst später
ausarbeiten wird, findet er in Schleiermachers Notizen und wohl auch Gesprächen mit ihm die
theoretischen Elemente der Dialektik. Da Schlegel in der kantischen Philosophie, genauer: in
der Transzendentalen Dialektik (s. o.), einen Ansatz gefunden hat, wie man den Menschen denken könne, ohne ihn zu „theilen“, besteht für Schleiermacher ein starkes Interesse an Schlegels
1039
Vgl. Scholtz 1984, S. 113.
1040
„Das ist denn auch der Fall mit dem hier durchgeführten Begriff, daß jede Gesellschaft eine Einheit, ein Ganzes sein soll.
Eine jede wird unvermeidlich nicht nur Augenblicke haben, wo sie eigentlich in mehrere Teile geteilt ist, sondern es wird
auch für die vortrefflichste ein besonderes Glück sein, wenn sich auch nur eine Zeitlang als ein wirkliches Ganzes erhalten
kann.“ (Schleiermacher 2000 g, Bd. 1, S. 35)
282
Gedanken zur Dialektik. Aus Schlegels Notizbüchern entnimmt Schleiermacher, dass die Dialektik zwei Probleme der kantischen Philosophie löst. Zum einen lässt sie den Menschen sowohl in seiner Bedingtheit und in seiner Freiheit denken und zum anderen löst sie das methodische Problem der Transzendentalphilosophie, die die Ethik von abstrakten Prinzipien her konzipiert. In seinen späteren Manuskripten zur Dialektik wird diese Einteilung der Dialektik in
zwei Gebiete systematisch aufgenommen. Dort heißt es:
„Zusammenfassen beider Gebiete.
1 Formal. Beide zusammen sind das ganze Wissen und dieses wird also immer construiert durch Subsumtion und Combination. Das System der Begriffe bildet das stehende Gerüst,
das System von Urtheilen ist die lebendige Ausfüllung.
2. Transzendental. Das Sein der Gattungen und das Sein der Actionen ist die Totalität
alles Seins. Alles Sein in dem Absoluten.“1041
Die Gliederung der Dialektik antwortet auf die Frage nach einer Grundlegung des Wissens und
des Denkens auf dem transzendentalen Gebiete, insofern das Verhältnis zur Totalität mitbedacht ist, und nach der Organisation des Denkens und Wissens, insofern sie das Verhältnis zu
der geschichtlichen, gemeinschaftlichen und konkreten Situation berücksichtigt.1042 Beide Glieder sind aufeinander bezogen in Hinblick auf eine komplexe und nicht abstrahierende Bestimmung des Menschen, die seine Relativität zum Absoluten immer berücksichtigt. Gerade deshalb
ist es auch in der Forschung umstritten, inwiefern die Dialektik als eine Glaubenslehre zu verstehen ist.1043 Prinzipiell ist Scholtz jedoch recht zu geben, dass die in der Dialektik klassische
Trennung von Logik und Metaphysik eine Aufhebung findet.1044
In der späteren Gliederung und Konzeption der Dialektik ist der Einfluss Schlegels deutlich zu
erkennen, denn er bereitet den formalen Teil und den transzendentalen Teil der Dialektik systematisch vor, wie wir oben gesehen haben. Die doppelte Aufgabe einer Bestimmung der Transzendentalphilosophie vom Unendlichen, Absoluten her als auch die „Totalisation von Unten“,
die die Organisation des Wissens sprachpragmatisch bzw. wissenschaftstheoretisch klären will,
das „reine Denken aus dem bedingten Denken“1045 heraus verstehen will, übernimmt Schleiermacher von Schlegel. Dies wird deutlich in den Texten aus der Zeit der Wohngemeinschaft mit
1041
Schleiermacher KGA 2002, Bd. 10.1, S. 40.
1042
Vgl. Schleiermacher KGA 2002, Bd. 10.1, S. 98.
1043
Vgl. Erhardt 2005, S. 173, Fußnote 133.
1044
Vgl. Scholtz 1984, S. 105.
1045
Schleiermacher KGA 2002, Bd. 10.1 S. 162.
283
Schlegel. So widmet Schleiermacher sich in seiner Theorie des geselligen Betragens der Aufgabe des Verständnisses der formalen Dialektik und in seinen Reden Über die Religion der
transzendentalen Dialektik. Dort entwickelt er folgendes Prinzip:
„Ihr wißt, daß die Gottheit durch ein unabänderliches Gesez sich selbst genöthigt hat, ihr großes
Werk bis ins Unendliche hin zu entzweien, jedes bestimmte Dasein nur aus zwei entgegengesetzten Thätigkeiten zusammenzuschmelzen, und jedem ihrer ewigen Gedanken in zwei einander feindseligen und doch nur durch einander bestehenden und unzertrennlichen Zwilingsgestalten zur Wirklichkeit zu bringen. Diese ganze körperliche Welt, in deren Inneres einzudringen das höchste Ziel Eures Forschens ist, erscheint den Unterrichtetsten und Beschaulichsten
unter Euch nur als ein ewig fortgesetztes Spiel entgegengesetzter Kräfte. Jedes Leben ist nur
die gehaltene Erscheinung eines sich immer erneuernden Aneignens und Zerfließens, wie jedes
Ding nur dadurch sein bestimmtes Dasein hat, daß es die entgegengesetzten Urkräfte der Natur
auf einen eigenthümliche Art vereinigt und festhält. Daher auch der Geist, wie er uns im endlichen Leben erscheint, solchem Gesez muß unterworfen sein. Die menschliche Seele – ihre vorübergehenden Handlungen sowohl als die innern Eigenthümlichkeiten ihres Daseins führen
uns darauf – hat ihr Bestehen vorzüglich in zwei entgegengesetzten Trieben. Zufolge des einen
nämlich strebt sie sich als ein Besonderes hinzustellen, und somit, erweiternd nicht minder als
erhaltend, was sie umgiebt an sich zu ziehen, es in ihr Leben zu verstrikken, und in ihr eigenes
Wesen eisaugend aufzulösen. Der andere hingegen ist die bange Furcht, vereinzelt dem Ganzen
gegenüber zu stehen; die Sehnsucht, hingebend sich selbst in einem größeren aufzulösen, und
sich von ihm ergriffen und bestimmt zu fühlen. […] So wie nun von körperlichen Dingen kein
einziges allein durch eine von den beiden Kräften der leiblichen Natur besteht, so hat auch jede
Seele einen Theil an den beiden ursprünglichen Verrichtungen der geistigen Natur; und darin
besteht die Vollständigkeit der lebenden Welt, daß zwischen jenen entgegengesetzeten Enden
[…] alle Verbindungen beider nicht nur wirklich in der Menschheit vorhanden seien, sondern
auch ein allgemeines Band des Bewußtseins sie alle umschlinge, so daß jeder Einzelne, ohnerachtet er nichts anderes sein kann als was er ist, dennoch jeden anderen eben so deutlich erkenne
als sich selbst, und alle einzelnen Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife.“1046
Im Zitat wird eine Grundposition Schleiermachers beschrieben, wonach das Sein völlig, d. h.
sowohl die „körperliche Welt“ als auch die „menschliche Seele“ betreffend, durch das „unabänderliche Gesez“ zweier „einander feindseligen und doch nur durch einander bestehenden und
unzertrennlichen Zwilingsgestalten“ bestimmt ist. Als „ewig fortgesetztes Spiel entgegengesetzter Kräfte“ entfaltet sich das Werden der Dinge im Spannungsfeld differenter, jedoch notwendig aufeinander bezogener „Urkräfte“. Diesem stetigen Antagonismus verschiedener
Kräfte liegt die ursprüngliche, transzendente Einheit zu Grunde, die durch die Idee der Gottheit
bestimmt wird. Damit führt Schleiermacher das ontotheologische Motiv der Bestimmtheit des
Endlichen durch die Gottheit in die Philosophie ein. Das, was Heidegger etwa über die schellingsche Philosophie sagt, dass sie „ontologisch und theologisch zugleich ist“1047, zeigt sich in
1046
Schleiermacher KGA, Bd. I.12, S. 16 f.
1047
Vgl. Heidegger 1995, S. 88.
284
dem Zitat oben. Dass Schleiermacher damit jedoch nicht in eine vorkritische Metaphysik zurückfällt, zeigt Ellsiepen. Er schreibt, dass Kant in Schleiermachers „großer Synthese“ von Kant
und Spinoza „für die stete erkenntnistheoretische Reflexion aller etwaigen substanzontologischen besonders aber ontotheologischen Aussagen“ stünde.1048 Dies ist richtig, da eine naive
Erkenntnis der Gottheit für Schleiermacher nicht möglich zu sein scheint, da er selbst sich in
dem das Sein bestimmende Gesetz nur indirekt offenbart im Sinne der Möglichkeit.
Die Idee, dass in jedem Einzelding sich die Unendlichkeit offenbart, erklärt die Motivation und
das Interesse am Konkreten, Geschichtlichen, Natürlichen. Wie Fuchs darlegt, ist Schleiermachers Grundeinsicht nicht durch die „reine Spekulation“ entsprungen, sondern „aus der lebendigen Anschauung von Mensch und Welt“1049 entnommen. In der Tat bekundet sich schon in
Schleiermachers frühen Manuskripten eine Ablehnung einer von einer abstrakten Logik ausgehenden Bestimmung des Menschen und seines Vermögens. Darin zeigt sich zugleich ein anordnendes Moment der schleiermacherschen Philosophie, die er in einem Brief von 1801 schildert:
„Die Vereinigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den
Monologen; aber freilich liegt der Grund davon sehr tief und es wird nicht leicht sein beiden
Parteien den Sinn dafür zu öffnen. Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat
wird nicht verstanden, und meine Sachen hat man wohl anderwärts noch gar nicht darauf angesehen.“1050
Die Ablehnung einer von der Faktizität des Menschen abschauenden, bloß idealen Bestimmung
des Menschen führt Schleiermacher zum Problem der Vereinigung von Realismus und Idealismus, Sachverhalt und Bedingungsmöglichkeit. Entscheidend ist hier, dass Schleiermacher Ontologie und Erkenntnistheorie, Spinozismus und Kritizismus zu der Erkenntnis amalgamiert,
dass die Dialektik nicht dem Kosmos entspricht, sondern vielmehr nur seine Struktur „spiegelt“,
wie es Scholtz treffend zum Ausdruck bringt.1051 Dialektik findet im Transzendentalen eine
Grundlegung, findet jedoch im formalen Teil seine Bestimmung. So ist es richtig, dass, da die
„Grundüberzeugung“ Schleiermachers eine Bestimmung des menschlichen Geistes und der
Seele mit sich führt, die Dialektik zugleich eine „Theorie“ des Denkens ist (im transzendentalen
1048
Vgl. Ellsiepen 2006, S. 408.
1049
Vgl. Fuchs S. 8.
1050
Schleiermacher zitiert nach Arndt 2013, S. 37.
1051
Vgl. Scholtz 1984, S. 59.
285
Sinne) und zugleich eine „Anweisung, das Denken und Wissen hervorzubringen“ 1052 (im formalen Sinne). Darin ist auch ihre Rolle für die Pädagogik zu verstehen.
Die Dialektik antwortet auf die Forderung einer Elementarphilosophie oder Wissenschaftslehre. Obwohl sie Schleiermacher erst nach 1800 in Manuskripten und Vorlesungen ausarbeitet,
so ist sie prinzipiell schon seit der Zeit der Wohngemeinschaft mit Schlegel ein das Denken
Schleiermachers ordnendes Prinzip. Die Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens
von 1799 ist, wie wir gesehen haben, von dem Verständnis strukturiert, wonach die Welt, die
Menschheit und auch die Geschichte durch den Antagonismus polar entgegengesetzter, aber
aufeinander bezogener Kräfte bestimmt ist. Dabei entfaltet die Schrift nicht nur eine Theorie
der Geselligkeit, sondern entwickelt auch die Anforderungen und Anweisungen zur „geselligen
Vollkommenheit“ dialektisch.
Wie auch bei anderen, oben besprochenen Positionen der Zeit besteht der Zweck der Pädagogik
in der Konzeption der Erziehung zum sittlichen und moralischen Handeln. Kants Grundfrage
der Pädagogik im Sinne des Konventionalismus umformulierend aufnehmend stellt die Pädagogik die Frage, wie man den Menschen in die Gesellschaft hineinführt, ihn derart bildet, dass
er zur Gesellschaft beiträgt, zugleich seine Freiheit realisiert. Erziehung, so schreibt Schleiermacher, sei „Einleitung und Fortführung des Entwicklungsprozesses des einzelnen durch äußere Einwirkung“1053. Dabei ist es das Ziel der Erziehung, den Menschen „auszubilden […] für
die Lebensgemeinschaft in der er geboren ist, und in welch er selbstständig eintreten soll“1054.
Deutlich tritt in dieser Bestimmung der Pädagogik Kants Forderung der Freiheit zurück, zu
Gunsten des Leitgedankens der Ausbildung der Individualität zur Persönlichkeit.1055 Vielleicht
wird dies schon am besten deutlich in der frühen Forderung: „112b. Man muß das Bild der
ganzen Gesellschaft sein und doch auch ein Individuum. v. 144.“1056 So ist es der freie, individuelle Umgang mit den Sitten und Konventionen, die die Pädagogik versucht in Hinblick auf
eine „vollkommene Geselligkeit“ zu kultivieren.
1052
Vgl. Scholtz 1984, S. 104.
1053
Schleiermacher 2000 h, Bd. 1, S. 212.
1054
Vgl. Schleiermacher 2000 a, Bd. 1, S. 457.
1055
In der Ethik von 1812 findet sich etwa folgende Definition der Persönlichkeit:
„Da die Natur schon ursprünglich Organ der Vernunft ist, dieses aber nur sein kann unter der Form der Persönlichkeit, die
Persönlichkeit aber nur ruht auf dem Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen, so gehört zu dem Ursprünglichen und
zu ihrer wesentlichen Form auch das Eintreten der Vernunft in diesem Gegensatz.“ (Schleiermacher 1990, S. 20 [§9].)
1056
Schleiermacher 2000 d, Bd. 1, S. 11.
286
„Erziehung setzt den Menschen in die Welt, insofern sei die Welt in ihn hineinsetzt; und sie
macht ihn die Welt gestalten, insofern sie ihn durch die Welt läßt gestaltet werden.“1057 (1, 209)
In einer doppelten Weise lässt sich dieses Zitat verstehen. Zum einen hinsichtlich der konkreten
Aufgabe der Erziehung, als besonnene Tätigkeit, als bedachte Praxis, die den Menschen in seine
Welt einführt. Voraussetzung dieser Aufgabe ist die von Kant übernommene Einsicht, dass der
Menschen erzogen werden muss – er der Hilfe bedarf, um sich in der Welt zu orientieren. Dies
nicht nur in einem biologischen Sinne – im Sinne des Menschen als Mängelwesen –, sondern
gerade auch in einem sittlichen Sinne. Der Mensch muss eingewiesen werden in die Konventionen, Sitten und Bräuche der Zeit. Bemerkenswert ist hier, dass Schleiermacher den formal
bestimmten Begriff der Sitte und des Sittengesetzes Kants, völlig in einen geschichtlichen Realismus auflöst. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, er ist geschichtlich und sozial bestimmt, so muss er sich auch als ein solches begreifen.
In einer anderen Hinsicht könnte man das Zitat auch dahin gehend auslegen, dass sich die
Grundintention der schleiermacherschen Philosophie darin ankündigt. So gelte es ja den Menschen in seiner Komplexität, in seiner Weltlichkeit zu verstehen. Zugleich gelte es, diese Weltlichkeit in Hinblick und im Ausblick auf den Vollzug des göttlichen Waltens hin zu verstehen,
dessen Vernunft der Mensch zum Ausdruck bringt. Diesen Ausdruck richtig zu verstehen und
sein ethisches Implikat zu vollziehen, könnte als ein wesentliches, wenn auch hintergründiges
Moment hier ausgelegt werden.
Die oben zitierte Bestimmung der Pädagogik aus den Aphorismen zur Pädagogik, kann als ein
„Ritournell“ der Pädagogik Schleiermachers aufgefasst werden. Sie findet sich sowohl in der
Vorlesung von 1813/141058, der Vorlesung von 1820/211059 als auch in der Vorlesung von 1926:
„Die Erziehung – im engeren Sinne beendet, wenn der Zeitpunkt eintritt, daß die Selbsttätigkeit
der Einwirkung anderer übergeordnet wird – soll den Menschen abliefern als ihr Werk an das
Gesamtleben im Staate, in der Kirche, im allgemeinen freien geselligen Verkehr, und im Erkennen oder Wissen.“1060
Pädagogik ist notwendig für die Erziehung und Vorbildung des Menschen für den „allgemeinen
freien geselligen Verkehr“: den Verkehr, in der die Wechselwirkung unter den Menschen das
1057
Schleiermacher 2000 c, Bd. 1, S. 209.
1058
Vgl. Schleiermacher 2000 h, Bd. 1, S. 220.
1059
Vgl. Schleiermacher 2000 i, Bd. 1, S. 298 f.
1060
Schleiermacher 2000 j, Bd. 2, S. 31.
287
bestimmende Prinzip ist. „Hauserziehung“ als auch staatliche und kirchliche Erziehung verhindern die freie Selbsttätigkeit des Menschen und bringen entweder „Einseitigkeiten“1061 und Beschränkung hervor oder machen ihn zum „Mitglied“1062, insofern dass sie ihn ganz den Konventionen eines engen gesellschaftlichen Kreises anpassen.
Vor allem stellt Schleiermacher die individuelle Selbsttätigkeit als zentrale Aufgabe der Pädagogik heraus, die sich in der dialektischen Spannung der „Eigenthümlichkeit“ des Menschen
und der „Einwirkung anderer“ bestimmt. Dabei ist Schleiermacher skeptisch gegenüber jeder
Pädagogik, die Ideale an die Menschen heranträgt, die ungeachtet der Situation und besonders
ungeachtet der komplexen, dynamischen Verfasstheit des individuellen Menschen entworfen
sind. Die Möglichkeit der Pädagogik bleibt an die individuelle Disposition des Menschen gebunden und hat von den unterschiedlichen Dispositionen der Menschen, ihrer „Eigenthümlichkeit“ auszugehen.
„Die persönliche Eigentümlichkeit eines Menschen bestimmt sich aus der Mannigfaltigkeit der
Verbindung des Daseins und Mangels der verschiedenen Anlagen und Talente. Sie selbst, die
Eigentümlichkeit, muß immer erst erkannt sein, ehe man pädagogisch in bezug auf sie wirken
kann; und deshalb ist es nicht genug, die allgemeinen Verfahrensregeln aufzustellen, die Eigentümlichkeit zu behandeln; sondern es ist auch die Aufgabe der Pädagogik zu lehren, wie man
sie erkenne. Nur in sehr verschiedener Sukzession treten die Anlagen und Talente hervor.“1063
Es gibt keine allgemeine Vollkommenheit; der Mensch ist eigentümlich und geschichtlich individuiert. Es ist daher als eine allgemeine Aufgabe der Pädagogik zu verstehen, sich diesem
gegenüber zu sensibilisieren und die eigentümliche Genese des Einzelnen zu erkennen, um auf
jene Einwirken zu können. Eine der wesentlichen Aufgaben und Herausforderungen der Erziehung ist es, bei der Ungleichheit anzuknüpfen und mit dieser umgehen zu lernen.
„Wenn auch die Erziehung auf eine Verringerung der Ungleichheit hinarbeiten soll, woraus die
Möglichkeit entsteht, diese ganz aufzuheben, so muß sie doch die Ungleichheit voraussetzen
und ihr eigentümliches Verfahren an die Ungleichheit anknüpfen.“1064
Wie hier deutlich wird, hat Schleiermacher nicht nur den Umgang mit ungleichen, d. h. unterschiedlichen Dispositionen des Kindes als Aufgabe der Erziehung im Blick, sondern auch die
Ungleichheit der äußerlichen bzw. sozialen Verhältnisse. Wie Schmid-Kowarzik hervorhebt,
1061
Vgl. Schleiermacher 2000 h, Bd. 1, S. 211.
1062
Vgl. Schleiermacher 2000 d, Bd. 1, S. 12.
1063
Schleiermacher 2000 i, Bd. 1, S. 295 f.
1064
Schleiermacher 2000 j, Bd. 2, S. 46.
288
zeigt sich hier die (zumindest für die deutschsprachige Pädagogik) „revolutionäre Einsicht“,
dass die Gleichheit und Ungleichheit nicht nur durch die angeborenen Fähigkeiten und Leistungen zu erklären sind, sondern auch auf die sozialen Verhältnisse, die Verhältnisse der Abstammung zurückzuführen sind.1065 In dieser Hinsicht schließt Schleiermacher an die zivilisationskritische Dimension des Werkes Rousseaus an, welche in Zusammenhang seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen oben in
dieser Arbeit besprochen wurde.
Schleiermacher sieht die Egalitätsforderung jedoch nicht mit einer romantizistischen Entzücktheit und einem Enthusiasmus, sondern mit nüchternem Blick im Wissen um die Unmöglichkeit
einer völligen Gleichheit unter den Menschen, ein der Aufhebung der Ungleichheit zugrunde
liegendes Spannungsverhältnis. Gleichzeitig bestimmt er die Egalitätsforderung als eine Maxime der Pädagogik.
„Es tritt die Erziehung immer in einen solchen Zustand ein, in welchem sich schon Differenzen
entwickelt haben; diese hätten sie also anzusehen als entstanden aus äußerlichen Verhältnissen,
welchen den einen mehr begünstigt hätten als den anderen. Die Erziehung selbst kommt nun
als neuer Faktor hinzu. Soll sie den äußerlichen Verhältnissen nachgehen oder nicht? Soll sie
nach der Maxime, daß auf den durch äußerliche Verhältnisse nicht Begünstigten auch keine
pädagogische Anstrengung zu richten sei, die Begünstigten noch mehr begünstigen, damit das
Resultat recht bedeutend werde? Oder soll die Erziehung den äußeren Verhältnissen entgegenwirken? Das eine wäre das aristokratische Prinzip, das andere das demokratische. Im ersteren
Fall, nach dem aristokratischen Prinzip, würde kein Unterschied sein, ob die Differenzen angeboren seinen oder durch äußerliche Verhältnisse entstanden. Die schon vorhandenen Ungleichheiten, gleichviel woher entstanden, würden immer von neuem in der jüngeren Generation auch
sich entwickelt, oder auch gesteigert werden. Wollte man dagegen nach dem demokratischen
Prinzip bewirken, daß alle nach vollendeter Erziehung gleiche Tüchtigkeit für den Staat, die
Kirche errungen hätten, so würden sich diejenigen übel befinden, die auf eine höhere Stufe also
auch bei Annahme der Gleichheit nichts übrig, als daß die Erziehung die äußeren Verhältnisse
gewähren lasse, nur dürften nicht einzelne gegen die Beschaffenheit ihrer Natur durch die
Macht der Verhältnisse bestimmt werden. Die Erziehung soll nie gegen die ursprüngliche Anlage im Menschen einwirken, nur hemmend, was der Idee des Guten widerspricht.“1066
Schleiermacher beschreibt hier, dass es einen Kontextualismus pädagogischer Praxis und Theorie gibt. Die Pädagogik ist immer auf eine Praxis bezogen – sie findet sich immer innerhalb
eines schon differenzierten Kräfteverhältnisses, dynamischen Komplexes und Spannungsverhältnisses wieder. In einem solchen Sinne verstanden ist eine jede Pädagogik immer in eine
1065
Vgl. Schmied-Kowarzik 1985, S. 781.
1066
Schleiermacher 2000 j, Bd. 2, S. 41 f.
289
geschichtliche und politische Landschaft eingebunden und steht in Verantwortung dieser gegenüber. Das heißt, dass die pädagogische Praxis sich, obwohl Schleiermacher sie immer in
Verantwortung gegenüber dem singulären Sachverhalt bestimmt wissen will, auch im Verhältnis zu den geschichtlichen und politischen Rahmenbedingungen verhält und verhalten muss.
Schleiermacher sieht die moderne Pädagogik bzw. die Pädagogik in der Moderne konfrontiert
mit den „zwei einander feindseligen und doch nur durch einander bestehenden und unzertrennlichen Zwilingsgestalten“1067 des demokratischen und aristokratischen Prinzips. Während dass
eine zu einem die Verhältnisse erhaltenden pädagogischen Handeln motiviert (aristokratisches
Prinzip), motiviert das andere Prinzip das pädagogische Handeln zu einem eingreifenden Ausgleich der Verhältnisse (demokratisches Prinzip). Geschult durch die Dialektik weiß Schleiermacher, dass es zu keiner Aufhebung des Spannungsverhältnisses kommen kann. Demnach
bekennt er sich explizit zu keinem der politischen Prinzipien, sondern versteht die Pädagogik
vielmehr in der Ethik begründet: Sie solle sich in der singulären Erziehungswirklichkeit an der
Idee des Guten im Sinne eines Regulativs der praktischen Vernunft orientieren. Politik und
Pädagogik sieht er so als Disziplinen, die der Ethik unterstehen (s. o.). Wenn man Schleiermacher jedoch eine politische Position zuschreiben wollen würde, so könnte man ihn, wie Kleint
in diesem Zusammenhang, als „nüchternen Demokraten“ bezeichnen.1068 Auch wenn dem so
ist, so bleibt diese universale Position letztlich der Konzeption der Pädagogik in ihrer Ausrichtung am singulären Sachverhalt und der Eigentümlichkeit des individuellen Menschen vorbehalten. Es ist nur richtig, wenn Schleiermacher daher verdeutlicht, dass es in der Pädagogik
keine Formeln geben könne:
„Es ist jedoch nicht möglich, diese verschiedenen möglichen Verhältnisse unter bestimmte Gegensätze zu bringen, weil der menschliche Organismus überaus mannigfaltig zusammengesetzt
ist. Wir sind nicht imstande, die Formel aufzufinden, um die Gegensätze zu konstruieren; und
könnten wir es auch, so würde doch die Anzahl der Gegensätze zu groß sein, um allgemeine
Grundsätze für die pädagogische Einwirkung auf diese Gegensätze zu basieren. Wir sind hier
an der Quelle der Mannigfaltigkeit, die wir gleich ursprünglich als eine solche auffassen müssen, die dem Begriff entgeht, und wo nur die unmittelbare Anschauung das Rechte treffen
kann.“1069
1067
Schleiermacher KGA 1995, Bd. I.12, S. 17 f.
1068
„Nun gibt sich Schleiermacher nicht nur von eidetischen Konstruktionen ausgehend, sondern auch mit teleologischem
Blick, sich letztlich als nüchterner Demokrat zu erkennen. Die angestammten, gesellschaftlich tradierten oder persönlich
bedingten Ungleichheiten sind für ihn zwar nicht zu leugnen, über das sogar natürliche zu erwartende Ende der Klassengesellschaft hinaus aber nur schlecht zu erhalten. Angestammte Ungleichheit, welche unter die Obhut eines identischen
Volksgeistes, eines Staatsgebildes gerät, kann wohl kaum von Dauer sein, da die anfangs noch gesetzten Klassen sich
früher oder später unvermeidliche zu mischen beginnen um eine tendenzielle Gleichheit der Menschen nur schlecht aufzuhalten ist.“ (Kleint 2008, S. 223)
1069
Schleiermacher 2000 h, Bd. 1, S. 295.
290
Eine allgemeine Pädagogik, die die Erziehungswirklichkeit theoretisch völlig regulieren
könnte, kann es auf Grund der Komplexität der Erziehungswirklichkeit nicht geben.1070 Hieraus
ergibt sich ein Begriff erzieherischer Gewalt. Wird die Komplexität der Erziehungswirklichkeit
nicht bedacht, wird die individuelle Disposition ungeachtet universeller Regulative unterworfen, so kann man von erzieherischer Gewalt sprechen.
„Was wir Theorie zu nennen pflegen, bezieht sich immer auf eine Praxis; […] Die Praxis als
Erfahrungsmäßige ist immer eher, und die Theorie folgt derselben erst, wenn man einsieht, dass
eine gut, das andere schlecht geraten sei, und wenn man überlegt, wie man dazu gekommen sei,
dies oder jenes gerade so zu machen und nicht anders. Ehe also eine Theorie entsteht, setzt man
voraus, daß es im Menschen etwas gebe was die Praxis bewirke. Die Praxis geht nicht aus der
Theorie hervor. Indes findet sich bei allen Künsten; Menschenbildung ist aber auch eine
Kunst.“1071
Das Primat der Praxis ist ein Grundgedanke der praktischen Philosophie, so gemäß der Pädagogik Schleiermachers. Überall gilt es, die Theorie im Interesse der Praxis aufzustellen in Hinblick auf eine Vervollkommnung der Praxis.1072 Richtet der Pädagoge seine Reflexion an der
Erziehungswirklichkeit aus, so entgeht er erzieherischer Gewalt, die die individuellen Dispositionen über die Theorie vergisst. Wie im Zitat deutlich wird, geht es bei der Ausrichtung der
Pädagogik an der Praxis vor allem um ein Wissen über die Wirklichkeit und die Wirkungsweise
des pädagogischen Handelns. Demnach ist es wichtig, die Konsequenzen zu bedenken, die der
erzieherische Eingriff verursacht. So zeigt sich ein Verständnis, wonach die Pädagogik – im
Gegensatz zu anderen Erziehungsformen – nicht nur in Hinblick auf die Selbsttätigkeit und bestimmung des Individuums ausgerichtet ist, sondern auch in dem Versuch besteht, die Kunst
der Erziehung – ihre Tätigkeit – in einem weiteren als nur zweckorientierten, funktionalistischen Horizont zu entwerfen.
Wie Winkler erörtert, richtet sich Schleiermacher explizit gegen die „Verfechter der Rationalität und des sozialen Empirismus“, die sich die politischen und pädagogischen „Projektemacher
und Weltverbesserer auf ihre Fahnen schreiben“ und „soziale Utopien und Nationalerziehungspläne verfolgen.“1073 Einen, wie aus Frankreich verbreiteten Optimismus über die Möglichkeit
infiniter Verbesserung der Menschheit durch die Erziehung, so könnte man sagen, hält Schleiermacher nur dann für denkmöglich, wenn man die Praxis missachtet. Die Praxis ist die reale
1070
Schleiermacher 2000 h, Bd. 1, S. 213.
1071
Schleiermacher 2000 h, Bd. 1, S. 309.
1072
Vgl. Pleger 1988, S. 9.
1073
Vgl. Winkler 2000, Bd. 1, S. XXXIV.
291
Bedingungsmöglichkeit aller Vervollkommnung. Dies ist jedoch nur dann plausibel, wenn man,
wie Schleiermacher dies tut, Praxis nicht als einen vernunftlosen, irrationalen Raum versteht.
„Die Vernunft ist nichts, was erst in die Natur hineingebracht werden müsse“, schreibt Schleiermacher in der Ethik: sie müsse jedoch „hervorgelockt“ werden.1074 Die „sinnlichen Triebfedern“ sind keine irrationalen Triebe, die es gilt zu unterdrücken, sondern vorrationale Phänomene, die es gilt richtig zu verstehen und zu leiten.1075 (Auch von einer Rolle einer Moralität
der Gefühle wäre bei Schleiermacher zu sprechen.)
Schleiermacher bestimmt die Pädagogik nicht in einem alltagssprachlichen Sinne als Praxis,
sondern als Kunst, d. h. nicht als „bloße Technik“. Pädagogik muss eine besonnene, sich auf
sich besinnende Praxis sein – darin bestehe eine Kunst. Denn wenn man eine Minimaldefinition
der Kunst aufstellen wollte, so müsste man sagen, dass die Kunst eine sich auch sich selbst
besinnende Praxis ist, sowohl in historischer als auch in technischer Hinsicht. Schleiermachers
Satz, wonach die Tradition eine „Anregung“ sei, wie Böhm darlegt, ist in diesem Zusammenhang so zu verstehen, dass Tradition, d. h. die Besinnung, nicht eine Einengung, sondern eine
Ausweitung der praktischen Handlungsoptionen ergebe.1076 Tradition als Anregung zu verstehen, bedeutet, sie als Quelle der Freiheit (hier: pädagogischen) Handelns wahrzunehmen und
nicht als bestimmende Determinante. Pädagogik weiß sich demnach als eine besondere Form
des moralischen Geschicks zu verstehen, da sie sich der Tradition bewusst ist. Verantwortlich
ist Pädagogik demnach nicht gegenüber einem formalen Sittengesetz, sondern einem Archiv
der Tradition. Die beiden von Schleiermacher unterschiedenen Grundformen der Erziehung,
das Unterstützen und das Gegenwirken, finden ihre pädagogische Dimension allererst in der
Besinnung auf die Tradition, die die pädagogische Praxis in ihrem moralischen Handlungsspielraum ermöglicht und in ihrer sittlichen Verantwortung begründet.
Das pädagogische Verhältnis von Theorie und Praxis findet eine komplexe Einbindung in
Schleiermachers Erkenntnistheorie und so auch Ontologie. Dies, da das Verhältnis von der Dialektik her gedacht wird und zugleich, weil die Konzeption und die Regulation der praktischen
bzw. pädagogischen Handlungen von der Dialektik her entworfen wird. (Auch hier wird
1074
Vgl. Heller 2010, S. 203.
1075
In der Dialektik schreibt Schleiermacher, dass „reines Denken“ aus dem „bedingten Denken entsteht“. Dies ist nur dann
plausibel, wenn man annimmt, dass es eine Vernünftigkeit der realen Bedingung gibt (vgl. Schleiermacher KGA 2002,
10.1, S. 162).
