2. Selbstreflexion als Therapie Alle meine Ansätze sind am philosophischen Ende, am organisch-sexuellen ist gar nichts gekommen. Freud an Fließ (23. 2. 1898)1 Die psychoanalytische Therapie arbeitet an der Rekonstruktion der verdrängten Geheimgeschichte neurotischer Individuen, indem sie die biographische Legende des »offiziellen Bewußtseins« kritisiert und die unterdrückten Kränkungsszenen aus ihren Spuren (in den »freien« Assoziationen) zu erraten sucht. Die »Nacherziehung« des Patienten vollzieht sich im Rahmen des Arrangements der Kur, das der ursprünglichen Sozialisations-Situation nachgebildet ist. Die Anamnese-Leistung des Patienten bedarf der Übertragungsliebe als ihres Vehikels. In den Übertragungs-Phänomenen wie in den Erinnerungen des Patienten reproduzieren sich die in den Status neurotischer Unsterblichkeit versetzten neurotogenen FamilienSzenen. Die Kranken wissen nicht mehr, was ihnen widerfahren ist, aber sie müssen es darstellen; das Verdrängte zwingt sie in die Kreisbahn ewiger Wiederkehr des Gleichen.2 Durch Wiederholung aber ist das Trauma nicht zu erschöpfen. Die Psychoanalyse sucht darum die Patienten vom Darstellungszwang zu befreien, indem die Darstellung virtualisiert und die bewußte Erinnerung auf Kosten der Inszenierung provoziert wird. Die an spezifische Bedingungen gebundene Reproduktion der traumatischen Kindheitsszenen ist zur Heilung unentbehrlich. Das schlecht gelebte Leben, das nicht sterben kann, muß nochmals durchlitten, die alten Neurosenarben müssen noch einmal aufgerissen werden; das Ich hat sich dem Abgewehrten, stets Vermiedenen zu stellen, um seiner Ohnmacht sich zu entwinden. Erst wenn die Vergangenheit wieder auflebt, 1 Zitiert nach Jones (1954-57), I, 413 (Anm. 23). 2 »Der Kern des hysterischen Anfalls... ist eine Erinnerung, das hallucinatorische Wiederdurchleben einer für die Erkrankung bedeutungsvollen Scene .. . Ein Trauma wäre zu definieren als ein Erregungszuwachs im Nervensystem, dessen sich letzteres durch motorische Reaction nicht hinreichend zu entledigen vermag. Der hysterische Anfall ist vielleicht aufzufassen als ein Versuch, die Reaction auf das Trauma zu vollenden . ..« Freud (1894), 107 (Anm. 1). 76 die alten Affektstürme noch einmal toben, und das Ich sich Bewußtsein und Erinnerung nicht auf dem eingefahrenen Abwehrwege erspart, sondern dem Bedrohlichen standhält, macht es sich die Vergangenheit zu eigen, zieht aus dem Standhalten neue Kraft diejenige, die es seither auf die Abwehr verwenden mußte. Die alten Geschichten aber werden zur Sprache verhalten. Die Neuauflage der Kindheitsszenen wird zwar provoziert, aber nur zu einer eigentümlich sublimierten, auf Verbalisierung gestellten Reproduktion zugelassen. Das »Agieren«, die einfache, das Ich mitreißende Darstellung der prekären Erlebnisse, die die Dimension sprachlicher Vergegenwärtigung, distanzierender Mitteilung umgeht, gilt als Abwehr. Was dem Neurotiker im Leben stets wieder passiert, seine Interaktionen zum immergleichen Ritual erstarren läßt, ihn in die immergleichen Konflikte verwickelt, muß in der Analyse sistiert werden. Er soll nicht in der Reproduktion neurotisierender Szenen aufgehen, sondern sie erinnernd erzählen. Das Unbewältigte erfährt nicht eine Neuaufführung, sondern wird, wie es zu Zeiten der hypnotischkathartischen Therapie hieß, durch »Absprechen« erledigt. Die biographischen Schlüsselszenen werden unter den Spielbedingungen des psychoanalytischen Schattentheaters, die denen des Traumes gleichen, vorgestellt. In einem im Alltagsleben, in der gesellschaftlichen Realität unvorstellbaren Maße herrscht Ausdrucksfreiheit; die Motilität ist stillgestellt, die Verantwortlichkeit aufgehoben, die Zensur zurückgenommen; der Therapeut dient als passiver, wandlungsbereiter Gegenspieler. Ist das Traumtheater einem Filmtheater vergleichbar, so gleicht das psychoanalytische einer Sprechbühne. Die (Übertragungs-) Illusion des Akteurs, er sei der neurotische Akteur und nichts als dieser, der Therapeut sei der geliebte und gehaßte Gegenspieler aus den Kindheitsszenen, wird immer wieder dadurch aufgebrochen, daß der vermeintliche Mitspieler bei der Wiederaufführung der verdrängten Deck- und Urszenen aus der ihm zugemuteten Rolle fällt und (die Gegenübertragung durchstoßend) den neurotischen Illusionsschauspieler zur Rollendistanz, zur Selbstreflexion nötigt. Das Aufgehen in der (neurotisch) vorgeschriebenen Rolle wäre hier (wie auf dem epischen Theater Brechts3) der Verzicht auf die Leistung, um derentwillen die Institution 3 Vgl. W. Benjamin, Was ist das epische Theater? (1939); Abschn. IV, V und VII. In: Benjamin (1966), 25-30. 77 (der psychoanalytischen Kur) ersonnen ward, ein Kunstfehler des Therapeuten. Nur indem die ins Unbewußte verbannten Szenen über die verbale Mitteilung zu bewußten Erinnerungen werden, wird ihr verhaltensdeterminierender Bann gebrochen, eine lebenspraktisch wirksame Revision der habitualisierten Ichabwehren möglich. Die zeitgenössische Medizin hatte, dem Augenschein vertrauend, die Hysterien als Simulationen verkannt. Freuds »Spurenwissenschaft«4 erwuchs aus der Skepsis gegenüber dem Augenschein, dem Mißtrauen gegenüber dem »offiziellen Bewußtsein« und seiner Erinnerung. Die Aufgabe der Verführungstheorie führte nicht zu einem Versuch, die Erinnerungsfälschung der Neurosepatienten zu umgehen, etwa die zur Aufklärung der Symptomatik erforderlichen Informationen durch Befragung von Augenzeugen ihrer Kindheit sich zu verschaffen, sondern zu einem veränderten Verständnis der Phantasien. Sie galten nicht mehr als realistische Darstellung von Begebenheiten der Kindheitsgeschichte, sondern als indirekte Hinweise auf traumatische Erfahrungen, die sich nur durch Kritik und Deutung der Phantasien erschließen lassen. Die analytische »Grundregel« ist ein Versuch, die Patienten dazu zu bringen, ihren Widerständen entgegen, die sie in Unkenntnis über sich selbst halten, mehr zu sagen, als sie aktuell wissen (dürfen). Mit Hilfe von Konstruktionen aus diesem Assoziationsmaterial, um das die Wünsche und Ängste der Patienten kreisen, wird ein Modell der Geheimgeschichte der Kranken entworfen, in dessen Kontext die isoliert genommen rätselhaften Symptome ihren versteckten Sinn freigeben, - als einen hypothetischen für den Therapeuten, als den wirklichen für den Patienten, sofern er sich in dem Modell erkennt. Die aus der Erinnerung verstoßenen »Daten«, Episoden der Kindheit, haben Bedeutung einzig im Kontext der biographischen Kränkungsgeschichte; ihr Sinn, der oft erst »posthum« (im Fortgang der Lebensgeschichte) sich bildet, nicht ihre Faktizität ist für Neurose und Therapie entscheidend. Was der Analytiker gemeinsam mit seinem Patienten sucht, sind nicht »Tatsachen«, nicht der wirkliche Ablauf dieser oder jener Begebenheit in der Kindheit des Kranken, sondern deren Bedeutung. Ein bestimmter Tag, eine bestimmte Szene wurde für die innere Bildungsgeschichte des Neurotikers entscheidend, weil in der Kette sensibilisierender Erfahrungen diese eine schließlich den Heranwachsenden so sehr überwältigte, daß seine Ichorganisation eine bleibende Schädigung davontrug, aus der die neurotische Ichspaltung sich entwickelte. Dieses Ereignis aber war ein innerliches, das an den tatsächlichen Begebenheiten jener Kindheitsphase nicht abgelesen und von niemandem als dem Kranken selbst bezeugt werden kann. Die Psychoanalyse erschließt die individuelle Lebensgeschichte aus den direkten und indirekten Mitteilungen ihres Autors. Die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse werden in der therapeutisch relevanten Selbstdarstellung in der Regel nicht zum Thema, bilden vielmehr nur deren Kulisse. Auch die pathogenetischen intrafamilialen Interaktionsstile, die sich im Rahmen spezifischer sozialer Lebenssituationen einspielen, erforscht die Therapie im Medium von Anamnesis, als abgelebtes, strukturgewordenes Leben. Ihre Einstellung ist streng monadologisch. Die Übersetzung der therapeutischen Erfahrung in die Sprache der Meta-psychologie impliziert die theoretische Reduktion der mikrosozialen Interaktionsprozesse, deren Reflexion und Revision die Therapie in erster Linie gilt, auf die reine Innerlichkeit des solipsistisch konstruierten psychischen Apparats. Aus Objekten werden ObjektRepräsentanzen, aus Liebe und Haß Besetzungsverschiebungen, aus der Auseinandersetzung zwischen Personen die der psychischen Instanzen. Im Rahmen der Strukturtheorie schrumpft die Dramatik der infantilen und aktuellen szenischen Interaktionen des Patienten zusammen auf problematische Relationen der Substrukturen des »Reizbewältigungsapparats«. Die Personifizierung der »Instanzen« ist der letzte Hinweis darauf, daß, was sich jetzt nur mehr zwischen den psychischen »Systemen« zuträgt, einmal die dramatische Interaktion der Figuren auf der Familienbühne war. Freud hat die Familie als Sozialisationsagentur entdeckt. Als solche erscheint sie sowohl in den Fallgeschichten wie im Entwurf der frühen Menschheitsgeschichte als einer Familiengeschichte. In der Lehre von der psychosexuellen Ontogenese, von der Therapie und vom psychischen Apparat aber fristet sie nur ein Schattendasein. Sie ist die soziale Matrix der Ontogenesen und wird doch nie selbst zum Problem.5 Die Konzeption der Psychoanalyse als einer Natur- 3 Vgl. S. Bernfeld (1932 b), 482. 5 »Bei allen Einsichten, die Freud uns implizit oder explizit über die Familiensituation seiner Patienten bescherte, blieb das Teleskop seines Erkennens 78 79 Wissenschaft von der Seele zehrt wesentlich von der metapsychologischen Verallgemeinerung der therapeutischen Erfahrung. Ohne Rekurs auf den therapeutischen Prozeß als ihre Erfahrungsbasis erscheint als allgemeine Theorie, was doch nur generalisierte Historie, Interpretationsrahmen von Lebensgeschichten ist.6 Daß Psychoanalyse wesentlich eine Interaktionstheorie ist, wird gegenwärtig deutlicher gesehen.7 Im Rahmen der Sozialisationstheorie wird wie selbstverständlich der am Paradigma des Rollenhandelns orientierte symbolische Interaktionismus der Mead-Schule8 der psychoanalytischen Identifikationstheorie unterlegt.9 Gleichzeitig hat die psychoanalytisch orientierte Schizophrenieforschung10 ebenso wie die Familientherapie11 die traditionelle monadologische Orientierung auf den isolierten Patienten aufgegeben und ist zur Erforschung der Interaktionsstile und Kommunikationsstrukturen ganzer Familien übergegangen, deren Mitglieder die neurotische (bzw. psychotische) Störung arbeitsteilig zur Darstellung bringen. »Niederschläge« von Objektbesetzungen, »besetzte« Repräsentanzen, Engramme vertreten im Binnenraum der Monaden, wie sie die Metapsychologie konzipiert, die »Außenwelt«, - die soziale und die (durch sie vermittelte) natürliche. Was den Engrammen Virulenz verleiht, ist die an sie gebundene psychische Energie. Wann immer die »Triebe«, aus innersomatischen Reizquellen (als aus ihren Erzeugungsstätten) aufsteigend, den seelischen »Reizbewältigungsapparat« überfluten, nach Abfuhr drängen, folgen sie den ontogenetisch erworbenen Abfuhrbahnen der »Triebschicksale«. Seit der Publikation der »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905) ist Freuds Trieblehre zur populärsten Komponente im Kanon der psychoanalytischen wesentlich auf die analytische Zweierbeziehung und die innerpsychischen Prozesse des Patienten gerichtet. Er ließ die Familie vergleichsweise unscharf am Rande seines wissenschaftlichen Interessenhorizontes liegen.« H. Stierlin (1971), 104 f. 6 Vgl. Habermas (1968 b), 290 f., 309 und 318. 7 Vgl. z. B. Caruso (1962); Loch (1969); Loewald (1970); Argelander (1970); Lorenzer (1971; 1972; 1973). 8 G. H. Mead (1934; 1969); E. Goffman (1959). 9 Vgl. dazu T. Parsons und R. F. Bales (1955); T. Parsons (1964); E. Schwa-nenberg (1970); L. Krappmann (1971). 10 Vgl. T. Lidz u. a. (1957-59); G. Bateson u. a. (1969); P. Watzlawick u. a. (1967, 1969). 11 Vgl. I. Boszormenyi-Nagy und J. Framo (Hg.), 1965; H. Stierlin (1971). 80 Theorien geworden. Sie tritt als (objektivistisch konzipierte) biologisch-materialistische Anthropologie auf. An Versuchen, die LibidoEnergie dingfest zu machen12 oder soziale Institutionen wie Krieg und Geld direkt von bestimmten Partialtrieben abzuleiten13, hat es daher nicht gefehlt. Doch auch das naturalistische Inkognito der Triebtheorie hält näherer Prüfung nicht stand. »Triebe« sind nicht Daten experimenteller Beobachtung, sondern aus der Erfahrung der Therapie (im Anschluß an die überlieferten Anthropologien) entwickelte »mythologische« Interpretationen menschlicher Grundbedürfnisse. Freuds biologischer Materialismus tendiert zum historischen. In den einfachsten, physiologischen Formulierungen der Trieblehre sucht Freud, den »Trieb« als somatischen Binnenreiz und den »Reiz« als die Anregung, die dem Organismus von außen her zukommt, reinlich auseinanderzuhalten: »Der Triebreiz stammt nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Innern des Organismus selbst.