1076
„Nur die ausgreifende Befassung und die kritische Auseinandersetzung, also ein Nachdenken, mit den in der pädagogischen
Tradition gesammelten Argumenten kann uns anregen, nicht in der Routine zu erstarren, und die eigene Praxis immer
selbständiger, eigenverantwortlicher und autonomer zu machen. Das bedenken der pädagogischen Tradition macht unser
erzieherisches Handeln besonnener, die Einbettung in die Kontextualität pädagogischen Denkens und Sprechens macht
unser erzieherisches Handeln selbstständiger, unabhängiger und autonomer. So paradox es klingen mag: Tradition ist nur
Anregung.“ (Böhm 2001, S. 26)
292
Scholtz’ Charakterisierung der Dialektik als Theorie und Anweisung deutlich.) Der Zusammenhang von Verstehen und Leiten benennt schließlich auch den Zusammenhang von Hermeneutik
und Dialektik bei Schleiermacher. Wie Winkler treffend darlegt, lassen sich Hermeneutik und
Dialektik nur schwer trennen, da sie in der „Mikrologik des Erkennens“ miteinander vermittelt
sind.1077 Durch die Ausrichtung der Pädagogik an der „Mikrophysik“ des Sachverhaltes und
der individuellen Disposition ist sie mit der Dialektik verbunden. So ist erstens Schleiermachers
Verständnis der Physik dialektisch in seiner antagonistischen Bestimmung des Seins. Andererseits ist die Pädagogik dialektisch, da sie gewissermaßen und grundsätzlich als Austragungsort
der Grundspannung von Physik und Ethik, Naturnotwendigkeit und Freiheit, Erziehungswirklichkeit und Tradition, schließlich auch von Irrationalität und Vernunft in Hinblick auf die Konstitution der Sittlichkeit und sozialen Ordnung zu verstehen ist.
„Die Aufgabe der Pädagogik muß in der allgemeinen Ethik aufgestellt sein, und ebenso die
Principien für die Verfahrensweise zur Lösung dieser Aufgabe, die allgemeinen Formeln für
die Einwirkung auf den Menschen; die verschiedenen Richtungen der menschlichen Natur, das
Verhältniß des Einzelnen zu diesen Richtungen müssen in ihr verzeichnet sein. Jedes System
der Ethik kann nur zeigen, daß es Wahrheit in sich habe, wenn eine Methode aufgestellt werden
kann, dasselbe zu realisieren. Die Pädagogik ist die Probe für die Ethik. Die menschliche von
der Gewohnheit noch für nicht gebändigte Natur ist ja die realisierende Kraft; ein Gesez für das
menschliche Lebens, welches sie nicht realisieren kann, welches für sie nicht das richtige ist,
kann überhaupt auch nicht das richtige sein. Daher haben auch die Alten auf die Pädagogik
einen so hohen Werth gelegt, und es ist der Ausspruch aller Weisen, daß werde die Theorie
noch die Praxis der Gesezgebung zu einem erfreulichen Resultate führen können, wenn man
die Erziehung vernachlässigt.“1078
Um diese Spannung in der Erziehungswirklichkeit zu bewältigen, bedarf der Pädagoge einer
Methode des Verstehens, einer Hermeneutik, die es ihm erlaubt, die Erziehungswirklichkeit auf
ihre dialektischen Prinzipien hin auszulegen und so besonnen und verständig auf die Situation
zu reagieren. Erstmals durch Schleiermacher bedacht im theologischen Zusammenhang – genauer in Zusammenhang mit der Frage, wie die Erkenntnisse und Lehren der Heiligen Schrift
in der und für die Alltäglichkeit der Gemeinde zu vermitteln seien – reflektiert die Hermeneutik
in Zusammenhang mit der Pädagogik, wie ethische Maximen im Alltag eine Umsetzung finden
können. Darin findet der klassische Begriff der Hermeneutik jedoch eine grundsätzliche und
lebensbezogene Ausweitung. Wie Posselt schreibt, geht es in der hermeneutischen Pädagogik
1077
Vgl. Winkler 2000, Bd. 1, S. XXXVI.
1078
Schleiermacher 2000 a, Bd. 1, S. 456.
293
nicht nur um das Verstehen oder Auslegen von Texten.1079 Hermeneutik wird zu einer auslegenden Verständnispraxis, die die Sprache in ihrer regulativen Funktion auf ihre Gründe hin
versteht und deshalb erst als „argumentierendes Beratschlagen“1080 in Hinblick auf Unterstützung und Gegenwirkung möglich wird.
Obwohl in der Forschung gerne die hermeneutische und dialektische Grundlegung der wissenschaftlichen Pädagogik mit Recht als große Leistung besprochen wird, so kommt darin oftmals
die spekulative Dimension dieser Grundlegung zu wenig zutage. Schleiermacher sieht die Pädagogik in der Ethik begründet. Die Ethik definiert Schleiermacher als eine spekulative Vernunft, die sich in ihrer Einwirkung auf die Natur (ebenfalls durch die Physik als spekulative
Disziplin verstanden) an dem Begriff des höchsten Gutes orientiert. Im Gegensatz zu Fichte
und Kant hebt Schleiermacher in seiner Gliederung der Ethik in Güterlehre, Tugendlehre und
Pflichtenlehre die Bedeutung der Güterlehre vor der Pflichen- und Tugendlehre hervor.1081 Die
Güterlehre als „Wissenschaft von den Prinzipien der Geschichte“, in der sich die beiden als
Teildisziplinen aufgefassten Disziplinen der Tugend- und Pflichtenlehre verklammern, konzeptualisiert die Geschichte als Vermittlungsgeschichte von Sittlichkeit und Natur. Dadurch findet
die Sittenlehre eine Perspektivierung in einer spekulativen Geschichtslehre, deren Werden
durch die dialektische Spannung von Ethik und Physik verstanden ist. Ohne hier weiter darauf
eingehen zu können, zeigt sich, dass die dialektische Grundlegung bzw. Deduktion der Ethik
aus der Dialektik auch der Pädagogik eine spekulative Tiefendimension verleiht.1082 Gleichzeitig läuft die in der Güterlehre vorgenommene Ausweitung der Ethik Gefahr, den Begriff der
Ethik zu verflüchtigen.1083 Denn, wie Arndt darlegt, stellt die Ethik Schleiermachers vielmehr
eine „umfassende Kulturtheorie“ dar oder eine „Strukturtheorie der Geschichte“, wie Gräb
meint, die allenfalls und trotz aller Differenzen in der hegelschen Theorie des objektiven Geistes einen Vergleichsmoment findet.1084 Problematisch bleibt hier jedoch, dass Schleiermachers
Ethik keine abschließende Darstellung gefunden hat.
Insgesamt verwundert es nicht, dass sich in der Forschung vor allem eine Diskussion der konventionalistischen Dimension der Ethik Schleiermachers vorfindet, eine spekulative Ausweitung der Ethik aus zeitgenössischer Sicht in Hinblick auf praktische Fragen als problematisch
1079
Vgl. Posselt 2013, S. 13.
1080
Vgl. Fuchs 2001, S. 61.
1081
Vgl. Schleiermacher 1990.
1082
Vgl. Gräb zitiert nach Scholtz 1984, S. 115.
1083
Vgl. Scholtz 1984, S. 119 f.
1084
Vgl. Arndt/Jaeschke 2013, S. 136.
294
erscheint. Interessant ist es jedoch, dass gerade diese spekulative, ontotheologische Dimension
bei Schleiermacher zu einer Sensibilität für den singulären Sachverhalt und die Eigentümlichkeit des Menschen, schließlich die realen, materialen Bedingungsmöglichkeiten motiviert. Man
beachte hier, dass Schleiermacher an einer prägnant formulierten Stelle in den Reden von einem
„höheren Realismus“1085 bzw. in den folgenden Auflagen von einem „anderen Realismus“ 1086
spricht, den er von einem Realismus und Idealismus als Dimensionen der Moral und Metaphysik strikt unterscheidet. Der Begriff, den Schleiermacher wohl aus der zweiten Einleitung in die
Wissenschaftslehre von Fichte notiert,1087 verweist auf seinen Spinozismus. Es ist die Annahme, wonach der „Sinnenwelt […] ein einiges Seyn zum Grunde“ liegt, welches unendlich
ist – so markiert die Position des „höheren Realismus“ die Position, wonach die Endlichkeit
durch die Unendlichkeit einen Grund und eine Einheit findet, die ihr für sich und aus sich heraus
nicht zukommt. Ohne diesen höheren Realismus wird für Schleiermacher seine Ethik als Geschichts- und Kulturphilosophie „zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde
unserer eigenen Beschränktheit“1088. Erst der Spinozismus verhelfe Schleiermacher, so Nowak,
die endliche Welt als eine „Darstellung der noumenischen Gottheit“ zu denken.1089 Obwohl die
Gottheit, das Absolute der endlichen Welt, nicht „isoliert“ angeschaut werden kann, so aber
„mit dem gesamten System der Anschauung“1090. Damit ist zugleich das Prinzip des „höheren
Realismus“ benannt: Nur durch einen Chiasmus oder eine Dialektik der empirischen Anschauung und der spekulativen Anschauung entfaltet sich ein Wissen von Gott. Darin liegt die Annahme der spekulativen Theologie verborgen, dass ein prinzipielles, wenn auch nicht vollendetes Wissen des Absoluten eine „prinzipielle Übereinstimmung von Vernunft und Unendlichkeit“ und so schließlich von „Vernunft (Philosophie) und Offenbarung (Theologie)“ voraussetzt.1091 Auch wenn Schleiermacher den Begriff von Fichte aufnimmt, so ist die Idee seines
„höheren Realismus“ deutlich von Schlegels Wissenschaftsentwurf einer „Charakteristik des
1085
„Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm
nicht das Gegengewicht hält, und ihn einen höheren Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem
Recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu
einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eigenen Beschränktheit. Opfert mit mir ehrerbietig eine
Loke den Manen des heiligen und verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein
Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich
in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war, voller Religion war er und voll heiligen
Geistes.“ (Schleiermacher KGA 1995, Bd. I.12, S. 213.)
1086
Vgl. Schleiermacher KGA 1995, Bd. I.12, S. 57.
1087
Vgl. Grove 2004, S. 337.
1088
Schleiermacher KGA 1995, Bd. I.12, S. 213.
1089
Vgl. Nowak 2001, S. 67.
1090
Schleiermacher 1986, S. 25.
1091
Krause/Müller/Schwertner 2000, Bd. 31, S. 641.
295
Universums“ (s. o.) beeinflusst. Allein verwirft Schleiermacher die Rolle der Poesie im Rahmen des „höheren“ Realismus, was sich nicht nur in der Ablehnung des Fragmentarischen als
auch der Einsicht in die Notwendigkeit einer Wissenschaftssystematik bekundet. Schleiermacher ersetzt gewissermaßen die Poesie durch eine spekulative Theologie, die ihre systematische
Ausarbeitung im Rahmen der Dialektik erfährt und schließlich so auch grundlegend für die
Elemente des Wissenschaftssystems wird.1092 Bei Schleiermacher finden alle Fakultäten des
Wissens, alle Disziplinen eine Verhältnisbestimmung zur Dialektik.1093
„Unter Dialektik verstehen wir […] die Prinzipien der Kunst zu Philosophieren. […] Das
Höchste und Allgemeinste des Wissens also und die Prinzipien des Philosophierens sind dasselbe. […] Konstitutive und regulative Prinzipien lassen sich also nicht mit Kant unterscheiden.
Diesem Begriffe ganz angemessen ist der Name Dialektik, welcher bei den Alten gerade diese
Bedeutung hatte. […] Der Name bezieht sich auf die Kunst, mit einem Andren zugleich eine
philosophische Konstruktion zu vollziehen. […] Die Dialektik […] kann mit Recht das Organon aller Wissenschaft heißen.“1094
Die Bedeutung des „höheren Realismus“ in Zusammenhang mit der Ethik und schließlich der
darin begründeten Pädagogik sind nicht zu unterschätzen. Dialektik und die Idee eines „höheren
Realismus“ sind regulative Bestimmungsgründe für die Pädagogik als Wissenschaft. Dadurch
jedoch erhält die Pädagogik eine spekulative Grundlegung. Dies zeigt sich Schleiermacher zu
Beginn seiner Vorlesung zur Pädagogik von 1813/14 (zeitlich also nach der ersten Fassung der
Dialektik):
„Ist die Pädagogik empirisch oder spekulativ? Viel Herrliches aus der bloßen Beobachtung
(Levana), aber es entbehrt der Form. Das Spekulative gibt nur Fachwerk, um die Tat oder die
Beobachtung hineinzulegen. Sie oszilliert nach beiden Seiten. Unsere muß mehr spekulativ
sein.“ 1095
Im Unterschied zu bisherigen Positionen aber ist es wichtig zu festzustellen, dass durch die
Dialektik als „Organon der Wissenschaften“ die Pädagogik nicht mehr in einer spekulativen
Anthropologie, sondern in einer spekulativen Theologie eine Grundlegung findet. Pädagogik
muss in Zusammenhang mit einem übersubjektiven Kulturzusammenhang verstanden werden,
1092
Nowak bringt dies gut zum Ausdruck:
„Den Kern der „Dialektik“ bildete die Kunstlehre des Wissens. Wie generierte das Denken das Wissen? Das Denken richtete sich auf das Absolute und erinnerte so an den Ursprung alles Wissens, während das Wissen das Absolute in der Vermittlung zwischen Spekulation und Empirie nachbildete: repraesentatio.“ (Nowak 2001, S. 290)
1093
Vgl. Arndt/Jaeschke 2013, S. 133.
1094
Schleiermacher KGA, Bd. 10.2, S. 5–7.
1095
Schleiermacher 2000 h, Bd. 1, S. 213.
296
dessen Werden als von der Gottheit bestimmter Antagonismus von Vernunft und Natur in Gang
gebracht wird (s. o.). Nicht nur das Denken muss diesem Antagonismus entsprechen, sondern
soll die Pädagogik auch von ihm lernen.
„Denn die Theorie der Erziehung ist nur die Anwendung des spekulativen Prinzips der Erziehung auf die gewisse gegebene faktische Grundlagen. Diese faktischen Voraussetzungen werden aber einerseits sich beziehen auf den Zustand, in welchen die Pädagogik den zu Erziehenden findet, andererseits auf den Zustand, für welchen er zu erziehen ist. Stellen wir nun die
allgemeine aus der Ethik hergeleitete Formel für die Erziehung des Menschen auf und sagen:
Die Erziehung soll bewirken, daß der Mensch, so wie sie ihn findet – unentschieden gelassen
die ursprüngliche Gleichheit oder Ungleichheit – durch die Einwirkung auf ihn der Idee des
Guten möglichst entsprechend gebildet werde: […] Wenn auch die Formel in der Anwendung
einer näheren Bestimmung in Beziehung auf den jedesmaligen Zustand, in welchen der Erzogene hineintreten soll. Also auch hier muß eine faktische Grundlage sein: das Verhältnis des
Einzelnen zur Gesamtheit muß bestimmt sein. Der Mensch kann der Idee des Guten nur entsprechen als ein Handelnder; es fragt sich, ob er der Idee des Guten auf gleiche Weise wird
nachkommen können unter den verschiedensten Verhältnissen. In einem Gemeinwesen, das so
in die Gesamttätigkeit eingreift, daß für den einzelnen so viel als nur immer möglich bestimmt
ist, bleibt für den einzelnen nicht viel übrig von freier Handlungsweise, und nur das hat er eigentlich zu tun, was durch das Verhältnis, in welchem er zur Gesamtheit steht, geboten ist.“1096
Die Pädagogik ist die Anwendung des spekulativen Prinzips und, da sie aus der Ethik abgleitet
wird, Anwendung des höchsten Gutes als regulatives Spekulativ. Deutlich zeigt sich in dem
Zitat, wie Schleiermacher die Erziehung auch immer in Hinblick auf seine die Ethik leitende
spekulative Theologie entwirft und perspektiviert. So lesen wir im Zitat, dass der Einzelnen
sich danach richten solle, „was durch das Verhältnis, in welchem er zur Gesamtheit steht, geboten ist“. (Darin bezieht Schleiermacher eine eigenständige Position in der seit Hume geführten Sein-sollen-Debatte.1097) Auch wenn Schleiermacher im Zitat, ähnlich wie Hegel, die Pädagogik, so die Erziehungsfragen, in einem überindividuellen Kulturzusammenhang verstanden
wissen will, muss, so ist, wie Rebele hervorhebt, deutlich zu unterstreichen, dass er darüber
nicht wie Hegel die „Rechte des Einzelmenschen“ verkürzt.1098 So wird im Zitat, obwohl dem
Einzelnen nur wenig Handlungsspielraum zugesprochen wird, stetig die Bedeutung der Faktizität, der Erziehungswirklichkeit hervorgehoben. Gleichzeitig wird die Forderung und Frage
nach der Mündigkeit von Schleiermachers Grundlegung völlig verkürzt. Die Frage nach politischer und sittlicher Autonomie wird durch die Rahmung der Pädagogik in einer spekulativen
Theologie beiseitegeschoben. Es gilt, sich daran auch zu erinnern, dass seine Beschäftigung mit
1096
Schleiermacher 2000 j, Bd. 2, S. 22–24.
1097
Vgl. dazu: Herms 2006, S. 298–319.
1098
Vgl. Reble 1989, S. 213.
297
der Pädagogik aus der in den Reden gestellten Frage, welchen Einfluss die Religion für die
Bildung des Menschen haben solle, keimt und sich entfaltet. In seinem Ausschnitt aus der dritten Rede, der unter dem Titel Die Bildung zur Religion in den Texten zur Pädagogik abgedruckt
ist, schreibt Schleiermacher programmatisch, dass einzig die Besinnung auf das Unendliche
den Wandel der Zeit, die Krisen und Missstände unter den Menschen werde aufheben können.1099
„Kurz, auf den Mechanismus des Geistes könnt Ihr wirken, aber in die Organisation desselben,
in diese geheiligte Werkstätte des Universums könnt Ihr nach Eurer Willkür nicht eindringen,
da vermögt Ihr nicht irgend etwas zu ändern oder verschieben, wegzuschneiden oder zu ergänzen, nur zurückhalten könnt Ihr seine Entwickelung und gewaltsam einen Teil des Gewächses
verstümmeln. Aus dem Innersten seiner Organisation aber muß alles hervorgehen, was zum
wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb sein soll. Und
von dieser Art ist die Religion; in dem Gemüt, welches sie bewohnt, ist sie ununterbrochen
wirksam und lebendig, macht alles zu einem Gegenstande für sich, und jedes Denken und Handeln zu einem Thema ihrer himmlischen Fantasie. Alles, was wie sie ein Kontinuum sein soll
im menschlichen Gemüt, liegt weit außer dem Gebiet des Lehrens und Abbildens.“1100
Obwohl Schleiermacher darlegt, dass Religion keine direkte Vermittlung durch die Erziehung
haben könne, so zeigt sich doch, dass sie das aller Erziehung übergeordnete Ziel sein sollte.
Durch die Religion offenbart sich dem Menschen die Weisung zu einem „wahren Leben des
Menschen“. Erst wenn die Fakultäten des Menschen ausgebildet sind, seine Urteilskraft, sein
Beobachtungsgeist und sein Kunstgefühl oder Sittlichkeit gebildet sind, ist es möglich, Religion
zu vermitteln.1101 Der „höhere Realismus“ oder hier der religiöse oder universale Sinn kann erst
dann vermittelt werden, wenn der Realismus als Verständnis des Sinns der Erscheinungswelt
ausgebildet ist. Schleiermacher wendet gegen die bürgerliche Gesellschaft technischen Fortschritts ein, dass sich alle Ermesslichkeit in der „Unermeßlichkeit der sinnlichen Anschauung“
als „Hindeutung wenigstens auf eine andere und höhere Unendlichkeit“1102 Demuth finde und
eine Sittlichkeit dazu ausbilde.
Schleiermachers Position, die Welt als ein über die empirische Anschauung hinausgehendes
Kunstwerk Gottes zu verstehen,1103 wendet sich dezidiert gegen ein vermeintliches Bildungsbürgertum, in dem religiöser Sinn durch einen naiven Wissenschaftsglauben ersetzt wird.
1099
Vgl. Schleiermacher 2000 b, Bd. 1, S. 36.
1100
Schleiermacher 2000 b, Bd. 1, S. 37.
1101
Vgl. Schleiermacher 2000 b, Bd. 1, S. 38.
1102
Schleiermacher 2000 b, Bd. 1, S. 43 f.
1103
Vgl. Schleiermacher 2000 b, Bd. 1, S. 52.
298
„Das ist das große Übel, daß die guten Leute glauben, ihre Tätigkeit sei universell und die
Menschheit erschöpfend, und wenn man tue, was sie tun, brauch man keinen Sinn, als nur für
das, was man tut. Darum verstümmeln sie alles mit ihrer Schere, und nicht einmal eine originelle Erscheinung, die ein Phänomen werden könnte für die Religion, möchten sie aufkommen
lassen, denn von ihrem Punkt aus gesehen und umfaßt werden kann, das heißt alles, was sie
gelten lassen wollen, ist ein kleiner unfruchtbarer Kreis ohne Wissenschaft, ohne Sitten, ohne
Kunst, ohne Liebe, ohne Geist und wahrlich auch ohne Buchstaben; kurz, ohne alles, von wo
aus sich die Welt entdecken ließe, wenngleich mit viel hochmütigen Ansprüchen auf alles dieses. Sie freilich meinen, sie hätten die wahre und wirkliche Welt, und sie wären es eigentlich,
die alles in seinem rechten Zusammenhange sehen.“1104
Die „wahre und wirkliche Welt“ bleibt in den empirischen Wissenschaften und durch die Kleingeisterei der Zeit verborgen. Auch in diesem Sinne versteht Schleiermacher das „nicht-individuelle Allgemeine […] als eine szientistische Utopie“1105. Denn durch die Wissenschaften, das
Bildungswissen ist keine Einheit, kein individuelles Prinzip gegeben, kein Regulativ sittlichen
Handelns.
Zwar trennt Schleiermacher die religiöse Erziehung von der schulischen Erziehung, jedoch
zeichnet sich in diesen Sätzen eine Zeitdiagnose ab, die nicht ohne Einfluss auf die Idee der
Erziehung gelesen werden kann. Emphatisch parallelisiert Schleiermacher den Verlust religiösen Sinns, den Verlust eines „höheren Realismus“ mit einem Sitten- und Moralverfall. Dieses
„große Übel“ bleibt trotz aller vermeintlichen Trennung der Sphären und Zuständigkeitsbereiche der Erziehung eine Zeitdiagnose, die auf Schleiermachers Konzeption einen grundlegenden
Einfluss hat.
Wie wir gesehen haben, spielt – trotz der Trennung von Theologie und Pädagogik – die spekulative Theologie eine begründende Rolle der Ethik und ist zugleich so ein Leitmotiv der wissenschaftlichen Pädagogik, insofern sie als Moralerziehung zu verstehen ist. Wie Eberhard darlegt, ist es auch ganz richtig, dass Schleiermacher religiöse Erziehung und moralische Erziehung miteinander identifiziert und vermischt.1106 So ist auch der oben zitierte Satz zu verstehen,
wonach die Pädagogik mehr zur spekulativen Pädagogik „oszillieren“ sollte.
Es ist richtig, dass Schleiermacher ein schwieriger Klassiker ist, wie Winkler meint, 1107 da der
Komplexität seines Denkens, welches sich als „work in progress“ charakterisieren lässt, nur
schwer zu entsprechen ist. Vieles mussten wir hier auslassen, um keine bücherfüllenden Untersuchungen zu schaffen. Der hier verfolgte Ansatz einer Orientierung an der Konstellations- und
1104
Schleiermacher 2000 b, Bd. 1, S. 43.
1105
Frank, Manfred 1999, S. 31.
1106
Vgl. Erhardt 2005, S. 259, Fußnote 27.
1107
Vgl. Winkler 2000, Bd. 1, S. VII.
299
Argumentationsanalyse hat jedoch zu dem Ergebnis geführt, die dialektische Grundlegung der
Pädagogik bei Schleiermacher in Hinblick auf die Rolle der spekulativen Theologie hin zu verstehen. Blickt man auf das Erbe Schleiermachers, wie es Herms erörtert, so werden die Anknüpfungspunkte und die Bedeutung Schleiermachers auch für eine zeitgenössische, wissenschaftliche Pädagogik durchweg nochmals deutlich. Herms hebt hervor:
„[…] das transzendentale Verständnis des Realen (Ontologie) (I), darin eingeschlossen das Verständnis der Seinsverfassung des innerweltlichen Personseins, seines Grundes und seiner Bedingungen (Psychologie, Theologie, Kosmologie) (II) sowie seiner wesentlichen Lebensvollzüge und ihres Zusammenhangs (kategoriale Ethik) (III) […] in diesen transzendentalen Einsichten steckenden Anregungen zur Erkenntnis des Wesens positiver, geschichtlicher Religionen (IV) […] auch eine heute noch gültige methodische Anweisung zum Verständnis von gegebenen geschichtlichen Lagen und zum sachgemäßen konstruktiven Umgang mit ihnen.“1108
Die genannten Beiträge Schleimachers sind, besonders auch durch die Vermittlung über
Dilthey, grundlegend für die Umgrenzung und die Methode einer verstehenden Geisteswissenschaft1109 und für die darin aufgegebene Frage, was es heißt, uns zu denken. Die Konzeption
einer verstehenden Praxis entwickelt jedoch nicht nur die Hermeneutik als hermeneutische Dialektik, sondern zugleich als Ethik. Es ist eine innerste Forderung des schleiermacherschen
Denkens, eine Sensibilität und einen Takt innerhalb der Geselligkeit auszubilden. Selbstentfaltung ist dabei nicht als Selbstbezogenheit zu verstehen, wie Bollnow kritisiert,1110 sondern wird
im dialektischen Bezug auf das geschichtliche Geschick des Mitseins thematisiert.
Schleiermachers Überwindung des Reflexionsmodells hat so grundsätzliche Fluchtlinien der
Geisteswissenschaft geschaffen. Er lenkt das Verstehen auf kommunikative und geschichtliche
Individuiertheit des Sinns, so Kontingenz, die Komplexität und die Relativität des Sinns durch
den Hinweis auf die Disposition des Seins und des Sinns im Mitsein. Trotz seiner externalistischen Grundlegung des Sinns bewahrt Schleiermacher seine Konzeption der Entfaltung des
Sinns durch den Chiasmus von Erkenntnistheorie und Ontologie bzw. Ontotheologie. So versteht Schleiermacher Geschichte im Rahmen der Entfaltung und Verwirklichung der Sittlichkeit und Vernunft in der Natur. Die dadurch entstandene systematische Verhältnissetzung der
Geisteswissenschaft zu der Theologie stellt ein problematisches Erbe dar – so auch für die Pädagogik als Fakultät des Gründungsgeschicks des Politischen. Die Grundlegung dieser in einer
spekulativen Theologie muss als eine entschiedene Abkehr von der politischen Forderung zur
1108
Herms 2006, S. 200.
1109
Vgl. Scholtz 1995.
1110
Vgl. Klappenecker 2007, S. 52.
300
sittlichen Autonomie und zum Liberalismus verstanden werden. So ist Brachman recht zuzustimmen, der schreibt:
„Dem Ethiker Schleiermacher bleibt die Einsicht in die Kompromittierung des Aufklärungsoptimismus aber nicht nur in der Großkonstruktion der Güterlehre versagt. Auch innerhalb des
Sphärenmodells vermag die Beweisführung einer zeitgenössischen Aktualität des Ansatzes nur
ungenügend zu überzeugen: Mündig und frei von erzieherischer Zuwendung heißt ihm nämlich
nur derjenige, der sich versittlicht und individualisiert hat; anerkannter Teil der Sphären ist ihm
nur der Bürger, der sich aufgrund seiner Anlagen und Talente verwirklichen kann und zum
Gemeinwohl beiträgt. Damit unterstellt Schleiermacher aber ein homogenes Subjekt, dessen
Entwicklung auf dieses Ziel hin ausgerichtet bleibt und dessen Lebensentwurf letztlich einen
Sinn ergibt.“1111
Schleiermachers Zuordnung der individuellen Entwicklung im Rahmen seiner durch die spekulative Theologie teleologisch bestimmten Kultur- und Geschichtstheorie entwickelt nicht den
Ansatz zur Kritik der politischen Verhältnisse. Trotz des Blicks für die „Eigenthümlichkeit“,
so hemmt jene Perspektivierung das Verständnis einer kritischen, politischen Subjektivität –
einer Mündigkeit, die auch jenseits der Konvention als normkompetente Subjektivität begriffen
und aktiv werden kann.
3.3 Die etatistische Verzwecklichung der Bildung im 19. Jahrhundert
Im Folgenden soll resümierend dargelegt werden, wie die Etablierung der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin und der im Neuhumanismus vollzogene Wandel des Begriffs bürgerlicher Bildung einer nachhaltigen Verzwecklichung der Bildung, so dem der Verlust des politischen Möglichkeitsdenken und philosophischen Bildungsdiskurs begünstigt haben.
Obwohl Schleiermachers und Herbarts Denken als auch die damit verbundene Grundlegung
der wissenschaftlichen Pädagogik als unabhängige Institution zur Konzeptualisierung der Bildungspolitik bzw. Gründung des Politischen sich in wesentlichen Positionen grundsätzlich unterscheidet, so zeigte sich oben, wie bei beiden durch Kritik der transzendentalen Freiheit bei
Kant die mit dem Begriff der Mündigkeit verbundene politische Forderung bürgerlicher Autonomie und die (für eine Demokratie grundsätzliche, wenn auch nicht unproblematische) Einsicht in die Normkompetenz des Subjekts, so der politische Leitfaden der Mündigkeit, eine
deutliche konzeptuelle Abschwächung erfährt.
1111
Brachmann 2002, S. 116.
301
Ungeschmälert sollen dabei die Bedeutung und die Achtung vor der Komplexität ihrer Versuche sein, die reale Bedingungsmöglichkeit der individuellen Genesis zu verstehen. So hat Herbarts Grundlegung, wie oben besprochen wurde, mit der Einsicht in die Fragilität und Komplexität des Psychischen nicht nur einen Anknüpfungspunkt von Naturwissenschaften und Pädagogik ermöglicht, sondern auch ein Verständnis in die Bildsamkeit des Psychischen in Aussicht
gestellt. Schleiermachers Grundlegung dagegen erweitert das pädagogische Denken um die
Aufmerksamkeit gegenüber den geschichtlichen und gesellschaftlichen Spannungen, denen der
Mensch als Individuum ausgesetzt ist bzw. in denen er sich als Persönlichkeit entfaltet, so auch
um die Einsicht in die Eigentümlichkeit, die fragile, singuläre Disposition des Subjekts, und
ebnet im Anschluss an das Konzept einer verstehenden Praxis eine Verbindung einen durch die
geisteswissenschaftlichen Disziplinen geprägten pädagogischen Diskurs.
So wirkungsvoll und nachhaltig wichtig ihre Positionen sind für die akademische, d.h. institutionelle Profilierung der wissenschaftlichen Pädagogik, muss hier nicht diskutiert werden. Dennoch zeigt sich in dieser Profilierung ein Verlust der Umgrenzung und Formulierung des Rahmens eines politischen Utopismus, aus dem im 18. Jahrhundert heraus der Gedanke einer wissenschaftlichen Pädagogik allererst geboren wurde. Der Fokus auf die realen Bedingungsmöglichkeiten in Herbarts oder Schleiermachers Grundlegungen läuft Gefahr, diesen politischen,
liberalistischen Utopismus zu vergessen und nicht zu begründen. Daher findet durch ihren Realismus eine Einebnung des Utopischen statt und zugleich eine Annäherung an den politischen
Realismus. Dies zeigt sich in dem Begriff der Mündigkeit, der im 19. Jahrhundert als „Bildungsstufe“ eine Marginalisierung findet im Verlust seiner utopischen Dimension, d. h. der Dimension der Möglichkeit und der Hoffnung. War der Begriff der Mündigkeit daher als UnMögliches gedacht, so gerade weil darin ein politischer Utopismus eines freien, selbstbestimmten und sittlichen Bürgertums inbegriffen war. Der Begriff der Mündigkeit als „Bildungsstufe“
dagegen weiß dieses nicht zu begreifen. Mündigkeit fand bei Herbart im Begriff der Bildsamkeit eine gefährliche Annäherung an ein technisch-technologisches Machbarkeitsdenken.
Schleiermachers dialektische Hermeneutik in seiner historisch-relativistischen Dimension tut
sich darin schwer, einen gesellschaftsimmanenten und politischen Standpunkt einer Kritik der
Umstände zu finden.
In seiner Grundlegung der Pädagogik räumt Schleiermacher zudem dem Nationalismus einen
großen Raum ein, wie Angermeier ausführlich darlegt, was schließlich Einfluss auf die Entwicklung der Reichstradition zum Nationalstaat haben wird.1112 Seine Grundlegung der Ethik,
1112
Angermeier 1991, S. 515.
302
so der daraus abgeleiteten Pädagogik, in einer spekulativen Theologie als Lösung dieser Problematik scheint in Zusammenhang mit einer modernen pluralistischen Gesellschaft nur unzureichend. Darüber hinaus weitet die Grundlegung der Ethik in der Güterlehre diese derart aus,
dass sie in sozialpolitischer Perspektive an kritischer Strenge verliert. Dies wäre und ist dagegen
von großer Bedeutung in Hinblick auf die Entfaltung einer (gerade auch durch die Pädagogik
vermittelten) kritischen Urteilskraft als auch in Hinblick auf die Gründung und Ordnung des
Politischen.
Wie Jeistmann schildert, ist die Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts zunehmend durch Fragen aus der „Lebenswelt“ geprägt und geleitet, nicht mehr durch den davon unabhängigen Bildungsdiskurs.1113 Wie wir gesehen haben, sind Schleiermachers und Herbarts Positionen im
Sinne dieser Problematik bestimmt, wie sich im weiteren Sinne bei Herbart in der Frage nach
den realen Möglichkeitsbedingungen zeigt und sich bei Schleiermacher in der Aufmerksamkeit
für geschichtliche und soziale Prozesse entfaltet. Es lässt sich demnach nicht nur in der Gesellschaft ein „Funktionswandel der Bildung“1114 nachweisen, sondern dieser wird auch von der
Profilierung der wissenschaftlichen Pädagogik begünstigt. Dadurch, dass Bildung, Freiheit und
das Erziehungsziel der Mündigkeit nicht mehr als transzendentale Ideen verstanden werden,
werden sie zu „Kriterien der sozialen Stellung“, des politischen Anspruchs, der wirtschaftlichen
Potenz“1115. Der historische Umstand der sogenannten „Franzosenzeit“ fördert den Umschlag
der Funktion der Bildung von einer kritisch-liberalen Kategorie zu einer kommunitaristischgouvernementalen, schließlich nationalen Kategorie. Bildung wird – pointiert formuliert – nicht
mehr als Entfaltungsprogramm der menschlichen Freiheit und seiner Sittlichkeit begriffen, sondern in Zusammenhang mit einer Nationalerziehung funktionalisiert.