« Im Unterschied zum Reiz wirkt der Trieb »nie wie eine momentane Stoßkraft, sondern immer wie eine konstante Kraft. Da er nicht von außen, sondern vom Körperinnern her angreift, kann auch keine Flucht gegen ihn nützen.« »Wenn z. B. ein starkes Licht auf das Auge fällt, so ist das kein Triebreiz; wohl aber, wenn sich die Austrocknung der Schlundschleimhaut fühlbar macht oder die Anätzung der Magenschleimhaut.«14 Diese Unterscheidung bedarf des Zusatzes: »vorausgesetzt nämlich, daß diese inneren Vorgänge die organischen Grundlagen der Bedürfnisse Durst und Hunger sind.« Diese Ergänzung besagt: Sofern (somatische) Reize Substrat (oder Signal?) von »Bedürfnissen« sind, handelt es sich um »Triebreize«. Die Verknüpfung des physiologisch konstatierbaren (und »fühlbaren«) Datums mit dem Bedürfnis beruht auf Interpretation; der »Triebreiz« ist eben das gedeutete, in der Selbstwahrnehmung gegebene physiologische Phänomen. »Innen« und »Außen« sind im Triebreiz unauflöslich miteinander verschränkt. Die verschiedensten äußeren Reize können ihn wecken, mit ihm fusionieren. Der »Trieb« selbst wird als Vertretung oder Signal des somatischen Triebreizes im psychi12 Vgl. etwa die libidometrischen Studien von S. Bernfeld und S. Feitelberg (1930) oder W. Reichs »Orgonomie« (1938, 1953 b). 13 Vgl. Fenichels Kritik der entsprechenden Arbeiten von Laforgue und Glo-ver (Fenichel, 1932, 1934 b, 1935 a). 14 Freud, Triebe und Triebschicksale. GW X, 211 f. 81 schen Apparat (im »Es«) aufgefaßt: »Unter einem >Trieb< können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle ...«15 Doch das mit »Trieb« Gemeinte läßt sich weder der res cogitans noch der res extensa eindeutig zuordnen. »Die ökonomische Betrachtung nimmt an, daß die psychischen Vertretungen der Triebe mit bestimmten Quantitäten Energie besetzt sind...« (GW XIV, 302) Hier wie in anderen triebtheoretischen Passagen Freuds - wird als »Trieb« nicht die »psychische Vertretung« einer somatischen Erregung bezeichnet, sondern diese selbst (das Vertretene). Bald wird der »Trieb« als ihre psychische Vertretung auf die (selbst unkenntliche) somatische Energie bezogen, bald jene Energie beim Namen des »Triebs« als ihrer psychischen Repräsentanz gerufen (die selbst ganz unbestimmt bleibt, über ihr verborgenes Substrat also auch keinen Aufschluß gibt). »Trieb ist... einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen« (GW V, 67). Diese Bestimmung rückt den Triebbegriff aus der Objektsprache in die Theoriesprache; er soll der Abgrenzung zweier (theoretisch unterschiedener) Sphären dienen: »Wir können dem >Trieb< nicht ausweichen als einem Grenzbegriff zwischen psychologischer und biologischer Auffassung...« (GW VIII, 410 f.) Jedoch: »Wenden wir uns nun von der biologischen Seite her der Betrachtung des Seelenlebens zu, so erscheint uns der >Trieb< als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.«16 Demnach liegt der »Triebbegriff« nicht (sie vermittelnd) auf der Grenze zweier theoretischer Konzeptionen, sondern der »Trieb«, wiewohl auch stets »Begriff«, ist selbst ein Grenzwesen, das zwischen Physis und Psyche haust. Den Trieb, den wir wohl spüren, als Drängen wie als »Widerstand«, können wir gleichwohl nicht »an sich« fassen; er bleibt Sendbote aus dem »inneren Ausland«, das für uns nur indirekt sich erschließen läßt. Jeder Versuch, spezifische Triebregungen näher zu bestimmen, sieht sich auf das »äußere Ausland« verwiesen, woher die »Triebschicksale« stammen. Die psychologische 15 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V, 67. 16 Triebe und Triebschicksale. GW X, 214. 82 Erfahrung gibt uns nicht Kenntnis vom Somatischen »an sich«, sondern vom Somatischen, wie es in der »Innen« und »Außen« vermittelnden psychischen Arbeit erscheint. Ist der »Trieb« ein Grenzwesen, so ist die »Psyche« selbst ein Intermedium. Den intermedialen Charakter des Psychischen, worin Menschennatur Geschichte, Geschichte »zweite Natur« wird, reflektieren die leitenden Begriffe der Freudschen Metapsychologie. Die Inkonsequenz im Gebrauch des Triebbegriffs hat ihr fundamentum in re. Nietzsche notierte unter dem Titel »Zur Psychologie und Erkenntnislehre«: »Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt - der wirkliche Vorgang der inneren >Wahrnehmung<, die Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, wie die zwischen Subjekt und Objekt, uns absolut verborgen - und vielleicht eine reine Einbildung. Diese scheinbare innere Welt< ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie die >äußere< Welt. Wir stoßen nie auf >Thatsachen<...«17 Die Triebe sind »großartig in ihrer Unbestimmtheit«; »wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen«18; die Trieblehre aber ist eine »Mythologie«. Freud lokalisiert die organischen Triebe im »dunklen« Es, »das nicht direkt mit der Außenwelt verkehrt und auch unserer Kenntnis nur durch die Vermittlung einer anderen Instanz zugänglich wird« (GW XVII, 128). »Wir stellen uns vor, es sei am Ende gegen das Somatische offen, nehme da die Triebbedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren psychischen Ausdruck finden, wir können aber nicht sagen, in welchem Substrat« (GW XV, 80). Das Grenzwesen Trieb haust auf der Grenze zwischen Soma und Es (Psyche). Es läßt sich als die Anforderung charakterisieren, die jeweils eines der großen Körperbedürfnisse an die Arbeit des psychischen Apparats stellt19, als 17 Nietzsche (1887/88), 295. 18 GW XV, 101. - Infolge des ontogenetisch verspäteten Auftretens der »sekundären Vorgänge« (der an Selbsterhaltung orientierten Hemmung der Abfuhr und des dadurch ermöglichten denkenden Probehandelns) »bleibt der Kern unseres Wesens, aus unbewußten Wunschregungen bestehend, unfaßbar und unhemmbar für das Vorbewußte, dessen Rolle ein für allemal darauf beschränkt wird, den aus dem Unbewußten stammenden Wunschregungen die zweckmäßigsten Wege anzuweisen.« Die Traumdeutung, GW II/III, 609. 19 Vgl. GW V, 67, und X, 214. 83 die Kraft, mit der es sich äußert (GW XI, 323). Nähere Bestimmung haben in der psychoanalytischen Arbeit nur die Schicksale der Libido erfahren. Was die libidinösen Regungen »voneinander unterscheidet und mit spezifischen Eigenschaften ausstattet, ist deren Beziehung zu ihren somatischen Quellen und ihren Zielen. Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ und das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung dieses Organreizes« (GW V, 67); »auf dem Wege von der Quelle zum Ziel wird der Trieb psychisch wirksam. Wir stellen ihn vor als einen gewissen Energiebetrag, der nach einer bestimmten Richtung drängt. Von diesem Drängen hat er den Namen: Trieb... Das Ziel kann am eigenen Körper erreicht werden, in der Regel ist ein äußeres Objekt eingeschoben, an dem der Trieb sein äußeres Ziel erreicht; sein inneres bleibt jedesmal die als Befriedigung empfundene Körperbeziehung.«20 Beiläufig, in einem Nebensatz versteckt, taucht hier als bloßes Befriedigungs-Mittel auf, wovon doch alle nähere Bestimmung des Triebes abhängt: das Objekt, worauf er sich richtet.21 »Anheftung« und »Loslösung« der Libido »von Personen und anderen Objekten« (eigentlich: deren intrapsychischen Repräsentanzen) macht den Inhalt der Triebschicksale aus.22 Libido hängt an Vorstellungen, tritt nicht »rein« auf, sondern als Wunschregung. Die »Sexualobjekte« aber werden Befriedigungserlebnissen »entnommen« (GW X, 153). »Die Liebe ... ist ursprünglich narzißtisch, übergeht dann auf die Objekte, die dem erweiterten Ich einverleibt worden sind, und drückt das motorische Streben des Ichs nach diesen Objekten als Lustquellen aus« (GW X, 231). Erfahrene Befriedigungslust weist dem Trieb den Weg, strukturiert ihn, macht ihn konservativ, läßt ihn in die Kreisbahn von Wiederholung einschwenken, in der Freud die Haupttendenz aller Triebe erkennt.23 Von den Objekten her und von den Zielen, die ohne ihr Zutun nicht erreichbar sind, wird erst der Trieb bestimmbar; seine Schicksale sind die der Objektbeziehungen des Individuums. »Das Studium der Triebquellen gehört der Psycho20 GW XV, 103 (von mir hervorgehoben, H. D.). 21 »Neben .. . autoerotischen Betätigungen äußern sich sehr frühzeitig beim Kinde jene Triebkomponenten der Sexuallust. . ., die eine fremde Person als Objekt zur Voraussetzung nehmen.« GW VIII, 46 (von mir hervorgehoben, H. D.). 22 Vgl. GW VIII, 308 f. 23 Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, 38 ff. 84 logie nicht mehr an; obwohl die Herkunft aus der somatischen Quelle das schlechtweg Entscheidende für den Trieb ist, wird er uns im Seelenleben doch nicht anders als durch seine Ziele bekannt« (GW X, 216). Unausgesetzt wird Ichlibido in Objektlibido umgewandelt und umgekehrt (GW XV, 109); »im Zustande des Narzißmus« sind sie »für unsere grobe Analyse ununterscheidbar« (GW X, 141), erst »wenn die Libido vom Ich auf die äußeren Objekte überfließt«, kommen wir in die Lage, »die libidinösen Triebe als solche zu erkennen und von den Ichtrieben zu unterscheiden« (GW XII, 5). Das heißt: die Chance, die Triebe zu erkennen, zu unterscheiden und näher zu bestimmen, hängt daran, daß sie an »Objekten« haften. Wir wissen von keinem Trieb, der nicht in Szenen, aktuelle, erinnerte oder ersehnte, eingebunden wäre, und auch der narzißtisch-rückgewendete erscheint nur vor der Folie von Objektbeziehungen. Der menschliche Trieb bringt sein Objekt nicht mit auf die Welt; der bei anderen Lebewesen hereditär fixierte, geschlossene Kreis von Trieb-Periodizität, spezifischen UmweltAuslösern und invariablen Befriedigungsaktionen ist gattungsspezifisch aufgebrochen, - der Trieb luxuriert. Seine Strukturierung empfängt er in (gesellschafts- und schichtspezifischen) Sozialisationsprozessen, die die Triebziele mit tradierten Normen verlöten, sie legitimieren oder tabuieren. Der Trieb erfährt vom Objekt her seine Bestimmung, das Bedürfnis erwächst erst an seinem Gegenstand. »Triebschicksal« heißt die Prägung des Triebs durch die für die individuelle Lebensgeschichte entscheidend gewordenen Objektbeziehungen. Solange der neurotische Bann nicht gebrochen wird, wiederholt sich die zum »Schicksal« geronnene, verinnerlichte Geschichte mißlungener Interaktionen. Was uns als menschliche »Natur« vor Augen tritt, zu Bewußtsein kommt, ist stets vermittelt durch (symbolische) Interaktionen, denen der historisch jeweils herrschende Modus der Vergesellschaftung die Formbestimmtheit aufprägt, und deren Verinnerlichung der psychischen Arbeit der Individuen die Aufgaben vorgibt. Darum kann, wie Freud sagt, nie ein Trieb »Objekt des Bewußtseins werden«, sondern »nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert«. »Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen« (GW X, 275f.). Die Psychoanalyse hat es nicht mit »Natur« zu tun, sondern mit historisch modifizierter, be85 arbeiteter Natur, nicht mit »Geist«, sondern mit sublimiertem Trieb; sie ist weder Natur- noch Geisteswissenschaft, sondern eine soziale, keine allgemeine Theorie der menschlichen Seele, sondern eine historischspezifische. Ihr Leben hat sie am Widerstreit von Libido und Ananke, Ich und Es, Individuum und »Kultur«, der in keiner psychischen oder sozialen Bildung sich stillstellen läßt. Die innere, psychische Arbeit der Individuen verweist allerorten auf die äußere, die technische Auseinandersetzung mit unwirtlicher Natur, die sich im Medium der Klassenkämpfe und -kompromisse vollzieht. Freuds biologischer Materialismus markiert, daß die Menschen selbst Natur sind; »die Sprache der Kraft ist« darum »von der Sprache des Sinns niemals zu besiegen«. Aber »die Psychoanalyse stellt uns« auch »niemals vor nackte Kräfte, sondern immer vor Kräfte auf der Suche nach einem Sinn« (Ricoeur24). Darum ist der biologisch-materialistische Charakter der Triebtheorie ein defizienter Modus; sie bedarf der Historisierung. Der Trieb ist Repräsentant des Somatischen im Psychischen; dort aber wird er selbst repräsentiert durch affektgeladene Vorstellungen, zunächst im Unbewußten. Vor Entwicklung der Triebtheorie definierte Freud den psychischen Konflikt als einen zwischen unvereinbaren Vorstellungen, an denen unterschiedliche Affektbeträge haften.25 Der Konflikt wird entschieden, indem das moralische Bewußtsein dem verpönten Affekt wie einem unbequemen Sprecher das Wort entzieht, das ihn erst zu Bewußtsein bringt, der affektiven Regung Sinn gibt, indem es auf Befriedigungsmöglichkeiten (Objekte, Ziele) hinweist. Die »peinliche Kontrastvorstellung« wird dadurch »außer Assoziation« gesetzt. Der von der Wort-Vorstellung, die ihn artikulierte, abgetrennte »Gegenwille« verfügt über keinen Zugang mehr zur Motilität, es sei denn, er überliste die Ich-Instanz, indem er sich ihr (etwa im Witz) inkognito präsentiert. Die ihrer affektiven Ladung beraubte, neutralisierte Vorstellung verfällt der totalen oder partiellen Amnesie, sie wird vom verdrängten Affekt mit ins Unbewußte gerissen; der Affekt selbst wird »ein24 Die Interpretation (1965), 159 und 161. Die Doppelformel ist das Resultat einer genauen Analyse der Freudschen Triebtheorie. Vgl. a.a.O., 2. Buch, 1. Teil, Kap. III: »Trieb und Vorstellung in den metapsychologischen Schriften«. 25 Vgl. dazu GW I, 1-17 (»Ein Fall von hypnotischer Heilung ...«). 86 geklemmt« und in Angst (bzw. Schuldgefühl) verwandelt, die die reale, um derentwillen die Verdrängung vorgenommen wurde, potenziert.26 Die Verdrängungs-Abwehr dient der Vermeidung der intrapsychischen Bearbeitung von Impulsen (Phantasien), die ein einmal eingespieltes libidoökonomisches Kompromißsystem in Frage stellen. Sie geht zu Lasten des Ichs, das eine aktuelle Erleichterung einer mühsamen und riskanten Verarbeitung vorzog. Nichts, was verdrängt wurde, ist »erledigt«, alles kehrt wieder; die »Urverdrängung« zieht eine Kette von Folge-Verdrängungen nach sich; der neurotische Prozeß wird unabschließbar, der Verdrängungsaufwand schließlich so groß, daß das Ich an »innerer Verblutung« (Anfänge, 96) zugrunde zu gehen droht. Der sprachlos gemachte Affekt ist nicht annulliert, sondern sucht auf verschiedenen Wegen zum Ausdruck, zur Befriedigung zu gelangen. Die »Kontrastvorstellung«, an der er hing, kann sich somatisieren (Konversionshysterie) oder sich dem Ich als ein Stück der Außenwelt darbieten (Projektion); der Affekt kann - in »falscher Verknüpfung« in die Zwangsvorstellung fahren. Verdrängung trifft die TriebRepräsentanzen, um die (im spezifischen sozialen Kontext) als lebensgefährdend eingeschätzte, mit dem Angst-Signal gekoppelte Affektentwicklung zu hemmen, ehe sie zur Motilität durchbricht. Der Weg zur Motilität aber führt durchs Bewußtsein. Darum genügt es zur Lähmung der Affektentwicklung, »der psychischen (Vorstellungs)Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußte« zu versagen (GW X, 250). »Ein Trieb kann nie Objekt des Bewußtseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er kann aber auch im Unbewußten nicht anders als durch die Vorstellung repräsentiert sein. Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen.«27 Die Probleme der Triebtheorie verweisen auf die Lehre von den Trieb-Repräsentanzen, den »Vorstellungen«; und die Theorie des Verdrängungsmechanismus impliziert eine Theorie der »zweifachen Niederschrift« von Erfahrung. (Sie wird zunächst 26 Die entsprechende triebtheoretische Formel lautet: »Wenn eine Triebstrebung der Verdrängung unterliegt, so werden ihre libidinösen Anteile in Symptome, ihre aggressiven Komponenten in Schuldgefühle umgesetzt.« GW XIV, 499. 27 Das Unbewußte. GW X, 275 f. 87 in unbewußten Engrammen fixiert und kann unter bestimmten Bedingungen dann auch bewußt werden.) Was die Psychoanalyse von der Funktionsweise des psychischen Apparats weiß, ist ihr bei der widerstandsüberwindenden Deutungsarbeit an Verdrängungsprodukten aufgegangen. Das Medium der Therapie ist die Sprache, die Kur - nach der klassischen Definition von Breuers Patientin Anna O.28 - eine »talking cure«29. So konvergieren die psychoanalytischen Lehren in einer Theorie der Sprache. Obwohl in Freuds Schriften nur Fragmente einer solchen entwickelt worden sind30, bildet sie das geheime Zentrum der neuen Psychologie. Die Sprache aber ist »das selbstredende Dasein (des Gemeinwesens)«31; darum ist die Psychoanalyse - vor aller »Anwendung« - eine (psychologisch orientierte) Theorie der vergesellschafteten Individuen. Deren Verhältnis zueinander wie zu sich selbst, zur eigenen Physis, ist sprachlich verfaßt. Sozialisation ist wesentlich Spracherwerb: die (durch die jeweils herrschenden Produktionsverhältnisse bedingten) Formen der 28 »Frl. Anna O . . .« (eigentlich Bertha Pappenheim) muß neben Breuer und Freud zu den »Erfindern« des psychoanalytischen Verfahrens gezählt werden. Ihre Krankheit war, nach heutigen Begriffen, eher eine Psychose als eine Neu rose. Vgl. ihre Krankengeschichte in: Freud und Breuer (1895), 20-40; ferner den Aufsatz von Bram, Das Geschenk der Anna O. (1965) 29 Freud und Breuer (1895), 27. - S. Bernfeld hat (1941) das psychoanalyti sche Verfahren gegenüber szientistischen Fehldeutungen als eine Weiterent wicklung des Alltagsgesprächs charakterisiert. Die Theorie der »Technik« gilt ihm als »a >theory< of getting at the secrets by removing obstacles, internal or external. This theory does no more than articulate every-day life experience . . .« (294 f.) Wie das Alltagsgespräch stößt das therapeutische auf die Grenze des »Geheimnisses« und versucht, durch Umstrukturierung der Situa tion ein »Bekenntnis« zu ermöglichen: »In using the technic of removal of obstacles to communication the psychoanalyst gets knowledge of facts which are not at all available to Observation without that technique. The pattern of secret-confession does not occur if you do not actively produce it; the secrets confessed would have been permanently withheld from the psychologist had he not removed the obstacles to communication. Thus this technic is equivalent to the use of a new Observation instrument« (303). 30 Seine sprachtheoretischen Erörterungen kreisen um das Problem des Verhältnisses von »Primär«- und »Sekundärprozeß« bzw. um das der Verdrängung. - G. Jappe hat (1971) die von ihr als sensualistisch-elementaristisch charakterisierte Freudsche Sprachtheorie im Wege einer »begriffsgeschichtlichen Analyse« (S. 95) rekonstruiert und ihre latente Problematik im Hinblick auf neuere Versuche, Linguistik und Psychoanalyse miteinander zu verbinden, entfaltet. 31 Marx, Grundrisse, 390. 88 Interaktion werden im Zusammenhang mit den Regeln der Umgangssprache angeeignet - als (unreine) »Sprachspiele« im Sinne Wittgensteins.32 Das kollektive wie individuelle Bewußtsein reicht so weit wie die Sprache; ihre innere Natur ist den Individuen nur so weit zugänglich, wie sie umgangssprachlich gedeutet ist. Wo das geschwächte Ich angstvoll die Selbstzensur ausübt, Verpöntem das Wort entzieht, das Feld des Bewußtseins einschränkt, wird die Verdrängung als »soziales Phänomen«33 kenntlich. Neurose und Psychose sind wesentlich Kommunikationsstörungen.34 Als »Sprachanalyse«, »semantische Korrektur«35, sucht die psychoanalytische Therapie jene »Sprachverwirrung« rückgängig zu machen, die, Lorenzer zufolge, durch (pseudo-)umgangssprachliche Kaschierung der (komplexbezogenen) Regression auf Privatsprache entstanden ist.36 »Sprachverwirrung« aber ist der Fluchtpunkt, in dem Neurose und Ideologie konvergieren, so wenig sonst »gesellschaftlich notwendig falsches Bewußtsein« und »Rationalisierung« (von Triebwünschen oder posthypnotischen Auftragshandlungen) miteinander zu tun haben. Für die psychoanalytische Sprachkorrektur ist die Umgangssprache die Appellationsinstanz; der Patient ist geheilt, wenn seine idiosynkratischen Fehl-Symbolisierungen aufgehoben, der innere Monolog seiner intrapsychischen Arbeit nach Maßgabe der wiederhergestellten Kommunikationsfähigkeit wieder in Gang gebracht wurde.37 Der Ideologiekritik gilt die Umgangssprache selbst als revisionsbedürftig, soweit von partikularen Interessen diktierte Interpretationen der gesellschaftlichen Realität sich in ihr als fraglos geltende, allgemein verbindliche Sprachregelungen festgesetzt haben, in denen das kritische Potential der sprachlichen Weltauslegung stillgestellt 32 »Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das >Sprachspiel< nennen.« »Das Wort >Sprachspiel< soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« Wittgenstein (1960), Philosophische Untersuchungen, 7 (S. 293) und 23 (S. 300). Vgl. dazu G. Pitcher (1964), Kap. 10. 33 Ferenczi, Bausteine III, 426. 34 Vgl. dazu Lidz u. a. (1957-59); Bateson u. a. (1969); Watzlawick u. a. (1967, 1969). 35 Vgl. Habermas (1968 b), Kap. 10-12; Lorenzer (1970a), S. 15 und Kap. III und IV. 36 Lorenzer, a.a.O., S. 92 und Kap. VII. 37 »Die pseudokommunikative Privatsprache wird in das Allgemeinverständnis hereingeholt«, schreibt Lorenzer (a.a.O., 204). 89 ist. »Die Sprache von Herrn Schulze und Herrn Müller ist die Sprache, die der Mann auf der Straße wirklich spricht; sie ist die Sprache, die sein Verhalten ausdrückt; sie ist damit das Zeichen für Konkretheit. Sie ist jedoch auch das Zeichen einer falschen Konkretheit. Diese Sprache... ist eine gereinigte Sprache, gereinigt nicht nur von ihrem >unorthodoxen< Vokabular, sondern auch von dem Vermögen, irgendwelche anderen Inhalte auszudrücken als die, mit denen heute die Individuen von ihrer Gesellschaft versorgt werden.« Die Intention der Ideologiekritik zielt darauf ab, in der Sprache, durch Sprache ausdrücklich zu machen, was deren bornierter Gebrauch verdeckt oder ausschließt, »denn was aufgedeckt und denunziert werden muß, ist innerhalb des Universums der Alltagssprache wirksam, und die herrschende Sprache enthält die Metasprache.«38 Die Kritik der politischen Ökonomie ist wesentlich eine semantische Revision des herrschend gewordenen, mit der Umgangssprache verschmolzenen Sprachgebrauchs der klassischen bürgerlichen Ökonomen, der Kapitalisten und (folgenreicher!) Lohnarbeiter hindert, die eigene gesellschaftliche Praxis zu begreifen. Bekannt ist etwa Engels' Kritik des »Kauderwelsch(s)«, »in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen, ... worin z. B. derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und der Arbeitgeber derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird.«39 Im Abschnitt über den »Arbeitslohn«40 analysiert Marx zunächst die Rede vom Preis oder Wert »der Arbeit«: »Die klassische politische Ökonomie entlehnte dem Alltagsleben ohne weitere Kritik die Kategorie >Preis der Arbeit<, um sich dann hinterher zu fragen, wie wird dieser Preis bestimmt?« (S. 559 f.) Abgesehen von Preisoszillationen auf dem Arbeitsmarkt ließ sich der Wert der »Arbeit«, d. h. der »Arbeitskraft, die in der Persönlichkeit des Arbeiters existiert, und von ihrer Funktion, der Arbeit, ebenso verschieden ist, wie eine Maschine von ihren Operationen« (561), nur durch ihre Produktionskosten ausdrücken. Das aber führte auf Tautologien, denn: »Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert« (559). Arbeits38 Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964), 188 und 210. 39 Vorwort zur 3. Auflage des »Kapitals«. MEW 23, S. 34. 40 Das Kapital, Bd. I, Kap. 17: »Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft in Arbeitslohn.« MEW 23, S. $57-564. 90 kraft wird, als Tauschwert verkauft, entsprechend ihren jeweiligen Reproduktionskosten bezahlt, in der Produktion aber als Gebrauchswert angewendet. Die Rede vom Preis der Arbeit, vom Arbeits-Lohn, die die quantitativ (zeitlich) bestimmte Verausgabung, Anwendung von Arbeitsvermögen mit dem Terminus »Arbeit« bezeichnet (der zugleich das Resultat dieses unter bestimmten technischen Bedingungen verausgabten Vermögens meint), verdeckt den spezifischen, wertbildenden Charakter der Ware Arbeitskraft und läßt alle Arbeit als immer schon »bezahlt« erscheinen. »Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des Arbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus... Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie« (562). »Der Austausch zwischen Kapital und Arbeit stellt sich der Wahrnehmung zunächst ganz in derselben Art dar wie der Kauf und Verkauf aller andren Waren« (563). Der Sprachgebrauch ist also im Einklang mit der Empirie; das tröstet über die Widersprüche hinweg, die sich bei jedem Klärungsversuch ergeben müssen. Vom (»gerechten«) Arbeitslohn und der Aneignung fremder Arbeit, die sich im Äquivalententausch realisiert, gilt »dasselbe, was von allen Erscheinungsformen und ihrem verborgnen Hintergrund. Die ersteren reproduzieren sich unmittelbar spontan, als gang und gäbe Denkformen, der andre muß durch die Wissenschaft erst entdeckt werden. Die klassische politische Ökonomie stößt annähernd auf den wahren Sachverhalt, ohne ihn jedoch bewußt zu formulieren. Sie kann das nicht, solange sie in ihrer bürgerlichen Haut steckt.