Die Bildungsreformen durch Wilhelm von Humboldt haben dieser Entwicklung keinen Einhalt
geboten. Denn auch wenn die Bildungsreformen Humboldts, zu dessen wissenschaftlichem
Beirat Herbart und Schleiermacher gehörten,1116 eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung
des deutschen Schul- und Universitätssystems hatten, so ist der liberale Kern seiner Reform
politische Vision1117 geblieben. Dies hat mindesten zwei Gründe.
Ein Grund dafür ist sicherlich die kurze Zeit als politischer Akteur – Humboldt besetzte das
leitende Amt der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts für nur etwas mehr als
1113
Jeistmann 1987, S. 2.
1114
Jeistmann 1987, S. 2.
1115
Jeistmann 1987, S. 2
1116
Vgl. Konrad 2010, S. 48.
1117
Vgl. Humboldt 2015, S. 22-28.
303
ein Jahr. Dass Humboldts Reformen des Schul- und Universitätssystems trotz der kurzen Amtszeit eine langfristige Wirkung haben konnten, ist der besonderen Situation geschuldet, in der
ein Staat in Teilen sich neu strukturierte und staatlicher Reformwille der Tätigkeit Humboldts
voranging. Tatsächlich ist die Dauer von Bildungsreformen jedoch – gerade bei politischem
Unwillen – viel langfristiger anzusetzen. Langfristige Veränderung von Bildungsstrukturen und
Implementierung neuer bildungspolitischer Strukturen können nicht kurz- und mittelfristig umgesetzt werden. Es bedarf in der Regel mindestens eines Generationenwechsels, bevor gesehen
werden kann, inwiefern bildungspolitisches Handeln nachhaltig, strukturell wirksam war. Daher ist aber die Orientierung an langfristigen Regulativen gerade für die Bildung von grundsätzlicher Bedeutung.
Ein anderer Grund, warum der liberale Kern der Humboldt’schen Reformtätigkeit politische
Vision geblieben ist, ist in der logischen Orientierung Humboldts selbst zu suchen. Obwohl er
keine systematisch ausgearbeitete Theorie der Bildung hinterlassen hat, wird seine logische
Orientierung im Zusammenhang seiner Staats- und Kunstphilosophie ersichtlich.
„Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchem die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewige unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und
unerläßlichste Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit
der Situationen.“1118
In dieser vielzitierten, formalen Bestimmung von Bildung1119 werden sowohl negative als auch
positive Bestimmungen gefasst, die sowohl die Aspekte seiner Anthropologie, seiner politischen Philosophie als auch seiner Kunstphilosophie wiederspiegeln. In einer positiven Weise
bestimmt Humboldt darin Bildung als die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner
Kräfte zu einem Ganzen.“ Bildung bezeichnet den Prozess der ganzheitlichen Selbstwerdung
des Individuums durch die Vervollkommnung (perfektibilité, s.o.) seiner natürlichen Anlagen.
In einer idealistischen Art bestimmt Humboldt die Selbstwerdung des Menschen isomorph zur
Selbstwerdung der Vernunft als „Gewahrwerden des Logos“1120. Gleichzeitig jedoch sieht
Humboldt diesen Prozess in die Gesellschaft und Geschichte, Sprache und Kultur eingebunden.
So vermeint die Rede von der Bedingung der „Mannigfaltigkeit der Situationen“ die geschichtliche und gesellschaftliche Situiertheit des Bildungsprozesses. Bildung versteht er demnach als
1118
Humboldt 2015, S. 22.
1119
Vgl. Konrad 2010, S. 41.
1120
Fees 2015, S. 217.
304
Prozess der Selbstwerdung der Vernunft der „Menschheit in unserer Person“. Sie bezeichnet
die höchste und proportionierlichste Ausbildung der menschlichen Vernunft- und Sinnesvermögen (!)1121 innerhalb der Geschichte und Gesellschaft, d.h. der Kultur. Die Bildung des Menschen ist auch immer zugleich die Bildung der Kultur im Sinne einer Realisierung kultureller
Potentiale oder Potentiale der Humanität.
„Die letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl
während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des
lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen,
diese Aufgabe lässt sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regsten und freiesten Wechselwirkung.“1122
Deutlich wird hier, dass der Bezugspunkt der Bildung die Geschichte ist, mit der der Mensch
im Prozess der Bildung in „Wechselwirkung“ steht:
„Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung
seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen; so muss er der Gegenstand schlechthin, die Welt seyn, oder doch (denn diess ist allein
richtig) als solcher betrachtet werden.“1123
Wie hier deutlich wird, spricht Humboldt der Geschichte und deren Objektivationen, mit denen
der Mensch in Wechselwirkung steht, allein die Funktion zu, die „Selbstthätigkeit“ des Menschen anzuregen im Hinblick auf eine Bildung des Geistes bzw. Ausbildung der menschlichen
Geisteskraft.1124 Der Begriff der „Wechselwirkung“ meint hier vor allem die Sprache. So steht
die Sprache für Humboldt im Zentrum der Bildung. Denn sie ist nicht nur das „bildende Organ
des Gedanken“1125, sondern die „wahre Heimat“1126 der Menschen und Völker. Da Humboldt
die „Geisteseigentümlichkeit und die Sprachgestaltung […] in solcher Innigkeit der Verschmelzung“1127 sieht, ist die Sprache, d.h. das Sprachstudium zugleich die Möglichkeit des Nachvollzugs der Geschichtlichkeit der Kultur eines Volkes. Ziel der Auseinandersetzung mit der Geschichte ist jedoch nicht die Gelehrsamkeit, sondern die Bildung des Ausdrucks und schließlich
1121
Vgl. Humboldt 2010, S. 78f..
1122
Humboldt 2012, S. 94.
1123
Humboldt 2015, S.
1124
Vgl. Humboldt 1836, S. 1f.
1125
Humbdolt 1836, S. 50.
1126
Humbodlt 1836, S. 37.
1127
Humboldt 1836, S. 415ff.
305
auch der Sinne sowie der Vernunft in Hinblick auf die Ausbildung der natürlichen Sittlichkeit
des vernunftbegabten Menschen.1128
Der liberale Kern des Humboldtschen Bildungsdenkens gründet in der auf die Mystik zurückgehenden Synthese des Begriffs der Bildung und des Begriffs der Menschwerdung, zudem in
der damit zusammenhängenden Charakterisierung jener als „innerseelischer Akt“1129, als
„Selbstaktus (des Geistes)“1130. Denn dadurch, dass die Bildung als Vollzugsmoment des
Menschseins verstanden wird, wird die Freiheit zur Bildung als Freiheit zum Selbstvollzug des
Menschen bzw. des Menschseins verstanden. Der politische Liberalismus Humboldts erwächst
aus dieser formalen und idealischen Bestimmung der Bildung – sein bildungspolitisches Handeln ist durch diese orientiert.1131 Die Rigorosität der Ablehnung aller Verzwecklichung der
Bildung ist von hierher zu verstehen. Wie kein anderer sieht Humboldt als Grundvoraussetzung
und als Gelingensbedingung von Bildung die Freiheit, verstanden als Selbstbestimmung des
Menschen. Freiheit zur Bildung ist hier als Freiheit von äußeren Bestimmungen zu verstehen.
Rousseaus Gedanken einer negativen Erziehung überführt Humboldt gewissermaßen in die
Forderung einer negativen Bildung:
„Bewiesen halte ich demnach durch das Vorige, daß die wahre Vernunft dem Menschen keinen
andren Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln,
[…]. Von diesem Grundsatz darf, meines Erachtens, die Vernunft nie nachgeben, als zu seiner
eignen Erhaltung selbst notwendig ist. Er mußte daher auch jeder Politik und besonders der
Beantwortung der Frage, von der hier die Rede ist, immer zum Grunde liegen.“1132
1128
Vgl. Humboldt 2015, S. 114.
1129
Konrad 2010, S. 40.
1130
Humbodlt zitiert nach Fees 2015, S. 213.
1131
In seiner Schrift Idee zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen formuliert Humboldt die
Grundsätze der Theorie aller Reformen, die das politische, so auch das bildungspolitische Handeln, als Handeln welches
alleine „von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgeh[t]“, anzuleiten haben:
„Die allgemeinsten Grundsätze der Theorie aller Reformen dürften daher vielleicht folgende sein: 1. Man trage die Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfange
dieselben nicht mehr hindert, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie, ohne alle fremde Beimischung, immer hervorbringen
würden. 2. Um den Übergang von dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, so viel
möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgehen.“ (Humboldt 2015, S. 197)
Humboldts Begriff des Handelns findet eine grundsätzlich idealistische Fundierung: So ist es immer der Geist, der zur Welt
kommen will, sich darin verständlich ausdrücken will, d.h. das Ich, welches sich mit der Welt verknüpfen will. (Vgl.:
Humbodlt 2012, S. 94ff.) In Bezug auf das Zitat liegt es nahe, dass sich hier auch ein Selbstverständnis kundtut.
1132
Humbodlt 2015, S. 28.
306
Wie Hölderlin im Hyperion, will Humboldt den Staat bloß als „Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen“1133 verstanden wissen. So stellt Fees fest,1134 dass sich Humboldt
in dieser Forderung einer negativen Bildung vor allem gegen das im administrativen Kontext –
er meint den Staatsapparat – vorherrschende „utilitaristische“ Verständnis von Bildung und
schließlich deren Verzwecklichung durch staatliche, kirchliche oder ökonomische Ziele richtet.
Der Rigorismus der Ablehnung der Zwecke wird im Blick auf sowohl das theoretische als auch
das praktische Werk Humboldts deutlich. Vor allem in Hinblick auf die Quantität seiner Ausführungen wird deutlich, dass Humboldt einen höheren schriftstellerischen Aufwand dafür aufbrachte, die Grenzen des Staates zu bestimmen und diese in Hinblick auf die Bildungspolitik
einzufordern, als Bildung selbst zu bestimmen.
Trotz aller Mühen konnte Humboldt der Verzwecklichung der Bildung keinen Einhalt gebieten
– ist der liberale Kern seiner Bildungspolitik politische Vision geblieben. Im Rückblick auf das
Geschilderte ist dies vor allem der Grundlegung seines Bildungsbegriffs geschuldet. Denn über
allem ist Humboldts Begriff am Einzelnen orientiert. Humboldts Begriff der Bildung (Bildung
als Selbstbildung – Bildung als innerseelischer Akt) ist grundsätzlich als Ästhetik und Ethik der
Existenz aufzufassen. Humboldts Begriff der Bildung als Selbstbildung liefert keinen konsistenten, logischen Begriff des Politischen, d.h. eines gelungenen gemeinschaftlichen Lebens,
dessen Vollzugsmoment die Bildung des Menschen darstellte. Dadurch ist auch nicht ersichtlich und vermittelbar, welchen politischen Mehrwert ein solcher Begriff der Bildung haben
sollte. So übersieht bzw. unterlässt es Humboldts neuhumanistisches, anthropozentrisches Verständnis der Bildung als Vollzugsmoment des Menschseins zu vermitteln, dass der Mensch als
seiner Natur nach vernunftbegabtes Wesen grundsätzlich auch als politisches Wesen zu verstehen ist. Obwohl durch den Begriff der Sprache im Werk Humboldts ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Individuums und des Volkes hergestellt wird, findet sich dort eine
fundamentale Dichotomie von Gesellschaft und Staat. Dabei verkennt Humboldt der Sache
nach, dass das Politische nicht mit dem Prinzip Staatlichkeit identisch ist. Denn der Begriff des
Politischen umfasst Staat, Politik und Gesellschaft eo ipso. In Humboldts Dichotomie von Gesellschaft und Staat kommt zum Ausdruck, dass Humboldt den Menschen nicht als politisches
Wesen begreift und so Bildung zu einer individuellen, nicht politischen Angelegenheit macht.
„Wenn aber alles ausser uns wankt, so ist allein in unserem Inneren eine sichere Zuflucht offen,
[…].“1135
1133
Hölderlin 2002, S. 35.
1134
Vgl. Fees 2015, S. 214.
1135
Humboldt zitiert nach Konrad 2010, S. 42.
307
In der mystischen (gr. myein: die Augen schließen und verstummen), d.h. am Begriff der innerseelischen Entwicklung des Einzelnen konzipierten Grundlegung der Bildung und ausgerichteten Bildungspolitik spiegelt sich der Rückzug des Bürgertums in Private, das Biedermeierliche der Zeit ab. Tatsächlich scheint es so, dass Humboldt immer den Privatgelehrten als
Musterbeispiel des gebildeten Menschen vor Augen hat – nicht aber den politischen Menschen.
Dadurch hat Humboldt nachträglich dazu beigetragen, Bildung als bürgerlichen Wert zu konstituieren, der sie heute noch ist, statt sie als Aufgabe liberaler Bildungspolitik mit dem Ziel
eines mündigen Bürgers als Grundpfeiler einer sittlichen Ordnung zu umreißen. Wenn aber der
Bürger sich nicht mehr als Teil der Ordnung des Politischen versteht und sich in seinem Handeln darauf bezieht, ist der etatistischen und ökonomischen Funktionalisierung bzw. Verzwecklichung Tür und Tor geöffnet – ganz entgegen der Absicht Humboldts.
In der zweiten und dritten der Unzeitgemäßen Betrachtung, so auch der Morgenröthe. Gedanken über moralische Vorurteile Friederich Nietzsches finden wir die Kritik, dass die Orientierung an Humboldts Bildungsbegriff zur Bildung einer zurückgezogenen bürgerlichen, biedermeierlichen Kultur geführt hat, wodurch der etatistische Funktionalisierung der Bildung vielmehr befördert wurde. Nietzsche beklagt, dass die Bildung, die neuhumanistische Bildung eine
lebenshemmende Funktion habe und die Kultur schaffende, gestaltende „plastische Kraft des
Lebens“ verkümmern ließe.1136 Er beobachtet einen Rückzug des Bürgers aus dem aktiven,
politischen Leben ins Private, so das Entstehen einer Kultur der „Bildungsphilister“, welches
ihr Ideal im Bildungsbegriff Humboldts vorformuliert findet. Dieses trage zwar zum ästhetischen Selbstverständnis des bürgerlichen Subjekts bei, nicht aber zur Konzeption und Umsetzung einer Bildung, darunter eines Schulwesens, dass zur Förderung der menschlichen Vermögen, so der Freiheit und Mündigkeit des Menschen.
Über die Kritik am Bildungsidealismus Humboldts, erkennt Nietzsche eine für die Bildungspolitik grundlegende Problematik. In seiner Schrift Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem
Hammer philosophirt stellt er fest:
„Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind: es giebt
später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen. Man
weiss ja, was sie zu Wege bringen: sie unterminiren den Willen zur Macht, sie sind die zur
Moral erhobene Nivellirung von Berg und Tal, sie machen klein, feige und genüsslich, — mit
ihnen triumphirt jedesmal das Heerdenthier. […] Dieselben Institutionen bringen, so lange sie
noch erkämpft werden, ganz andere Wirkungen hervor; sie fördern dann in der That die Freiheit
auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um liberale Institutionen, der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern lässt.
1136
Vgl. Nietzsche KSA 1999, Bd. 1, S. 329.
308
Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat.“1137
In der für das Spätwerk typischen Rhetorik, finden wir die Beobachtung einer Dialektik liberaler Institutionen formuliert. Demnach führe die institutionelle Implementierung liberaler Ideale
(so wie auch der Bildung zur Mündigkeit) zu einer Auflösung ihrer politischen Wirksamkeit.
Bezogen auf Bildung liegt darin die Erkenntnis, dass Bildung nicht institutionell nur verwaltet
werden kann und sollte. Vielmehr muss Bildung – dies zeigt sich im Zitat in aller Deutlichkeit
– stetig „erkämpft“, d.h. politisch erarbeitet werden. Bildung setzt selbstverantwortliches, aktives politisches Handeln voraus: einen „Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus“1138 Nietzsche warnt, dass ohne einen solchen, politischen Willen
zur Bildung einer selbstbestimmten, freiheitlichen und sittlichen politischen Ordnung, ja Kultur, einer ständigen Arbeit an der Bildung, sich vielmehr die Willen anderer durchsetzen. In der
dritten Unzeitgemäßen Betrachtung benennt Nietzsche vor allem die „Selbstsuche der Erwerbenden“ und die „Selbstsucht des Staates“ die zur Bildung einer „Art von missbrauchter und in
Dienste genommener Kultur“ beitragen haben.1139 Schon in den 1870 stellt Nietzsche demnach
eine umfassende Funktionalisierung der Bildung fest und warnt vor den damit zusammenhängenden Auswirkungen auf die (politische) Kultur.
Dieser Funktionalisierung der Bildung wird durch die Profilierung der akademischen Pädagogik, welche, wie wir gesehen haben, den Leitbegriff der Mündigkeit als kritische Kategorie
nicht rezipiert, ebenfalls nichts entgegengesetzt. Dies zeigt sich auch darin, dass seit etwa der
Mitte des 19. Jahrhunderts Mündigkeit als kritische Kategorie zum Leitbegriff der durch die
„vom herrschenden System bekämpften Verpächter sozialistischer und sozialdemokratischer
Überzeugung“1140 wird, wie Hoyer darlegt. Die Schule, so schreibt Liebknecht, sei ein Instrument von Kirche und Staat und verhindere „die Emanzipation der Menschheit“1141. Liebknecht
trifft damit den „blinden Fleck“ der wissenschaftlichen Pädagogik: sie thematisiert nicht die
Pädagogik als ein Mittel zur Emanzipation, welche im ursprünglichen Begriff der Mündigkeit
mitbedacht war. Gleichzeitig kündigt sich in dieser Verschiebung eine Vereinnahmung des
Mündigkeitsbegriffs innerhalb des sozialistischen Denkens an. Problematisch ist damit zugleich, dass Mündigkeit als eine kritische und moralische Kategorie des Liberalismus abhanden
1137
Nietzsche KSA 1999, Bd. 6, S. 139.
1138
1139
Vgl. Nietzsche KSA 1999, Bd. 1, S. 387f..
1140
Hoyer 2006, S. 21.
1141
Liebknecht zitiert nach Hoyer 2006, S. 21.
309
geht und diesem bis heute, etwa in sogenannten neoliberalen Positionen, vielmehr nur im Zusammenhang einer Handlungsfreiheit und Verantwortung im hinsichtlich der Markfreiheit und
der politischen Ökonomie aufgefasst wird. Bildung, wie etwa bei Schleiermacher, als Entfaltungsprozess der Persönlichkeit zu verstehen, birgt in sich die Problematik, Bildung als Entfaltungsprozess des emanzipierten, sittlichen Menschen misszuverstehen. Denn während Person
und Gesellschaft keine Oppositionsmomente in sich begreifen, so ist bei der Idee des mündigen
Bürgers – nicht des Bourgeois – die grundsätzliche Möglichkeit eines Antagonismus mitbedacht. Die Ausrichtung der Bildung an der Persönlichkeit, die sich im 19. Jahrhundert abzeichnende „Formulierung einer Bildungsreligion“, ein konventionalistisches Verständnis der Sittlichkeit,1142 begünstigen die Überleitung und Wandlung des kritischen Liberalismus des 18.
Jahrhunderts in einen Neoliberalismus.
Die Gründe dafür, dass im 19. Jahrhundert der Staat zum „Schulherren“ wird, d. h., eine Verstaatlichung des Bildungsdiskurses stattfindet, und eine Durchsetzung konservativer, politischer Kräfte in Preußen zu beobachten ist, sind so nur unzureichend durch die sozialpolitischen
und ökonomischen Entwicklungen bestimmt. Auch die funktionale Neubestimmung des Bildungsprogramms der Aufklärung trägt dazu bei. Mit dem Verlust des in Zusammenhang mit
der Profilierung einer wissenschaftlichen Pädagogik einhergehenden, an den Begriff der Mündigkeit gebundenen, politischen Utopismus geht auch eine für die Gründung des Politischen
wichtige Leitfunktion der Pädagogik verloren. Vor allem wird durch die Perspektivierung des
Menschen im Rahmen einer teleologischen Geistesgeschichte bei Schleiermacher und noch
mehr bei Hegel1143 konzeptuell die Eingliederung des Menschen in die Entwicklung der Kultur,
des objektiven oder sich objektivierenden Geistes und der kulturellen Ziele begünstigt. Der Gedanke und die Methode der Perspektivierung des Menschen in eine Teleologie, sei dies eine
theologische oder kulturgeschichtliche, sind als ein Rückschritt gegenüber den Positionen der
Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu bewerten. Es ist ein Rückschritt gegenüber Kants Gedanken, dass das Politische von einer formalen Leitidee reguliert werden müsse, die von allen Bürgern unabhängig ihrer Umstände als notwendig und zugleich als legitim eingesehen werden
1142
Jeistmann 1987, S. 19–21.
1143
Hegels Position wurde hier deshalb nicht ausführlich erörtert, weil man, wie Schmierd-Kowarzik, kein Konzept der Pädagogik als Praxis vorlegt. Hegel entwickelt keine Theorie des pädagogischen Geschicks:
„All die biographische und lokalgeschichtliche Relevanz von Hegels Schultätigkeit rechtfertigt nicht von ‚Hegel und die
Pädagogik‘ zu sprechen. Hegels Bedeutung für die Pädagogik als Theorie der Erziehung und Bildung liegt gar nicht in
seiner eigenen pädagogischen Praxis, sondern in seiner Philosophie selbst.“ (Schmied-Kowarzik 1993, S. 171)
Hegels Philosophie kann nicht als ein „Klassiker“ pädagogischen Denkens gelten (vgl. Raithel/Dollinger/Hörmann Wiesbaden, 2009). Seine Theorie bedenkt die Praxis nicht mit bzw. nur in sekundärer Linie – darin liegt auch die Problematik
der hegelschen Philosophie in Zusammenhang mit der Gründung des Politischen.
310
kann. Dagegen ist eine Idee des Politischen und einer Politik, die in einer Vorstellung gründet,
dass der Mensch einem überindividuellen Telos bzw. ontotheologisch verstandenen Prozess
untersteht oder gar einer aus der Erfahrung gewonnenen Idee des Menschen, Substrat des Menschen, prinzipiell eine Trübung der politischen Urteilskraft durch den Verlust eines Verständnisses der singulären Situation, einer Ethik der Begegnung und der körperlichen, geschichtlichen und umweltlichen Situiertheit des Menschen.
Die Auswirkungen davon, die kritische Kategorie der Mündigkeit als einen Leitbegriff des pädagogischen Denkens zu verlieren und damit die ursprünglich durch das Konzept einer wissenschaftlichen Pädagogik eingeforderte Gewaltenteilung der Orientierung der Bildung und so in
der Differenzierung der Zuständigkeitsbereiche innerhalb des Prozesses der Gründung des Politischen, zeigt sich in schrecklichster Weise in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts.
Die in Preußen sich formierende Idee einer Nationalerziehung und die damit einhergehende
machtpolitische Funktionalisierung der Elemente des Bildungsdiskurses bieten hierfür eine
Grundlage.
Hervorzuheben ist, wie es Langewiesche und Tenroth formulieren, dass die national-sozialistische Diktatur „nicht in einem erziehungs- und bildungsgeschichtlich[en] […] Vakuum“ stattfand oder gar als „Betriebsunfall“ zu verstehen ist.1144 Die Totalität des Staates kann nur auch
dann realisiert werden, wenn die Pädagogik in ihrer Ausrichtung grundsätzlich, d. h. ausnahmslos, im Dienste eines Staates steht. Ohne die Pädagogik als theoretisches bzw. spekulatives und
praktisches Gründungsgerüst des Politischen ist auch ein totalitärer Staat nur schwer denkbar.
Dadurch, dass in der totalitären Erziehung alle Bildungselemente, alles Bildungswissen eine
Zuspitzung in der Staatsidee bzw. Volksidee erfährt und als Rechtfertigungsmedium funktionalisiert wird, ist die Gründung und Erhaltung des totalitären Staates denkbar. Auch die Legalisierung bzw. die sittliche Legitimierung von menschenverachtender Ideologie wie dem Antisemitismus, Rassismus, Sozialdarwinismus ist nur durch den massiven staatlichen Eingriff bzw.
die Übernahme in die Bildung des Menschen zu ermöglichen. Zwar waren, wie Tenorth darlegt,
viele ideologische Elemente des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik vorhanden, jedoch finden diese erst mit der Machtergreifung eine funktionale Bestimmung, Legitimierung
und Berechtigung.1145
1144
Langewiesche/Tenorth 1989, Bd. 5, S. 21.
1145
Vgl. Tenorth 1989, Bd. 5, S. 135–145.
311
Wie Gamm darlegt, so zeichnet sich der Nationalsozialismus im Kern auch durch einen „totalen
Erziehungswillen“1146 und die Überzeugung der Notwendigkeit der totalen Kontrolle der Bildung des Menschen zur Bildung des arischen, völkischen Menschen ab. Der rassisch-anthropologische Dogmatismus stellt die Ausbildung der sensiblen und geistigen, schließlich moralischen Fakultäten in der Erziehung dabei völlig zurück. So schreibt Hitler:
„Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie
nicht auf das Einpumpen von bloßem Wissen einzustellen, sondern in erster Linie auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt die Ausbildung des Geistes. […]
Der völkische Staat muß dabei von der Voraussetzung ausgehen, daß ein zwar wissenschaftlich
wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von
Entschlußfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling.“1147
Zwar wurde seit Rousseau die körperliche Ertüchtigung als grundsätzliches Ziel der Pädagogik
entfaltet, jedoch immer nur in Zusammenhang mit z. B. der Ausbildung der Einbildungskraft,
der Sensibilität, der Gesundheit des Individuums in Hinblick auf eine moralische Bildung des
Menschen – niemals zum Zweck des Staates. Gehorsam und Entschlusskraft werden einer kritischen Urteilskraft völlig untergeordnet. Deutlich tritt hier der durch den NS-Topos „Du bist
das nicht, Dein Volk ist alles“ vertretene Grundsatz einer entindividualisierten, nationalsozialistischen bzw. völkischen „Pädagogik“ zutage.1148 Wie zudem Wagner darlegt, symbolisiert
der Ausspruch den Leitbegriff einer „totalen Volksgemeinschaft“, die auf der bedingungslosen
Unterordnung der Volksgenossen aufbaute.1149
Hitlers Vorstellung und Forderung „völkischer Bildung“ im doppelten Sinne (so als Bildung
des Völkischen, d. h. völkischen Staates) wendet sich dezidiert gegen die liberale Tradition des
kritischen Bildungsdenkens, so der Idee der Bildung zur Mündigkeit und Sittlichkeit. Frick, der
Kultusminister Hitlers, bringt dies zum Ausdruck:
„Die liberalistische Bildungsvorstellung hat den Sinn aller Erziehung und unserer Erziehungsrichtungen bis auf den Grund verdorben. […] Die deutsche Schule hat den politischen Menschen zu bilden, der in allem Denken und Handeln dienend und opfernd in seinem Volke wurzelt und der Geschichte und dem Schicksal seines Staates ganz und untrennbar zu innerst verbunden ist.“1150
1146
Vgl. Gamm 1964, S. 11.
1147
Hiltler zitiert nach Gamm 1964, S. 48.
1148
Vgl. Berg/Ellger-Rüttgart 1991, S. 5.
1149
Vgl. Wagner 2004, S. 346.
1150
Frick, Wilhelm zitiert nach van der Daele 2000, S. 42.
312
Der Liberalismus, sofern er die Unabhängigkeit und die Normkompetenz des Individuums bezeichnet, wird als Faktor der Dekadenz und „Entartung“ der Volksgemeinschaft und der damit
verbundenen idealen Gemeinschaftlichkeit und Geselligkeit ausgemacht. Der für die „NS-Pädagogik“ – man müsste vielmehr von einer Züchtungslehre sprechen – grundlegende totale Begriff des Volkes konstituiert sich durch eine absurde Verquickung bzw. Amalgamierung von in
der Pädagogik vorhandenen eschatologischen Grundsätzen und der von Quetelet durch die Soziografie erstmals entwickelten Idee des „Durchschnittsmenschen“. Unkritische ontotheologischer Dogmatismus und Elemente einer positivistischen Naturwissenschaft werden unheilvoll
politisch funktionalisiert als Rechtfertigung einer rassisch-völkischen, politischen Rhetorik eines unbestimmten Hassgefühls. Dies wird sehr deutlich in einer Rede Goebbels von 1932:
„Aus dem Volk sind wir gekommen, und zum Volke werden wir immer wieder zurückgehen.
Das Volk steht für uns im Zentrum aller Dinge. Für dieses Volk opfern wir, und dieses Volk
sind wir – wenn es einmal nötig würde – aus zu sterben bereit. Treue dem Volk, Treue der Idee,
Treue der Bewegung und Treue dem Führer! Das sei unser Gelöbnis, indem wir rufen: Unser
Führer und unsere Partei – Sieg Heil!“1151
Volk und Führer werden nicht nur zu übergreifenden, prinzipiellen Leitbegriffen und Grund
des Politischen, sondern auch der Erziehungs- und Bildungspolitik. Dabei ist die Beliebigkeit,
mit der Begriffe und Differenzierungen der Tradition der Aufklärung und der Frühromantik
eingerissen und funktionalisiert werden in Zusammenhang mit der Konstitution des Begriffs
des Volkes zur Rechtfertigung der Ideologie der Unterordnung und schließlich der Mobilisierung erschreckend. Der sich in Goebbels verkündete völkische Eifer und die diesem zugrunde
liegende begriffliche Beliebigkeit gibt den Leitfaden in der Gründung der völkischen Schule,
durch die der künftige völkische Staat gegründet werden solle. Funktionale Differenzierungen
finden in dieser Grundlegung eine völlige Einebnung und ebenso die großen politischen Leistungen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts.
Insgesamt führen die Schrecken des Nationalsozialismus nicht nur die blinden Flecke der Theoriebildung der Tradition des pädagogischen Denkens vor, sondern zeigen, welche unmenschliche Politik durch die staatliche Monopolisierung des Bildungsdiskurses und der Erziehung
begründet werden kann. Auch in Hinblick auf die staatliche Monopolisierung jener in anderen
totalitären Systemen wird durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit einer
kritischen Leitkategorie innerhalb der Pädagogik besonders evident.
1151
Goebbels zitiert nach Schmitz-Berning 2000, S. 573.
313
4. Adorno und Horkheimer über Denkmöglichkeit einer Bildungspolitik nach ihrem katastrophischen Scheitern
Die Frage nach einem kritischen Leitbegriff der Bildung und Bildungspolitik ist nach 1945
jedoch alles andere als leicht. Eine „große innere Not: Zusammenbruch des hohlen Pathos, radikale Desillusionierung, Resignation und Verzweiflung“1152 lähmen zunächst alle Versuche
einer (selbstbestimmten) Formulierung einer solchen kritischen Kategorie und verunsichern zutiefst das Verhältnis zur Tradition. Dazu verwehren Lehrermangel und Mangel an Schulen im
zerstörten Deutschland zudem eine Rückkehr zu einem Schulalltag. Die Lage ist nicht unproblematisch, da die Ratlosigkeit nach der Katastrophe und eine sicherlich auch teilweise forcierte
Blindheit eine unreflektierte Wiederbelebung alter, lokaler Formen des Schullebens zuarbeitet.
Die damit einhergehende Gefahr der Möglichkeit einer Wiederkehr alter politischer Formen
und Zwecke der Bildung konnte vor allem aus Sicht der Siegermächte nicht toleriert werden.
Deshalb installieren die Besatzungsmächte in West- und Ostdeutschland ihre jeweiligen Bestimmungen und Leitsätze der Erziehung, die zwischen 1945–1947 als Übergangsreglung einen
besonderen Einfluss auf das Bildungswesen haben.
In Westdeutschland nimmt die sogenannte „Reeducation“, „Reorientation“ oder „Umerziehung“ die oberste Priorität ein.
„Unter dem Begriff der Re-education wurden demnach alle diejenigen Maßnahmen zusammengefaßt, die darauf abzielten, auf der geistigen und emotionalen Ebene den Deutschen die
Grundsätze, Prinzipien und Haltungen demokratischen Zusammenlebens verständlich zu machen.“1153
Politische Bildung und eine Erziehung zur Demokratie werden von den Besatzungsmächten in
Westdeutschland als oberster Grundsatz der Bildung befestigt. Die Einführung der Demokratie
auf dem Bildungsweg ist der Ansatz zur langfristigen Sicherung von Frieden und Ordnung.
Obwohl dieser Ansatz noch heute ein zentrales Leitmotiv der Bildung ist, so ist er nicht mit den
heutigen Aufgaben politischer Bildung gleichzusetzen. Die Erziehungspolitik der Besatzungsmächte ist vor allem in Zusammenhang mit der Entnazifizierung zu verstehen als Einflussnahme auf den kulturellen und politischen Wiederaufbau Deutschlands. In diesem Sinne ist sie
als eine Hinführung zu einer kritischen Selbstbewertung nach dem Krieg zu verstehen. Wie
1152
Reble 1989, S. 330.
1153
Bungenstab zitiert nach Felbick 2003, S. 516.
314
diese allerdings zu verstehen sei, war eine lebensdringliche Frage, die die politische Erziehung
zur Demokratie allein nicht hat lösen können. Denn, wie Fischer einwirft, ist politische Bildung
mit der Problematik konfrontiert, dass politische Erziehung „allein“ nicht ausreicht, um die
antidemokratischen Ressentiments aus der Welt zu schaffen.1154 Politische Bildung kann in ihren Hauptzielen1155 nur durch kontinulierlichen, reflektierten politischen Unterricht zu einer
Verringerung der Verbreitung und der Wirkung radikalen und antidemokratischen Gedankengutes unter Educanden führen.1156
Alle politische Bildung zur Gründung und Erziehung zur Demokratie scheint zwecklos, wenn
sie in der wissenschaftlichen, unabhängigen Pädagogik nicht von einer Aufarbeitung der Tradition im Sinne einer Ursachenforschung in Hinblick auf eine Vermeidung eines derartigen
politischen Exzesses begleitet wird. So zeichnete sich ab, dass nebst dem praktischen Wiederaufbau der Bundesrepublik zur Gründung eines demokratischen Gemeinwesens an erster Stelle
die Frage nach einer „Pädagogik nach Ausschwitz“ – wie Adorno es später formulierte – zu
beantworten sei. Allein in den Reihen der Pädagogen befanden sich nach 1945 noch immer
viele Pädagogen und Lehrer, die das nationalsozialistische Regime ohne nennbaren Widerstand
unterstützt und so zur Konstitution des totalitären Staates beigetragen haben. Große Teile der
wissenschaftlichen Pädagogik waren daher von der wissenschaftspolitischen Frage der „Kollaboration oder Mitschuld“ geprägt.1157 In Zusammenhang mit der Gründung der BRD ist die
Problematik der Individualschuld oder des individuellen Selbstverhältnisses dagegen als ein
sekundäres Problem anzusehen, welches vor allem eine rechtliche und moralische Dimension
einnimmt. Ohne dies zu unterschätzen, ist die grundsätzliche Problematik in Zusammenhang
mit der Konzeption der Bildungspolitik zur Gründung der BRD die Frage nach dem kollektiven
Selbstverhältnis, welches nur durch ein kritisches Verhältnis zum Nationalsozialismus und einem Verständnis der Ursachen denkmöglich ist. So ist die Frage der Möglichkeit der Kritik und
einer kritischen Leitfigur der Nachkriegszeit sicherlich als bedeutendste Frage zu bewerten. Bis
heute besteht die Problematik, dass die Frage der Bildungspolitik in Deutschland von der Erziehungsfrage und nicht so sehr von der Bildungsfrage bestimmt ist.
1154
Vgl. Fischer 1986, S. 51.
1155
Dazu Ackermann et al.:
„Unabhängig von individuellen, wissenschaftlichen oder auch länderspezifischen Akzentuierungen findet sich in der Bundesrepublik Deutschland eine große Übereinstimmung bei den grundlegenden Zielen des Politikunterrichts in der Schule.
Solche Ziele sind vor allem: Interesse an Politik zu wecken, die Voraussetzungen für eine selbstständige politische Analyse
und Urteilsfähigkeit zu schaffen und eine Identifizierung mit den demokratischen Werten zu ermöglichen.“ (Ackermann/Gotthard/Cremer/Massing/Weinberger 2010, S. 11)
1156
Vgl. Fischer 1986, S. 51.
1157
Vgl. Kersting 2008, S. 71 ff.
315
Angesichts der geistesgeschichtlichen Dimension dieser Frage ist es nicht verwunderlich, dass
die Frage der zukünftigen Bildungspolitik vorrangig von einem Kreis geisteswissenschaftlicher
Pädagogen, wie etwa Nohl, Litt, Spranger und Flitner diskutiert wurde. Der Einfluss dieser
Pädagogen, die zum Teil schon während der Weimarer Republik und des Dritten Reichs an
Hochschulen tätig waren, verstärkte sich durch eine rege Promotions- und Habilitationstätigkeit
nach dem Krieg.1158 Wie Matthes darlegt, ist ein entscheidendes Defizit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik der Nachkriegszeit, dass durch sie keine „(selbst)kritische Reflexion
ihrer in der Weimarer Republik vertretenen pädagogischen und politischen Positionen erfolgt“1159. So kommt es nicht zu einer Reflexion, inwiefern etwa die pädagogische Begrifflichkeit eine totalitäre Wendung unterstützt haben könnte. Zudem scheint hier eine generelle Problematik der Hermeneutik als grundlegende Methode der wissenschaftlichen Pädagogik und Bildungspolitik hinsichtlich ihrer politischen Dimension zutage zu treten. Obwohl man nicht von
„einer“ geisteswissenschaftlichen Pädagogik sprechen kann,1160 läuft die ihr zugrunde liegende,
verstehende Methode immer Gefahr, einer Relativierung anheimzufallen, die jegliche kritische
Position zuvorkommend untergräbt. Ohne den Bezug auf eine spekulative bzw. objektive Vernunft, wie etwa bei Schleiermacher, scheint die hermeneutische Methode keinen kritischen
Leitbegriff führen zu können. Schließlich scheint die Ablösung der geisteswissenschaftlichen
Pädagogik, trotz ihres wichtigen Leitmotivs der Selbstaufklärung der Erziehungspraxis, durch
den pädagogischen Realismus, die Erziehungswissenschaft und emanzipatorische Bewegungen
gerade durch die Problematik gefördert, dass sie als wissenschaftliche Pädagogik nur begrenzt
Selbstaufklärung betrieben und über nur unzureichende Mittel zur Kritik der nationalsozialistischen Bildungspolitik verfügten. So wird verständlich, warum sie in Zusammenhang mit der
Frage nach einem kritischen Leitmotiv in der Bildungspolitik nach 1945 keine fortbestehende
dominante Rolle gespielt hat.
Vor allem die Annahme, wonach der Nationalsozialismus die Bildungspolitik nur korrumpiert
habe, es sich um einen Korruptionseffekt handle und die Bildungspolitik bzw. der traditionelle
Bildungsdiskurs in sich keinen Grund für die Katastrophe des Dritten Reichs berge, scheint
nach 1945 eine inakzeptable Position zu sein. Zumindest insofern, als dass einer solchen These
zumindest eine grundlegende Reflexion und Selbstkritik der Vernunft vorausgegangen sein
sollte. Eine stillschweigende Annahme müsste in Zusammenhang mit der Problemlage als eine
reaktionär-restaurative Position ausgelegt werden.
1158
Vgl. Matthes 2008, S. 87.
1159
Matthes 1998, S. 252.
1160
Vgl. Raithel/Dollinger/Hörmann 2009, S. 169.
316
Die Ablösung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als auch die Reflexion zu einem kritischen Leitbegriff der Bildungspolitik wird durch Impulse aus der kritischen Theorie und den
daraus hervorgegangenen Überlegungen Adornos zu einer „Erziehung nach Ausschwitz“ angetrieben.
„Die Forderung, daß Ausschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an die Erziehung. […]
Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht,
zeugt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß
die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewusstseinstand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideals ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Ausschwitz nicht wiederhole. Es war Barbarei gegen die alle Erziehung geht.“1161
Mit der kritischen Theorie gewinnt die kritische Leitkategorie der Mündigkeit als auch der damit verbundene politische Utopismus eine Neubegründung. Sie steht ein für die kategorisch
formulierte Forderung der Verantwortung gegenüber „Auschwitz“,1162 der Forderung eines kritisch begründeten, von Gewohnheit, Staat und Kirche autarken bildungspolitischen Geschicks
und schließlich der Forderung der Erziehung zur Mündigkeit in Hinblick auf eine Bewahrung
des Menschen vor dem Totalitarismus. In ihrem Versuch einer kritischen Grundlegung und
gewissermaßen Fortführung emanzipatorischer Motive der Aufklärung1163 erweist sie sich, wie
im Folgenden gezeigt werden soll, im Wesentlichen als weitreichend, zugleich jedoch im Kern
als aporetisch.
Ihren Einfluss auf die Diskussion um eine Bildungspolitik nach 1945 aus der zitierten Forderung zurückzuführen, verkennt, dass damit lediglich ein Konsens pointiert zusammengefasst
wird. So wichtig solche als Zugeständnisse aufzufassenden Formulierungen in bestimmten Diskurslagen auch sein können,1164 so ist die komplexe Bedeutung der kritischen Theorie, wie sie
durch Horkheimer und Adorno formuliert wurde und einen wichtigen konzeptuellen Höhepunkt
1161
Adorno 1971, S. 88.
1162
In besonderer Weise wird durch die kritische Theorie ein Begriff der Philosophie als Verantwortung gegenüber
„Auschwitz“ (zur Bedeutung des Begriffs “Auschwitz“ bei Adorno vgl. Claussen (1988, S. 54 ff.)) entwickelt, der etwa
auch bei Derrida und Lévinas eine Rezeption im französischen Sprachraum findet. Gleichzeitig ist diese mit diesem Begriff
ausgehende, bisweilen „fraglose Aktualität“ nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Pädagogik angesichts der
sich wandelnden sozialpolitischen Problemlagen als Paradigma höchst problematisch geworden (vgl. Sahmel 1988, S. 208
ff.)
1163
Diese innere Zerrissenheit als Aufgabe bekundet sich z. B. in der Dialektik der Aufklärung:
„Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden
Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens,
nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den
Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.“ (Adorno/Horkheimer 2003, S. 3)
1164
Vgl. Meseth 2000, S. 22.
317
in dem „Werkkomplex“ der Dialektik der Aufklärung nimmt, insbesondere dadurch zu verstehen, dass sie das Grundproblem und die Grundanforderung der Philosophie und der Geisteswissenschaft nach 1945 in einer außergewöhnlichen Prägnanz erkannt und formuliert hat. Wie
Honneth formuliert, gilt die kritische Theorie
„seither vielen als Musterbeispiel einer Theorie, in der sich die die Absicht einer philosophischen Zeitdiagnose mit dem Unternehmen einer empirisch fundierten Gesellschaftsanalyse verknüpft“1165.
Obwohl die kritische Theorie (im marxistischen Diskurs1166, der politischen Theorie1167 oder
auch der kritischen Sozialphilosophie1168) zuweilen als „gescheitert“ gilt, so ist ihr Erbe noch
heute für die Bildungspolitik von einer unabweisbaren Bedeutung, da sie in ihrem Entwurf einer
Selbstkritik der Vernunft nicht nur ein „post-modernes Denken“ im Sinne eines Denkmodus
und als Figur der Auseinandersetzung mit der Moderne1169 vorbereitet, sondern zugleich die
Themen einer sich als kritisch verstehenden Philosophie bis heute prägt. (Herauszuheben wären
etwa folgende Themen: Evaluation der hegelschen Logik und Geschichtsphilosophie, das Verhältnis von Vernunft und Geschichte bzw. Moderne, die Bestimmung der Aufklärung als prägende Tradition einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft und als davon unabhängiges Ideal, Metaphysik und Macht, Genesis und Formen der Macht in der spätkapitalistischen Gesellschaft als
auch die Kulturindustrie der Medien und der Massen.)1170
Die aus ihren Analysen hervorgehende Warnung, dass die bürgerliche Gesellschaft dazu tendiert, in einen Faschismus und Totalitarismus droht umzuschlagen, zeichnet sich nicht nur als
prägend für die in der marxistischen Tradition stehenden Gesellschaftsanalysen ab, sondern
1165
Honneth 1985, S. 11.
1166
Vgl. Jameson 1992.
1167
Vgl. Ottmann 2012, S. 70
1168
Vgl. Honneth 1985, S. 115 f.
1169
Postmodernes Denken sei hier im Ausgang von Eßbach als eine „theoretische Option“ zu verstehen – nicht zu verwechseln
mit den Positionen poststrukturalistischer Theoriebildung.
„Ich rede von Postmoderne nicht im Sinne einer Epoche oder eines Zeitabschnitts – Was sollte eigentlich nach der Postmoderne kommen? […]. Postmoderne, um das anzudeuten, so nenne ich theoretische Optionen, die es uns ermöglichen,
die europäische Moderne in den Blick zu nehmen, als ob es sich hier um ein endliches, geschlossenes Ensemble von Wirklichkeiten und Konzepten handelt. Also, postmoderne Diagnostik moderner Phänomene in meinem Sinne hält sich strikt
auf diesem Niveau des ‚Als-ob‘. Postmoderne ist ein Denkmodus gegenüber der Moderne als hergestellten Wirklichkeiten
und vorliegenden Konzepten. Postmodernes Denken verfährt eben ‚Als-ob‘ man gegenüber der Moderne eine Distanz gewinnen könnte. Es bleibt bei ‚Als-ob‘ und das hat etwas spielerisches an sich. […] Aber dem Postmodernen Denken seinen
spielerischen Zug und oft auch komödiantischen Zug, seine Heiterkeit zu nehmen denke ich verdirbt bei diesen Theorierichtungen die Hauptsache. […] Für das Ernstmachen stehen genügend glaubhafte Theorien da.“ (vgl. Eßbach Vorlesung
„ungeliebte Moderne“)
1170
Zu den durch die kritische Theorie geprägten „Topoi“ vgl. Waschkuhn (2000, S. 14–15).
318
auch für die Leitkategorie und die Handlungsmaxime linkspolitischen Widerstandes. Darüber
hinaus den Problemhorizont der Philosophie der Postmoderne prägend, ist die kritische Theorie
so ausschlaggebend für die Entwicklung von Vorstellungen und Diskussionen über die Rollen
und Aufgaben der Philosophie in der modernen Gesellschaft als spätkapitalistische Gesellschaft. Eben deshalb erweist sich das Problem des Verhältnisses von Praxis und Theorie als ein
wesentliches Problem der kritischen Theorie.1171 Dennoch behält die kritische Theorie, auch
auf Grund von Adornos Kritik gegenüber jeglicher „Form von Idealisierung falscher Praxis“
und seiner Warnungen vor blindem Aktionismus, d. h. jeder „Pseudo-Aktivität, Praxis, die sich
umso wichtiger nimmt und umso emsiger gegen Theorie und Erkenntnis abdichtet, je mehr sie
den Kontakt mit dem Objekt und den Sinn für Proportionen verliert“1172, eine unabweisbare
Relevanz für die Praxis und schließlich die Pädagogik, wie Gruschka darlegt.1173 Das heißt zugleich, dass das spekulative Denken selbst als Geschick zu verstehen sei und jenes grundsätzlich zum Geschick des Politischen beitragen könne. Dabei ist nicht zu verwechseln, dass die
Frage nach dem Anspruch, der Geltung und Bedingung spekulativer Vernunft mit einer politischen Praxis nicht gleichzusetzen ist. So ist die Kritische Theorie ihrem Anspruch nach gerade
keine Aufforderung zu einer (revolutionären) Praxis, d. h. kein politisches Programm, sondern
eine kritische Reflexion der der Praxis zugrunde liegenden Bedingungen und der ihr innewohnenden Möglichkeiten, d. h. ein Reflexionsmodell der Wirklichkeit des Politischen.1174 So
schreiben Horkheimer und Adorno schon 1939: „Am Marxismus ist das Pragmatische zu bekämpfen.“1175 Die Hemmung, das Zögern und der vorsorgliche Einspruch gegenüber einer immediaten Reaktion und Aktion ist gerade als ein Charakteristikum der kritischen Theorie im
Sinne Horkheimers und Adornos aufzufassen.
In Zusammenhang mit der hier vorgelegten Untersuchung ist die durch die Kritische Theorie1176
entwickelte Diagnostik der Kultur und der sozialpolitischen Umstände bezüglich ihrer Methode
1171
Vgl. Türcke 1990.
1172
Adorno zitiert nach Türcke 1990, S. 54–55.
1173
Vgl. Hilbig 1990; Allheim/Heyl 2012.
1174
So ist die kritische Theorie auch als Reflexionsmodell der Wirklichkeit der politischen Theorie, wie z. B. des Marxismus,
innerhalb der politischen Theorie, aufzufassen.
1175
Adorno/Horkheimer HGS 1985, Bd. 12, S. 524.
1176
Auch wenn, wie Schmidt hervorhebt, in der späteren Zusammenarbeit mit Adorno der Begriff der Theorie anders akzentuiert ist (vgl. Schmidt 1979, S. 7), so ist es ganz recht, wenn Honneth darlegt, dass der Begriff der kritischen Theorie, den
vor allem Adorno weiterentwickeln wird, „unter der konzeptuellen Autorität eines einzelnen Mannes und als Werk eines
Kreises von Wissenschaftlers“ (Honneth 1985, S. 11.) entstand. Über das in dieser Arbeit verfolgte Interesse wird auch
deshalb die Dialektik aus der Perspektive dieser durch Horkheimer entwickelten Perspektive gelesen – auch wenn das
„große Werk“ der 1940er Jahre eine „Phase der Theorieentwicklung“ Horkheimers darstellt, die sich „deutlich von den
dreißiger Jahren“ unterscheidet. (Zur Frage der Autorschaft der Dialektik und einen Überblick über die Zusammenarbeit
Horkheimers und Adornos vgl. Schmidt (HGS 1987, S. 425–430).) Auch aber, wenn dem so ist, bleibt die Frage offen, ob
diese „deutliche“ Unterscheidung aus theorieimmanenten oder lebensdringlichen Faktoren motiviert bleibt. Auf Grund der
Idee einer kritischen Theorie als eine teilnehmende Gesellschaftsanalyse ist es durchaus plausibel, eher anzunehmen, dass
319
als auch ihres Inhaltes von besonderem Interesse. Dies nicht deshalb nur, weil sie die Bildungspolitik der Bundesrepublik und das Verständnis der Aufgaben politischer Bildung mitgeprägt
hat. Von besonderem Interesse ist sie, da sie das Wissen um die funktionale Bedeutung der
Pädagogik und Erziehung im Zwiespalt von Aufklärung, der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und der positivistischen und rationalistischen Organisation bzw. Konstitution des Politischen – wie sie oben diskutiert worden ist – thematisiert und Bildung und Bildungspolitik in
Zusammenhang mit der Diagnose der Krise und des Verlustes spekulativer Vernunft diskutiert.
4.1 Die Diagnose der Krise und die Frage nach der Funktion spekulativer Philosophie in bildungspolitischer Absicht
Horkheimers Denken ist geprägt von einem Bewusstsein zermürbter, sich auflösender gesellschaftlicher und politischer Umstände, der Krise und der Frage, wie eine rechte Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse nicht nur zum Selbstzweck und zur Theorie wird, sondern auch
dahin gehend möglich ist, dass sie zur vernünftigen Gestaltung und Bildung gesellschaftlicher
Verhältnisse beitragen könne. Sein Bewusstsein der Verhältnisse erwächst in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges, die zum einen von den Kriegsfolgen bestimmt sind, zum anderen
jedoch verstanden werden konnten zwischen Tradition und Utopie, nicht nur als Untergang des
Kaiserreiches und damit einer langen Tradition, sondern auch als politisches Neuland. Das
Spannungsfeld verschiedener politischer Entwicklungen, wie etwa in der Sowjetunion, die
kurzzeitige Rätedemokratie in Deutschland und die Kriegsfolgen sind nicht nur ein dem Denken Horkheimers Äußeres, sondern selbst ein im Denken vollzogenes Dringendes, Dringliches.
Dies zeigt die Auseinandersetzung der frühen Schriften, so besonders auch der Dissertation Zur
Antinomie der teleologischen Urteilskraft und der Habilitationsschrift Über Kants Kritik der
Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Auch wenn
diese Schriften sich in ihrem akademischen Charakter von späteren Schriften unterscheiden –
was kein Wunder ist, da es sich um Prüfungsschriften handelt, welche bestimmte Rahmenbedingungen erfüllen müssen –, so figuriert sich in den Auseinandersetzungen mit der kritischen
Philosophie Kants die Frage nach der Denkmöglichkeit einer kritischen Urteilskraft auch in
die Unterscheidung an erster Stelle durch die – auf Grund des Exils zur Tatenlosigkeit gezwungenen – passiven Wahrnehmungen des Verlaufs der Schreckensgeschichte des Dritten Reichs eingetreten ist.
320
Hinblick auf eine Kritik der „mechanistisch-materialistischen Grundrichtung des modernen Lebens überhaupt“1177. Die in den Bänden 9 und 10 der Gesammelten Schriften dokumentierte
Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte findet eine Zuspitzung in der Frage nach
der Denkbarkeit einer wissenschaftlichen, kritischen Urteilskraft und deren Grundlegung in einer spekulativen Vernunft. Was Horkheimer damit verbindet, zeigt sich erstmals in einer Überlegung zum Wirtschaftsprinzip 1920: es ist die Frage nach einem Begriff einer Kritik instrumentell-ökonomischer Vernunft.1178 Seit etwa dieser Zeit findet auch Horkheimers Auseinandersetzung mit der Philosophie Marx und mit dem Marxismus statt.
In der Auseinandersetzung mit dem Begriff des transzendentalen Idealismus wird Horkheimer
deutlich, dass ein Begriff wissenschaftlicher, kritischer Urteilskraft durch eine idealistische
bzw. transzendentalphilosophische Grundlegung der Philosophie nur schwer zu formulieren
sei. Noch unter Einfluss der von Kant geprägten Philosophie seines Lehrers Cornelius entwickelt Horkheimer erste Ansätze zu einer materialistischen Lösung des Problems. So schreibt er
etwa 1921 in der Schrift Beantwortung der Frage: Was heißt vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus aus die Behauptung, daß die materielle Entwicklung der Entwicklung des Bewußtseins vorhergegangen ist?
„Der Materialismus ist also der Versuch, das uns unmittelbar Gegebene aus dem mittelbar Gegebenen zu erklären.“1179
Obwohl Horkheimer hier noch, wie der Titel bekundet, vom „Standpunkt des transzendentalen
Idealismus“ her fragt, so kündigt sich hier jedoch ein für die Entwicklung der kritischen Theorie
folgenreicher Begriff des Materialismus an. Die Aufgabe zur Bestimmung einer materialistischen Kritik der „mechanistisch-materialistischen Grundrichtung des modernen Lebens überhaupt“1180 besteht für Horkheimer nicht in einer „Umdrehung“ des transzendentalen Idealismus,
sondern an erster Stelle in einer Kritik der damit verbundenen Tradition der Grundlegung der
Philosophie am Vorbild der Wissenschaften.1181 Dies besonders in Hinblick auf den dieser
1177
Horkheimer HGS 1987, Bd. 9, S. 28.
1178
Vgl. Horkheimer HGS 1987, Bd. 9, S. 13–16.
Die These, dass Horkheimer Marx schon seit 1920 studiert, scheint hier bestätigt (vgl. Rosen, Zvi, Max Horkheimer, München, 1995, S. 73).
1179
Horkheimer HGS 1987, Bd. 9; S. 21.
1180
Horkheimer HGS 1987, Bd. 9, S. 28.
1181
In der 1925/26 gehaltenen Vorlesung Geschichte der deutschen Idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel fasst Horkheimer den Grundgedanken der kantischen Philosophie unter dem Titel Wissenschaftliche Begründung der Metaphysik
zusammen. Das heißt, dass für Horkheimer Kant in der Geschichte der deutschen idealistischen Philosophie an erster Stelle
durch das Projekt einer an den Naturwissenschaften orientierten Grundlegung der Metaphysik zu begreifen ist. Die damit
321
Grundlegung vorausgehenden Dualismus von res extensa und res cogitans und so schließlich
der theoretischen und praktischen Vernunft. Die sich im Habilitations-Probevortrag Husserls
erkenntnistheoretische Fundierung der Wesenschau bekundende Auseinandersetzung mit der
Philosophie Husserls legt nahe, dass bei Horkheimers Projekt eine materialistische Philosophie
mit einer Kritik des Objektivitätsanspruchs der Wissenschaft und der Krisis der wissenschaftlich instrumentellen Vernunft verbunden ist.1182 Dabei ist es besonders wichtig zu verstehen,
dass mit dem Problem der Wissenschaft immer auch das Problem des Wertes und der Werterkenntnis mitbedacht ist. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass gerade weil die Wissenschaften
in modernen Gesellschaften ein wichtiger Faktor der Bildung und Organisation des Gemeinwesens darstellen, der Wissenschaftsbegriff weitreichende Folgen für das Gemeinwesen haben
kann.
Der Grund der Auseinandersetzung mit Husserls Wesenschau ist aus dem oben zitierten präliminären Begriff des Materialismus als „Versuch, das uns unmittelbar Gegebene aus dem mittelbar Gegebenen zu erklären“, zu verstehen. Husserls in der transzendentalen Phänomenologie
wurzelnden Begriff der Wesensschau dient Horkheimer noch dazu, die Brücke zu seinem von
der Transzendentalphilosophie Kants beeinflussten Lehrer Cornelius zu schlagen und zugleich
die Probleme und Überwindungspunkte zu vermitteln und erarbeiten. Der Vortrag endet jedoch
mit der Kritik, dass Husserl nicht aus der „Fülle des Tatsächlichen“ schöpfe.1183 Die transzendentalphilosophische Dimension der Phänomenologie sei es, die die Phänomenologie daran
hindere, nicht entschieden genug auf die Sachen selbst „zurückzugehen“.
Trotz der in den 20er Jahren für die Beantwortung wichtiger Probleme entscheidenden Auseinandersetzung mit dem Marxismus versteht sich Horkheimer selbst nicht als Marxist im wissenschaftlichen Sinne und schon gar nicht als dogmatischer Marxist im politischen Sinne. Dies
verbundene Angleichung der philosophischen Ratio an die naturwissenschaftliche Ratio erörtert Horkheimer vor allem für
das praktische Handeln als problematische Konsequenz. Gerade hier versteht Horkheimer Hegel als Lösung:
„Bei Kant ist dieser Rationalismus noch gebrochen durch die Spaltung der Vernunft in einen theoretischen und einen praktischen Zweig, durch die Trennung Vernunft-Verstand, durch die Gebundenheit des Vernunftwesens an die Sinnlichkeit
des gegebenen Stoffes [, dessen] die Erkenntnis [so bedarf wie] der Triebe für das praktische Handeln. Wohl ist allgemein
die Verwirklichung des sittlichen Zwecks als rationaler Grund für diese Trennungen, ebenso wie für ihre Aufhebung, angegeben. Aber konkret läßt sich dadurch doch nicht begreifen, daß gerade diese und keine anderen Spaltungen gesetzt sind,
daß die Vernunft sich in diese und keine anderen Funktionen trennt, und vor allem bleibt die Tatsache, daß gerade dieser
und kein anderer Stoff uns gegeben werde, also das unauflösliche Moment der sinnlichen Erfahrung, ein irrationaler Rest
in Kants Philosophie, die deshalb eigentlich einen Dualismus vorstellt. Erst Hegel nimmt hier Kant ganz beim Wort, indem
er fordert, daß wenn alles Wirkliche in Wahrheit Vernunft sei, die Vernunft, deren Wesen Selbsterkenntnis ist, auch imstande sein müsse, alles Wirklich zu begreifen. Erst Hegel wird ganz ernst damit machen, auch das Besondere, die spezielle
Erfahrung die Kantischen Dualismus vernunftgemäß zu begreifen, das heißt das gesamte Sein als System in seinem eigenen
System einzufangen.“ (Horkheimer HGS 1990, Bd. 10, S. 63–64)
1182
Vgl. dazu das Protokoll eines internen Seminars des Instituts für Sozialforschung: Horkheimer HGS 1985, Bd. 12, S. 349–
397.
1183
Vgl. Horkheimer HGS 1987, Bd. 9., S. 99.
322
offenbart Horkheimers Antrittsvorlesung, in der er die den Bestimmungsort seines Forschungsinteresses, d. h. die Grundlegung eines Materialismus in Abgrenzung zu einem Materialismus
nach dem Vorbild der Naturwissenschaften in Hinblick auf die Grundlegung einer kritischen
Urteilskraft als Voraussetzung einer kritischen Gesellschaftstheorie, zwischen Kant und Hegel
ansiedelt. Dass dies keine Falschdarstellung Horkheimers ist, sondern damit eine bestimmende
Theoriebewegung,1184 ein charakteristisches „Schwanken“ der kritischen Theorie zwischen
Kant und Hegel sich offenbart, das wird im Blick auf das reife Werk der kritischen Theorie, die
Kritik der instrumentellen Vernunft, deutlich.1185
„Alles, was mit einem unser bewußtes Leben transzendierenden Sinn, mit religiösen Gegenständlichkeiten, mit einer Ordnung, in die sogar unser persönliches Leben noch eingebettet ist,
zu tun hat, alles das gehört zu einem besonderen Gebiet philosophischen Strebens. Fragen solcher Art, dieses Gebiets, die ihnen entsprechende Wissenschaft sollen uns metaphysische Fragen, das metaphysische Gebiet die Metaphysik heißen.
Dem Schwanken zwischen Kant und Hegel liegt zu Grunde das Schwanken zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik.“1186
Was Horkheimer mit dem Begriff des Schwankens ankündigt, ist das Projekt einer Modulation
der Theorieansprüche und -modelle der kantischen und hegelschen Philosophie in Hinblick auf
die Grundlegung einer „kritischen Theorie“ – der Begriff wird hier (zwar noch nicht in hervorgehobener Weise) als Begriff erwähnt1187 – der Gesellschaft. (Dieses Projekt ist, wie Schnäbelbach zeigt, gerade auch charakteristisch für Adornos Philosophie und der Grund einer In-Bezug-Setzung beider Denker unter dem Begriff der kritischen Theorie.)1188 Horkheimer begreift
die Verhältnissetzung von Kant und Hegel als eine Möglichkeit zur Grundlegung einer „positiven Metaphysik“.1189 Er spezifiziert den Begriff der „positiven Metaphysik“, also einer Wissenschaft, die das Gegebene auf die darin enthaltenen Idee überschreitet, um das „Gegebene
aus dem Gegebenen“ zu erklären, in folgender Weise:
„[…] Kants Lehre, daß allein das Bewußtsein sich selbst Ordnung und Gesetz einem ihm selbst
angehörigen Inhalt vorschreibe, nimmt Hegel ernst und erhebt das Bewußtsein unter dem Namen des Geistes zur metaphysischen Realität. Aber während Kant als Ergebnis seiner Analysen
1184
Vgl. Schmidt Editorische Notiz. In: Horkheimer HGS 1987, Bd. 9., S. 100.
1185
Vgl. Horkheimer 2007, S. 192 ff.
1186
Horkheimer HGS 1987, Bd. 9., S. 107.
1187
Vgl. Horkheimer HGS1987, Bd. 9., S. 110.
1188
Vgl. Schnädelbach 1983, S. 66–67.
1189
„Was heute Hegel und Kant gleichsam als eine Rettung erscheinen läßt, das ist der Umstand, daß hier – ohne daß die
Resultate des Kritizismus preisgegeben scheinen – eine positive Metaphysik vorhanden ist.“ (Horkheimer HGS 1987, Bd.
9, S. 114)
323
bei den Leerformen des menschlichen Gemütes auf der einen und einem sinnlosen chaotischen
Material auf der anderen Seite stehen geblieben war, die beide in dem ziemlich äußerlichen und
mechanischen Verhältnis eines auf wunderbare Weise gelieferten Stoffs und eines glücklicherweise zu seiner Verarbeitung taugenden Apparates standen, such Hegel das Unbefriedigende,
das für uns aus einem solchen mechanistischen Resultat entspringt zu überwinden. Sein System
stellt den grandiosen Versuch vor, darzustellen, wie dieses Verhältnis von Form und Inhalt kein
zufälliges sei, wie die Vernunft Ordnung und Gesetz nur stiften könne, weil sei schon im Inhalt
lägen, wie der Inhalt nur den Formen sich füge, weil er selbst sie und keine anderen fordere.
Die Hegelsche Philosophie sucht zu zeigen, wie die intellektuellen Faktoren, die Verstandesund Anschauungsformen ebensowohl als alle Bestimmungen und Relationen überhaupt nur
diese sein können und als diese erkannt werden können, welch Kant aufgefunden hat, weil dieser Inhalt, diese wirkliche Welt in Natur und Geschichte und so und nicht anders sich ausbreitet.“1190
Wie deutlich wird, hält Horkheimer Hegels Philosophie daher für überzeugender, da sie das
Problem der kantischen Philosophie, welches Horkheimer in der transzendental-philosophischen Methode versteht, insofern sie in einem Dualismus von „Leerformen des menschlichen
Gemüts“ und „sinnlose[m] chaotischen Material“ münde, überwinde.1191 Es wird vor allem der
Aspekt hervorgerufen, dass Hegel einen Ansatz zum Verständnis biete, welches die „intellektuellen Faktoren“ als „Leerformen des menschlichen Gemüts“, d. h. nicht für sich selbst und
durch sich selbst bestimmt, erkennt, sondern in ihrem Bestimmungsverhältnis zur „wirklichen
Welt in Natur und Geschichte“. Horkheimer zeigt sich demnach davon überzeugt, dass Hegels
Logik die Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem, welches schon die Frage der Habilitation Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft darstellte, bewältige. Dabei ist dieses Zugeständnis gerade nicht als ein eindeutiges Bekenntnis zur spekulativen Metaphysik und nicht als endgültiges Verwürfnis mit dem
Kritizismus zu verstehen, da bedacht werden muss, dass Horkheimer diese Bemerkung im Rahmen der Frage nach einem Materialismus macht. Gleichzeitig bedeutet dies, dass die Ablehnung der transzendentalphilosophischen Methode und die „Bekenntnis“ zu Hegels dialektischer
Logik im Rahmen der Frage nach dem Begriff des Materialismus nicht als solche zu verstehen
sind, sondern als Hervorhebung der Bedeutung des dialektischen Materialismus. Auch wenn er
keine explizite Referenz zur von Engels und Marx entwickelten materialistischen Geschichtsphilosophie tätigt, so zeigt sich hier, dass Horkheimers Forschung der Idee eines dialektischen
Materialismus folgt.
1190
Horkheimer 1987, Bd. 9., S. 114–115.
1191
Wenn Horkheimer sich hier auf die ersten Kritiken Kants beruft, so ist doch zu vermerken, dass er auch die Kritik der
Urteilskraft nicht als eine Überwindung des Problems sieht (vgl. Horkheimer HGS 1987, Bd. 2, S. 246).