«41 Die psychoanalytische Therapie holt die Neurose-Patienten auf den Boden der sozialen Wirklichkeit und der allgemeinen Sprache zurück. Ideologiekritik aber leitet die Menschen an, sich mit dieser Realität und ihren Legitimationen nicht abzufinden, - und sich doch auch nicht in die Privatwelt der Neurose (oder Psychose) zu flüchten, sondern die soziale Wirk41 A.a.O., S. 564. 91 lichkeit im Licht der eigenen, unbefriedigten Bedürfnisse auf ihre praktische Veränderbarkeit hin zu prüfen. Eine Psychoanalyse, die solchermaßen in Ideologiekritik überginge, steht noch aus. Den ersten Schritt zum Spracherwerb hat Freud sehr eindrücklich im »Entwurf einer Psychologie« (und, rekapitulierend, im VII. Kapitel der Traumdeutung) als einen bio-sozialen beschrieben: der befriedigungsunfähige Organismus des Neugeborenen verfällt am Rande des »Biotraumas«42 in (vergebliche) Abfuhrbewegungen, auch vokale. Der ihm abgepreßte Schrei ruft »fremde Hilfe« herbei, »indem durch die Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung ein erfahrenes Individuum auf den Zustand des Kindes aufmerksam wird.«43 Das Schreien des Kindes ist - noch nicht für es selbst, wohl aber für »ein erfahrenes Individuum« - schon Signal; erste Kommunikation wird es, sobald der Ablauf Unlust-Schreien-Abhilfe sich der Erfahrung einprägt und das Kind lernt, sich des Schreisignals als eines solchen zu bedienen. »Diese Abfuhrbahn gewinnt so die höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung...«(Anfänge, 326) »Die Sprachinnervation ist ursprünglich eine ventilartige Abfuhr .. ., um Quantitätsschwankungen ... zu regeln, ein Stück der Bahn zur inneren Veränderung, die die einzige Abfuhr darstellt, solange die spezifische Aktion erst zu finden ist. Diese Bahn gewinnt eine Sekundärfunktion, indem sie das hilfreiche Individuum (gewöhnlich das Wunschobjekt selbst) auf den begehrlichen und notleidenden Zustand des Kindes aufmerksam macht, und dient von nun an der Verständigung, wird also in die spezifische Aktion miteinbezogen.«44 »Das Ganze stellt... ein Befriedigungserlebnis dar, welches die eingreifendsten Folgen für die Funktionsentwicklung des Individuums hat« (326). Infolge des Befriedigungserlebnisses verschmelzen (nach dem »Grundgesetz der Assoziation durch Gleichzeitigkeit«) Objektwahrnehmung und Bewegungsbild der (durch die von außen gebotene Befriedigung ausgelösten) komplementären Reflexreaktion mit dem Schreisignal zu einer Einheit. »Mit Wiederauftreten des Drang- oder Wunsch-Zustandes geht nun die Besetzung auch auf die beiden Erinnerungen über und belebt sie. Zunächst wird wohl das Objekterinnerungsbild 42 Zum Begriff des »Biotraumas« vgl. den Aufsatz von Max M. Stern (1972). 43 Freud (1895), 326. 44 A.a.O. (»Entwurf einer Psychologie«), 365. Vgl. GW II/III, 570ff. 92 von der Wunschbelebung betroffen« (327). Die (an sich) unbewußte Objekt- und Aktions-Erinnerungsspur wird mit der SchreiErinnerungsspur (dem ersten »Wort«) gekoppelt; die »eigene Schreinachricht« charakterisiert das »Objekt«, »die erste Klasse bewußter Erinnerungen ist geschaffen. Es braucht nun nicht viel, um die Sprache zu erfinden. Es gibt andere Objekte, die konstant gewisse Laute von sich geben, in deren Wahrnehmungskomplex also ein Klang eine Rolle spielt. Vermöge der beim Urteilen auftretenden ImitationsTendenz kann man zu diesem Klangbild die Bewegungsnachricht f i n d e n . . . « (365) Sprache wird mimetisch in Interaktionsprozessen angeeignet. Erst wenn die Klang- und Bewegungsbilder der Worte zu den unbewußten Erinnerungsspuren der Dinge und ihrer Relationen hinzutreten, entsteht das bewußte Gedächtnis: »die Sprachabfuhrzeichen stellen die Denkvorgänge den Wahrnehmungsvorgängen gleich, verleihen ihnen eine Realität und ermöglichen deren Gedächtnis« (365). Diese »Überbesetzung« der Sach- durch Wortvorstellungen schafft eine »neue Qualitätenreihe«, damit eine »neue Regulierung, welche das Vorrecht des Menschen vor den Tieren ausmacht.« »Die Denkvorgänge sind nämlich an sich qualitätslos bis auf die sie begleitenden Lust- und Unlusterregungen, die ja als mögliche Störung des Denkens in Schranken gehalten werden sollen. Um ihnen eine Qualität zu verleihen, werden sie beim Menschen mit den Worterinnerungen assoziiert, deren Qualitätsreste genügen, um die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich zu ziehen und von ihm aus dem Denken eine neue mobile Besetzung zuzuwenden.«45 Die für die Theorie der Verdrängung ausschlaggebende Unterscheidung unbewußter Sachvorstellungen und vorbewußter Wortvorstellungen, deren Kombination Bewußtsein und deren Trennung Aufhebung des Bewußtseins bedeutet, hat Freud in seiner 1891 veröffentlichten kritischen Studie »Zur Auffassung der Aphasien« - in Anlehnung an die zeitgenössische Sprachpsychologie (und Neurologie) entwickelt.46 Diese Unterscheidung bildet den Kern seiner Sprachtheorie und wird in der 1913 niedergeschriebenen (letzten) Darstellung des topographischen Mo45 Freud, Die Traumdeutung. GW II/III, 622. 46 Im Resümee dieser Arbeit heißt es: »Für die Psychologie ist die Einheit der Sprachfunction das >Wort<, eine complexe Vorstellung, die sich als zusammengesetzt aus akustischen, visuellen und kinästhetischen Elementen erweist. Die Kenntnis dieser Zusammensetzung verdanken wir der Pathologie, welche 93 dells des psychischen Apparats (im Anschluß an eine Erörterung des »Überwiegen(s) der Wortbeziehung über die Sachbeziehung« beim Schizophrenen) zur Klärung des Verdrängungsmechanismus herangezogen: »Die bewußte Vorstellung umfaßt die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewußte ist die Sachvorstellung allein. Das System Ubw enthält die Sachbesetzungen der Objekte, die ersten und eigentlichen Objektbesetzungen; das System Vbw entsteht, indem diese Sachvorstellung durch die Verknüpfung mit den ihr entsprechenden Wortvorstellungen überbesetzt wird. Solche Überbesetzungen, können wir vermuten, sind es, welche eine höhere psychische Organisation herbeiführen und die Ablösung des Primärvorganges durch den im Vbw herrschenden Sekundärvorgang ermöglichen. Wir können jetzt auch präzise ausdrücken, was die Verdrängung bei den Übertragungsneurosen der zurückgewiesenen Vorstellung verweigert: Die Übersetzung in Worte, welche mit dem Objekt verknüpft bleiben sollen. Die nicht in Worte gefaßte Vorstellung oder der nicht überbesetzte psydiisdie Akt bleibt dann im Ubw als verdrängt zurück.«47 Zu Bewußtsein kommen die Vorstellungen, Wunschregungen, durch die Sprache, genauer: durch Verknüpfung der (unbewußten) »Sachvorstellungen« mit den zugehörigen (vorbewußten) »Wortvorstellungen«. Die letzteren sind selbst auditive (eventuell visuelle) Wahrnehmungs-Erinnerungen, und die Verknüpfung mit ihnen läßt die »Sachvorstellungen« der inneren Wahruns zeigt, daß bei organischen Läsionen im Sprachapparate eine Zerlegung der Rede nach dieser Zusammensetzung eintritt. . . Wir lernen sprechen, indem wir ein >Wortklangbild< mit einem >Wortinnervationsgefühle associiren. Wenn wir gesprochen haben, sind wir in den Besitz einer >Sprachbewegungsvorstellung< (centripetale Empfindungen von den Sprachorganen) gelangt, so daß das >Wort< für uns motorisch doppelt bestimmt ist . . . Das Wort erlangt aber seine Bedeutung durch die Verknüpfung mit der >Objectvorstellung<, wenigstens wenn wir unsere Betrachtung auf Substantiva beschränken. Die Objectvorstellung selbst ist wiederum ein Associationscomplex aus den verschiedenartigsten visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen Vorstellungen . .. Die Objectvorstellung erscheint uns . . . nicht als eine abgeschlossene, kaum als eine abschliessbare, während die Wortvorstellung uns als etwas Abgeschlossenes, wenngleich der Erweiterung Fähiges erscheint. Die Behauptung, die wir auf Grund der Pathologie der Sprachstörungen nun aufstellen müssen, geht dahin, dass die Wortvorstellung mit ihrem sensibeln Ende (vermittelst der Klangbilder) an die Objectvorstellung geknüpft ist." Zur Auffassung der Aphasien (1891), S. 75 und S. 79 f. 47 Das Unbewußte. GW X, 300. 94 nehmung zugänglich werden, macht sie bewußtseinsfähig. Diesen Prozeß der Bewußtwerdung hat die Psychoanalyse aus seiner Umkehrung bei der Verdrängung erschlossen; ihre Therapie zielt darauf ab, die von den zugehörigen »Sachvorstellungen« durch Zensur abgeschnittenen »vorbewußten Mittelglieder« mit jenen wieder zu verbinden und so die dem inneren Monolog wie der Kommunikation entzogenen traumatischen Szenen und verpönten Impulse ins Bewußtsein zurückzubringen. Die Sprache entsteht, Freud zufolge, ontogenetisch als Evokation einer vergangenen, schon einmal erfahrenen Befriedigung; sie entsteht als Wunsch. (Und die Not, den Wunsch zu realisieren, erzwingt die Einsetzung der »Realitätsprüfung«.) Schon die unartikulierte »Schreinachricht« ist gegenüber dem, was sie ausdrückt, den je spezifischen Körpernöten, ein Allgemeines. Die (unabschließbare) Gegenstandserfahrung wird um ein Klangbild zentriert, dem Wort subsumiert. Durch das »teilweise Zusammenfallen der Wahrnehmungsbesetzungen mit Nachrichten vom eigenen Körper ... sondern sich die Wahrnehmungskomplexe in einen konstanten, unverstandenen Teil, das Ding, und einen wechselnden, verständlichen, die Eigenschaft oder Bewegung des Dinges.« Die vielfältigen Korrelationen von »Dingen« und »Eigenschaften« eröffnen die Möglichkeit, »die Denkwege von diesen beiderlei Komplexen zum gewünschten Ding-Zustand gleichsam in allgemein giltiger Weise und abgesehen von der jeweils realen Wahrnehmung auszuarbeiten« (Anfänge, 381). Das ist der Schritt von Wahrnehmungen zu Begriffen und Urteilen, - der Schritt von den flüchtigen Wahrnehmungspräsenzen zur Objekt-Konstanz in der Vorstellung auch bei realer Absenz des Objekts. Um den Vorstellungsablauf von der automatischen LustUnlust-Regulierung unabhängiger werden zu lassen, »bedurfte das Vbw-System eigener Qualitäten, die das Bewußtsein anziehen könnten«, und erhielt sie durch Verknüpfung mit den Spracherinnerungsresten. Dadurch wurde das Bewußtsein, »das vorher nur Sinnesorgan für die Wahrnehmungen war, auch zum Sinnesorgan für einen Teil unserer Denkvorgänge. Es gibt jetzt gleichsam zwei Sinnesoberflächen, die eine dem Wahrnehmen, die andere den vorbewußten Denkvorgängen zugewendet.«48 Mit Hilfe der Worterinnerungsreste werden Urteile über Erfahrungskomplexe fürs Bewußtsein fixiert, »Dinge« (für uns) erst 48 Die Traumdeutung. GW II/III, 580. 95 konstituiert. Die Begriffe aber sind Abstraktionen vom Fluß der Erscheinungen und ihrer Widersprüchlichkeit, von der qualitativen sinnlichen Erfahrung. Die sprachliche Artikulation der Erfahrung setzt fest, schafft Identitäten; gerade wo sich das (bewußte) Denken vom Lustprinzip emanzipiert, fälscht es auf seine Weise die Realität.49 »Das Ziel des praktischen Denkens ist die Identität« (von Wunschbild und Wahrnehmung), und die Fehler, die infolge der sprachlichen Fixierung entstehen, lassen sich wiederum nur mit den Mitteln der Sprache korrigieren. Abstraktion ist Verneinung, das Absehen von der Unlust, die ein Objekt der Wahrnehmung bereitet, und vom Widerspruch zwischen Sache und Begriff.50 Das Lust-Unlust-Prinzip wird gleichsam eingeklammert, das Objekt neutralisiert, um es im Bewußtsein festhalten zu können; der Name hält es in fiktiver Konstanz (als »Repräsentanz«) fest, damit im denkenden Probehandeln mit ihm operiert werden kann.51 »Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge ... Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen ... (Der Mensch stellt) sein Handeln als >vernünftiges< Wesen unter die Herrschaft der Abstraktionen; er leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle die Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen. Alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen.«52 49 »In die Urteilsschöpfung kann sich bereits der Irrtum eindrängen. Die Dingoder Bewegungskomplexe sind nämlich nie ganz identisch, und unter den abweichenden Bestandteilen können sich solche finden, deren Vernachlässigung den Ausfall in der Realität stört. Dieser Mangel des Denkens stammt aus dem Bestreben, das wir ja hier nachahmen, dem Komplex ein einzelnes Neuron zu substituieren, wozu gerade die ungeheure Komplexität nötigt. Das sind Urteilstäuschungen oder Fehler der Prämissen. Ein anderer Grund des Irrtums kann darin liegen, daß die Wahrnehmungsobjekte der Realität nicht vollständig wahrgenommen wurden, weil sie sich nicht im Sinnesbereich befanden. Das sind Irrtümer der Ignoranz, allen Menschen unvermeidlich« (Anfänge, 381). 