324
Das hier als „positive Metaphysik“ angekündigte Forschungsvorhaben ist insofern „positiv“,
als dass er das als positiv verstandene Gegebene nicht als objektive Tatsachen auszugehen
trachtet. Daher sei Materialismus gerade vom „positiven Geist“ abzugrenzen. So schreibt später
Horkheimer in Notizen zu Dämmerung:
„Beginnt der alte scheinbar neutrale Positivismus somit zu verschwinden, so verdient heute die
herrschende Geistesrichtung in der Philosophie und der offiziellen Kultur den Namen „Positivismus“ in einem ganz neuen Sinn. Man soll zur Welt und zu den Menschen, vor allem zu
denen, die gut angezogen sind, „positiv“ stehen. Der kritische Geist, der immer und ewig prüft
und erst nach tausend subtilen Beobachtungen etwas als Tatsache gelten lässt, mag auf dem
engsten Fachgebiet der Physik und der Chemie noch einen gewissen Spielraum haben, aber in
Philosophie, Kunst und Leben hat er Fiasko gemacht. […] Absprechen und Verneinen, Zweifel
und Kritik in Beziehung auf das, was nun einmal da ist, hat keinen Wert, sondern jeder soll
gutwillig daran anknüpfen und weiterbauen, oder es selbst besser machen.“1192
Auch wenn dieser Auszug einen deutlich anderen Ton trägt, der vom Wissen um den Nationalsozialismus geprägt ist, so expliziert er diese schon im Ansatz in der Antrittsvorlesung angelegte Abgrenzung zu einem Positivismus. Positivismus ist für Horkheimer eine Art konformistische Unvernunft und bezeichnet das Phänomen des Verlusts einer kritischen Urteilskraft im
alltäglichen Leben als auch in den Wissenschaften des Geistes und den Künsten.
Zu beachten ist jedoch, dass sich in der zitierten Passage nicht nur eine Polemik und ein Kulturpessimismus äußern. Denn es ist zu bedenken, dass Horkheimer zwar gegen einen „positiven
Geist“ polemisiert, tatsächlich jedoch der Tradition des Positivismus und der davon ausgehenden Tradition der Soziologie, wie Korthals hervorhebt,1193 weitaus nähersteht als oftmals angenommen. (Dies insofern, da er die empirische Erkenntnis immer als eine Grundvoraussetzung
des begrifflichen Denkens auch gegen den Idealismus versteht.) Deshalb muss die Kritik des
Positivismus in Zusammenhang mit der wissenschaftstheoretischen Überlegung gelesen werden, die wir in der Antrittsvorlesung vorfinden.
Das wesentliche Problem der kantischen Philosophie, wie es Horkheimer darlegt, liegt darin,
dass Kant vornehmlich Sinnlichkeit und Verstand in die Erkenntnis der Wirklichkeit einbegriffen sieht.1194 Als problematisch unterstreicht er das „Wesen der Kantischen Philosophie in der
Einschränkung der Erkenntnis auf die mathematischen Naturwissenschaften“1195. Nicht nur
wird dadurch das Verhältnis von Geschichte und Vernunft methodisch ausgegrenzt, sondern
1192
Horkheimer HGS 1987, Bd. 11, S. 266.
1193
Vgl. Korthals 1985, Jg. 14, S. 315–329.
1194
Horkheimer HGS 1990, Bd. 10, S. 33.
1195
Horkheimer HGS 1990, Bd. 10, S. 40.
325
die praktische Vernunft aus der Wissenschaft beseitigt, so dass jene zu einem Selbstzweck verkommt. Durch die Ausgrenzung der praktischen Vernunft aus der Wissenschaft ist sie jedoch
anfällig für Ideologie und Dogmatismus, gerade da sie ihre geschichtliche Situiertheit nicht
begreift.
„Nach Hegel wäre es eine Naivität zu glauben, daß man, um den Sinn der transzendentalen
Faktoren darzutun, von der geschichtlichen Situation absehen könne, von der aus das Wissen
um sie gewonnen wurde. Es bedarf nach ihm zum Verständnis eines Teils als Teil des Wissens
um das Ganze, dessen Teil er ist. Die Formen der Erfahrung sind Teile, nur eben die allgemeinsten, abstraktesten Teile der wirklichen Erfahrung selbst. Nur so vermögen sie sich in ihrer
Legitimität erweisen, daß von ihnen aus auf notwendige Weise wiederum zur konkreten Erfahrung fortgeschritten wird, in der sie ihre Wirklichkeit haben. Sonst bliebe das Wissen um sie
ein Wissen um bloße Teile, also ein abstraktes, einseitiges, verfälschtes Wissen.“1196
Der wesentliche Punkt, den Horkheimer betonend hervorhebt, ist, dass mit Hegel zu begreifen
sei, inwiefern der Menschen Teil am Sinn habe und nicht nur sich in der Sinnlosigkeit zu behaupten habe. Alle Erfahrung und Praxis ist demnach nur vernünftig, wenn sie sich selbst überschreitend reflektiert in Zusammenhang mit der Natur und der Geschichte. Während so der
Kritizismus „fortwährend bei den fernsten Abstraktionen“ verweilt, so vermag die hegelsche
Philosophie „konkrete Probleme der Wirklichkeit zu erfüllen“:
„[…] freilich nicht in einem einzelnen bündigen Satz, denn jeder Satz ist nur ein Teil des Systems und die Wahrheit ist das Ganze, sondern in der begrifflichen Konstruktion der gesamten
Kultur als der überall von der Vernunft durchherrschten Domäne des selbstbewußten Geistes.“1197
Weder die Naturwissenschaften noch eine an der Naturwissenschaft orientierte und fundierte
Philosophie kann, nach Horkheimer, zu einer Selbstbewusstwerdung bzw. zu einem Verfahren
der Selbstbewusstwerdung des Geistes kommen. Damit ist zugleich gesagt, dass der „positive
Geist“, der aus einer positiven Wissenschaft die gesellschaftlichen Umstände bestimmt, als
Phänomen eines radikalen Sinnverlustes und einer Krise der Vernunft auszulegen sei.1198
In dem „vorkritischen“ Text zeigt sich Horkheimer jedoch bezüglich der Möglichkeit einer
Wiedereinführung der Vernunft, des Sinns in die Gesellschaft als positiv. Schließlich schreibt
1196
Horkheimer HGS Bd. 9, S. 115.
1197
Horkheimer HGS Bd. 9, S. 117.
1198
In seiner Würdigung Rudolf Euckens spricht Horkheimer von einer „geistigen Krise der Gegenwart“ (Horkheimer HGS
1987, Bd. 2, S. 156).
326
er, dass eine „positive Metaphysik“ zu einer „Rettung“ beitragen könne.1199 Man beachte auch,
dass die Einleitung seiner 1926 gehaltenen Vorlesung über die Philosophie der Gegenwart den
Titel Die Wiedergeburt der Philosophie trägt und darin die Möglichkeit einer Überwindung des
Positivismus angedeutet wird.1200 So stellt sich Horkheimer vor den 30er Jahren nicht die Frage,
ob überhaupt Vernunft in die Geschichte hineingeführt werden könne, sondern wie Vernunft
trotz einem „von den Bedürfnissen der Menschen isolierten und damit auch selbstvergessenen
Wissenschaftsbetriebs“ eingeführt und verwirklicht werden kann. In den Notizen zur Dämmerung findet sich die Bemerkung, dass die Trennung von Theorie und Praxis bloß „eine allgemeine und leere Redensart sei“1201. „Theorie“, so schreibt Horkheimer überzeugt, „ist selbst ein
wirksamer Faktor im geschichtlichen Prozess“1202. Wirksamer Faktor, so der Grundgedanke
und Voraussetzung einer kritischen Gesellschaftstheorie, kann die Wissenschaft nur dann sein,
wenn eine „Befreiung der Theorie von den Ansprüchen der einzelnen gesellschaftlichen Tätigkeitsgebiete“1203 in sowohl praktischer als auch theoretischer Hinsicht gelingt.
4.2 Dialektik im Zusammenhang kritischer Sozialforschung
Wenn auch in der Antrittsvorlesung die theoretische Alternative zwischen den beiden Denkern
unentschieden bleibt vor der Frage nach der Verwirklichung eines praktischen Vernunftanspruchs, wie Schmidt schreibt,1204 so führt Horkheimer gewissermaßen die Ergebnisse zu einer
vermehrten Auseinandersetzung mit der hegelschen Logik. Eine erste Darstellung der „dialektischen Methode“ findet sich in der Vorlesung über die deutsche idealistische Philosophie. Darin stilisiert Hegel Dialektik als den Gipfelpunkt einer von Kant ausgehenden Philosophie, die
das für den Materialismus grundlegende Motiv der Reflexion des Wissens teilt, die jenes als
Prozess und Produktion versteht.1205 Hegel entwickle die Dialektik als:
„eine Macht, die von den höchsten geistigen, von den ätherischen Höhen der scheinbar isoliertesten Geistesinseln zu den konkretesten Gewalten des aktuellen historischen Lebens den Weg
1199
Vgl. Horkheimer HGS Bd. 9, S. 114.
1200
„Man war [Hervorhebung, M. B.] gewiß, daß alle vernünftigen und berechtigten Fragen, die sich der menschliche Geist
stellen konnte, mit den Mitteln der exakten Wissenschaft lösbar seien […].“ (Horkheimer HGS 1990, Bd. 10, S. 170)
1201
Horkheimer HGS 1987, Bd. 11, S. 275.
1202
Horkheimer HGS 1987, Bd. 11, S. 275.
1203
Vgl. Horkheimer HGS 1987, Bd. 11, S. 275.
1204
Vgl. Schmidt HGS 1987, Bd. 11, S. 412.
1205
Vgl.Schmidt HGS 1990, Bd. 10, S. 425.
327
findet und aufzeigt; die das historische Werden der scheinbar allem Vergänglichen entzogenen
Wesenheiten und Götterbilder enthüllt, aber die wirklichen Mächte ihres Vergehens an ihnen
selbst entdeckt“1206.
Horkheimers Zuspruch und Anschluss an Hegel ist vor allem durch die Abgrenzung zu der
„Gleichgültigkeit der positiven Wissenschaften gegenüber jedem ‚Sinn‘ des individuellen und
allgemeinen Lebens“, die Auflösung der Welt in „Tatsachen und mechanische Beziehungen
von Tatsachen“ durch den Positivismus und die „Alleinherrschaft dieser mechanischen Weltansicht“ gekennzeichnet.1207 Dialektik wird zunächst als eine Methode des Denkens begriffen,
welches die Tatsachen in Zusammenhang versteht, es sei ein Denken, in dem „soziale Verhältnisse plötzlich abstrakt-logische Exkurse erhellen und umgekehrt historische Situationen aus
rein begrifflichen Bewegungen verstanden werden“1208. Vor allem findet somit das spekulative
Moment der hegelschen Philosophie eine Würdigung.
In den akademischen Vorlesungen und Texten in der Zeit bis zum Direktorat in Frankfurt bleibt
eine genaue, d. h. positive Bestimmung des Begriffs des Materialismus und der Dialektik
aus.1209 Erst seit den Texten zu Beginn der 30er Jahre geht Horkheimer diesem Projekt nach.
Die philosophiehistorischen Studien Ende der 1920er Jahre sind dagegen kein akademistischer
Selbstzweck, sondern stehen in Zusammenhang mit der Ausbildung eines Selbstverständnisses
bzw. einer im Durchlauf der Geschichte sich entfaltenden Bestimmung des eigenen Standpunktes. Was sich in den Studien jedoch profiliert, ist ein durch Marx beeinflusster methodischer
Materialismus. Horkheimer schreibt im Vorwort der Vorlesung in die Geschichte der neueren
Philosophie:
„Nimmt man nämlich Geschichte im eigentlichen Sinn des Wortes als die Entwicklung oder
das Schicksal eines selbstständigen, nach eigenen Gesetzen sich bewegenden wirklichen Wesens, dann können wir zwar sagen, daß die Menschen neben vielen anderen auch philosophische
Vorstellungen und Theorien produziert haben, aber daß es nicht angeht, diesen Vorstellungen
und Theorien eine eigene und nach inneren Gesetzen sich vollziehende Geschichte zuzuschreiben. Idem die Menschen ihre Beziehungen, die wirklichen Verhältnisse, unter denen sie leben,
umgestalten, verändern sie auch ihre metaphysischen Vorstellungen, ihre religiösen und philo-
1206
Vgl. Horkheimer HGS 1990, Bd. 10, S. 165.
1207
Vgl. Horkheimer HGS 1987, Bd. 2, S. 155.
1208
Horkheimer HGS 1990, Bd. 10, S. 162.
1209
Hinsichtlich der Frühschriften, d. h. der Schriften der 20er Jahre, ist hier der Einschätzung Schmidts zuzustimmen:
„Horkheimers Frühwerk entzieht sich zusammenfassenden Thesen. Es ist wesentlich philosophisch, ohne als Philosophie
konzipiert zu sein. Hier tritt und kein bloßer Theoretiker entgegen, sondern ein lebendiger Mensch, der leidenschaftliche
bemüht, auszudrücken, was ihn in den Wirren der Zeit bewegt. Kritik am Bestehenden, utopische Sehnsucht über es hinaus
und Trauer, ja nihilistische Verzweiflung über den unerbitterlichen Weltlauf stehen unversöhnt nebeneinander.“ (Schmidt,
1986, S. 98)
328
sophischen Ideen. Der wirkliche Lebensprozeß der Menschenheit, also die Art, wie die Menschen ihr Leben gewinnen und erhalten, ebenso die Formen des Verkehrs, die durch die jeweilige Art dieses wirklichen Lebensprozesses unmittelbar bedingt sind, müssen wir als das Ursprüngliche, als die eigentliche Geschichte ansehen und keineswegs die Ideen, die sich die Menschen von diesem ihrem wirklichen Sein jeweils gemacht haben. Es ist auch ganz falsch zu
meinen, daß diese Ideen, abgelöst von der Geschichte der menschlichen Gesellschaft, notwendig einen inneren und durchgehenden Sinn haben müßten und daß man gar diesen Sinn „innerhalb der Philosophie“, das heißt ohne Kenntnis der wirklichen Geschichte zu explizieren vermöchte […].“1210
Die Geschichte der Philosophie hat, wie Horkheimer hier zum Ausdruck bringt, keine von den
Verhältnissen unabhängige Geschichte. Den Gedanken einer reinen Ideengeschichte lehnt
Horkheimer mit dem Argument ab, dass den Ideen selbst keine von der Genese der politischen
Ökonomie unabhängige Realität zukommt. Ex negativo ist damit auch gesagt, dass es keine von
der Geschichte des Denkens und der Ideen unabhängige, von den Umständen autarke empirische Sozialforschung geben kann. So bestimmt sich die Ideologieforschung immer zugleich als
Gedanke einer Sozialforschung und die Ideologiekritik als grundlegend für den Theorieentwurf
und die Forschungsausrichtung. Obwohl dem so ist, so ist für Horkheimer die politische Ökonomie das genetische Primat und Prinzip einer solchen Forschung.
Das oben von Horkheimer dargelegte Prinzip seiner materialistischen Philosophiegeschichtsschreibung ist als Ausdruck einer Skepsis gegenüber einer als von den gesellschaftlichen Verhältnissen abgelöst verstandenen Metaphysik und Theorie aufzufassen. Darin liegt zugleich die
These begründet, dass Wahrheit im idealistischen Sinne unabhängig von den gesellschaftlichen
Verhältnissen (zumindest sei dem Zusammenbruch der hegelschen Philosophie, die Horkheimer auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückführt)1211 heute undenkbar
sei.
Im oberen Zitat umschreibt Horkheimer die berühmte Grundüberzeugung des historischen Materialismus, wie sie etwa in der Kritik der Politischen Ökonomie von Marx postuliert wird:
„Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des
menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren
Gesamtheit Hegel, […], unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber
die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. […]
Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen
Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“1212
1210
Horkheimer HGS 1987, Bd. 9, S. 17.
1211
Vgl. Horkheimer HGS 1990, Bd. 10, S. 173.
1212
Marx 2001, S. 92–93.
329
Daher gilt, dass alle Ideen und Ideale, da sie mit dem materiellen Verkehr und der Produktion
verflochten sind, nur den „Schein der Selbstständigkeit“1213 haben und ausschließlich in Bezug
– wohlgemerkt nicht in einem reduktionistischen Sinne – zu der politischen Ökonomie zu analysieren sind.
„Eine Philosophie als ordentliche Wissenschaft über die höchsten Frage“1214 kann es für Horkheimer nicht geben. Damit ist gemeint, dass mit der Veränderung der politisch-ökonomischen
Landkarte eine Philosophie als Metaphysik nicht mehr denkbar ist. Obwohl Horkheimer sich
pessimistisch gegenüber der Möglichkeit einer Metaphysik nach dem Vorbild des hegelschen
Idealismus zeigt, so ist für ihn der mit der Aufklärung verbundene normative und politische
Anspruch der Philosophie nicht verloren. Nicht die institutionelle Existenz rechtfertigt den Wissenschaftsbetrieb, sondern der damit verbundene Nutzen für die gesellschaftlichen Umstände
bzw. das „Leben“1215. Deshalb, so resümiert Horkheimer im Vorwort zu seiner späteren Schrift
Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, muss das „Verständnis der geschichtsphilosophischen Problemlage in der Gegenwart bedeutungsvoll erscheinen“1216. Gleichzeitig weiß
Horkheimer um die damit verbundenen wissenschaftspragmatischen Probleme einer eingenommenen, gar ideologischen Interpretation als auch der daraus gerechtfertigten politischen Praxis:
„Freilich: die materialistische Theorie besitzt keinen logischen Beweisgrund für die Hingabe
des Lebens. Sie bläut den Heroismus weder mit der Bibel noch mit dem Rohrstock ein, an die
Stelle der Solidarität und der Erkenntnis von der Notwendigkeit der Revolution setzt sie keine
‚praktische Philosophie‘, keine Begründung des Opfers. Sie ist vielmehr befreit von Illusionen,
entschleiert die Realität und erklärt das Geschehen. Logische Beweisgründe für ‚höhere‘ Werte
hat sie nicht, aber ganz gewiß auch keine Gründe dagegen, daß unter Einsatz des Lebens mithilft, die ‚niederen‘ Werte, d .h. ein materiell erträgliches Dasein für alle zu verwirklichen.“
Man kann diese Zeilen als einen Kommentar zu dem spanischen Bürgerkrieg verstehen im
Sinne eines Appells zur nüchternen und sachlichen Betrachtung politischer Gemengelagen.
Horkheimer scheint mit Skepsis gegenüber einem Bruch mit diesen Prinzipen zu begegnen,
entgegen viele Intellektuelle, die in Spanien sich der Revolution mit „idealistischen Moralvorstellungen“ anschließen. Tatsächlich gab es in Kreisen des akademischen Bürgertums eine
Mode, – zumindest als Tourist und Abenteuerlustiger – an dem Spanischen Bürgerkrieg Anteil
1213
Vgl. Marx MEW 1969, Bd. 3, S. 26–27.
1214
Horkheimer HGS 1987, Bd. 9, S. 16.
1215
Zu Horkheimers Verhältnis zur Lebensphilosophie vgl. Henning (2005, S. 348, Fußnote 18).
1216
Horkheimer HGS 1987, Bd. 2, S 179.
330
zu nehmen. Gleichzeitig ist hier jedoch anzumerken, dass Horkheimer in der Zeit der Privatdozentur in Frankfurt (1926–1930) selbst von einer nüchternen und sachlichen Betrachtung der
Gesellschaft abweicht. Der bisher von dem akademischen Schrifttum getrennte Einfluss der
Philosophie Schopenhauers und Nietzsches, von denen sich Horkheimer in seiner Weltanschauung zutiefst beeinflusst zeigt, gewinnt an zunehmender Bedeutung. Es ist somit nicht nur die
kritisch-nüchterne Distanz, die Horkheimer zu einer Ablehnung des Dogmatismus und zu politischem Aktionismus bewegt, sondern zugleich der Einfluss einer pessimistischen Metaphysik, die das Projekt des Materialismus der kritischen Theorie – wenn auch nicht explizit – mitbestimmen wird. So legt Schmid-Noerrs Darstellung nahe, dass die Wandlung des Projektes
einer kritisch-materialistischen Theorie der Gesellschaft von einer „Anthropologie der Klassen“
in der Dämmerung bis hin zu einer „Geschichtsphilosophie des Zivilisationsverfalles“ in der
Dialektik der Aufklärung nicht bloß durch die Erfahrungswirklichkeit des Nationalsozialismus
geleitet wurde, sondern durch den Einfluss der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers.1217
So deutlich Horkheimer sich mit dem Projekt einer materialistischen Grundlegung der Philosophie als kritische Gesellschaftstheorie in Zusammenhang mit der Zusammenführung theoretischer und praktischer Vernunft einverstanden zeigt, so deutlich wird seine Ablehnung jeglichen
dogmatischen Marxismus, politischer Opferbereitschaft und so einem übereilten politischen
Aktionismus. Philosophie als Gesellschaftstheorie – so wird hier deutlich – habe immer eine
kritische Distanz zu wahren im Wissen um die Gefahr einer ideologischen Verstrickung und
Instrumentalisierung der Forschung. Horkheimer macht dieses in seiner Schrift Bemerkungen
über Wissenschaft und Krise von 1932 besonders deutlich. Dort heißt es:
„In keinem Fall haben gesellschaftliche Interessen über die Wahrheit zu entscheiden, sondern
es gelten Kriterien, die sich im Zusammenhang mit dem theoretischen Fortschritt entwickelt
haben. Zwar verändert sich Wissenschaft selbst im geschichtlichen Prozeß, aber niemals kann
der Hinweis derauf als Argument für die Anwendung anderer Wahrheitskriterien gelten als derjenigen, die dem Stand der Erkenntnis auf der erreichten Entwicklungsstufe angemessen sind.
Wenn auch die Wissenschaft in die geschichtliche Dynamik einbezogen ist, so darf sie doch
nicht des ihr eigentümlichen Charakters entkleidet und utilitaristische mißverstanden werden.“1218
Wahrscheinlich mit der Ernennung zum Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität
Frankfurt und bald darauf zum Direktor des Instituts für Sozialforschung wendet sich die bisherige Bestimmung des Materialismusprojektes ex negativo zu einer positiven Profilierung des
1217
Vgl. Schmid-Noerr 2006, S. 225.
1218
Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, 40 f.
331
Materialismus und auch die Bestimmung seiner Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse. Wie Henning schildert, ändert sich mit Horkheimer das Profil des Instituts grundlegend. So wird nicht mehr die Erforschung der jüngeren Vergangenheit aus marxistischer Perspektive als Ziel der gemeinschaftlichen, aber voneinander unabhängigen Untersuchungen weitergeführt, sondern die „Schaffung einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft durch interdisziplinäre Arbeit“ wird zur integrierenden Hauptaufgabe und Leitidee der Forschung im Institut
für Sozialforschung.1219 Horkheimer selbst spricht von einer „neuartigen und schwierigen und
bedeutsamen Aufgabe, einen großen empirischen Forschungsapparat in den Dienst sozialphilosophischer Probleme zu stellen“1220. Damit ist die Absicht einer Abkehr von der „Tradition
der historischen Schule der Nationalökonomie“ und den dadurch behandelten Themen verbunden. Horkheimer sieht nicht nur die Forschungsmethoden als veraltet an (wie die Charakterisierung „historisch“ kenntlich macht), sondern bemängelt das bisherige „Nebeneinander von
philosophischer Konstruktion und Empirie in der Gesellschaftslehre“1221.
Deutlich wird das Anliegen Horkheimers, eine allgemeine Theorie durch eine integrative Forschungsarbeit zu schaffen und diese vor allem an der Reflexion der geschichtlichen Positionen
der Sozialphilosophie auszurichten. Er verschweigt nicht, dass die Umsetzung dieses Projektes
mit einer „Diktatur der planvollen Arbeit“ verbunden ist. Das heißt, dass Horkheimer gewissermaßen das Institut auch zu einem Forschungsort seiner Themen prägend zu bestimmen versucht. In der programmatischen Rede anlässlich der Übernahme des Direktorats des Instituts
für Sozialforschung 1931 wird deutlich, wie und inwiefern die horkheimersche materialistische
Gesellschaftstheorie und kritische Vernunft bestimmt wird.
„Als ihr [gemeint ist die Sozialphilosophie, M. B.] letztes Ziel gilt danach die philosophische
Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die
nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden
können: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige
Kultur.“1222
Horkheimer eröffnet seine Rede über Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die
Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung mit dieser allgemeinen Definition der Aufgaben
und Themen der Sozialphilosophie. Schon der Begriff des Schicksals jedoch macht das zentrale
1219
Vgl. Henning 2005, S. 344.
1220
Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 30.
1221
Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 31.
1222
Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 20.
332
Thema des Instituts für Sozialforschung kenntlich. Max Weber bezeichnet den Kapitalismus
als die „schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“, darin folgt er der Diagnostik Marx
– auch wenn er sich methodisch von diesem grundlegend unterscheidet.1223 Die kulturelle Bedeutung des Kapitalismus als auch die Rationalisierung, wie sie von Weber vorbedacht ist, bleiben jedoch zeitlebens wichtige Leitthemen der Sozialforschung.
Erstaunlich ist, dass Horkheimer in der Antrittsrede in keiner Weise auf die Geschichte des
Instituts eingeht – weder in zustimmender noch in ablehnender Art. Man beachte hier, dass
Horkheimer in der Überschrift nur unbestimmt von „einem“ Institut für Sozialforschung
spricht. Ebenso verwundert es, dass er die Bestimmung der Aufgaben und Themen des Instituts
nicht in einem Rekurs auf bestimmte Forschungsprobleme der Zeit unternimmt. Horkheimer
spricht nur vage von einem „allgemeinen Interesse“ und „grundsätzlichen intellektuellen Bestrebungen der Gegenwart“1224. Deutlich wird so, dass ihm wenig an einer Anknüpfung und
Fortführung der Tradition des Instituts oder dem Anschluss an ein bestimmtes zeitgenössisches
Forschungsgebiet liegt. Durch die Nachordnung der Themen der Institutsgeschichte und der
aktuellen Forschungsprobleme für die Rolle der Bestimmung der Aufgaben des Instituts wird
der Eindruck des Neubeginns evoziert.
Wenn auch nicht explizit, so folgt und kommentiert Horkheimer in der Rede die von Weber
beschriebenen allgemeinen Voraussetzungen und Probleme der Sozialwissenschaften. Diese
bestimmt Weber in dem Geleitwort der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik durch die Entwicklung des Kapitalismus für die Kultur und zum anderen als Aufgabe
einer Erörterung dessen unter philosophischen Gesichtspunkten:
„Unsere Zeitschrift wird heute die historische und theoretische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung als dasjenige wissenschaftliche Problem ansehen müssen, in dessen Dienst sie steht. Und gerade weil sie selbst von einem durchaus spezifischen Gesichtspunkt ausgeht und ausgehen muss: dem der ökonomischen Bedingtheit der Kulturerscheinungen, kann sie nicht umhin, sich in engem Kontakt mit den Nachbardisziplinen der
allgemeinen Staatslehre, der Rechtsphilosophie, der Sozialethik, mit den sozial-psychologischen und den gewöhnlich unter dem Namen der Soziologie zusammengefaßten Untersuchungen zu halten.“1225
Weber macht in dem Zitat deutlich, dass der Kapitalismus mehr noch als eine Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung immer mehr zu einer Ordnung des Geistes und der Kultur zu verstehen
1223
Vgl. Weber, Max zitiert nach Müller 2007, S. 53.
1224
Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 20.
1225
Weber 2002, S. 74.
333
ist. Da die „Kulturbedeutung“ als umfassend anzusehen ist, so ist Weber davon überzeugt, dass
das Verhältnis von Kapitalismus und Kultur nur zureichend verstanden und erklärt werden kann
durch die Bemühungen eines interdisziplinären Arbeitens. Horkheimer folgt Weber in seiner
These. Auch die These, wonach „philosophische Gesichtspunkte“ als Ordnungsprinzip interdisziplinären Arbeitens verstanden werden sollten:
„Wir werden sowohl die Erörterung sozialer Probleme unter philosophischen Gesichtspunkten
im wesentlich verstärkten Maße zu berücksichtigen haben, wie die im engeren Sinne ‚Theorie‘
genannte Form der Forschung auf unserem Spezialgebiet: die Bildung klarer Begriffe.“1226
Es ist keine Eitelkeit, die Horkheimer dazu bewegt, wesentliche Anknüpfungspunkte seines
Vorhabens nicht explizit zu nennen – für den unterrichteten Hörer werden sie wohl kenntlich
genug gewesen sein. Vielmehr wird der Versuch darin kenntlich, die Sozialforschung aus dem
Begriff der Sozialphilosophie abzuleiten, um sie in anderer Weise als Weber zu akzentuieren.
Die Profilierung der Sozialforschung aus der Ableitung aus der Sozialphilosophie führt zu einer
zweifachen Bestimmung jener. Erstens wird am Begriff deutlich, dass Horkheimer mit der zukünftigen Forschung des Instituts nicht schon bestehende Forschungsmodelle der soziologischen, empirischen und positivistischen Einzelwissenschaften aufzunehmen plant. Der Begriff
der Sozialphilosophie impliziert jedoch, dass nur durch den Einbezug der Philosophie in soziologische Problemstellungen eine „Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht
bloß Individuen, sondern Glieder der Gemeinschaft sind“ geleistet werden kann. Darin liegt
eine Ablehnung des der fachwissenschaftlichen soziologischen, empirischen und positivistischen Forschung zugrunde liegenden Wahrheitsbegriffs. Jede historische Individuation kann
nicht für sich selbst, sondern muss im Verhältnis zum Ganzen betrachtet und verstanden werden.
Zweitens setzt Horkheimer mit dem Begriff der Sozialphilosophie die Aufgaben des Instituts
in eine philosophische Tradition, die sei dem 18. Jahrhundert ein Denken beinhaltet, welches
die Erkenntnisse des Wesens, der Struktur oder Funktion des Staats, des Rechts, der Wirtschaft,
etc. in eine Reflexion über alternative Staatsformen und Vorstellungsübungen alternativer Modelle des Politischen einbindet. Gestützt wird diese Interpretation in Hinblick auf den Sachverhalt, dass Horkheimers Materialismusprojekt immer an normative Ansprüche gebunden ist und
1226
Weber 2002, S. 76.
334
niemals sich als Selbstzweck erblickt. Deutlich wird das in Horkheimers evolvierter Profilierung der kritischen Theorie in seinem 1937 verfassten Aufsatz Traditionelle und Kritische Theorie:
„Die ökonomische Theorie der Gesellschaft und der Geschichte ist nicht aus rein theoretischen
Motiven, sondern aus dem Bedürfnis entstanden, die gegenwärtige Gesellschaft zu begreifen;
[…]. Im Zusammenhang damit bildet sich auch die Vorstellung einer besseren Wirklichkeit,
welche aus der heute herrschenden hervorgeht, und dieser Übergang wird zum Thema der gegenwärtigen Theorie und Praxis. An Idealen fehlt es dem Materialismus daher nicht. Sie bestimmen sich ausgehend von Bedürfnissen der Allgemeinheit und werden gemessen an dem,
was mit den vorhandenen menschlichen Kräften sichtbarer Zukunft möglich ist. Aber der Materialismus verzichtet darauf, diese Ideale der Geschichte, und damit der Gegenwart, als von
dem Menschen unabhängige Ideen zugrunde zu legen. Dieses Bestreben des Idealismus tut der
Geschichte mehr Ehre an als der Idee. Die Ideale können zu bewegenden Kräften werden, soweit nämlich die Menschen darangehen, sie aus bloßen, wenn auch begründeten Vorstellungen
zur Wirklichkeit zu machen.“1227
Ganz anders als Weber versteht Horkheimer die Untersuchung der „Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung“ daher nicht auf Grund ihrer Geschichte und ihrer Gegenwärtigkeit,
sondern mit der Intention einer anderen Zukünftigkeit. So sind es nicht rein deskriptive, sondern
auch normative Ziele, die die kritische Theorie von Anfang an verfolgt. Man beachte hier den
letzten Satz der Rede:
„Möge der leitende weltanschauliche Impuls in diesem Institut der unwandelbare Wille sein,
ohne jede Rücksicht der Wahrheit zu dienen!“
Offen spricht Horkheimer von einem „weltanschaulichen Impuls“ der die Forschung des Instituts führen soll,1228 zugleich jedoch auch von einer Verpflichtung gegenüber der Wahrheit. Unter „weltanschaulichem Impuls“ ist der Marxismus im universellen Sinne (die Philosophie
Nietzsches und Schopenhauers im speziellen Sinne als Leitmotive der Philosophie Horkheimers) zu verstehen, der gleichzeitig nicht als Dogma, sondern in Verpflichtung gegenüber der
Wahrheit gestellt wird. Anders als Weber, der jegliche weltanschauliche Dimension der For-
1227
Horkheimer 1995, S. 42.
1228
Vor allem meint Horkheimer damit die Diagnose der Gesellschaft, die in den 30er Jahren eine grundlegende Überzeugung
bildet und eine konstitutive Funktion der Forschungsausrichtung hat. Dies lautet:
„Für die Gesellschaft ist in der Gegenwart das Problem entscheidend, daß die Menschheit und ihre Kultur nicht unter einer
Diktatur von industriellen, militärischen und administrativen Bürokratien verkomme, sondern daß sie sich diejenigen gesellschaftlichen Formen schaffe, in denen sie wirklich frei und glücklich ihre Fähigkeit entfalten kann.“ (Horkheimer HGS
1985, Bd. 12, S. 142)
335
schung in seiner Rede Wissenschaft als Beruf verurteilt, vertritt Horkheimer in der Rede vielmehr die Ansicht, dass es nicht der weltanschauliche Impuls ist, der ein Verstehen der Tatsachen vereitelt. Das Problem der Weltanschauung und des Wertes sei vielmehr ein methodisches
Problem der Vermengung deskriptiver und normativer Forschung. Dieses beabsichtigt Horkheimer in der Struktur des Instituts anders zu lösen, um somit die Trennung von praktischer und
theoretischer Vernunft in differenzierter Weise aufzuheben.