50 Vgl. dazu Freud, Über den Gegensinn der Urworte. GW VIII, 213-221. 51 Vgl. dazu Freud, Die Verneinung. GW XIV, 9-15. 52 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873). Werke (1958), III, 312f. und 314. 96 Sprache ist Herrschaft53 und birgt doch die Mittel, sich dieser Herrschaft zu entwinden. Bornierter Sprachgebrauch, gewaltsam sistierte, unterdrückte Kommunikation entziehen die gesellschaftlich nicht lizensierten Wunschregungen der Einzelnen, das wirkliche Verhältnis der sozialen Klassen, das den Begriffen subsumierte NichtIdentische der Sachverhalte dem individuellen wie dem allgemeinen Bewußtsein. Die gesellschaftlich notwendige wie die lebensgeschichtlich unvermeidliche Sprachverwirrung, die der allgemeinen Bewußtlosigkeit eine zusätzliche private aufpfropft, blockieren die Erkenntnisarbeit, die sonst erste und zweite Natur vermittelt. Das Ich, die Instanz des Bewußtseins, verfällt gegenüber der Ananke-Welt der Gesellschafts-Natur in Mimikry und darf sein »inneres Ausland«, soweit es dem widerspricht, nicht mehr kennen. Alle Bedürfnisse von Menschen sind immer schon gesellschaftlich interpretiert, doch nicht alle sind auch sozial legitimiert.54 Der nichtlizensierte Triebwunsch sucht, nachdem er durch Abtrennung von der zugehörigen (Wort-)Vorstellung außer Kontrolle der Ich-Instanz geraten ist, sich mit Hilfe vorsprachlicher Mittel zu äußern; er greift auf die Bilder-, Gesten- und Körper-»Sprache« zurück als auf (private) Ausdrucksformen, die dem »offiziellen« Bewußtsein unverständlich bleiben, weil sie einer anderen (vielleicht älteren) »Logik« folgen als die im Zusammenhang mit Natur- und Menschenbeherrschung ausgebildete begriffliche Sprache. Freud hat jenes ungehemmte (unbewußte) Bilderdenken als »Traumsprache« oder »Primärprozeß« beschrieben, als Negativ des diskursiven Denkens.55 Es kann freilich den »Denk- und Realitätszwang« (GW VI, 141) - die Zensur - nur unterlaufen, in53 »Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäußerung der Herrschenden zu fassen: sie sagen >das ist das und das<, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.« Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887). Werke (1958), II, 773. 54 Vgl. Habermas (1967), 190 f. 55 »In der Traumsprache sind die Begriffe noch ambivalent, vereinigen in sich entgegengesetzte Bedeutungen, wie es nach den Annahmen der Sprachforscher bei den ältesten Wurzeln der historischen Sprachen der Fall gewesen ist. . . In der Tat ist die Deutung eines Traumes durchaus analog der Entzifferung einer alten Bilderschrift, wie der ägyptischen Hieroglyphen« (GW VIII, 403 f.). »Für die Vorgänge im Es gelten die logischen Denkgesetze nicht, vor allem nicht der Satz des Widerspruchs ... Es gibt im Es nichts, was man der Nega97 dem es mit dem Vorbewußten kooperiert56, selbst als Sprache laut wird, wennschon als »Sklavensprache«57. Als »Sklavensprache« begreift die Psychoanalyse sowohl die des Traums wie die der Kunst. Der Ausdruck des Verpönten in der »Sklavensprache« ist das »normale« Gegenstück zur neurotischen (pseudoumgangssprachlich maskierten) Regression auf Privatsprache: nicht Selbstaufgabe des Ichs, sondern »Regression im Dienste des Ichs«58, nicht Reaktionsbildung, sondern Sublimierung. Mittels ichkontrollierter Regression kompensiert die Ichinstanz Erfahrungsdefizite, die ihr unter der Herrschaft des »Denk- und Realitätszwangs« erwuchsen, setzt sich (und andere) neuerlich der Erfahrung des Nicht-Identischen59 aus. Freud hat solche Regressionen, die Lust, Fest, Witz und Kunst erst ermöglichen, als »Wiederherstellungen alter Freiheiten«60 61 charakterisiert. Seine tion gleichstellen könnte .. . Selbstverständlich kennt das Es keine Wertungen, kein Gut und Böse, keine Moral« (GW XV, 80 f.). 56 »Eine Kooperation zwischen einer vorbewußten und einer unbewußten, selbst intensiv verdrängten Regung kann zustande kommen, wenn es die Situation ergibt, daß die unbewußte Regung gleichsinnig mit einer der herrschenden Strebungen wirken kann. Die Verdrängung wird für diesen Fall aufgehoben, die verdrängte Aktivität als Verstärkung der vom Ich beabsichtigten zugelassen. Das Unbewußte wird für diese eine Konstellation ichgerecht ... die verstärkten Strebungen .. . befähigen zu besonders vollkommener Leistung.« Freud, Das Unbewußte. GW X, 289 und 293. 57 Vgl. das Kapitel »Texte in der Sklavensprache« in Hans Mayers Brecht-Studien (1971, S. 104-115). »Sklavensprache« entstammt dem Versuch, »durch eine Sprache des scheinbaren Einverständnisses den Widerspruch und die Schärfe des Nichteinverständnisses sichtbar zu machen.« Ebd., S. 113. 58 Ernst Kris, Psychoanalytic Explorations in Art (1952), 177 und passim. 59 Zum Begriff des Nicht-Identischen vgl. Adorno, Negative Dialektik (1966 b). 60 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). GW VI, 143. 61 Im Bann von Theorien, die Widerspruchslosigkeit mit Wahrheit verwechseln, erscheint auch die Dialektik als Regression. Dialektisch aber wird mit der Sprache gegen die Sprache gedacht, um der Sache willen. Dialektik »will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist.« »Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität. Sie bezieht nicht vorweg einen Standpunkt. Zu ihr treibt den Gedanken seine unvermeidliche Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt.« Adorno, Negative Dialektik (1966b), 150 und 15. Nietzsche hat die Dialektik zu Recht als Sklavensprache charakterisiert: »Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat... Sie kann nur Notwehr sein, in den Händen solcher, die keine andern Waffen mehr haben. Man muß sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb 98 Formel für den »Hergang der Witzbildung bei der ersten Person«62 lautet: »Ein vorbewußter Gedanke wird für einen Moment der unbewußten Bearbeitung überlassen, und deren Ergebnis alsbald von der bewußten Wahrnehmung erfaßt« (GW VI, 189). Der Gedankengang wird für einen Augenblick fallengelassen, gleichsam als Köder für die im Unbewußten lauernden Phantasien, die sich seiner bemächtigen sollen, um ihm die originelle Wendung zu geben; gewitzigt taucht er wieder auf: »Man verspürt... etwas Undefinierbares, das ich am ehesten einer Absenz, einem plötzlichen Auslassen der intellektuellen Spannung vergleichen möchte, und dann ist der Witz mit einem Schlage da, meist gleichzeitig mit seiner Einkleidung.« »Der Gedanke, der zum Zwecke der Witzbildung ins Unbewußte eintaucht, sucht dort nur die alte Heimstätte des einstigen Spiels mit Worten auf..., um so der kindlichen Lustquelle wieder habhaft zu werden« (191, 194). »Die Psychogenese des Witzes hat uns belehrt, daß die Lust des Witzes aus dem Spiel mit Worten oder aus der Entfesselung des Unsinns stammt, und daß der Sinn des Witzes nur dazu bestimmt ist, diese Lust gegen die Aufhebung durch die Kritik zu schützen« (147). Der Witz bringt das zuwege, indem er die Zensur durch die intellektuelle »Vorlust« besticht, sie ablenkt, sodaß die verpönte Tendenz durchbrechen kann, - ein Fest ersparten Hemmungsaufwands, der im Gelächter frei wird. Verdrängung, jener Fluchtreflex, durch den sich das geschwächte Ich der Wahrnehmung ichfremd gewordener, angsteinflößender Impulse entzieht, wirkt durch Blockierung der Sprachfunktion.63 Dialektiker; Reineke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch? -« In diesem Kontext weist er - auf seine Art - auf die soziale Klasse hin, der Dialektik zugute kommt: »der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf«. Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (1889); Werke (1958)) II, 953. - Der Witz ist der Auftritt der Dialektik in der Psychopathologie des Alltagslebens. Freud spricht vom »scheinbare(n) Witz aller unbewußten Vorgänge«: »Alle Träumer sind . . . unausstehlich witzig und sie sind es aus Not, weil sie im Gedränge sind, ihnen der gerade Weg versperrt ist.« An Fließ, 11. 9. 99; Anfänge, 255. 62 A.a.O., 204. »Der Witz ist die sozialste aller auf Lustgewinn zielenden seelischen Leistungen.« 63 Freud weist in »Totem und Tabu« (GW IX, 71) auf eine ethnologische Parallele zur Verdrängung hin: Auf Todesfälle reagieren viele Stämme mit der Verpönung des Namens des Verstorbenen. Bei einigen dieser Stämme wird das Namenstabu auch auf all jene Worte ausgedehnt, die dem nicht mehr 99 Die soziale Bedeutung der Verdrängung liegt darin, daß das individuelle Bewußtsein unter dem Druck sozialer Kontrolle sich gegen Regungen blind macht, die die mühsam errungene Realitätsanpassung immer wieder in Frage stellen, und daß durch Aufrichtung der »Gegenbesetzungen« jenen unversöhnlichen Triebwünschen der Weg zur Kommunikation verlegt wird. So bleiben sie ich-fremde Phantasien, deren Abwehr durch neurotische Selbstlähmung (»Ich-Einschränkung«) erkauft wird, ziehen den Einzelnen aus der Realität heraus (GW VII, 449), machen ihn krank und »asozial« (GW XIII, 159), statt widerspruchsbewußt und rebellisch. Die unterdrückten Motive gehen weder in das Spannungsfeld ein, in dem das reflektierende Ich immer aufs neue seine Identität herstellt64, noch in das durch Kommunikation vermittelte kollektive Handeln. Peter Winch gibt zu Wittgensteins These »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«65 den Kommentar: »Indem wir die Sprache erörtern, erörtern wir faktisch die Frage, was als zur Welt gehörig angesehen werden soll.«66 Die Sprache selbst setzt durch ihre Struktur der kollektiven und individuellen Erfahrung Grenzen67, die sich die Ideologie zunutze macht, indem sie sie fixiert. (Sie können einzig durch die Anstrengung der Kritik, jenen reflektierten Gebrauch der Sprache, der sie gegen ihre eigene Borniertheit wendet68, hinausgerückt werden.) Der Verdrängungsmechanismus aber ist ein Verfahren der Realitätsleugnennbaren Namen ähnlich sind, wodurch »eine nie zur Ruhe kommende Veränderung des Sprachschatzes« ausgelöst wird. »Als bedeutsame Folge dieses Unterdrückungsprozesses ergibt sich, daß diese Völker keine Tradition, keine historischen Reminiszenzen haben und einer Erforschung ihrer Vorgeschichte die größten Schwierigkeiten in den Weg legen.« 64 Zur sozialpsychologischen Konzeption der Ich-Identität vgl. G. H. Mead (1934), Teil III, und (1969), Kap. 2; E. H. Erikson (1946-1956), Kap. 3; E. Goffman (1959; 1963); D. J. de Levita (1965); L. Krappmann (1971). 65 Tractatus logico-philosophicus (1921), 5. 6. In: Schriften I (1960), S. 64. 66 Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie (1958), 25. 67 Vgl. Nietzsches Sprachkritik: »Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das >Werden< auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von >Dingen< usw. zu setzen.« Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Werke (1958), III, 685. 68 »Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun sollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn.« A.a.O., 862. IOO nung, das die sprachlich artikulierte Welterfahrung zusätzlich einschränkt. Verinnerlichte soziale Gewalt schließt durch Blockierung der Sprachfunktion Antriebsqualitäten von Erfahrung und Kommunikation aus, die weder im bestehenden System der gesellschaftlichen Arbeit sich verwerten lassen, noch in den ihm komplementären Formen institutionalisierter Sublimierung Befriedigung finden können. Mittels des Verdrängungsmechanismus werden sexuelle oder aggressive Impulse unterdrückt, die auf Grund schmerzhafter Erfahrungen als unlustvoll perzipiert werden69 und - im Kontext der geltenden sozialen Normen - die Selbsterhaltung der Individuen gefährden. Die das Überleben des Organismus sichernde Ichinstanz verdrängt Es-Antriebe und die sie interpretierenden Vorstellungen »im Auftrage« des ÜberIchs, also unter dem Druck starr verinnerlichter moralischer Normen, deren Verletzung durch Entbindung »sozialer Angst« (Angst vor Liebesverlust, Kastrationsangst) geahndet wird. Das schwache Ich scheidet unter dem Druck der Gewissensinstanz eine Sphäre als ichfremd von sich ab (die des Verdrängt-Unbewußten) und verbietet sich die Erfahrung des Nicht-Identischen. Der verdrängte Trieb wird der Reflexion entzogen, die Sphäre des Unbewußten dehnt sich auf Kosten des Bewußtseins aus. Der blinden Stelle in der Selbstwahrnehmung entspricht eine perzeptive Verzerrung der äußeren Realität.70 Gleichzeitig wird die Legitimität der herrschenden Normen, der Verzicht-Forderungen, vor kritischer Überprüfung bewahrt; Reflexionsprozesse, praxis-orientierte Diskurse werden sistiert, deren Vollzug doch für die Praxis sozialer Klassen lebensnotwendg ist, sofern die gesellschaftlichen Institutionen zu Fesseln der in ihrem Rahmen entwickelten produktiven Kräfte geworden sind.71 Eine reflexive Korrektur starr verinnerlichter Normen kann - vorausgesetzt, sie sind objektiv obsolet geworden - nur Zustandekommen, wenn die »dysfunktionalen« Triebwünsche in den individuellen Prozeß der »Realitätsprü69 »Sicherlich ist alle neurotische Unlust . . . Lust, die nicht als solche empfunden werden kann.« Freud, GW XIII, 7. 70 Freud spricht von der »Verdrängungsnarbe«. GW XVI, 235. 71 »Somit unterhält die Gesellschaft einen Zustand von Kulturheuchelei, dem ein Gefühl von Unsicherheit und ein Bedürfnis zur Seite gehen muß, die unleugbare Labilität durch das Verbot der Kritik und Diskussion zu schützen.« Freud, GW XIV, 107. 101 fung« eingehen - und damit potentiell der Kommunikation und der rationalen öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden -, statt das Ich von vornherein durch Angstentbindung zu lähmen. Ein von sozialer Angst emanzipiertes Ich, das fähig geworden ist, sich von der erlernten und beherrschten Norm wieder zu distanzieren, vermöchte es, den auf unmittelbare Lust zielenden Trieben von Fall zu Fall Befriedigung zu schaffen oder, wo solche mit privaten Mitteln nicht zu haben ist, institutionenändernde Praxis in Gang zu bringen. eine Beschädigung, die gestörten Bildungsprozessen entstammt und einzig durch sozialisationsförmige Therapie aufzuheben ist. Im Rahmen der von Alfred Lorenzer kritisch revidierten psychoanalytischen Repräsentanzen-Lehre lassen sich »Neurose« und »Therapie« folgendermaßen bestimmen: Die intrapsychischen (miteinander verschränkten) Selbst- und Objektrepräsentanzen sind Knäuel von symbolisierten Interaktionsszenen; »das macht ihre >Geschichtlichkeit< aus.« »Ich will gern auf alle von der Gesellschaft verpönten Wege der Befriedigung verzichten, aber bin ich sicher, daß mir die Gesellschaft diese Entsagung lohnen wird, indem sie mir - wenn auch mit einem gewissen Aufschub - einen der erlaubten Wege öffnet? Es läßt sich laut sagen, was diese Witze flüstern, daß die Wünsche und Begierden des Menschen ein Recht haben, sich vernehmbar zu machen neben der anspruchsvollen und rücksichtslosen Moral, und es ist in unseren Tagen in nachdrücklichen und packenden Sätzen gesagt worden, daß diese Moral nur die eigennützige Vorschrift der Reichen und Mächtigen ist, welche jederzeit ohne Aufschub ihre Wünsche befriedigen können. Solange die Heilkunst es nicht weiter gebracht hat, unser Leben zu sichern, und solange die sozialen Einrichtungen nicht mehr dazu tun, es erfreulicher zu gestalten, so lange kann die Stimme in uns, die sich gegen die Moralanforderungen auflehnt, nicht erstickt werden ... Man darf die Forderungen der eigenen Bedürfnisse nicht unrechtmäßig erfüllen, sondern muß sie unerfüllt lassen, weil nur der Fortbestand so vieler unerfüllter Forderungen die Macht entwickeln kann, die gesellschaftliche Ordnung abzuändern.«72 »Die Objektrepräsentanz >Mutter< z. B. erweist sich, auch wenn wir nur die bewußten Anteile, die >Symbole< in Erwägung ziehen, als vielschichtiges Gebilde aus verbal faßbaren, >discursiven< wie auch averbal >präsentativen< Symbolen. Das gilt für die ubw. Repräsentanzen in einer besonderen Weise: hier fächert sich die Mutterimago auf in einer Serie von Momentbildern mit jeweils differentem Beziehungsgehalt, z. B. als zärtliche Mutter, strafende Mutter usw. In den verschiedenen Augenblicken der psychoanalytischen Therapie tauchen Facettierungen als historisch exakte Momentbilder auf: die Mutter in der und der Situation an einem bestimmten Tag. Häufig handelt es sich dabei um Deckerinnerungen, d. h. um Erinnerungen, die stellvertretend nach Art eines typischen Porträts bestimmte entscheidende Züge der Beziehungslage repräsentieren. Letztlich lassen sich die Imagines aber auf Originalvorfälle zurückführen, also auf jene >Szenen<, in denen die Verdrängung das Ganze der Situation zerschlagen hat, um die verpönten Situationsanteile zu desymbolisieren.«73 Wenn irgendwo in den Freudschen Schriften, dann ist hier der Übergang von Kalkülen privater Libidoökonomie zu politischem Engagement stringent formuliert worden. Parallelen finden sich lediglich in der Schrift »Die Zukunft einer Illusion« aus dem Jahre 1927. Die zitierte Passage führt ihren zeitlichen Index mit: »in unseren Tagen«. Das Buch über den Witz ist im Jahre 1905 geschrieben worden. In Freuds Reflexionen ist etwas von dem Beben zu spüren, das die erste russische Revolution auslöste, die das Jahrhundert der großen sozialen Umwälzungen eröffnete. Die Aufklärung der Hysterie führte Freud zur Einsicht in die sozialisationsvermittelte Ontogenese; die Neurose erwies sich als 72 Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). GW VI, 121. Als Symbolbildungsinstanz läßt Lorenzer - in Übereinstimmung mit neueren psychoanalytischen Autoren und in Abgrenzung gegen die von Ernest Jones vertretene ältere Symboltheorie -nur das Ich gelten, während das Es als Reizquelle sui generis für die Symbolisierung fungiert. »Die These einer zweipoligen Anlage der Erkenntnisbildung - das Ich als Organisationszentrum und das Ubw als Reizzentrum wahrt die Betonung der Differenz vom Ubw und Bw, reinigt aber zugleich die psychoanalytische Theorie von dem Einschlag einer Ontologisierung des Unbewußten« (77). Verdrängung läßt die Interaktionen, Szenen repräsentierenden - Symbole zu nicht mehr verfügbaren, der psychischen Arbeit des Ichs entzogenen Klischees einschrumpfen. Die »Klischees« bilden eine zweite Klasse von »Repräsentanzen«: »Sie erfüllen dynamisch dieselbe Funktion wie Symbole; sie können besetzt werden.« »Sie lassen sich in Symbole verwan73 A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion (1970 a), 79 f. 102 103 deln und sind aus Symbolen verwandelt worden.« »Während Symbole aber unabhängig von der Realsituation evoziert werden können, bedürfen die Klischees eines szenischen Arrangements« (und sei es eines phantasierten) »zur Auslösung« (81). De-Symbolisierung verwandelt Handlungsmotive in »Ursachen«, bindet menschliche Reaktionen starr und irreversibel an spezifische Auslösesituationen (Pendants des verdrängten »Originalvorfalls«). Der Wiederholungszwang, dem der Neurotiker unterworfen ist, macht sein Verhalten dem von der Ethologie beschriebenen Tierverhalten ähnlich (82 f.). Freilich ist klischeebestimmtes Verhalten »stets mit symbolvermitteltem Handeln vermischt«; »nicht Sprachlosigkeit, sondern eine eigentümliche Sprachverwirrung liegt vor« (83, 92); wo Wort- und Sachvorstellung auseinandergerissen werden, erfahren die betroffenen Begriffe der Umgangssprache eine spezifische, privatsprachliche Bedeutungsverschiebung, werden »Bestandteil einer >pseudo-kommunikativen Privatsprache<« (92). Sekundäre Bearbeitung kompensiert den Sprachverlust, indem sie ihn vertieft (91). Daran hängen Möglichkeit und Schwierigkeit der psychoanalytischen Therapie als einer (auf Änderung von Interaktionsformen zielenden) Sprachanalyse. Die das Liebesobjekt repräsentierende Objektrepräsentanz wird verdrängt, desymbolisiert, weil die (dem Ich unerträgliche) Triebregung an ihr haftet. Verdrängung resultiert in »innerer Verleugnung«, die das verleugnende Ich an der (dem Objekt korrespondierenden) Stelle trifft, an der es in die traumatische Szene involviert war (84f.). »Beim Übertritt über die Verdrängungsschwelle in Richtung auf die Klischees geschieht ein doppeltes: a) der szenisch-situative Aspekt prävaliert, er saugt gleichsam das Objekt auf, b) der szenisch-situative Aspekt verliert seine symbolische Fassung<. Die >Situation< kann ebensowenig mehr vorgestellt werden wie das >Objekt< ..., sie können nicht mehr begriffen werden . .. Klischeebestimmtes Verhalten ist als Teilhabe an einem Aktionsgefüge, d. h. einer >Szene< zu bezeichnen, wobei sich das Spiel über den Kopf der Individuen hinweg durchsetzt. Symbolvermitteltes Verhalten dagegen ist ein Verhalten, bei dem die Individuen auf die eine Kommunikation begründenden Repräsentanzen reflektieren können. Hier ist die Fähigkeit ungebrochen, die im Sozialisationsprozeß erworbenen Regulatoren in den Blick zu nehmen.«74 74 A.a.O., 87 und 89 f. 104 Die psychoanalytische Lehre von Neurose und Therapie ist im Kern eine Theorie des Zwanges, den unfreiwillige, unbewußte Produktionen75 des Ichs über es ausüben, und eine Anweisung, die Genesis dieser falschen Objektivationen anamnestisch aufzudecken, das intrapsychische Nicht-Ich (des Verdrängt-Unbewußten) als ein dem Ich Entglittenes zu erkennen und es ihm dadurch wieder verfügbar zu machen. Die Dialektik von defizienter Entäußerung und versöhnender Erinnerung aber bewegt nicht nur die Psychoanalyse; sie bildete das Kernproblem der großen idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel. Georg Lukács hat (1923) in »Geschichte und Klassenbewußtsein«76 diese Dialektik geschichtsmaterialistisch als Theorie der bürgerlichen Praxis gedeutet, als metaphysische Verarbeitung des Problems der widersprüchlichen Stellung der bürgerlichen Klassen-Individuen zu der von ihnen bewußtlos erzeugten gesellschaftlichen Objektivität. Freuds Maxime »Wo Es war, soll Ich werden« (GW XV, 86) nimmt die Fichtesche, spekulativ hinter das empirische Ich und sein Objekt auf die »Tathandlung« des transzendentalen zurückzugehen77, und die Hegelsche, die Substanz als Subjekt zu erkennen78, im Medium der Therapie wieder auf. 75 »Der Witz in der Hysterieauflösung, der mir gefehlt hat, besteht in der Entdeckung einer neuen Quelle, aus der ein neues Element der unbewußten Produktion herrührt. Ich meine die hysterischen Phantasien, die regelmäßig, wie ich sehe, auf die Dinge zurückgehen, welche die Kinder früh gehört und erst nachträglich verstanden haben . . .« Freud an Fließ (6. 4. 1897); Anfänge (1887-1902), 166. (Meine Hervorhebung, H. D.) 76 Vgl. vor allem den zentralen Teil des Buches: Die "Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats. Lukács (1968), 257-397. 77 »Man wird immer vergeblich nach einem Bande zwischen Subjekte und Objekte suchen, wenn man sie nicht gleich ursprünglich in ihrer Vereinigung aufgefaßt hat . . . Das Ich ist nicht zu betrachten als bloßes Subjekt, wie man es bis jetzt beinahe durchgängig betrachtet hat, sondern als Subjekt-Objekt. . .« Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Fortsetzung. (1797) AW III, 112 und 113. 78 »Es kommt nach meiner Einsicht . . . alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken . . . Die lebendige Substanz ist ferner das Seyn, welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens, oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben da durch die Entzweiung des Einfachen, oder die entgegensetzende Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Refle105 Diese Wiederkehr der Dialektik von Entfremdung und Aneignung als Grundfigur der psychoanalytischen Neurosenlehre ist von verschiedenen Autoren bemerkt worden, zuerst wohl von Arnold Gehlen, der auf die Fichtesche Philosophie als auf ihre originale Formulierung hingewiesen hat.79 Jean Hyppolite80 und Jacob Taubes81 haben die Verwandtschaft Freudscher und Hegelscher Motive vor allem anhand der »Phänomenologie des Geistes« aufgezeigt. Jürgen Habermas hat die Psychoanalyse als methodische Selbstreflexion interpretiert.82 Odo Marquard schließlich hat die Beziehungen zwischen Schelling und Freud herausgearbeitet. Er beginnt damit, die Traditionslinien, die Maria Dorer83 und andere von Freud zu seinen Lehrern Meynert und Brücke sowie zu Herbart gezogen haben, bis zu den großen Idealisten hin zu verlängern.84 Freuds Biographen, auch Bernfeld85, haben sich daran orientiert, daß seine Lehrer ihr wissenschaftliches Selbstverständnis wesentlich auf den Bruch mit der xion im Andersseyn in sich selbst - nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche, ist das Wahre.« Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Vorrede, S. 22 und 23. 79 Gehlen geht es darum, die »zentrale Modellvorstellung aller neuen Revolutionen« herauszuarbeiten (1963, 344). »Die beiden wichtigsten und folgenreichsten philosophischen Erfindungen der beiden letzten Jahrhunderte gehen auf Fichte zurück. Das ist die dialektische Denkmethode und die hier besprochene Fichtesche Formel von der >verlorenen Freiheit< von der Entfremdung und Übermacht des von uns Erzeugten. In psychologischer Anwendung ist diese Fichtesche Formel, ohne daß jemand dies bemerkt hätte, weltpopulär geworden: in Freud.