Aus der Ableitung des Begriffs der Sozialforschung aus der Sozialphilosophie in der Antrittsrede folgen die Bestimmung zweier Dimensionen der Aufgabe und die Forschungsausrichtung
des Instituts. Erstens soll zum einen eine „chaotische Spezialisierung“ in den Wissenschaften
überwunden und „schlechte Synthesen spezialisierter Forschungsergebnisse“ vermieden werden.1229 Horkheimer zeigt sich überzeugt, dass die Wissenschaft ihre Krise überwindet und die
Forschung des Instituts nur dann eine gesellschaftliche Relevanz gewinnt, wenn sich die Mitglieder gewissermaßen „überdisziplinär“, d. h. ungebunden der Bestimmung durch Disziplin
und Spezialgebiete,
„in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen und das gemeinsam tun, was auf den anderen Gebieten im Laboratorium einer allein tun kann, was alle echten Forscher immer getan
haben: nämlich ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragestellungen an der Hand der
feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegenstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch das Allgemeine
nicht aus den Augen zu verlieren“1230.
Obwohl Horkheimer die Bedeutung der empirischen Forschung zum Verständnis der Wechselwirkung als auch des Zusammenhangs der politischen Ökonomie, der Psychogenese des Individuums und den Wandlungen der Kulturgehalte für grundlegend betrachtet, so wird deutlich,
dass diese niemals Selbstzweck sein dürfen. Sie müssen „dialektisch“ in die Konstruktion einer
allgemeinen Theorie der Gesellschaft miteinbezogen werden. Eine solche Theorie, wie Horkheimer damit impliziert, ist als eine Dynamik, nicht als System zu verstehen. Eine konstante
Anpassung der Fragestellungen und -muster, so den damit zusammenhängenden philosophischmetaphysischen Präsuppositionen erscheint so als Grundsatz der Forschung des Instituts. In
dem Vorwort der Zeitschrift für Sozialforschung, mit dem das Schicksal des Instituts für Sozialforschung in besonderer Weise verbunden ist, betont Horkheimer nochmals, dass die Theorie
der Gesellschaft „von der Unabschließbarkeit der Erkenntnis“1231 überzeugt ist.
1229
Vgl. Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 29.
1230
Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 30.
1231
Horkheimer 1932, S. I f.
336
Obwohl Horkheimer immer auch von einer Einbindung der Mitarbeiter spricht und einen kollektiven Geist des Instituts heraufbeschwört, so ist die Ableitung der Sozialforschung aus der
Sozialphilosophie und die damit zusammenhängende Ausrichtung der Einzeldisziplinen letztlich auch als eine Einbindung der Mitarbeiter und der im Institut versammelten Methodenvielfalt in Horkheimers bisherige Forschung und Probleme zu verstehen. In einer zweiten Dimension ist so die Ableitung des Begriffs der Sozialforschung aus dem Begriff der Sozialphilosophie als eine philosophische Bestimmung auszulegen. Dabei ist Horkheimers Rückführung der
Sozialforschung auf die Sozialphilosophie vom Wissen um den Verlust der kritischen Vernunft
motiviert, die aus der disziplinären Profilierung der Soziologie durch Quételets und Comtes
erfahren hat. (Schließlich sei daran erinnert, dass aus der mathematisch-statistischen Bestimmung der Soziografie eine Vulnerabilität der Soziografie für eine Instrumentalisierung und Einbindung in eine verwaltende Gouvernementalität hervorgegangen ist.)
Trotz der strukturell angelegten Dynamik der Forschung und der Hervorhebung der Notwendigkeit einer Vielfalt an Methoden im Institut, so darf man angesichts der Subordination nicht
missverstehen, dass einer Revision der philosophischen Grundsätze nur unter Einschränkung
Raum gelassen wird. Wie Gmünder darlegt, führen die Ergebnisse der Sozialforschung weder
zu einer grundsätzlichen Revision der Ausgangsproblematik noch zu der Prognose bzw. Diagnostik der marxschen Theorie.1232 Die ökonomische Interpretation der Kultur, die marxsche
Werttheorie bzw. Theorie des Mehrwerts, die Konzeption des Fetischcharakters der Ware, die
generelle Verdinglichung der Strukturen des Gemeinwesens bilden gewissermaßen den Grundsatz der kritischen Theorie. Vor allem sind diese Grundsätze eine Art normatives, ideologiekritisches Reservoir, aus dem heraus die kritische Theorie ihr kulturkritisches Potenzial entwickelt.
Vor dem Hintergrund des Werturteilsstreits1233 wird verständlich, dass Horkheimer in der Rede
durch die Konzeption des Instituts versucht, eine wissenschaftspragmatische Lösung anzubieten, als deren zentrales Kernstück der dialektische Materialismus zu betrachten sein wird. An
verschiedenen Stellen im Text wird deutlich, dass er weder die Position der sogenannten „Katherdersozialisten“, d. h. der wertenden Wissenschaft, noch der sogenannten „Wertfreien“ teilt.
1232
Vgl. Gmünder 1985, S. 19.
1233
Als inhaltlichen Kern des Werturteilsstreits formuliert Albert folgenden Fragenkomplex:
„Ist der Ökonom – so der Soziologe – wissenschaftlich berechtigt, aufgrund seiner Forschung wertende Stellungnahmen
zu praktischen Fragen, insbesondere aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, abzugeben? Tragen solche Werturteile ebenso objektiven Charakter wie die wissenschaftlichen Sätze der empirischen und theoretischen Forschung? Und
darf der Gelehrte daher in der Forschung und Lehre Werturteile beispielsweise in Form wirtschaftspolitischer Forderungen
abgeben und hinsichtlich ihrer Geltung auf deren wissenschaftliche Objektivität pochen?“ (Albert 2010, S. 14–45; hier S.
15.)
337
Die Ablehnung einer wertenden Sozialforschung, Kultur- oder Geisteswissenschaft wird sowohl deutlich durch die Abkehr von der „Tradition der historischen Schule der Nationalökonomie“,1234 wodurch er über die Abkehr von der Institutstradition eine Ablehnung gegenüber dem
Programm des „Katherdersozialismus“ einer „historisch-ethischen Nationalökonomie“1235 betont, als auch durch die Kritik der Hegel- und Marx-Orthodoxie1236. Wenn Horkheimer auch
eine Vermischung von Tatsachen und Werturteilen abzulehnen scheint, so bezieht er in der
Rede – wie wir oben dargelegt haben – auch Position gegen eine strikte Ausgrenzung der normativen Dimension der Forschung im Sinne einer rein empirischen oder positivistischen Soziologie. Die wissenschaftstheoretischen Punkte der Rede, so die Ablehnung der Spezialisierung
der Disziplinen, Einschränkung der Methodenvielfalt und der Professionalisierung der Sozialforschung richten sich gegen Max Webers Position einer werturteilsfreien und spezialisierten
Forschung, wie sie in seinem berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf in Aussicht gestellt
wird.1237 Deutlich wird diese Ablehnung in Horkheimers späterem Aufsatz Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie von 1934 explizit. Dort schreibt er, dass „Max Webers
radikale Trennung von Zielsetzung und Wissenschaft“1238 nicht zu halten ist. Zu halten wäre
diese „radikale Trennung“ daher nicht, da sie Ausdruck eines Unvermögens ist, sich „über die
Verflechtung des Denkens mit den realen Bedürfnissen und mit den wirklichen Kämpfen der
Menschen“ bewusst zu werden.1239
Die Notwendigkeit einer Relativierung – nicht Zusammenführung – von Wissenschaft und Zielsetzung, d. h. Besinnung auf das Geschick einer spekulativen Vernunft, begründet Horkheimer
in dem Aufsatz in einem Rekurs auf den Rationalismusstreit. Horkheimer stellt einen Antagonismus zwischen Rationalismus und Irrationalismus in der gegenwärtigen Philosophie fest,
welchen er als Ausdruck einer Veränderung der politischen Ökonomie auslegt. Im Exil verfasst,
ist der Aufsatz in erster Linie Ausdruck der Sorge: eine Elegie des sich im Nationalsozialismus
manifestierenden Verlustes der Werte und politischen Leitgedanken der Aufklärung. Sozialwissenschaft, die sich nicht als geschichtliche Funktion und Bedeutung in einem „Kampf um
1234
Vgl. Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 30.
1235
Vgl. Albert 2010, S. 14.
1236
Vgl. Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 32.
1237
Vgl. Max 2002, S. 474–511.
1238
Horkheimer 1934, S. 40.
1239
Vgl. Horkheimer 1934, S. 40.
338
eine bessere Ordnung“ wahrnehme, gerate „leicht in eine Abhängigkeit von den jeweils herrschenden Mächten“1240 und trage nur zu einem „Versagen des Rationalismus“ in der „gegenwärtigen Untergangsperiode einer Gesellschaft von selbstbewussten einzelnen“1241 bei. Jede
Sozialwissenschaft, die den überzeitlichen Wert und die Funktion der Wissenschaft voraussetzt
und ihre Begriffe und Kategorien zur Beschreibung der Wirklichkeit nicht verändert, akzeptiert
auf Grund ihrer falschen Voraussetzungen in passiver, unkritischer Weise die Zielsetzungen
der politischen Ökonomie.
„Der Konformismus des Denkens, das Beharren darauf, es sein ein fester Beruf, ein in sich
abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des
Denkens preis.“1242
Obwohl Horkheimer Webers Diagnose der Tendenz der „intellektualistischen Rationalisierung
durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik“, der universellen Überzeugung“,
durch Berechnen beherrschen“ zu können, und der damit verbundenen „Entzauberung der
Welt“ folgt,1243 so scheint ihm der Gedanken der Möglichkeit einer wertfreien und objektiven
Wissenschaft in Hinblick auf den Forscher selbst als Täuschung und Ideologie. „Niemand“, so
schreibt Horkheimer 1937, „kann sich zu einem anderen Subjekt machen als zu dem des geschichtlichen Augenblicks.“1244 Die Möglichkeit einer Unabhängigkeit der Methodologie und
Wissenschaft vom „gesellschaftlichen Ganzen“, so eines „menschliches Verhalten [!] Gesellschaft selbst zu seinen Gegenstand hat“1245 scheint undenkbar.
„Der Gelehrte und seine Wissenschaft sind in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt, ihre
Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden
[…].“1246
Der Sozialforscher muss davon ausgehen, dass er selbst Teil dessen ist, was er untersucht. Das
heißt zum einen, dass seine Arbeit Teil der allgemeinen politischen Ökonomie ist und als solche
verstanden werden muss. Zum anderen ist damit gesagt, dass die Welt nicht nur etwas „an sich
1240
Horkheimer 1934, S. 40 f.
1241
Horkheimer 1934, S. 50.
1242
Horkheimer 1995, S. 259.
1243
Vgl. Max 2002, S. 488.
1244
Horkheimer 1995, S. 256.
1245
Vgl. Horkheimer 1995, S. 223.
1246
Horkheimer 1995, S. 213.
339
Vorhandenes“ bzw. „bloße Tatsache“ sei und die Begriffe und Kategorien, mit denen er die
Wirklichkeit beschreibt, statisch und unveränderlich sind. Spätestens durch die Lektüre von
Heideggers Sein und Zeit – den Horkheimer in der Antrittsrede nennt1247 – wird deutlich, dass
in der menschlichen Praxis immer schon ein geschichtliches Wissen unthematisch vollzogen
ist und Wissenschaft die Frage zu klären hat, wie ein thematisches Wissen um die geschichtliche Verwobenheit der Praxis und des Bewusstseins des Einzelnen möglich sei.
„Was wir in der Umgebung wahrnehmen, die Städte, Dörfer, Felder und Wälder tragen den
Stempel der Bearbeitung an sich. Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie
sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, wie er in den Jahrtausenden
sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in
doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.“1248
Horkheimer rezitiert hier den marxschen Satz, wonach es die Tradition „aller toten Geschlechter“ ist, die wie ein „Alp auf dem Gehirne der Lebenden lastet“ und „Namen, Schlachtparolen,
Kostüme“ gibt, in denen sich der historische Mensch konstituiert und agiert.1249 Das heißt, dass
sowohl Objekt als auch Subjekt der (Sozial-)Forschung geschichtlich präformiert sind, weshalb
Sozialforschung als reine Tatsachenwissenschaft nicht denkbar ist. Die Sozialforschung ist nur
dann eine kritische Theorie, wenn sie ihre Methodologie im Wissen um diese „doppelte Präformation“ entwirft. Wissenschaftliches Verhalten, das nicht im Bewusstsein um die geschichtlich-materialistische Bedingtheit forscht, sich als „abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen“ versteht, gibt das „Wesen des Denkens preis“, da es sich unkritisch zur
„fortwährenden Reproduktion des Bestehenden“ funktionalisiert.
Wissenschaft ist für Horkheimer kein „abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen
Ganzen“ und muss sich in seiner politisch-ökonomischen Dimension bewusst werden. Darin
liegt der Leitgedanke der (frühen) kritischen Theorie Horkheimers, der Theorie als „Faktor zu
einer Verbesserung der Wirklichkeit“1250 verstanden wissen will. Wissenschaft als Zweck zur
1247
Vgl. Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 26.
1248
Horkheimer 1995, S. 217.
1249
Marx MEW 1972, Bd. 8, S. 115.
1250
Vgl. Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 48.
340
„Ausbreitung der Vernunft“ und ihre „Anwendung auf die gesamten Verhältnisse“1251 im Wissen um die „unüberbrückbare Kluft zwischen Wirklichkeit und Vernunft“1252 steht der weberschen Idee einer Wissenschaft als wertfreier „Selbstzweck“ diametral entgegen.1253 Horkheimer
sieht diese vor allem in der Tradition des „bürgerlichen Denkens“, daher ist es als ideologisch
zu verstehen, was den Vorwurf des „Konformismus“ impliziert.
„Das bürgerliche Denken ist so beschaffen, daß es in der Reflexion, auf sein eigenes Subjekt
mit logischer Notwendigkeit das Ego erkennt, das sich autonom dünkt. Es ist in seinem Wesen
nach abstrakt, und die als Urgrund der Welt oder gar als Welt überhaupt sich aufblähende, vom
Geschehen abgeschlossene Individualität ist sein Prinzip.“1254
Der „Konformismus“, den Horkheimer bei Weber als Vertreter der „traditionellen Theorie“ und
des „bürgerlichen Denkens“ kritisiert, liegt nicht in einer Kritik der Konformität des Urteils mit
geläufigen Meinungen, sondern in einer Kritik der in der Urteilsbildung unthematisch vollzogenen Methode und den damit zusammenhängenden Präsuppositionen einer rationalistischen
Metaphysik. Rationalismus versteht Horkheimer als „Ausdruck der Haltung aufgeklärter bürgerlicher Schichten […], welche alle Lebensfragen ihrer eigenen Kontrolle unterstellen wollten“1255. So besteht hier der Vorwurf, dass eine wertfreie, objektive Wissenschaft es gerade
nicht schafft, die Voraussetzung der Kritik, nämlich der Loslösung der Theorie von den Ansprüchen der gesellschaftlichen Tätigkeitsgebiete und so der politischen Ökonomie, zu leisten.
Vielmehr vollziehe es in der Objektivierung die allgemeine Tendenz der „Verfachlichung der
Wissenschaft von der Gesellschaft“1256, d. h. den Verlust des gesellschaftlichen Nutzens der
Wissenschaft.
Das Eigentümliche der Philosophiehistoriographie Horkheimers in dem Aufsatz ist die Rückführung grundlegender philosophischer Positionen auf den Rationalismus Descartes. Diese Interpretation scheint daher möglich, da er die Entwicklung des Rationalismus mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Verbindung bringt und Ersteren als „Ausdruck“ Letzterer
versteht. Wesentliches Charakteristikum dieses bürgerlichen, rationalistischen und aufgeklärten Denkens ist dem Materialismus entgegengesetzt, denn:
1251
Vgl. Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 129.
1252
Vgl. Horkheimer 1995, S. 9.
1253
Geyer bemerkt hierzu, dass Horkheimers Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie stilistisch als „Feuerwerk von
Wertbegriffen aus der Hoch-Zeit des bürgerlichen Idealismus“ zu charakterisieren ist, wodurch die Intention der Anknüpfung an das Erbe der Aufklärung nur unterstrichen wird (vgl. Geyer 1997, S. 74).
1254
Horkheimer 1995, S. 227.
1255
Horkheimer 1934, Heft I, S. 4.
1256
Horkheimer HGS 1985, Bd. 12, S. 136.
341
„sowohl die Bewusstseinsphilosophie, der cartesianische Rationalismus und der englische Empirismus als auch die moderne irrationalistische Weltanschauung tragen idealistischen Charakter“1257.
Interessant ist hier nicht nur, dass Horkheimer die widerstreitenden Positionen des Rationalismus als auch des Irrationalismus im Begriff des Idealismus miteinander identifiziert, sondern
dass Horkheimer zugleich durch diese Identifikation versucht zu vermeiden, den Materialismus
als Irrationalismus in Verdacht zu bringen. (Es ist nicht ganz ungerecht, wenn man hier eine
starke polemische Tendenz wahrnimmt, die vom Willen angetrieben wird, die Sozialforschung
als interdisziplinären Materialismus in Zusammenhang mit zeitgenössischen Positionen zu profilieren – man bedenke hier, dass Horkheimer dieses in der Antrittsrede versäumt hatte.)
Die Bündelung der Bewusstseinsphilosophie, des Empirismus, des Positivismus, des Rationalismus und des Irrationalismus verrät, dass Horkheimer einen sehr weiten, unkonkreten Begriff
des Idealismus hat, welcher nicht mit der Philosophie des transzendentalen Idealismus oder mit
Positionen des deutschen Idealismus gleichzusetzen ist. Wäre der Aufsatz als Beitrag zur Philosophiehistoriographie verfasst, so wäre der stark vereinfachende und polemische Charakter
als höchst problematisch anzusehen. Obwohl dem Aufsatz eine Polemik vorzuwerfen ist, so ist
er jedoch in keiner Weise als Beitrag zum Verständnis der Geschichte der Philosophie zu lesen.
Vielmehr versucht er die gesellschaftliche Funktion der bisherigen rationalistischen Metaphysik als Idealismus kritisch darzustellen vor dem Hintergrund des Verständnisses, dass darin
sozialpolitische Tendenzen und Entwicklungen einen Ausdruck und einen Begriff finden.
Horkheimers Kritik des Begriffsrealismus als auch des Relativismus in dem Aufsatz 1258 muss
daher auch methodisch ausgelegt werden und ist in Bezug auf das Dargelegte zu verstehen. Es
wird so der methodische Versuch unverkennbar, Begriffe im Allgemeinen im Verhältnis zur
geschichtlichen, ökonomischen Wirklichkeit zu denken und so ihre komplexe Funktion zu begreifen. Rationalistische Metaphysik, sofern sie als Position verstanden wird, die von der Existenz einer vernünftigen Ordnung sowohl der Dinge als auch des Denkens ausgeht, wird von
Horkheimer gewissermaßen als Wille und Rechtsgrund einer sich entwickelnden bürgerlichliberalen politischen Ordnung thematisiert. Rationalistische Metaphysik und Bürgertum erfahren nach diesem philosophiehistoriographischen Prinzip eine wechselseitige Bestimmung, mit
dem Resultat, dass das bürgerliche Denken als Idealismus zu verstehen ist, insofern seine historische Entfaltung rationalistisch ist. Spricht Horkheimer hier vom Idealismus, so meint er
1257
Horkheimer 1934, S. 7.
1258
Vgl. Horkheimer 1934, S. 20 f.
342
damit nicht einen bestimmten Sinn von Idealismus etc., sondern bezeichnet seine sozioökonomische Funktion.
Deutlich lässt sich darin erkennen, dass Horkheimer hier versucht, nicht nur dem Prinzip eines
historischen Materialismus zu folgen, sondern dass er einen dialektischen Materialismus verfolgt. Das heißt, dass Horkheimer hier auch methodisch dem „Rationalismus“, sofern er „notwendig ein konstantes und von menschlicher Praxis unabhängiges Verhältnis zwischen Begriff
und Wirklichkeit“1259 voraussetzt, widerspricht. Explizit wird dies in der These, dass Theorie
„nur“ ein Element im geschichtlichen Prozess ist und „sich jeweils nur im Zusammenhang mit
einer umschriebenen geschichtlichen Situation“ bestimmen lässt.1260 Dabei muss man hier bedenken, dass die Kenntnis der historischen Zusammenhänge hier von Horkheimer vorausgesetzt wird.
In Rückgriff auf Nietzsche könnte man formulieren, dass Horkheimer mit Idealismus den geschichtlichen Willen einer aus „ihrer mittelalterlichen Bevormundung befreiten Vernunft“1261
zur Autonomie und autonomen Normgebung verstehen will, welcher in der methodischen „Zerteilung der Welt“, dem Leitgedanken einer „geistigen Substanz als völlig unabhängig von der
körperlichen Wirklichkeit“ und der Trennung von „Begriff und Wirklichkeit“, „Norm und Praxis“ seinen Ausgang nimmt.1262 So identifiziert Horkheimer im Kern des Idealismus die Absicht, „dass der Mensch sich durch innere Qualitäten Zugang zum ursprünglichen Sein der Welt
verschaffen und daraus Norm seines Handelns gewinnen könne“1263. Das daher verstandene
„bürgerliche Denken“ birgt in sich zwei Dimensionen. Erstens bedarf es, um seine Ziele zu
verwirklichen, der durch die Selbstaufklärung verstandenen „ursprünglichen Normen des Handelns“. Zweitens ist dieses Denken insofern wesentlich mit der Frage der rationalen Organisation, der Verwirklichung des Logos in der gegenständlichen Außenwelt und so der Beherrschbarkeit der ausgedehnten Welt okkupiert. Es ist ein ihm wesentlicher Aspekt, das Handeln nur
danach zu bemessen, inwiefern es der in der Selbstaufklärung freigelegten Wahrheit entspricht.1264 So schreibt Horkheimer über die Funktion der rationalistischen Metaphysik in Zusammenhang mit der Entfaltung der liberal-bürgerlichen Gesellschaftsordnung Folgendes:
1259
Horkheimer 1934, S. 1.
1260
Vgl. Horkheimer 1934, S. 17.
1261
Vgl. Horkheimer 1934, S. 9.
1262
Vgl. Horkheimer 1934, S. 1.
1263
Horkheimer 1934, S. 7.
1264
Vgl. Horkheimer 1934, S. 3.
343
„[…] der Rationalismus gab der liberalistischen Periode die Überzeugung, dass die Zukunft in
der Vernunft des einzelnen vorweggenommen sei. Die Weltgeschichte war gleichsam die Entfaltung des vernünftigen Wesens, das jeder als seinen Kern im Innern trug; es konnte der einzelne sich der Substanz nach unvergänglich fühlen. Der rationalistische Fortschrittsglaube
drückt nicht bloss die Achtung vor den unbegrenzten Möglichkeiten der menschlichen Machtentfaltung und den moralischen Wunsch auf eine bessere Zukunft der Menschheit aus, sondern
ist zugleich auch die narzistische Projektion des eigenen zeitbedingten Ichs in alle Ewigkeit.“1265
Es ist nicht abzusprechen, dass Horkheimer hier Dimensionen der Entwicklung „bürgerlicher
Vernunft“ treffend erkennt und herausarbeitet. Tatsächlich ist – wie wir oben gesehen haben –
ein wesentlicher Zug der spekulativen Anthropologie, die Normgestaltung aus der Selbstaufklärung zu leisten unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Ebenso kann die Beherrschung als Verwirklichung einer Ordnung sowohl als Element der Gouvernementalität als
auch des Perfectio-Denkens verstanden werden.1266 Allerdings – und hier liegt der problematische Aspekt – beruht Horkheimers Darstellung auf dem Gedanken einer kohärenten Logik der
Entwicklungsgeschichte. Darin wird der Gedanke einer „philosophischen Geschichtsschreibung“ im Sinne Hegels aufgenommen. Entscheidend ist in erster Linie jedoch, Horkheimers in
der historischen Reflexion begründete zentrale These, dass die idealistische Philosophie von
einem „dogmatischen Begriff der Totalität“ 1267 ausgeht und dass sich durch diesen als Prinzip
der Bildungspolitik das moderne Wesen der Gesellschaft bestimmt. Gerade auch deshalb erkennt Horkheimer eine dogmatische Verklärung der idealistischen Philosophie im aufgeklärten
Bürgertum, in dem sie an die Stelle der „Offenbarung“ getreten ist.1268 Wenn er so auch philosophiehistoriographisch an Hegel anknüpft, so zeigt sich dennoch eine deutliche Kritik der hegelschen Philosophie als bürgerliches Denken und des ihm zugrunde liegenden dogmatischen
Begriffs der Totalität.
Auch den Irrationalismus betrachtet Horkheimer als „Zweig“ der idealistischen Philosophie –
auch er beruht demnach auf der Grundannahme eines dogmatischen Begriffs der Totalität.
Demnach wäre der Irrationalismus, auf den er sich bezieht, als metaphysischer Irrationalismus
zu verstehen, der geschichtliche, physische bzw. materielle bzw. vitale Prozesse als Totalität
setzt, aus dem das Schicksal des Menschen zu verstehen und zu bestimmen ist.
1265
Horkheimer 1934, S. 47.
1266
Horkheimer kritisiert den metaphysischen Optimismus im Aufsatz explizit (vgl. Horkheimer 1934, S. 47).
1267
Vgl. Horkheimer 1934, S. 8.
1268
Vgl. Horkheimer 1934, S. 29.
344
„Im Monopolkapitalismus, der die meisten Individuen als blosse Massenelemente erfasst, liefert dann der Irrationalismus die Theorie, das Wesen dieser Individuen existiere in der übergreifenden geschichtlichen Einheit, der sie jeweils angehören, weiter, und – falls sie bloss gehorsam wären – hätten sie sich nicht zu sorgen: ihr besseres Selbst sei nach dem Tode in der
Gemeinschaft aufgehoben.“1269
Neben der Lebensphilosophie Nietzsches und Bergsons wendet sich Horkheimer vor allem gegen den in der irrationalen Metaphysik, dem irrationalen Idealismus gegründeten politischen
Kollektivismus, wie er im Kommunismus und Nationalsozialismus zur Zeit der Verfassung des
Aufsatzes von Horkheimer aus dem amerikanischen Exil mit zunehmender Sorge beobachtet
wird. Explizit warnt Horkheimer vor dem politischen Kollektivismus als Form des metaphysischen Irrationalismus, da er zur Verherrlichung der Triebverdrängung, so der Aufhebung der
individuellen, geschichtlich-materiellen Interessen und zur Verherrlichung der Opferbereitschaft, so der Aufhebung des individuellen Lebens im Kollektiv, führt.1270
„Das individualistische Denken ist dabei in Wahrheit gar nicht überwunden, sondern übertragen
worden. Entsprechend gelten auch rationalistische Erwägungen, die beim einzelnen ausgeschaltet werden sollen in der grossen Politik als höchst legitim. In Bezug auf den Staat kann das
Denken gar nicht egoistisch genug sein.“
In Hinblick auf die Bildungspolitik, den Staat, grenzt sich Horkheimer so in zweifacher Weise
von Metaphysik und Positivismus ab. Obwohl Horkheimer die empirischen Methoden der Forschung in Zusammenhang mit der „Rekonstruktion von Tendenzen der Gesamtgesellschaft“,
so der Begriffsbildung in Zusammenhang mit der kritischen Reflexion, für notwendig erachtet,
so lehnt er die durch den Positivismus vorangetriebene Verdinglichung ab. Auch die Metaphysik erachtet Horkheimer, trotz anfänglicher Sympathien bezüglich einer „positiven Metaphysik“, als unzeitgemäß, da ihr ein dogmatischer Begriff der Totalität zugrunde liegt und sie zudem sowohl normative und deskriptive Dimensionen der Erkenntnis ohne den Bezug zur geschichtlich-materiellen Bedingtheit reflektiert. Trotz des kritischen Verhältnisses zur Metaphysik, sofern sie als „bürgerliches Denken“ zu verstehen ist, so sieht er weder die Optionen des
Umschlags in einen Irrationalismus noch den Wegfall der durch die Metaphysik vom Staat unabhängigen Ziele und Wertereflexionen in Zusammenhang mit der Bildungspolitik. Da die Aufgaben des Instituts für Sozialforschung eben auch als Aufgabe der kritischen Reflexion der
1269
Horkheimer 1934, S. 48.
1270
Vgl. Horkheimer 1934, S. 43 ff.
345
Bildungspolitik zu verstehen sind, so ist dieses wichtig für die Bestimmung der Sozialforschung. Gerade auch deshalb verteidigt Horkheimer vehement den Vernunftanspruch und den
(kritischen) Wahrheitsanspruch des Denkens gegen den Irrationalismus: dies auch, obwohl er
die Omnipotenz des Denkens gerade auch in Hinblick auf die Geschichte und die politische
Ökonomie als bestimmenden Faktor der Umstände einschränkt.1271
Aus der kritischen Ablehnung des Positivismus und des Idealismus als Leitfaden des bürgerlichen Denkens bestimmen sich zugleich die Anforderungen an den Materialismus. Trotz aller
Schwierigkeiten eines angemessenen Nachvollzuges der konstellationalen Komplexität, in der
sich Horkheimers Denken entfaltet, so sollte deutlich geworden sein, dass Horkheimer durch
die Grundlegung der kritischen Theorie in der Dialektik glaubt, eine Antwort auf das dreifältige
Problem der Klärung des Verhältnisses von Denken und Zeit, der Rationalitätsproblematik als
auch der Wertproblematik anbieten zu können. Denn allein die Dialektik ließe das Verhältnis
von Begriff und Wirklichkeit, von Denken und Zeit als auch von Sachverhalt und Norm in
richtiger Weise begreifen und bestimmen.
Deutlicher noch als in der Antrittsrede zeigt sich in den in der Zeitschrift für Sozialforschung
publizierten Texten die Kritik, dass die gegenwärtigen Ansätze der Sozial- und Geisteswissenschaften die dreifache Problematik nicht lösen können, da sie nicht dialektisch konzipiert sind
– nicht dialektisch denken. In Zusammenhang mit der Rolle der Wissenschaften im sozialpolitischen Bildungsprozess ist besonders die Voraussetzung eines „dogmatischen Begriffs der Totalität“, die „undialektische Verwendung der Begriffe Ganzes und Teil“1272 als auch die methodische, undialektische Abstraktion und Reduktion problematisch, da sie weder eine Selbstbesinnung der Verhältnisse noch der Werte und Ziele zu leisten vermag.
„Das Medium der Philosophie ist noch immer die Selbstbesinnung. Aber Hegel hat diese Selbstbesinnung von der Fessel der Introspektion befreit und die Frage nach unserem eigenen Wesen,
die Frage nach dem autonomen kulturschaffenden Subjekt an die Arbeit der Geschichte verwiesen, in der es sich objektive Gestalt gibt.
Für Hegel ergibt sich die Struktur des objektiven Geistes, der die Kulturgehalte des absoluten
Geistes, d. h. Kunst, Religion, Philosophie in der Geschichte verwirklicht, nicht mehr aus der
kritischen Analyse der Persönlichkeit, sondern aus der universalen dialektischen Logik;
[…].“1273
1271
Vgl. Horkheimer 1934, S. 16 ff.
1272
Horkheimer 1934, S. 37.
1273
Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S. 21.
346
Es ist nun deutlich, dass Horkheimer die Ableitung der Sozialforschung aus der Sozialphilosophie daher vornimmt, da er den interdisziplinären Materialismus des Instituts als dialektischen
Materialismus in Hinblick auf die dreifache Problemlage der gegenwärtigen Sozialphilosophie
vornimmt. Obwohl in der Antrittsrede, wie im Zitat deutlich wird, Hegel als Patron jener dialektischen Sozialforschung inszeniert wird,1274 so betont Horkheimer in dem Aufsatz über das
Rationalismusproblem die Differenzen zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik:
„Die materialistische Dialektik ist auch von der Hegelschen grundsätzlich geschieden. Hegel
hat durch die Entwicklung der dialektischen Grundsätze und mehr noch durch Ausführung dialektischer Darstellungen im einzelenen gezeigt, wie analytsich gewonnene Begriffe für die
gedankliche Rekonstrution lebendiger Prozesse fruchtbar zu machen sind. Aber bei ihm gibt es
in Wahrheit nur einen einzigen grossen Prozess, der alle Begriffe als seine Momente in sich
enthält, und dieser Prozess, dieses ‚Konkrete, Eine‘ kann der Philosoph ein für allemal erfassen
und darstellen. Deshalb gelten bei Hegel die einzelnen Stufen dieser Darstellung nicht bloss in
der Logik, sondern auch in der Philosophie der Natur und des Geistes als ewige Verhältnisse.
Alle Beziehungen im fertigen System werden als unverändelich gedacht. So erscheint die Moralität, die durch das Gute und das Gewissen bei Hegel in einem besonderen Sinn bestimmt
wird, zusammen mit dem abstrakten bürgerlichen Recht als ein ewiges Moment der Sittlichkeit;
in dieser hat ebenso der Staat eine feste, Familie und Gesellschaft in besonderer Weise umgreifende und überhöhende Bedeutung. Die abstrakten Systemteile, sowohl die der reinen Logik (z.
B. Quantität und Qualität) als auch einzelner Kulturgebiete (z. B. Kunst und Religion) sollen
sich zum dauernden Bild des konkreten Seins zusammenfügen lassen. […]
Die Logik enthält in nuce das ganze System. Die fertige Theorie selbst ist bei Hegel nicht mehr
in die Geschichte einbezogen, es gibt ein umgreifendes Denken, dessen Produkt nicht mehr
abstrakt und veränderlich ist: die Dialektik ist abgeschlossen.“1275
Hegels Dialektik zeichne sich durch die Annahme einer endgültigen und positiven Verhältnisbestimmung von Begriff und Wirklichkeit, Denken und Zeit, so auch Wert/Recht und Gesellschaft aus. Doch sei dieser Abschließbarkeit der Dialektik, wie Horkheimer dies formuliert,
grundsätzlich zu widersprechen. Vielmehr wäre es ein „Irrwahn“ anzunehmen, dass ein „abschliessendes Bild der Realität weder dem Wesen noch der Erscheinung nach“ möglich
wäre.1276 Die Kunst bzw. die Methode der dialektischen Konstruktion sei nicht als eine Überwindung zur absoluten Wahrheit zu verstehen,1277 sondern als ein „Produkt, welches die Men-
1274
Vgl. Horkheimer HGS 1988, Bd. 3, S.22 ff.
1275
Horkheimer 1934, S. 25 f.
1276
Vgl. Horkheimer 1934, S. 25.
1277
Vgl. Horkheimer 1934, S. 25.
347
schen in der Auseinandersetzung mit ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt entwerfen“1278. Nur auf Grundlage eines „dogmatischen Begriffs der Totalität“, d. h. unter der Annahme, dass die Dialektik nicht nur die Logik des Denkens, sondern auch die Logik der Wirklichkeit bestimme, sei eine positive Verhältnissetzung von Begriff und Wirklichkeit, eine Aufhebung der Differenz im Denken möglich. Weder der dogmatische Totalitätsbegriff noch die
Annahme eines denkenden Ich, einer von der Geschichte losgelösten Vernunft sei zu akzeptieren. So schreibt Horkheimer in seinem Aufsatz Zum Problem der Wahrheit von 1935:
„Im Materialismus gilt die Dialektik nicht als abgeschlossen. […] Der Materialismus behauptet
dagegen, dass die objektive Realität nicht mit dem Denken der Menschen identisch ist und niemals in ihm aufgehen kann. So sehr das Denken in seinem eigenen Element das Leben des
Gegenstandes nachzubilden und insofern sich ihm anzuschmieden sucht, so wenig ist doch der
Gedanke zugleich der gedachte Gegenstand, es sei denn in der Selbstbeobachtung und Reflexion – und nicht einmal da. Der Begriff eines Mangels ist daher nicht auch schon die Überwindung; Begriffe und Theorien bilden ein Moment seiner Beseitigung, eine Voraussetzung des
richtigen Handelns, die in seinem Verlauf fortwährend neu bestimmt und angepasst und verbessert wird.“1279
Offenkundig knüpft Horkheimer an das dialektische Denken Hegels an, jedoch beabsichtigt er,
durch die wechselseitige Bestimmung von Dialektik und Materialismus das dialektische Denken aus der Tradition des bürgerlichen Denkens und des Idealismus zu lösen. Der Materialismus besagt hierbei, dass die Relation von Denken und Zeit, Begriff und Wirklichkeit und
Wert/Recht und Gesellschaft sich in Zusammenhang mit den Aufgaben und der gesellschaftlichen Produktion konstituiert. Sowohl Begriff, Urteil und Theorie als auch der Wert einer Theorie seien demnach kein Selbstzweck und haben keinen Selbstwert, sondern bestimmen sich in
Zusammenhang mit der „Auseinandersetzung der Menschen untereinander und mit der Natur“1280. Das heißt, dass Wahrheit nicht allein an analytisch-formallogischen Kriterien zu bemessen sei, sondern zugleich an den materiellen, produktionslogischen Kriterien, wie der politischen Ökonomie. Da die politische Ökonomie als geschichtliche Dynamik stetige Veränderung durch das menschliche Handeln und andere (z. B. natürliche) Ereignisse erfährt, ist ein
abschließendes Verhältnis von Denken und Zeit, Begriff und Wirklichkeit und Wert/Recht und
Gesellschaft nicht denkbar. Da die Kategorien des Denkens geschichtlich und gesellschaftliche
1278
Horkheimer 1934, S. 26.
1279
Horkheimer 1935, S. 334.
1280
Horkheimer 1934, S. 26–27.
348
vermittelt sind,1281 ist die Extension der Begriff, Urteile und Theorien niemals absolut. Die materialistische Perspektivierung führt so zu einer kritischen Ablehnung der Idee der Möglichkeit
der Konstruktion der absoluten Wahrheit und auch der Erkenntnis der Totalität. Dagegen wir
das „Bewusstsein der eigenen Bedingtheit“ als auch die „Endlichkeit des Denkens“ hervorgehoben.1282 Durch diese Hervorhebung wird der im hegelschen Denken metaphysische Anspruch
des dialektischen Denkens kritisch zurückgenommen. Auf die Ethik bezogen heißt das, dass
der Materialismus keine metaphysischen Prinzipien anerkennt. Er versteht „das Streben der
Menschen nach ihrem Glück als eine natürliche, keiner Rechtfertigung bedürftige[n] Tatsache“1283. Den Gedanken, dass die Gestaltung des individuellen Lebens nach einem die Sinnlichkeit übersteigenden Sein, einem „zu entdeckenden Sein begründbar“ sei, lehnt Horkheimer
als theologisch und dogmatisch ab.1284
Während durch den Materialismus die Bezugsganzheit des Denkens und so die Korrelation von
Begriff und Wirklichkeit, Denken und Zeit und Wert/Recht und Gesellschaft in Abgrenzung
zum Idealismus (dessen Bezugsganzheit des Denkens durch die abstrakte Subjektivität bestimmt wird) kritisch konstatiert wird, so führt die dialektische Bestimmung der materialistischen Korrelation zur Evokation der Möglichkeiten des Denkens. Obwohl Horkheimer den Begriff der Dialektik in seinen Aufsätzen der 30er Jahr zumeist dialektisch und abgrenzend zu
Positionen der Metaphysik, des Positivismus, des Relativismus oder des Dogmatismus entwickelt, so findet sich in seinem wichtigen Text Zum Problem der Wahrheit von 1935 eine positive Charakterisierung der Dialektik als Organon der Philosophie und Formenlehre des Denkens, aus dem ein Begriff der dialektischen Vernunft resultiert. Horkheimer formuliert sechs
„Eigentümlichkeiten des dialektischen Denkens“, die das Organon und die Form des dialektischen Denkens bilden.1285
Erstens paraphrasiert Horkheimer den Grundsatz der materialistischen Dialektik, der „sich fortwährend[…] verändernden und doch nicht aufhebbaren Spannung seines Denkens zur Realität“1286. Jede Theorie, die die „unaufhebbare Differenz von Begriff und Realität“ verkennt, sei
daher als „Idealismus, Spiritualismus und Mystizismus“ zurückzuweisen.1287 Grundsätzlich sei
1281
Vgl. Horkheimer 1934, S. 30.
1282
Vgl. Horkheimer 1934, S. 30.
1283
Horkheimer 1995, S. 40.
1284
Vgl. Horkheimer 1995, S. 15.
1285
Horkheimer 1935, S. 350-351.
1286
Horkheimer 1995, S. 29.
1287
Vgl. Horkheimer 1935, S. 340.
349
so das Denken als permanente, perennierende Aufgabe der Auslegung der eigenen geschichtlichen Bedingtheit zu verstehen in Hinblick auf eine „Lebensförderung als Sinn und Maßstab der
Wissenschaft“1288. Dass Denken und Wissenschaft als eine solche Aufgabe zu verstehen ist,
sich Denken immer der Aufgabe ausgesetzt sieht, sich selbst zu erkennen, liegt an dem Grundsatz, dass das Denken nie bei sich selbst ist und keine Identität mit seiner Wirklichkeit hat. So
schreibt Horkheimer:
„Sie [Dialektik, M. B.] ist der Inbegriff der Methoden und Gesetze, die das Denken befolgt, um
die Wirklichkeit so genau wie möglich nachzubilden, und die mit den Formprinzipien der wirklichen Verläufe soweit wie möglich übereinstimmen.“1289
Horkheimer bleibt der Wahrheit verpflichtet.1290 Dabei ist Dialektik für ihn jedoch keine Logik
der Wirklichkeit, sondern die Logik des Geschicks angesichts des Wissens um die Unüberwindbarkeit der Differenz im Denken. Er schreibt, dass die Wahrheit als ein „Moment der richtigen
Praxis“1291 zu verstehen sei. Da die Praxis zugleich geschichtlich ist, das Denken keine ungebundene Reflexion, sondern Produktion und Methode, so entscheidet sich das Schicksal der
Wahrheit in der Geschichte. So ist die tragische Grundsituation des Denkens und des dialektischen Geschicks nicht nur als ahistorische Struktur zu verstehen, sondern auch als Schicksal
des modernen Denkens. Dabei scheint Horkheimer von Simmels These des Übergewichts der
objektiven Kultur als seine „protosoziologischen Diagnose einer auf wirtschaftlicher Basis
durchrationalsierten Moderne mit dem Begriffsaparat der Tragödie“ 1292 aufzubauen. Für den
Einfluss Simmels spricht nicht nur der Kulturpessimismus Horkheimers, sondern der systematische Sachverhalt, dass Simmels Begriff der Tragödie sich, wie auch Horkheimers Begriff der
tragischen Grundsituation des Denkens, durch eine „rigorose Reduktion des Tragischen auf
seine grundlegende ‚Struktur‘“1293 auszeichnet.
Als zweite „Eigentümlichkeit“, die vielmehr als die erste Erörterung des Grundsatzes sich auch
als Gesetz liest, formuliert Horkheimer, dass das dialektische Denken sein Objekt nicht durch
die Erstellung eines Katalogs von Merkmalen zu verstehen trachtet, sondern gerade auch in
Bezug auf gegensätzliche Eigenschaften und in Bezug auf das „Gesamtsystem der Erkenntnis“.
1288
Horkheimer 1995, S. 39.
1289
Horkheimer 1935, S. 350.
1290
Vgl. Horkheimer 1935, S. 337.
1291
Horkheimer 1935, S. 345.
1292
Murnane 2010, S. 298.
1293
Vgl. Jacob 2002, S. 88.
350
Darin liegt der Gedanke begründet, dass sich das dialektische Denken vom Positivismus
dadurch unterscheidet, dass es zwar wie der Positivismus gegen die Metaphysik nichts außerhalb der sinnlichen Erfahrung als Ausgangsbasis des Denkens gelten lässt, zugleich aber nicht
in einer Verabsolutierung des Sensualismus mündet.1294 Damit ist zugleich die Forderung formuliert, dass die durch die zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung in den Einzeldisziplinen und durch die Mechanisierung der Forschung heraufgekommene Krise der Wissenschaften durch einen Bezug zur Philosophie relativiert werden solle.
Drittens folgt daraus die Unterscheidung von Sachlichkeit und Wahrheit, die für die kritische
Theorie nach Horkheimer (zumindest in dieser Phase) entscheidend zu sein scheint.1295 So gilt
für das dialektische Denken, dass alle Einsichten „nur im Zusammenhang mit der gesamten
theoretischen Erkenntnis als wahr zu nehmen“ sind und auch in den sich daraus motivierten
praktischen Tendenzen und Regulativen sich bewähren.1296 Horkheimer ordnet den Begriff der
Wahrheit dem dialektischen Denken zu, welches nicht allein die Sache als Objekt zu erkennen
sucht, sondern den Sachverhalt, die dynamischen Tendenzen als auch die Komplexität innerhalb dessen es sich auch in Bezug auf seine gesellschaftliche, geschichtliche und „lebensweltliche“ Dimension bewährt, d. h. bewahrheitet. Demnach wäre wissenschaftliche Erkenntnis als
Erkenntnis der Sache zu charakterisieren und dialektisches Denken als Erkenntnis der Wahrheit. Es wird dabei deutlich, dass Horkheimer sich hier auf die Widerspieglungstheorie der
Wahrheit bezieht, die, ursprünglich von Engels verfasst, einen exemplarischen Ausdruck in der
2. These zu Feuerbach findet:
„Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage
der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit i. e.
die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens, – das von der Praxis isoliert ist –, ist eine rein
scholastische Frage.“1297
Horkheimer lehnt so mit Marx das undialektische Denken der Wissenschaften ab, gerade weil
es die Sache nicht in Bezug auf die Praxis versteht, sondern allein für sich setzt, d. h. abstrahiert
und objektiviert. Gleichzeitig entfernt er sich von der Widerspiegelungstheorie, insofern sie
eine getreue Abbildung der Realität, eine Aufhebung der Differenz im Denken postulieren
1294
Vgl. Horkheimer 1995, S. 39.
1295
Dass Horkheimer von einer solchen Differenz ausgeht, bekundet das Diskussionsprotokoll mit Adorno (vgl. Adorno/Horkheimer HGS 1985, Bd. 12, S. 470 ff.).
1296
Vgl. Horkheimer 1935, S. 350.
1297
Vgl. Marx zitiert nach Negt 2001, S. 505.
351
sollte. Horkheimer ist zu sehr von Nietzsche und dessen Wahrheitsbegriff beeinflusst, um einen
repräsentationslogischen Wahrheitsbegriff in seiner logozentrischen Grundlegung zu akzeptieren.
Aus dem relations- bzw. komplexitätslogischen Begriff der Wahrheit, den Horkheimer hier andeutet, folgt viertens die für die Dialektik bedeutsame Regel, dass es keine ausschließenden
Bestimmungsurteile geben solle. Die daraus resultierende „Unbeirrbarkeit“ laufe Gefahr, die
Komplexität der Sachverhalte inadäquat darzustellen und zu berücksichtigen. So formuliert
Horkheimer die Regel, dass die Darstellung des Sachverhaltes vielmehr nach dem Prinzip des
„Sowohl-als-auch“ anstatt des Prinzips des „Entweder-oder“ strukturiert und konzipiert werden
solle.1298 Denn fünftens liegt dieser Regel der Gedanke zugrunde, dass für die Rekonstruktion
der Tendenzen die Erkenntnis des Widerspruchs die Dynamik der Genese besser verstehen
lässt.
Aus diesen „allgemeinsten Bewegungsgesetzen des Denkens“ konstruiert Horkheimer sechstens den Begriff der „dialektischen Vernunft“. Diese begreift er – über die schon erörterten
„Eigentümlichkeiten“ hinaus – wesentlich in ihrer Funktion, die „analytisch gewonnenen Begriffe zueinander in Beziehung zu setzen und die Wirklichkeit durch sie zu rekonstruieren“1299.
Demnach und auch in Hinblick auf den ihr zugrunde liegenden, auf die Praxis bezogenen regulativen Wahrheitsbegriff ist die „dialektische Vernunft“ als spekulative Vernunft aufzufassen.
Diese Auslegung wird dadurch noch plausibler, dass Horkheimer die Notwendigkeit einer spekulativen Vernunft durch den impliziten Hinweis rechtfertigt, dass der Mangel einer solchen
spekulativen Vernunft bei den „Scheidungen und Abstraktionen der Fachwissenschaften
bliebe“ (er erinnert an die Diagnose der Krise der Wissenschaft). Wäre dies so, würde man der
Metaphysik und Religion die gesellschaftlich wichtige, in Zusammenhang mit der Bildungspolitik wichtige spekulative „Erfassung der konkreten Wirklichkeit“ freien Raum lassen und so
einen Rückfall in den Dogmatismus – zugleich den Wegfall des kritischen Denkens und seiner
bedeutsamen Rolle in der Gründung eines Gemeinwesens – provozieren.
Es ist nun deutlich, dass der Grund, warum Horkheimer in den Texten, in denen er die Methodologie der kritischen Sozialforschung zu profilieren versucht, immer wieder auf die Dialektik
Hegels zurückkommt, mit dem Versuch der Verteidigung des dialektischen, spekulativen Denkens innerhalb der Problemlage der Forschung verbunden ist, wie sie Horkheimer in der An-
1298
Vgl. Horkheimer 1935, S. 350–351.
1299
Horkheimer 1935, S. 351.
352
trittsrede anspricht. Die Ableitung der Sozialforschung aus der Sozialphilosophie dient der Profilierung und Konzeption einer kritischen Sozialforschung: eines nicht nur historisch-materialistischen, sondern dialektischen Denkens der Gesellschaft. Dialektik als Organon und Formprinzip eines interdisziplinären Materialismus zielt darauf ab, das Nebeneinander von Einzelwissenschaften und Philosophie, von deskriptiver und normativer Dimension der Forschung
derart miteinander ins Verhältnis zu bringen, dass dadurch weder ein Rückfall in die Metaphysik, den Dogmatismus, noch eine Common-Sense-Philosophie entsteht. Vielmehr soll durch die
dialektische Relativierung einzelwissen-schaftlicher Arbeit und philosophischer Theorie kritischer Reflexionsraum konstituiert werden als Grundlage eben einer kritischen Theorie der Gesellschaft, was sich weder als bürgerliches Denken noch als traditionelles Denken verstehen
ließe. Dieses Verständnis entspricht keiner Ablehnung der Leitmotive der Aufklärung einer
„künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen“1300, sondern umfasst die Ansicht der Notwendigkeit einer anderen Umsetzung und Besinnung der Ziele und Leitbegriff der
Aufklärung.1301
In konzentrierter Weise findet sich in dem Aufsatz Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie eine Charakterisierung der Sozialforschung als kritische Theorie dialektischmaterialistischer Grundlegung – im oben verstandenen Sinne – als Antwort auf sowohl den
Rationalismusstreit, den Werturteilsstreit und als Reaktion auf den Marxismus. Dort ergibt sich
ein konkretes Bild, wie sich Horkheimer die Sozialforschung vorstellt:
„Das Produkt der Analyse, die abstrakten Begriffe und Regeln sind zwar keineswegs mit der
Erkenntnis des Geschehens in der Wirklichkeit. Die Einzelwissenschaften liefern nur die Elemente zur theoretischen Konstruktion des geschichtlichen Ablaufs, und diese bleiben in der
Darstellung nicht, was sie in den Einzelwissenschaften waren, sondern erhalten neue Bedeutungsfunktionen, von welchen vorher noch keine Rede war. Jedes wirkliche Denken ist daher
auch als fortlaufende Kritik an abstrakten Bestimmungen aufzufassen, es enthält ein kritisches,
wie Hegel sagt, ein skeptisches Moment. Die dialektische Seite des Logischen ist zugleich die
‚negativ-vernünftige‘. Wenn aber die Begriffsbildungen der Physik, die Definitionen von Lebensvorgängen in der Biologie, die allgemeine Beschreibung einer Triebregung, die Darstellung des typischen Inflationsmechanismus oder der Kapitalakkumulation und anderer Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften nicht schon die Darstellung wirklichen Geschehens in der
toten und lebendigen Natur, sondern bloss ihre Voraussetzung bilden, so hat doch die For-
1300
Horkheimer 1995, S. 234.
1301
So heißt es in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung:
„Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden
Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens,
nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den
Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“ (Adorno/Horkheimer 2003, S. 3)
353
schung diese Begriffe und Urteile aus realen Vorkommnissen abstrahiert. Schon dadurch unterscheiden sie sich von Phantasiegebilden und willkürlichen Konstruktionen; durch ihre Herkunft und durch ihre Anwendbarkeit stehen sie in positiver Beziehung zur Realität. Von der
Genauigkeit dieser Produkte der Analyse hängt die Treue des gedanklichen Spiegelbildes der
Wirklichkeit ab.“1302
Der Gedanke der Sozialforschung und schließlich die Beantwortung der Frage „Was heißt uns
denken?“ geht aus der doppelten Problematik hervor: Zum einen der These, dass die Sozialphilosophie ohne die Beobachtungsgenauigkeit, ohne die Sachlichkeit der Einzelwissenschaften
und ihre spezialisierten Methoden zu einer gegenüber den Umständen blinden metaphysischen
Spekulation tendiert. Zum anderen, dass die Soziologie als fachwissenschaftlicher und methodisch disziplinierter Positivismus oder Tatsachenwissenschaft allein hinter dem Wahrheitsanspruch der Philosophie zurückbleibt und einen Relevanzverlust gegenüber lebensdringlichen
und gesellschaftlichen Problemen erleiden muss. Demnach geht die Sozialforschung aus von
der Interdependenz der Einzelwissenschaften und Philosophie, welche – wie wir gesehen haben
– methodisch durch das wechselseitige Bestimmungsverhältnis von Materialismus und Dialektik geklärt wird.
Bei der Charakterisierung der Sozialforschung Horkheimers durch die Texte in der Zeitschrift
für Sozialforschung bis hin zum Exil ist das Institut für Sozialforschung immer mitzubedenken.
So sind seine Texte nicht als ein Entwurf am Reißbrett zu lesen, sondern als eine die Forschung
und Studien am Institut begleitende, konkretisierende Konstruktion eines Begriffs der Sozialforschung. Demnach ist der Begriff der Dialektik nicht nur als Organon und Formbegriff des
Denkens in Hinblick auf ein erkennendes Subjekt, sondern auf eine Forschungsgemeinschaft
zu verstehen. Dafür spricht nicht nur die grundlegende Ablehnung des idealistischen Subjektbegriffs als Grundlage der Sozialphilosophie, sondern auch die Tatsache des Instituts als kollegiale Forschungsanstalt.
„Das kritische Denken und seine Theorie ist beiden Arten entgegengesetzt. Es ist weder die
Funktion eines isolierten Individuums noch die einer Allgemeinheit von Individuen. Es hat
vielmehr bewußt ein bestimmtes Individuum in seinen wirklichen Beziehungen mit anderen
Individuen und Gruppen, in seiner Auseinandersetzung mit einer bestimmten Klasse und in
schließlich der vermittelten Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Ganzen und der Natur
zum Subjekt. Es ist kein Punkt wie das Ich der bürgerlichen Philosophie, seine Darstellung
besteht in der Konstruktion der geschichtlichen Gegenwart. Auch das denkende Subjekt ist
nicht der Ort, an dem Wissen und Gegenstand zusammenfallen, von dem aus daher ein absolutes Wissen zu gewinnen wäre.“1303
1302
Horkheimer 1935, S. 22.
1303
Horkheimer 1995, S. 229.
354
In dieser im siebten Jahr nach der Übernahme des Instituts für Sozialforschung durch Horkheimer verfassten Passage aus dem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie ist so gleichzeitig
zu verstehen, dass das Geschick der kritischen Theorie nicht das Geschick eines Einzelnen der
Forschung ist, sondern das Geschick eines interdisziplinären Forschungskollektivs. Verschiedene Gesprächsprotokolle und auch Aufsätze dokumentieren, dass die einzelnen Forschungsarbeiten als auch die philosophische Forschungsausrichtung im Kreis der Mitglieder des Instituts ausführlich besprochen wurden. Die dialektische Vermittlung von Einzelwissenschaften
und Philosophie ist demnach nicht von dem Gesprächsraum zu trennen. So ist auch der der
kritischen Theorie zugrundeliegende Dialektik-Begriff kein bloß abstrakter, sondern ein konkreter und praktischer. Schließlich ist es das gemeinsame Gespräch, durch das sich der kritische
Reflexionsraum konstituiert und der dialektische Einbezug der einzelwissenschaftlichen Studien in den philosophischen Reflexionsprozess vollzogen wird. Man bedenke hier, dass Horkheimer Wahrheit als Moment der richtigen Praxis versteht, was auch in dem Sinne verstanden
werden muss, dass Wahrheit als diskursiver Moment einer Gesprächsgemeinschaft und -kultur
zu verstehen ist. Die Wechselbestimmung von Materialismus und Spekulation bedeutet sogleich, dass sich die Sachkenntnis wie auch die begriffliche Spekulation im Gespräch bewähren
muss. Die kritische Theorie, wie sie in der Zeitschrift für Sozialforschung auch jenseits der
Frankfurter Zeit im Exil dokumentiert ist, ist deshalb auch als „unabgeschlossene Dialektik“ zu
verstehen, da sie den anderen Menschen und das andere Erkennen als grundlegendes Moment
ihrer Dynamik begreift. Es gibt deshalb auch kein „Hauptwerk der Kritischen Theorie, in dem
die Kategorien, Prinzipien, Prämissen und Resultate als System zusammengefasst und präsentiert werden“1304, wie Post schreibt, da sie als Dialektik auch im Sinne einer Gesprächskultur
verstanden werden muss. Wenn auch Habermas ein gespaltenes Verhältnis zur kritischen Theorie behält, so bleibt sein Begriff einer kommunikativen Vernunft grundsätzlich mit dem „Gesprächs- und Arbeitskreis“ der Sozialforschung verbunden.
4.3 Über das Ausbleiben einer kritischen Sozialforschung die Wandlung zur
Kritischen Theorie
Als Projekt kritischer Sozialforschung war nicht nur das Geschick des Instituts an das Bestehende, an geschichtliche Ereignisse und an Wandlungen der Verhältnisse thematisch gebunden,
sondern auch ihr Schicksal als Institution. 1933 beginnt die Flucht der Institutsmitglieder vor
1304
Post zitiert nach Sahmel 1988, S. 49.
355
der durch den Nationalsozialismus ausgelösten dramatischen Veränderung der Verhältnisse aus
Deutschland und schließlich auch aus Europa. Die Arbeit wird fortgesetzt, doch schwindet allmählich nicht nur die Möglichkeiten regelmäßiger Vorträge, Vorlesungen und Gesprächsrunden, sondern der Gesprächskreis verliert auch wichtige Mitglieder. 1940 kommt es zum tragischen Tod von Benjamin.
Ein Brief von Adorno an Benjamin aus dem Jahr 1938 berichtet, dass sich Horkheimer angesichts der Herausforderung der Übersiedlung des Instituts und der Fortsetzung sowohl der Forschung als auch der Herausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung in einem „Zustand der Maßlosesten Inanspruchnahme“1305 befindet. Trotz widriger Umstände gelingt es ihm jedoch, die
Arbeit des Instituts und auch die Herausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung im amerikanischen Exil fortzusetzen. Da die amerikanischen Kollegen an der Columbia University, welche
sich des Instituts annahm, nur spärlich Deutsch sprachen und die Schriften des Instituts nicht
bekannt waren, wiederholt Horkheimer die Darstellung der Aufgabe des Instituts in ihrer Rolle
als kritische Theorie in seinem Aufsatz The Social Function of Philosophy. Dort heißt es, dass
das Leitmotiv der Philosophie darin bestehe, dass die Handlungen und die Ziele der Menschen
bzw. Menschheit („actions and aims of man“) kein bloßes Produkt blinder Notwendigkeit
seien.1306 Anders formuliert wiederholt Horkheimer darin den Gedanken einer spekulativen
Philosophie, die maßgeblich an der Gestaltung der gesellschaftlichen Realität durch die Analyse der bestehenden Lebensordnung („order of life“) und Wertehierarchie („hierachy of value“) als ihre Forschungsgebiete beteiligt ist. Philosophie wird hier so als Sozialphilosophie
verstanden und zugleich von der Soziologie differenziert, die ja ein vergleichbares Forschungsgebiet hat. Mit dem Hinweis, dass Philosophie eine Oppositionshaltung zur Realität („opposition of philosophy to reality“)1307 – gemeint ist die gesellschaftliche Wirklichkeit, da von der
Natur an sich im Aufsatz keine Rede ist – einnehme und sich ihre Beziehung zu jener als fundamentale Spannung („fundamental tension“)1308 beschreiben lässt, impliziert Horkheimer,
dass die Soziologie dies nicht besitze. Gerade gegen den soziologischen Vorwurf, dass Philosophie allein der Ausdruck der sozialen Verhältnisse sei, versucht Horkheimer entgegenzuwirken.1309 Auch wenn Horkheimer dies nicht ausdrücklich macht – wahrscheinlich aus Vorsicht,
den in den USA bisher unbekannten marxistischen Hintergrund der Sozialforschung nicht allzu
1305
Adorno 1970, S. 143.
1306
Horkheimer 1939–1940, S. 325.
1307
Horkheimer 1939–1940, S. 325.
1308
Horkheimer 1939–1940, S. 329.
1309
Vgl. Horkheimer 1939–1940, S. 329.
356
sehr zu explizieren –, so sei dieser Vorwurf nur dann zutreffend, wenn die Philosophie als bürgerliches Denken zu charakterisieren sei.
“The real social function of philosophy lies in its criticism. Of what is prevalent. That does not
mean superficial fault-finding with individual ideas or conditions, as though a philosopher were
a crank. Nor does it mean that the philosopher complains about this or that isolated condition
and suggests remedies. The chief aim of such criticism is to prevent mankind from losing itself
in those ideas and activities which the existing organization of society instills into its members.
Man must he made to see the relationship between his activities and what is achieved thereby,
between his particular existence and the general life of society, between his everyday projects
and the great ideas which he acknowledges. Philosophy exposes the contradiction in which man
is entangled insofar as he must attach himself to isolated ideas and concepts in everyday
life.”1310
Es sei gerade nicht die Bewahrung des Bestehenden, zu der sich die Philosophie gesellschaftlich
oder politisch funktionalisieren bzw. instrumentalisieren lassen dürfe. Ihr Geschäft sei die
grundlegende Kritik des Bestehenden („of what is prevalent“) in Hinblick auf eine Verhütung,
dass der Mensch in der Vorherrschaft der objektiven Kultur untergehe. Kritik verbindet Horkheimer mit der Entwicklung eines dialektischen Denkens, welches in erster Linie die den bestehenden Verhältnissen zugrunde liegenden, begrifflich erfassbaren Widersprüche aufzudecken habe. Vor nichts anderem als vor dem blinden Gang in die Unvernunft und die Unmündigkeit will die Philosophie den Menschen in diesem Sinne bewahren. Vor dem Hintergrund
des sich in Europa abspielenden Krieges erscheint die Aufgabe gewissermaßen in ihrer menschheitsgeschichtlichen Dimension. Unterstrichen wird dies durch folgenden Satz: „Philosophy is
the methodical and steadfast attempt to bring reason into the world.”1311
Obwohl alle bisher entwickelten Theoreme der Theorieausrichtung der kritischen Theorie im
Aufsatz eine allgemeine Erwähnung finden – beachtlich ist, dass weder von der bisherigen Forschungsgeschichte noch von den Forschungsmethoden der Sozialforschung gesprochen wird –
, so ist in dem Aufsatz doch eine deutliche Akzentverschiebung zu erkennen. Denn eindeutiger
als vorher wird das Projekt der kritischen Theorie als philosophisches Projekt in seiner sozialen
Funktion dargestellt und erörtert. Im Kontrast zu dem oben dargestellten Forschungsprogramm
findet so die Frage nach der Möglichkeit der Konstruktion spekulativer Vernunft und einer philosophischen Verarbeitung der Ereignisse eine deutlichere Betonung. Dies wahrscheinlich
auch, da Horkheimer sich von der amerikanischen Soziologie und ihren Forschungsthemen abzugrenzen trachtet.
1310
Horkheimer 1939–1940, S. 331.
1311
Horkheimer 1939–1940, S. 334.
357
Folgt man der Theoriegeschichte der kritischen Theorie nach Honneth, so ist die Akzentverschiebung dennoch nicht nur dadurch bestimmt, dass hier Differenzkriterien zur amerikanischen Forschungslandschaft aufgestellt werden sollen. Überzeugend schildert Honneth, dass
die Grundlegung der Sozialforschung durch Horkheimer mit einem „soziologischen Defizit“
belegt ist, wodurch die Entwicklung der kritischen Theorie zur Geschichtsphilosophie begründet bzw. bestimmt ist.1312 Demnach wäre auch die Charakterisierung der kritischen Theorie als
Philosophie in dem Aufsatz durch Horkheimer symptomatisch für das grundlegende „soziologische Defizit“ der Sozialphilosophie. Schon die oben besprochene Ableitung der Sozialforschung aus der Sozialphilosophie zeigte sich im Kern durch eine Prävalenz philosophischer
Fragstellungen aus, die, obwohl Horkheimer das Institut für Sozialforschung interdisziplinär
konzipierte, für die Organisation der Forschung am Institut prägend war. Im Kern zeichne sich
das „soziologische Defizit“ dadurch aus, dass der „Normalfall alltäglichen Handelns“ theoretisch unbestimmt bleibt, so auch das „kulturell geleitete Alltagshandeln und die kritisch-politische Tätigkeit sozialer Gruppen“1313 kategorial im Rahmen eines geschichtsphilosophischen
Grundmodells in den Hintergrund geraten. Tatsächlich wird, wie wir sehen konnten, durch die
vorwiegende Auseinandersetzung mit der hegelschen und marxschen Geschichtsphilosophie
und Logik das „gesamte Spektrum sozialen Alltagshandelns aus dem Gegenstandsbereich der
interdisziplinären Sozialwissenschaft“ verbannt. Dadurch wird auch die Aufgabe, „die gesellschaftliche Realität auf den gruppenspezifischen Erfahrungshintergrund und den kooperativen
Erzeugungsprozess sozialer Ordnungsmuster“ völlig ignoriert.1314 Durch das so verstandene
(mit der Grundlegung der Sozialforschung zusammenhängende) „soziologische Defizit“ wurde
ein „heimlicher“, zugleich unthematischer Wandel des der Sozialforschung zugrunde liegenden
Kulturbegriffs eingeleitet, den Honneth als Reduktionsschritt verstanden wissen will.
„Im heimlichen Wandel des Kulturbegriffs von einer ursprünglich handlungstheoretisch beabsichtigten, dann institutionalistisch eingeschränkten und schließlich kunsttheoretischen verwendeten Kategorie freilich kündigt sich der geschichtsphilosophische Wandel an, den die Kritische Theorie mit dem Ende der dreißiger Jahre im Werk Theodor W. Adornos vollziehen
wird.“1315
1312
Vgl. Honneth 1985, S. 42.
1313
Vgl. Honneth 1985, S. 40.
1314
Vgl. Honneth 1985, S. 40.
1315
Honneth 1985, S. 42.