« So läuft »von Fichte über Marx zu Freud ein unsichtbarer >roter Fadem . . .« Gehlen, Ober die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung (1952), S. 234 und 244. 80 Phénomenologie de Hegel et psychanalyse (1957). 81 Dialectique et psychanalyse (1965): »Freud reprend .. . le leitmotiv de l'idealisme allemand depuis Fichte jusqu'a Hegel: la Constitution du Moi. Que represente en effet l'arsenal nevrotique explore par Freud, sinon les pro-duits inconscients de l'activiti spontanee du Moi, qui s'alienent a lui puis, devenus des surpuissances, des fetiches, se retournent contre lui?« (S. 114) 82 Vgl. Kap. 10-12 von »Erkenntnis und Interesse« (1968 b). 83 Historische Grundlagen der Psychoanalyse (1932). 84 »Dorer hat nicht reflektiert, daß Herbarts Lehrer Fichte gewesen ist. Fich-tes Schüler war Schelling. Zu Schellings Anhängern gehörte der große Physiologe Johannes Müller. Dessen Schüler Ernst Brücke war der andere Lehrer Freuds. . . Dorer reflektiert wiederum nicht, daß Fechner sich als >von Schellings Stamme gefallen< verstand.« Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts (1963), 25. 85 Freud's earliest theories and the school of Helmholtz (1945). 106 Naturphilosophie gründeten. Dadurch entging ihnen, daß Freuds Neurosenpsychologie eine eigentümliche, therapeutische Variation des zentralen Problems des deutschen Idealismus, der Dialektik von Entfremdung und Aneignung, war, und daß in seiner Terminologie neben physikalischen philosophische Begriffe eine prominente Rolle spielen. Marquards Interesse gilt den »sachliche(n) Gemeinsamkeiten zwischen Schelling und Freud«. Beide »bemühen ein recht gleichgeartetes Ensemble von Grundbegriffen« (bewußtlose und bewußte Tätigkeit, Trieb, Hemmung, Verdrängung, RepulsionAttraktion, genetisches Denken, Konstruktion, Anamnese, etc.).86 Was ihre Theorien innerlich verbindet, ist, nach Marquards Analyse, die (resignierte) Abwendung von der Geschichtsphilosophie und die Hinwendung zur Natur, die bei Schelling die Gestalt der Ästhetik (und Mythologie) annahm, bei Freud dann (nach deren »Versagen«) die Gestalt der Therapeutik. »Freuds Psychoanalyse bezieht ihre philosophische Position innerhalb der Wachablösung der Ästhetik durch Therapeutik folgerichtig in der Form einer Wiederholung von Denkfiguren der transzendentalphilosophischen Wende zur Natur (die freilich zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts überwiegend noch nicht zur Therapeutik, sondern überwiegend noch zur Ästhetik führte); sie ist darum... kein >Gegensatz<, sondern eher ein >2ustand< dieser Transzendentalphilosophie: darum jene Ähnlichkeit gerade der Theorien Schellings und Freuds ...« (S. 53) Lukács' Studie über »Die Antinomien des bürgerlichen Denkens«87 soll »den Zusammenhang der Grundprobleme« der klassischen bürgerlichen Philosophie »mit dem Seinsgrund, von dem ihre Fragen sich abheben und zu dem sie begreifend zurückzukehren bestrebt sind, andeutungsweise aufdecken.« Kants »Kopernikanische Wendung« stellte die Aufgabe, »die Welt nicht mehr als ein unabhängig vom erkennenden Subjekt entstandenes (z.B. von Gott geschaffenes) Etwas hinzunehmen, sondern sie vielmehr als eigenes Produkt zu begreifen.«88 Ein Denken, das solchermaßen »den rationalen Kategorien eine universale Bedeutung« verleiht, steht vor dem Doppelproblem der »Unerfaßbarkeit der Totalität von den Begriffsbildungen der 86 Marquard, a.a.O., 25-28. 87 Geschichte und Klassenbewußtsein (1968), 287-331. 88 A.a.O., 287 f. und 289. 107 rationellen Teilsysteme aus« und der »Irrationalität der einzelnen Begriffsinhalte« (S. 293 f.). Seine Tendenz ist, »zu einer Konzeption des Subjekts vorzudringen, das als Erzeuger der Totalität der Inhalte gedacht werden kann.« Hinter der empirisch gegebenen Spaltung in Subjekt und Objekt sucht es den »Einheitspunkt«, von dem jene sich herleiten läßt, von dem aus sie erzeugbar ist, und findet ihn in der »Tätigkeit«. Auf Kants »Kritik der praktischen Vernunft« folgt Fichtes Lehre von der »Tathandlung«: »Es ist daher gar nicht so unbedeutend, als es einigen vorkommt, ob die Philosophie von einer Tatsache ausgehe, oder von einer Tathandlung (d. i. von reiner Tätigkeit, die kein Objekt voraussetzt, sondern es selbst hervorbringt, und wo sonach das Handeln unmittelbar zur Tat wird). Geht sie von der Tatsache aus, so stellt sie sich in die Welt des Seins und der Endlichkeit, und es wird ihr schwer werden, aus dieser einen Weg zum Unendlichen und Übersinnlichen zu finden; geht sie von der Tathandlung aus, so steht sie gerade auf dem Punkte, der beide Welten verknüpft, und von welchem aus sie mit Einem Blicke übersehen werden können.«89 Der »Rationalismus als Universalmethode«90 sucht der Irrationalitätsschranke durch Formalisierung Herr zu werden. »Der Versuch, alles Irrationell-Inhaltliche auszuschalten, (richtet sich) nicht nur auf das Objekt, sondern ... auch auf das Subjekt.« Das Erkenntnissubjekt wird des-anthropomorphisiert, vom empirischen Menschen geschieden und in ein »reines« verwandelt (306). Das erzeugende Subjekt ist demnach nicht das empirische, sondern ein überempirisches, »transzendentales«; das empirische bleibt kontemplativ und erhebt sich nur in der Reflexion, also immer post festum, zum »absoluten«. Diese Widersprüchlichkeit ist aber »der gedankliche Ausdruck der objektiven Sachlage selbst, die (den Philosophen) zum Begreifen aufgegeben ist. D. h. der hier zum Vorschein gelangte Widerspruch zwischen Subjektivität und Objektivität der modernen rationalistischen Formsysteme .. ., der Widerstreit zwischen ihrem Wesen als von >uns< >erzeugtem Systemen und .. . ihrer menschenfremden und menschenfernen fatalistischen Notwendigkeit ist nichts anderes als die logisch-methodologische Formulierung des modernen Gesellschaftszustandes: eines Zu89 Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre für Leser, die schon ein philosophisches System haben (1797). AW III, 52. Zit. bei Lukács, a.a.O., 301. 90 Lukács, a.a.O., 294. 108 Standes, in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß >naturwüchsigen<, die irrationell-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, >selbsterzeugten< Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte (pünktlicher: die in dieser Form erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse) getan haben.«91 Die Erfahrung, daß die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft Akteure und Objekte zugleich sind, daß sie zu der von ihnen unzweifelhaft geschaffenen »Welt« im Verhältnis des Zauberlehrlings stehen, über den sie Gewalt hat, schlug sich in der Konzeption nieder, daß die Wirklichkeit Resultat des unbewußten Produzierens eines überindividuellen Subjekts sei, das vom reflektierenden (empirischen) Subjekt, wie es sich, selbst eine Tatsache, in der Welt der Tatsachen eingesperrt findet, immer nur nachträglich erschlossen werden kann.92 Bereits Kant definiert die Synthesis93 als »die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber nur selten einmal bewußt sind.« Aufgabe des Verstandes ist es, sie auf Begriffe zu bringen, uns bewußt zu machen.94 Fichte nimmt den Gedanken auf und schreibt über Produktion und Reflexion des (absoluten) Ichs95: »Es ist sogleich 91 A.a.O., 307. 92 »Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auch ihre wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der wirklichen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein«, bemerkt Marx bei Gelegenheit der Waren-Analyse und im Hinblick auf Hegel. »Die Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln und daher der Warenzirkulation vorausgesetzt sind, besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen, nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt.« Marx, Das Kapital (1867), Bd. I. MEW 23, S. 89 f. 93 »Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.« Synthesis ist »dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir Acht zu geben haben, Wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.« Kritik der reinen Vernunft (1781). Werke, II, 116 f. (B 103) 94 A.a.O. 95 »Das Ich ist für Fichte nicht wie für Cartesius bloß der zum Behuf des 109 einleuchtend, daß das dieses Produkt setzende Ich im Setzen desselben sich selbst vergißt, daß mithin dieses Produkt ohne Bewußtsein des Anschauens angeschaut wird ... Dieser Handlung wird das Ich sich nie bewußt, und kann sich derselben nie bewußt werden; ihr Wesen besteht in der absoluten Spontaneität, und sobald über diese reflektiert wird, hört sie auf Spontaneität zu sein. Das Ich ist nur frei, indem es handelt; sowie es auf diese Handlung reflektiert, hört dieselbe auf, frei, und überhaupt Handlung zu sein, und wird Produkt.«96 Der Verstand »ist das Vermögen, worin ein Wandelbares besteht, gleichsam verständigt wird (gleichsam zum Stehen gebracht wird)... was fixiert ist, ist bloß im Verstande fixiert. Der Verstand läßt sich als die durch Vernunft fixierte Einbildungskraft, oder als die durch Einbildungskraft mit Objekten versehne Vernunft beschreiben ... Daher unsre feste Überzeugung von der Realität der Dinge außer uns, und ohne alles unser Zutun, weil wir uns des Vermögens ihrer Produktion nicht bewußt werden.«97 Weil er das spontan handelnde, produzierende Ich zum (solipsistischen) Weltschöpfer hypostasiert98, muß Fichte es zum empirischen Verstandes-Ich in äußersten Gegensatz bringen. In der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre charakterisiert er daher sein System als eines, »dessen Anfang und Ende und ganzes Wesen darauf geht, daß die Individualität theoretisch vergessen, praktisch verleugnet werde ...99 Das empirische Ich ist das bloß anschauende, bloße »Möglichkeit des Selbstbewußtseins«, des »Zurückkehren(s) in sich«.100 Der Philosoph geht aus solcher Befangenheit heraus, stellt sich (um es zu erkennen) auf einen Standpunkt außerhalb des wirklichen Lebens: er spekuliert.101 Indem er sich über sein Philosophirens angenommene, sondern der wirkliche, der wahre Anfang, das absolute Prius von allem.« Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen (1827). In: Schriften von 1813-1830, 374, Anm. (Aus einem älteren (Erlanger) Manuscript.) 96 Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen (1795). AW I, 562 f. 97 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). AW I, 426 f. 98 »Das Ich ist nicht zu betrachten als bloßes Subjekt, . . . sondern als Subjekt-Objekt . . .« Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Fortsetzung. (1797) AW III, 113. 99 AW III, 100 f. 100 Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre... (1797). AW III, S. 42 und 43. 101 Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen (1799). AW III, 206. 110 empirisches Ich erhebt, erteilt er ihm den Anstoß zur Rückkehr in sich, zum Sich-selbst-Konstruieren. Für ihn ist »als bloßes Faktum das System der gesamten Erfahrung schon da, welches vom Ich unter seinen Augen zustande gebracht werden soll, damit er die Entstehungsart desselben kennen lerne.«102 Bei Hegel wird dies Privileg des Philosophen demokratisiert. »Das reine Selbsterkennen im absoluten Andersseyn, dieser Äther als solcher, ist der Grund und Boden der Wissenschaft...« »Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite an das Selbstbewußtseyn, daß es sich in diesen Äther erhoben habe, um mit ihr und in ihr leben zu können und zu leben. Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm denselben aufzeige.«103 Aufgabe der »Phänomenologie des Geistes« ist es, »das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen«; es soll die »wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der Bildung der Welt« erinnernd sich zu eigen machen, sie als die seine erkennen. »Dieß ist aber von der Seite des allgemeinen Geistes als der Substanz nichts anderes, als daß diese sich ihr Selbstbewußtseyn giebt, ihr Werden und ihre Reflexion in sich hervorbringt.«104 Das Subjekt der Bildungsgeschichte der Welt aber faßt Hegel mythologisch; nicht die sozialen Klassen haben sie mit falschem Bewußtsein, sondern der »Weltgeist« hat sie, der »Volksgeister« und »großen Männer« listig sich bedienend, unbewußt vollbracht. Gegen Bruno Bauer polemisierend, schreibt Marx: »Schon bei Hegel hat der absolute Geist der Geschichte an der Masse sein Material und seinen entsprechenden Ausdruck erst in der Philosophie. Der Philosoph erscheint indessen nur als das Organ, in dem sich der absolute Geist, der die Geschichte macht, nach Ablauf der Bewegung nachträglich zum Bewußtsein kömmt. Auf dieses nachträgliche Bewußtsein des Philosophen reduziert sich sein Anteil an der Geschichte, denn die wirkliche Bewegung vollbringt der absolute Geist unbewußt.