358
Durch die theoretische Blindheit gegenüber dem alltäglichen Handeln, so mikrosoziologischen
Prozessen, erfahren die Kategorien der kritischen Theorien keine wirklich kritische materialistische Einschränkung durch die Einzelwissenschaften, wie ursprünglich von Horkheimer intendiert. Die einseitige ökonomische und psychologische Fundierung der Untersuchung trägt nicht
zu einer Einschränkung, sondern zu einer immer weiter ausladenden begrifflichen Konstruktion
bei. Auch praktisch wird dieser Entwicklungsprozess der kritischen Theorie zum „totalisierenden Blick der Dialektik der Aufklärung“1316 durch Auflösung des institutionellen Rahmens, in
dem viele Forscher in die Erkenntnis- und Begriffsarbeit mit eingespannt waren. Darüber hinaus entwickelt sich das Schicksal der kritischen Theorie im Exil nicht mehr durch das Geschick
mehrerer, sondern entfaltet sich hauptsächlich aus dem Dialog Horkheimers und Adornos. Wie
dem Zitat zu entnehmen ist, sind es vor allem der Einfluss und das Werk Adornos, durch die
der geschichtsphilosophische Wandel der kritischen Theorie vollendet wird:
„Der Gedanke einer Selbstzerstörung menschlichen Vernunft, das sozialpsychologische Konzept des Persönlichkeitszerfalls, der Begriff der Massenkultur und das Ideal des authentischen
Kunstwerks sind die Bausteine einer Theorie der Gesellschaft, die die politische Schlüsselerfahrung der Gleichzeitigkeit von stalinistischer und faschistischer Herrschaft zu ihrem innersten
Gehalt macht.
Ihr herausragender Autor ist freilich nicht Max Horkheimer, sondern Theodor W. Adorno. Sein
Denken ist bis in die Darstellungsform hinein von einer Geschichtserfahrung geprägt, der sich
die Gegenwart als ein soziokulturelles Verhängnis darstellt. Der Nervenpunkt seiner Theorie
ist nicht, wie der der Kritik Horkheimers in den dreißiger Jahren, die Enttäuschung von revolutionären Erwartungen, sondern das Entsetzen über die katastrophische Zuspitzung des Zivilisationsprozesses. Adorno nimmt die soziale Situation seiner Gegenwart als Augenblick total gewordener Herrschaft.“1317
Auch Schmidt kommt zu dem Schluss, dass das gemeinsam mit Adorno verfasste Werk sich
zwar „bruchlos“ in das Werk Adornos einfügt, jedoch einen deutlichen Unterschied mit den
Schriften Horkheimers der 30er Jahre sowohl hinsichtlich der theoretischen Arbeit als auch der
Forschungsausrichtung darstellt.1318 Warum der durch die 30er Jahre verfolgte Plan einer materialistischen Reformulierung der hegelschen Logik, einer dialektischen Logik,1319 von Horkheimer fallen gelassen wurde, wird aus Diskussionsprotokollen mit Adorno über das Projekt
einer materialistischen Dialektik verständlich, welche mit größter Wahrscheinlichkeit in das
1316
Honneth 1985, S. 49.
1317
Honneth 1985, S. 46–47.
1318
Vgl. Schmidt HGS 1987, Bd. 5, S. 430.
1319
Vgl. Horkheimer HGS 1985, Bd. 12, S. 156–157.
359
Jahr 1939 zurückreichen. Sie markieren – jenseits der im Briefverkehr ausgetauschten Positionen und Beobachtungen der gegenwärtigen Problemlage der Wissenschaft und Philosophie –
den Beginn der konkreten Zusammenarbeit am Dialektikprojekt und erlauben eine Einsicht in
die grundlegende Problematik und die Ursachen der Wandlung der kritischen Theorie. Die Diskussionsprotokolle der Gespräche Horkheimers und Adornos, aus denen heraus die Dialektik
der Aufklärung sich entfaltete, wurden von Gretel Adorno, Adornos Frau, festgehalten und editiert. Anlass und vorläufiges Ziel der Gespräche war die Ausarbeitung der im Programm angekündigten, aber nicht systematisch ausgearbeiteten dialektischen Logik. Horkheimer sah sich
auf Grund der Aufgaben der Leitung und Erhaltung des Instituts nicht in der Lage, jenes Projekt,
das „Dialektikprojekt“ – wie es institutsintern genannt wurde – selbstständig zu verfassen. Obwohl Horkheimer anfänglich Marcuse als Mitarbeiter im Sinn hatte, fiel die Wahl auf Adorno.
Liest man die Diskussionsprotokolle hinsichtlich der Rolle der Diskutanten, so ist zunächst unabhängig aller systematischen Punkte zu bemerken, dass Horkheimer innerhalb der Gespräche
seine Rolle als Leiter und Federführer der kritischen Theorie aufgibt. Hinsichtlich der sich wandelnden Rolle und dem Selbstverständnis Horkheimers in den Gesprächen ist die Diskussion
über Dialektik sehr aufschlussreich, in der seine bisher erarbeitete zentrale Positionen zur Dialektik durch Adorno grundsätzlich in Frage gestellt werden. Horkheimer selbst erklärt zum
Ende der Diskussion über Dialektik:
„Ich stehe ja unter den Philosophen als einer da, der keinen Standpunkt hat, oder vielmehr, wie
man einmal früher gesagt hat, dem die Kraft zum System fehlt. In der Tat habe ich keinen
philosophischen ‚Standpunkt‘.“1320
Diese Selbsteinschätzung ist zunächst erstaunlich angesichts der Konzeption und der alles andere als nur administrativen Leitung der Sozialforschung in den 30er Jahren. Doch offenbart
sich darin, dass Horkheimer seine Arbeit (nun) am „Bild“ großer historischer Systemphilosophen, so etwa Hegel, bewertet. Dies führt jedoch zu einer – für die Entwicklung der kritischen
Theorie – folgenreichen Fehleinschätzung, da das von ihm wissenschaftstheoretisch entwickelte Geschick selbst über eine geschlossene, theoretische und klassische Systemphilosophie
hinausreicht im Entwurf einer transversalen Vernunft der Wissenschaften und der Einführung
eines differentialtopologisch angelegten Forschungsgeschicks.
Horkheimer lässt Adorno zu Beginn der grundlegenden Diskussionen über Positivismus und
materialistische Dialektik die Fragen und Probleme ursprünglich seines (!) Dialektikprojektes
1320
Adorno/Horkheimer 1985. Bd. 12, S. 540.
360
formulieren. Darin kommt nicht nur seine Wertschätzung zum Ausdruck, sondern auch in Hinblick auf andere Bemerkungen Horkheimers zu seinem Standpunkt die Anerkennung, dass Adornos Überlegungen zu einem Dialektikbegriff weiter fortgeschritten seien.
„1.) Gibt es einen strengen Begriff von Wahrheit, wenn man die Voraussetzung der Identität
von Subjekt und Objekt radikal ausschließt?
2.) Wie sieht eine Vorstellung von Dialektik aus, in der für die Identität und für Totalität kein
Raum mehr bleibt? […] Man könnte beinahe sagen, ist die materialistische Dialektik als eine
Weise von Erkenntnis möglich?“1321
Durch die spezifische Formulierung dieser, wie Horkheimer treffend bemerkt, „prinzipiellen
Fragen“ gelingt es Adorno, die Problematik und Fragestellungen seiner bisherigen Arbeiten als
Ausgangspunkt des „Dialektikprojekts“ zu setzten. Wie im Zitat deutlich wird, nehmen die Fragen den Bezug zu Adornos Kritik der Identitätsphilosophie als auch dessen Kritik des hegelschen Vermittlungsbegriffs auf. Nirgendwo in den Gesprächen wird Horkheimers Position von
Adorno als Möglichkeit erwähnt. Schon direkt nach der Formulierung der Fragen und noch vor
dem Beginn der Diskussion der prinzipiellen Fragen antwortet Adorno, dass eine materialistische Dialektik als bestimmte Weise von Erkenntnis nur negativ zu formulieren sei.1322 Dies hat
verschiedene Gründe, die aus der Diskussion nicht selbst ersichtlich sind.
Der Vergleich der Antrittsrede Adornos Die Aktualität der Philosophie von 1931 mit der oben
besprochenen Antrittsrede Horkheimers zur Übernahme des Direktorats macht die Gründe für
Adornos Ablehnung einer positiven Formulierung einer materialistischen Dialektik ersichtlich.
Vor allem der „ungewöhnlich programmatische“ Charakter von Adornos Vorträgen und Thesen
der Zeit, zu denen die Antrittsrede zählt, in der die methodologischen Motive des geschichtlichen Bildes, der Naturgeschichte und der Idee konfigurativer Sprache eine Erwähnung finden,1323 erlauben einen direkten Vergleich zur programmatischen Rede Horkheimers. Sie allerdings nur vergleichend nebeneinanderzustellen, verkennt, dass es sich bei Adornos programmatischer Rede zugleich um eine Antwort auf diejenige Horkheimers handelt. Dafür sprechen
nicht nur die darin aufgenommenen systematischen und historischen Fragestellungen, sondern
dafür spricht vor allem, dass Adorno seine programmatische Rede zeitlich unmittelbar nach
Horkheimers Rede in Frankfurt hielt. Horkheimers Antrittsvorlesung Die gegenwärtige Lage
der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung fand am 24. Januar
1321
Adorno/Horkheimer HGS 1985. Bd. 12, S. 467.
1322
Vgl. Adorno/Horkheimer HGS 1985. Bd. 12, S. 467.
1323
Vgl. Tiedemann GS, 1996, Bd. 1, S. 383.
361
1931 statt; Adornos Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie fand am 7. Mai. 1931 statt
– direkt nach der Verleihung seiner Venia Legendi. Dass beide Kenntnis der gegenseitigen Arbeit hatten, geht nicht nur daraus hervor, dass beide sich seit Horkheimers Assistenzzeit bei
Cornelius kannten,1324 sondern auch aus dem Briefverkehr, der ganz klar kenntlich macht, dass
beide über die Themen der Vorträge (das Verhältnis von Materialismus und Idealismus, Positivismus und die „metaphysische Frage“ der Totalität) im Gespräch waren.1325 Obwohl von
einem freundschaftlichen, persönlich vertrauten Verhältnis auf Grund fehlender Hinweise – Adorno und Horkheimer duzten sich im Briefverkehr seit dem 16.09.1937 – bei jenem frühen
Austausch nur schwer zu sprechen ist, wird darin ein gegenseitiges Interesse an der Arbeit des
anderen sichtbar.
In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass Adornos Antrittsvorlesung mit einem Grundsatz
beginnt und gewissermaßen die dahinterstehende Problemstellung als bekannt voraussetzt. Wie
der Titel deutlich macht, ist die Rede als eine Besinnung auf das Verhältnis von Philosophie
und Aktualität angelegt. Genauer aber verfolgt der Vortrag die Exposition einer kritischen Philosophie des Geistes bzw. der Kultur. Der Vortrag setzt ein Bewusstsein der politischen Krisen
voraus und ist selbst durch die Diagose der Krise der spekulativen Vernunft verstanden durch
die Momente der „Krise des Idealismus“ und der „Liquidation der Philosophie“. Beide Begriffe
sind geprägt von dem Gedanken des Niedergangs der vom Bürgertum geprägten rationalistischen und idealistischen Philosophie. Insgesamt ist so zu konstatieren, dass er durchweg auf
die Fragestellung und die Ausgangsproblematik Horkheimers eingeht. Deutlicher als er betont
Adorno die Unmöglichkeit, eine Bildungspolitik durch eine „rechtfertigende Vernunft“ in der
Tradition rationalistischen und idealistischen Denkens zu begründen:
„Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion, verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des
Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen. Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich
selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt; allein polemisch bietet sie dem Erkennenden als ganze Wirklichkeit sich
dar, während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und
gerechten Wirklichkeit zu geraten. Philosophie, die sie heute dafür ausgibt, dient zu nichts anderem, als die Wirklichkeit zu verhüllen und ihren gegenwärtigen Zustand zu verweigern.“1326
1324
Vgl. Horkheimer an Adorno, Monte – Carlo 24.02.1932. In: Gödde/Lonitz 2003, Bd. 1, S. 11.
1325
Vgl. Adorno an Horkheimer London 19.09.1937. In: Gödde/Lonitz 2003, Bd. 1, S. 406.
1326
Adorno GS 1996 Bd. 1, S. 326.
362
Adorno verdeutlicht durch den Hinweis, dass Philosophie als „philosophische Arbeit“ und „Beruf“ zu verstehen sei, sich ihre Aktualität so auch ihre Möglichkeit und Aufgaben ausschließlich
in Bezug auf die politische Ökonomie und als Produktivkraft verstehen lasse. Wie auch in Horkheimers Rede ist der Gedanke einer autonomen Vernunft ausgeschlossen. Deutlicher noch als
er akzentuiert Adorno aber, dass jeder Anschluss, der sich an die Idee einer „rechtfertigenden
Vernunft“ knüpft, so an die Möglichkeit einer positiven Normgebung, sich zwangsläufig in der
gesellschaftlichen Totalität verstrickt und die Wirklichkeit verkennt.
Adorno begründet seine These in der Darstellung der „jüngsten Philosophiegeschichte“. Das
erste Drittel der 19 Seiten des Manuskripts schildert die zeitgenössischen Positionen der Philosophie, so etwa die Positionen in den Schulen des Neukantianismus und der Phänomenologie,
in Zusammenhang mit dem Scheitern der kritischen Philosophie und der idealistischen Systemphilosophie.
„Die autonomen ratio – das war die Thesis aller idealistischen Systeme – sollte fähig sein, den
Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit selber aus sich heraus zu entwickeln. Dies Thesis
hat sich aufgelöst.“1327
Dadurch, dass Adorno die „jüngste Philosophiegeschichte“ in Bezug auf die Grund-Thesis des
Idealismus bewertet, erscheint sie ihm als „Problemgeschichte“,1328 im Sinne einer Verfallsgeschichte und Geschichte der Selbstauflösung der Vernunft. Problematisch an dieser Strategie
ist, dass er dadurch Gefahr läuft, die wesentlichen Neuerungen, die in keiner Rekurrenz auf die
Systematik und die Grund-Thesis des Idealismus stehen, verkennt. Deutlich erkennt Köchel
darin daher die Absicht der „Pointe“, dass „das philosophische Fragen nach dem so genannten
Ding an sich offensichtlich selbst stets in einem (zunehmend) fraglichen Verhältnis zur Möglichkeit respektive Unmöglichkeit der Beantwortung verbleibt“1329. Wenn Köchel damit Adornos These dahin auslegt, dass sich dem Idealismus die Wirklichkeit nicht aufschließt, da er
die „Schlüsselkategorien“ zu groß wählte und sich ihm nur die schon erschlossene Realität darbot, liegt er ganz richtig.1330 Denn in der These, dass die zeitgenössische Philosophie einen
Wirklichkeitsverlust kennzeichnet, ist angelegt, dass sie ihrem Wesen nach ideologisch ist.
Demnach sei sie vielmehr als ein Vollzugsmoment der Realität des Bestehenden als Vollzugsmoment der Wahrheit des Wirklichen zu verstehen.
1327
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 326.
1328
Vgl. Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 331.
1329
Köchel 2013, S. 157.
1330
Vgl. Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 340.
363
Entscheidend ist jedoch nicht die Pointe, auf die Adorno hier aus ist, sondern die Weise, wie er
durch die Philosophiehistoriographie die systematische Ausgangslage zur Beantwortung der
Frage nach der Möglichkeit einer Philosophie, der „es heute nicht auf Sicherheit des bestehenden geistigen und gesellschaftlichen Zustandes ankommt, sondern auf Wahrheit ankommt“1331
angeht. Von Wussow trifft den entscheidenden Moment der Darstellung Adornos in der These,
dass Adorno die Verfallsgeschichte „rechtfertigender Vernunft“ durch die Dynamik des „Auseinanderfallen[s] von Vernunft und Wirklichkeit (Denken und Sein)“1332 begreift. Dieses Auseinanderfallen vermag die zeitgenössische Philosophie nicht aufzuhalten, da sie sich entweder
den Begriff der Vernunft oder den Begriff der Wirklichkeit als Ausgangspunkt ihrer Philosophie nimmt und so die Dynamik des Auseinanderfallens nur vorantreibt.1333 Adorno beschreibt
diese Situation als Zwangslage, die die Philosophie in eine tiefe Selbstwidersprüchlichkeit
treibt. Besonders deutlich will Adorno diese Selbstwidersprüchlichkeit in der Phänomenologie
ausgedrückt wissen. Er schreibt:
„In dieser Situation setzt die Anstrengung des philosophischen Geistes ein, die uns unter dem
Namen der Phänomenologie gegenwärtig ist: die Anstrengung, nach dem Zerfall der idealistischen Systeme und mit dem Instrument des Idealismus, der autonomen ratio, eine übersubjektiv
verbindliche Seinsordnung zu gewinnen. Es ist die tiefe Paradoxie aller phänomenologischen
Intentionen, daß sie vermittels der gleichen Kategorien, die das subjektive, nachcartesische
Denken hervorgebracht hat, eben jene Objektivität zu gewinnen trachtet, der diese Intention im
Ursprung widersprechen.“1334
Adornos Diagnose als Diagnose des Endes der Philosophie auszulegen, ist daher nicht übertrieben, da er die These nahelegt, dass die Begriffe, Kategorien und auch die Vorstellung des philosophischen Denkens nicht mehr in der Lage sind, die wirklichen Verhältnisse zu beschreiben.
Wie Adorno im Durchlauf durch die neuere Philosophiegeschichte versucht zu unterlegen,
mündet auch jedes Erkennen und Denken, welches sich versucht in jenen traditionellen Kategorien, Begriffen und Bildern auszudrücken, in einem falschen Bewusstsein der Wirklichkeit.
Zudem betont er, dass die Krise der Philosophie nicht eine Krise der akademischen Philosophie
im Sinne eines Disputes, einer Kontroverse über ihre Grundbegriffe ist, sondern er geht so weit,
von einer „Liquidation der Philosophie“ insgesamt zu sprechen.
1331
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 331.
1332
Wussow 2007, S. 262.
1333
Vgl. Wussow 2007, S. 262.
1334
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 327.
364
Mit dem Begriff der „Liquidation der Philosophie“ soll der Zersetzungsprozess der „philosophischen Kardinalfragen“ durch die „logischen und mathematischen“ Wissenschaften einerseits und durch den logischen Positivismus bzw. Empirismus der „Wiener Schule“ und Empiriokritizismus andererseits beschrieben werden.1335 Eine Liquidation der Philosophie findet
demnach nicht nur durch die in der Moderne stetig steigende gesellschaftliche und bildungspolitische Relevanz der Naturwissenschaften statt, sondern ist ein innerphilosophisches Phänomen. Den Versuch der Tilgung der „philosophischen Kardinalfragen“ als metaphysische
Scheinprobleme mittels logischer und sprachanalytischer Verfahren versteht Adorno als eine
falsche Konsequenz der Krise des Idealismus, gegenüber der es Position zu beziehen gilt. Problematisch an der analytischen Philosophie sei vielmehr der Wegfall der kantischen Frage nach
dem synthetischen Urteil a priori, durch die allererst sich die regulative Funktion der Vernunft
verstehen und konstituieren lässt.
„[…] Philosophie wird allein zur Ordnungs- und Kontrollinstanz der Einzelwissenschaften,
ohne aus Eigenem den einzelwissenschaftlichen Befunden Wesentliches hinzufügen zu dürfen.“1336
Die Entschiedenheit, mit der sich Adorno gegen die analytische Philosophie wendet, ist aus
dem damit verstandenen Verlust der bildungspolitischen Relevanz und letztlich dem philosophischen Anspruch auf Wahrheit zu verstehen. Entschiedener aber noch als Horkheimer, der
ebenso von der politischen Relevanz spekulativer Vernunft überzeugt ist, wendet sich Adorno
gegen jegliche Einflussnahme anderer Einzelwissenschaften auf den Prozess des philosophischen Wahrheitsvollzuges. Dadurch würde der Wahrheitsanspruch nur geschmälert. So kritisiert Adorno auch die „Thesis einer prinzipiellen Auflösbarkeit aller philosophischen Fragestellungen in einzelwissenschaftliche“, da die Einzelwissenschaften zum einen das „Problem
des Sinnes von „Gegebenheit“ und zum anderen das Problem des „fremden Bewusstseins“ bzw.
des „fremden Ich“ nicht klären können.1337
Adornos Intention einer Kritik an Horkheimers Idee eines interdisziplinären Materialismus
wird gerade dadurch ersichtlich, dass Adornos den Wahrheitsanspruch der Philosophie nicht in
Hinblick auf eine dialektische Verhältnissetzung von Forschung und Philosophie zu konzipieren versucht, sondern gerade in Opposition zum Begriff der (Sozial-)Forschung verteidigt:
1335
Vgl. Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 331–334.
1336
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 332.
1337
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 332–333.
365
„Philosophie unterscheidet sich von der Wissenschaft nicht, wie die banale Meinung heute noch
annimmt, durch einen höheren Grad von Allgemeinheit. Weder durch Abstraktheit der Kategorien noch durch die Beschaffenheit des Materials sondert sie sich von den Wissenschaften. Die
Differenz liegt vielmehr zentral darin: die Einzelwissenschaft ihre Befunde, jedenfalls ihre letzten und tiefsten Befunde als unauflöslich und in sich ruhend hinnimmt, währen die Philosophie
den ersten Befund bereits, der ihr begegnet als Zeichen auffasst, das zu enträtseln ihr obliegt.
Schlicht gesagt: die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung.“1338
Deutlich wird, dass Adornos Programm einer Verbindung eines starken Wirklichkeitsbegriffs
und eines konstruktivistischen Interpretationismus1339 sich gegen den Begriff der Forschung, so
auch den Begriff der Sozial-Forschung wendet. Es ist jedoch nicht nur das Verhältnis zur Wirklichkeit, worin Adorno den Unterschied zwischen Forschung und Deutung verstehen will, sondern vor allem auch die zugrunde gelegte Ontologie. In Bezug auf den als genuin philosophisches Forschungsfeld markierten Begriff der Gegebenheit wird deutlich hervorgehoben, dass
die Deutung von „Zeichen“ ausgeht. Noch in der Diskussion über Dialektik mit Horkheimer
expliziert Adorno:
„Der Anteil des Subjektiven und Objektiven an der einzelnen Erkenntnis ist unausmachbar.
Daß man überhaupt mit Subjekt und Objekt bei der Konstitution der Erkenntnis operiert, sagt
dann nichts anderes, als daß die Erkenntnisse nicht in sich ruhen, nicht in sich beständig sind,
sondern daß sie als Mitträger einer Spannung in einem gewissen Sinne über sich hinausgreifen.
Der Begriff der Gegebenheit würde dann in sich den Begriff des Über-Sich-Hinausgreifenden
bereits enthalten. Es wäre nun die Aufgabe einer Theorie der Dialektik, den Begriff der Gegebenheit so anzusetzen, daß er diese dialektische Funktion bereits erfüllt. Ich rede von Bildern,
weil es sich nicht um begriffliches Sein handelt, sondern um unmittelbar vorfindliches Sein,
wobei freilich die unmittelbare Vorfindlichkeit nicht etwa durch die sinnliche Wahrnehmung
des Subjekts ausschließlich definiert wäre, sondern bestimmte gesellschaftliche Bedingungen
in sich begreifen würde.“1340
Die Elemente der Deutung, verstanden als Dialektik1341 des unbedingten Einlassens auf die „irreduzible Wirklichkeit“1342, als „Erschließung des Verborgenen durch Einsicht in die Dinge,
wodurch eine zunächst individuell verstehbare Erkenntnis gewonnen wird, die sich durch fort-
1338
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 334.
1339
Vgl. Wussow 2007, S. 10.
1340
Adorno/Horkheimer HGS 1985. Bd. 12, S. 530.
1341
„Einzig dialektisch scheint mir philosophische Deutung möglich. Wenn Marx den Philosophien vorwarf, sie hätten die
Welt nur verscheiden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß
aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert. In der Vernichtung der Frage
bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen:
darum zwingt sie die Praxis herbei.“ (Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 338 f.)
1342
Vgl. Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 343.
366
gesetzte Erschließung und Findung einer adäquaten Sprache als allgemein zugänglich erweist“1343, werden im Zitat deutlich als geschichtliche Bilder. Mit dem Begriff wird versucht,
zum einen dem in der „jüngsten Problemgeschichte“ diagnostizierten Zwang der Alternative
von Denken oder Wirklichkeit als Ausgangspunkt der Philosophie zu nehmen zu entkommen
und zum anderen das Verhältnis von Ontologie und Geschichte neu zu bestimmen. Gegebenheit
wird mit dem Begriff der dialektischen Bilder gedeutet und Philosophie als deutendes Geschick
dieser zu begreifen, führt die Annahme mit sich, dass
„Geschichte nicht mehr der Ort [zu begreifen ist, M.B.], aus dem die Ideen aufsteigen, selbständig sich abheben und wieder verschwinden, sondern die geschichtlichen Bilder wären selber gleichsam Ideen deren Zusammenhang intentionale Wahrheit ausmacht, anstatt daß Wahrheit als Intention in Geschichte vorkäme“1344.
Es zeigt sich hier als ein grundlegendes Charakteristikum des Philosophiebegriffs, Wirklichkeit
in ihrem Gegebensein radikal geschichtsphilosophisch aufzufassen.1345 Dem Wirklichkeitsverlust der Philosophie begegnet Adorno nicht mit einer Untersuchung der Vermittlung von Begrifflichem und Nicht-Begrifflichem, sondern durch eine radikalere geschichtsphilosophische
Auffassung des Gegebenen, welche die Forschung (da sie sich auf einen ungeschichtlichen Begriff der Gegebenheit bezieht)1346 implizit immer auch als Unwahrheit markiert. So schreibt er
in Die Idee der Naturgeschichte: „Die naturgeschichtlichen Fragestellungen sind nicht als generelle Strukturen möglich, sondern nur als Deutung der konkreten Geschichte.“1347
1343
Schmidt/Schischkoff 1991, S. 138.
1344
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 338.
1345
In seiner Schrift über Die Idee der Naturgeschichte wird dies explizit:
„Es ist das Verdienst der ontologischen Fragestellung, das unabhebbare Ineinander der Elemente von Natur und Geschichte
radikal herausgearbeitet zu haben. Dagegen ist es notwendig, diesen Entwurf zu reinigen von der Vorstellung einer umfassenden Ganzheit, und weiter notwendig, die Sonderung von Wirklichkeit und Möglichkeit von der Wirklichkeit her zu
kritisieren, während bisher beide auseinander fallen. Dies sind zunächst allgemeine methodologische Forderungen. Aber
weit mehr ist zu postulieren. Wenn die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte ernsthaft gestellt werden soll,
bietet sie nur dann Aussicht auf Beantwortung, wenn es gelingt, das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen
Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen, oder wenn es gelänge, die
Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein.“ (Adorno GS
1996, Bd. 1, S. 354)
1346
In der Diskussion über Dialektik mit Horkheimer macht Adorno dies deutlich:
„Für den positivistischen oder empirokitizistischen Begriff von Gegebenheit sind zwei Tatbestände fundamental: einmal,
daß die Gegebenheit, zu der wir gelangen, der letzte Ausweis alles Seins überhaupt und auch aller geschichtlichen Bewegung ist, die erst als Zusammenhangsform dieses Gegebenen begriffen werden kann, während in Ihrer Theorie über das
Verhältnis zwischen diesen Gegebenheiten und der geschichtlichen Bewegung insofern nichts ausgemacht ist, als sie selbst
auch geschichtliche gegeben sein können und allein die erkenntnispraktische Funktion erfüllen, daß wir uns Rechenschaft
darüber ablegen können, wie weit wir unserer geschichtlichen Kategorien mit Recht verwenden, ohne daß diese geschichtlichen Kategorien selber auf den Begriff der Gegebenheit zurückführbar sein müssten.“ (Adorno/Horkheimer HGS 1985.
Bd. 12, S. 529)
1347
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 358.
367
Adorno charakterisiert die deutende Philosophie sowohl in Abgrenzung zu einem formalistischen, reduktivistischen und objektivistischen Wissenschaftsbegriff, dessen Wahrheit auf „isolierte Stimmigkeiten“1348 aufbaut, als auch in Abgrenzung zu einer idealistischen Philosophie,
sofern sie versucht „die Totalität des Wirklichen zu erzeugen oder zu begreifen“1349. So schreibt
er:
„[…] die Idee philosophischer Deutung weicht nicht vor jener Liquidation der Philosophie zurück, die mir durch den Zusammenbruch der letzten philosophischen Totalitätsansprüche signalisiert erscheint. Denn der strenge Anschluß aller im herkömmlichen Sinne ontologischen
Fragen, die Vermeidung invarianter Allgemeinbegriffe – auch etwa des des Menschen –, die
Ausschaltung jeder Vorstellung einer selbstgenügsamen Totalität des Geistes, auch einer in sich
geschlossenen „Geistesgeschichte; die Konzentration der philosophischen Fragen auf konkrete
innerhistorische Komplexe, von denen sie nicht abgelöst werden sollen: diese Postulate werden
einer Auflösung dessen, was man bislang Philosophie nannte, überaus ähnlich.“1350
Philosophie kann nur zur Wahrheit kommen, sofern sie sich gegenüber der „irreduziblen Wirklichkeit“1351 des Sachverhaltes verantwortet. Anders als Horkheimer sieht Adorno die Philosophie vor allem in einer Kommunikationssituation mit sich selbst und es bedarf einer „radikalen
Kritik des herrschenden Philosophischen Denkens“1352. Die Kritik der Philosophie kann jedoch
nur durch die Philosophie selbst vollzogen werden, die deutende Philosophie nur im kritischen
Verhältnis zur „Problemgeschichte“ der Philosophie. So schreibt er, dass auch wenn die Philosophie, „dieses große Haus […] längst baufällig geworden“ sei, so ist der „Philosoph, einem
Baumeister gleich […] der Soziologe der Fassadenkletterer“1353. In dieser Ansicht kündigt sich
der paradoxe Selbstentwurf eines Denkens an, welches sich als „solidarisch mit Metaphysik im
Augenblick ihres Sturzes“1354 kennzeichnet.
Die Kategorien und Begriff der deutenden Philosophie können nur negativ im Verhältnis zur
Philosophiegeschichte entworfen werden, denn durch den geschichtsphilosophischen Begriff
der Gegebenheit ist implizit auch vermittelt, dass es kein Außen der Geschichte gibt, so auch
nicht für das philosophische Denken. Deshalb auch kritisiert er jeglichen Versuch der Phänomenologie. Positiv gewendet aber folgt daraus die grundsätzliche Bestimmung der deutenden
1348
Vgl. Adorno, GS 1996, Bd. 1, S. 342.
1349
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 344.
1350
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 339.
1351
Vgl. Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 343.
1352
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 339.
1353
Adorno GS 1996, Bd. 1, S. 340.
1354
Adorno GS 2003, Bd. 6, S. 400.
368
Philosophie, dass sie ihr kritisches Maß in der deutenden Auseinandersetzung mit den geschichtlichen bzw. dialektischen Bildern finden muss. Darin wird die These deutlich, dass die
grundlegende Aufgabe der Philosophie eine Sozial- und Kulturdeutung ist und dass das richtige
Maß der Kritik vom Geschick der Deutung abhängt. Kreativität und Kritik finden eine Verhältnissetzung im Begriff der deutenden Vorstellungskraft, die Adorno sowohl der Wissenschaft
als auch der Philosophie verloren gegangen meint:
„Denn die geschichtlichen Bilder, die nicht den Sinn des Daseins ausmachen, aber dessen Fragen lösen und auflösen –, diese Bilder sind keine Selbstgegebenheiten. Sie liegen nicht organisch in Geschichte bereit; es bedarf keiner Schau und keiner Intuition ihrer gewahr zu werden,
sie sind keine magischen Geschichtsgottheiten, die hinzunehmen und zu verehren wären. Vielmehr: sie müssen vom Menschen hergestellt werden und legitimieren sich schließlich allein
dadurch, daß in schlagender Evidenz die Wirklichkeit um sie zusammenschließt […] Man man
hier einen Versuch sehen, jene alte Konzeption der Philosophie wieder aufzunehmen, die Bacon
formulierten und um die Leibniz zeitlebens leidenschaftliche sich mühte: eine Konzeption die
der Idealismus als Schrulle verlachte: die der ars inveniendi. […] Organon dieser ars inveniendi
aber ist die Phantasie. Eine exakte Phantasie; Phantasie, die streng in dem Material verbleibt,
das die Wissenschaften ihr darbieten, und allein in den kleinsten Zägen ihrer Anordnung über
sie hinausgreift: […].“1355
Der letzte Satz ist allerhöchstens als eine versöhnliche Geste gegenüber dem Programm des
Instituts für Sozialforschung zu verstehen, nicht aber als Aufhebung der von Adorno strikt aufgeführten Opposition von Forschung und Deutung, Wissenschaft und Philosophie. Das wäre
inhaltlich nicht haltbar. Der Begriff der deutenden Philosophie als ars inveniendi legt nache,
dass allein durch sie die Entfaltung einer Vorstellungskraft zugeschrieben ist, welche in begrifflichen Versuchsanordnungen, Konstellationen und Konstruktionen die Wirklichkeit sichtbar
machen könne. Kritik und schließlich auch die bildungspolitische Relevanz der Forschung, so
wird deutlich, könne nur durch eine deutende Philosophie erschlossen werden. Allein ihr wird
zugesprochen, „Sachverhalte“ begreifen zu können und nicht aus „isolierten Stimmigkeiten“
aufzubauen.1356 Interessant ist – schon hier – Adornos Versuch, die deutende Philosophie in
ihrer politischen und schließlich ethischen Dimension zu ergründen.
Es bleibt wichtig zu verstehen, dass Adorno in seinem Programm einer deutenden Philosophie
nicht bloß eine ablehnende Haltung gegenüber der Sozialforschung nach Horkheimer einnimmt. Vielmehr ergreift er die Seite eines anderen Programms der kritischen Gesellschafts-
1355
Adorno GS 2003, Bd. 6, S. 341 f.
1356
Vgl. Adorno GS 2003, Bd. 6, S. 342.
369
theorie. Adorno kennzeichnet im Manuskript, so wahrscheinlich auch in der Rede, das Programm einer deutenden Philosophie nicht als das eigene Programm, sondern als ei
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