«105 Den Weltgeist materialisierend, hat Lukács in seiner Studie aus dem Jahre 1923 das Proletariat als »identisches Subjekt-Objekt 102 Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre . . . (1797). AW III, 42 f. 103 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 28 f. 104 A.a.O., S. 30 und 31. 105 Marx und Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten. (1845) MEW 2, S. 90. III des gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungsprozesses« gedeutet.106 Das Selbstbewußtsein des Arbeiters ist (der Möglichkeit nach) »das Selbstbewußtsein der Ware«, die Selbstenthüllung der kapitalistischen Gesellschaft. Die als Ware gehandelt werden, können selbstbewußt handeln, die Objekte von Naturgeschichte können zu Subjekten einer menschlichen werden. »Die Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware ist aber bereits als Erkenntnis praktisch. D. h. diese Erkenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am Objekt ihrer Erkenntnis.« »Da das Bewußtsein hier nicht das Bewußtsein über einen ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern das Selbstbewußtsein des Gegenstandes ist, umwälzt der Akt des Bewußtwerdens die Gegenständlichkeitsform seines Objekts.«107 Durch die Bestimmung, das Bewußtsein des Arbeiters sei auch, »soweit er noch praktisch unfähig ist, sich über (seine) Objektsrolle zu erheben«, »Selbstbewußtsein der Ware«, wird eine bloß antizipierte Möglichkeit gegenüber der Praxis (des Klassenkampfes) hypostasiert, durch die sie einzig zu einer Wirklichkeit werden kann. Auch das Selbstbewußtsein der Ware ist im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft nur ein »zurechenbares«108 oder (als empirisches) ein 106 Lukács (1923), 331 und passim. Josef Revai hat bald nach Erscheinen des Buches den Einwand erhoben, das moderne Proletariat sei nicht mit dem Geschichtssubjekt der Vergangenheit identisch: »Das moderne um den Kommunismus kämpfende Proletariat ist kein Subjekt der Antike, der feudalen Gesellschaft. Es begreift diese Epoche als seine eigene Vergangenheit, als Stufen zu ihm selbst, aber es ist nicht ihr Subjekt.« Gleichwohl sei die Projektion des Proletariats auf die Geschichte »eine unvermeidliche Begriffsmythologie«. Révai, Rezension von »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1925); zit. nach Cerutti u. a. (1971), 190 f. - Lukács selbst ist später von seiner überschwenglichen These skeptisch abgerückt mit der Bemerkung, es handele sich dabei um »ein Überhegeln Hegels«: »Ist aber das identische Subjekt-Objekt in Wahrheit mehr als eine rein metaphysische Konstruktion? Wird durch eine noch so adäquate Selbsterkenntnis, auch wenn diese zur Basis eine adäquate Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt hätte, also in einem noch so vollendeten Selbstbewußtsein wirklich ein identisches Subjekt-Objekt zustande gebracht? Man muß diese Frage nur präzis stellen, um sie zu verneinen.« Lukács (1968), S. 25 (Vorwort aus dem Jahre 1967). Das »identische Subjekt-Objekt« gilt ihm nicht mehr als historisch-politische, sondern nur mehr als eine ästhetische Kategorie. Vgl. Die Eigenart des Ästhetischen (1963), Kap. 7 (Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung) und 13 (Das Kunstwerk als Fürsichseiendes). 107 Lukács (1968), 353 und 363. 108 »Die rationell angemessene Reaktion nun, die . . . einer bestimmten typi- 112 falsches. Lukács trennt das tatsächliche, psychologische Bewußtsein des Proletariats vom »Klassenbewußtsein« so scharf wie einst Fichte das gegenständliche vom transzendentalen109: das Klassenbewußtsein schwebt (als Idee) über den Tageskämpfen, Einzelinteressen, in denen es sich als ihr »Sinn« »jeweils vergegenständlicht«; ja, ob diese Einzelinteressen das Ziel verdeutlichen oder verdecken, »hängt ausschließlich vom Klassenbewußtsein des Proletariats und nicht vom Sieg oder Scheitern im Einzelkampf ab.«110 Und in dem Maße, wie der Sinn des Klassenkampfes im empirischen Bewußtsein der Klassenangehörigen nicht sich inkarnieren, unter marxistischem Vorzeichen aber auch nicht als Idee ohne Träger gedacht werden kann, muß der Fichtesche Philosoph - in Gestalt der Partei des Proletariats wiederauferstehen. Wie für den »Philosophen« (und für den »absoluten Geist«) die Geschichte immer schon vollbracht ist, zu deren Erinnerung er das subjektive Bewußtsein, dessen In-sich-Zurückgehen er zusieht, anleitet, so ist die Aktion des Proletariats von der Partei, in der sich das Klassenbewußtsein inkarniert, immer schon antizipiert worden.111 Lukács' Theorie der kommunistischen Partei macht aus der Not der nachrevolutionären bolschewistischen eine Tugend, er idealisiert deren unfreiwillig subschen Lage im Produktionsprozeß zugerechnet wird, ist das Klassenbewußtsein.« Indem ihr (empirisches) Bewußtsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, »werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden«, wenn sie diese Lage, ihre Interessen und die Struktur der Gesellschaft »vollkommen zu erfassen fähig wären.« A.a.O., 223 f. 109 Vgl. Lukács, a.a.O., 248 ff. 110 Vgl. dazu die Marxsche Konzeption: »Die Kommunisten sind . . . praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus . . . Die theoretischen Sätze der Kommunisten . . . sind nur allgemeine Ausdrücke eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.« Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1847/48). MEW 4, S. 474 f. 111 Sowohl die gesellschaftlichen Bedingungen als auch die »Gedanken, Empfindungen usw.« (Lukács, a.a.O., 223 f.) der revolutionären Akteure erscheinen als »historische Notwendigkeit«. Vgl. dazu die Kritik von J.Habermas (1963, 1971), S. 442 ff.: »Im Historischen Materialismus hat die Klasse als (absolutes Subjekt), das sich zum SubjektObjekt der Geschichte vollendet, keine Stelle.« Habermas sieht in Lukács' Anschluß an die Stalin-Fraktion die Konsequenz von dessen neuhegelianischer KlassenbewußtseinsTheorie. 113 stitutionalistische Praxis wie ihre Konkurrenzlosigkeit: »Die kommunistische Partei ist eine - im Interesse der Revolution selbständige Gestalt des proletarischen Klassenbewußtseins.«112 »Die organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewußtsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne ...«113 Die Apologie des neuen Substitutionalismus114 greift zurück auf den theoretischen Ausdruck einer historisch früheren, ebenfalls substitutionalistischenPraxis: auf Fichtes Jakobinismus. Unter den bolschewistischen Theoretikern selbst hat Trotzki schon 1923 den »Fetischismus« kritisiert, der in dem Glauben zutage tritt, die Dezisionen einer Parteiführung, die von Massen und Mitgliedern nicht kontrolliert wird, sondern ihnen diskussionslos befiehlt, seien115 nichts anderes als der reine Ausdruck 112 Geschichte und Klassenbewußtsein (1968), 508 (Methodisches zur Organisationsfrage). Vgl. dazu auch das III. Kapitel (Die führende Partei des Proletariats) seiner Lenin-Studie (a.a.O., 534-545). 113 A.a.O., 504. 114 In ihrem Zeichen steht noch Merleau-Pontys Interpretation von Lukács' Parteitheorie, die die alten Formeln mit neuem Leben erfüllt: »Das Klassenbewußtsein ist im Proletariat kein seelischer oder kognitiver Zustand und ist dennoch keine Konzeption des Theoretikers, weil es eine Praxis ist, das heißt weniger als ein Subjekt und mehr als ein Objekt. . .« Die proletarische Praxis »erheischt eine kritische Verarbeitung, Korrekturen. Für diese Kontrolle (!) sorgt eine Praxis höheren Grades«, die der Partei. »Sie zieht die Arbeiterklasse aus dem heraus, was sie unmittelbar ist. . . Aber nicht willkürlich; die Partei muß zeigen, daß ihr Ausdruck der Arbeiterklasse wahr ist, indem sie diese dazu bringt (!), sie zu akzeptieren.« »Nachgezogen, aber nicht manipuliert, liefer(t) sie der Politik der Partei das Siegel der Wahrheit.« Dabei »handelt (es) sich nicht darum, fortwährend den Proletariern die revolutionäre Tragweite ihrer Aktionen in eine klare Sprache zu übersetzen: das hieße manchmal, sie allzusehr das Gewicht der zu besiegenden Widerstände fühlen zu lassen, die sie, ohne es zu wissen, überwinden werden, und das hieße auf jeden Fall den Feind warnen.« Die Abenteuer der Dialektik (1955), S. 59, 63 und 64. Daß das Verschweigen der theoretischen Einsicht die Manipulation ist, bleibt ungesagt. Und die Empfehlung, aus taktischen Gründen die Theorie durch Opium zu ersetzen, auf daß die Ahnungslosen Taten vollbringen, vor deren Risiken sie als Einsichtige zurückschaudern würden, erneuert den Gedanken einer »List der Vernunft«, mit der hier die Partei anstelle des Weltgeistes arbeitet. Merleau-Ponty hat denn auch (noch zehn Jahre nach dem stalinistischen Massenterror) viel Mühe darauf verwandt, die Moskauer Schauprozesse mit der historischen »Vernunft« in Einklang zu bringen. (Vgl. Humanismus und Terror (1947), I. Teil, Kap. 2 und 3.) 115 - so sehr das politische Handeln der Führung selbst sich, in bloßen Reaktionen auf wechselnde Situationen erschöpfen mag - 114 der Interessen der proletarischen Klasse.116 Motive dieser und der älteren Luxemburgschen Kritik an Lenins Parteikonzeption117 kehren bei Jürgen Habermas wieder, der Lukács' Theorie des Verhältnisses zwischen revolutionärer Partei, Massen und Klassenfeind im Hinblick auf das Modell des psychoanalytischen »therapeutischen Diskurses« von Arzt und Patient kritisiert.118 Dies Modell ist brauchbar, »um normativ das Verhältnis zwischen der kommunistischen Partei und den Massen, die sich durch die Partei über ihre eigene Lage aufklären lassen, zu strukturieren.«119 Therapeut wie Partei(-Intellektueller) wollen durch ihr Handeln Prozesse der Selbstreflexion provozieren.120 In beiden Fällen entscheidet über die Alternative Beeinflussung versus Selbstreflexion, Kommando versus Spontaneität, ob wirklich »der Patient selbst letzte Instanz (ist).«121 Der Vergleich des politischen mit dem therapeutischen Diskurs lehrt, daß die theoretische Antizipation politischen Handelns sich nicht (wie Lukács unterstellt) nach dem Modell retrospektiver Selbstreflexion konstruieren läßt: »In einem dialektisch aufzuklärenden Zusammenhang systematisch verzerrter Kommunikation handeln wir nur, solange dieser sich undurchschaut, auch von uns undurchschaut perpetuiert... Die praktischen Folgen der Selbstreflexion sind Einstellungsänderungen, die sich aus der Einsicht in vergangene Kausalitäten ergeben, und zwar eo ipso ergeben. Das zukunftsgerichtete strategische Handeln, das in den internen Diskussionen der Gruppen, die (als Avantgarde) gelungene Aufklärungsprozesse für sich selbst bereits unterstellen, vorbereitet wird, kann hingegen nicht in derselben Weise durch reflexives Wissen gerechtfertigt werden.«122 116 Vgl. Trotzki, Cours Nouveau (1923 c); ferner seine Kritik des »bürokratischen Ultimatismus« der KPD-Führung in den Jahren vor Hitlers Machtergreifung, in: Schriften über Deutschland (1929-40), 133 f. und 202-210. 117 Vgl. Rosa Luxemburg (1904). 118 Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln. (Einleitung zur Neuausgabe von »Theorie und Praxis«, 1971, 9-47.) 119 A.a.O., 36. 120 »Die Stellung der Partner im analytischen Gespräch ist asymmetrisch; sie ... terminiert erst am Ende einer gelingenden Behandlung in jener symmetrischen Beziehung, die zwischen Diskursteilnehmern von Anbeginn statthat« (a.a.O., 34). 121 A.a.O., 35. »Verstöße gegen Standesnormen und Kunstregeln sind in Grenzen kontrollierbar . . . die Patientenrolle ist nicht total . . . Innerhalb gewisser Grenzen bleibt dem Patienten die Möglichkeit, den Analytiker zu wechseln oder die Behandlung abzubrechen« (ebd.). 122 A.a.O., 44. 115 In Schellings Münchener Vorlesungen »Zur Geschichte der neueren Philosophie« (1827), in denen er die Gedankenbewegung des deutschen Idealismus (und seine eigene Rolle darin) rekonstruierte, erscheint die Theorie vom bewußtlosen Produzieren in einer Version, die der späteren psychoanalytischen außerordentlich nahe kommt. Die Verwandtschaft läßt sich, wie Marquard gezeigt hat, aus der Abwendung der Philosophie von der Geschichte und ihrer Hinwendung zur Natur, die Ästhetik (und Mythologie) wie Therapeutik kennzeichnet, herleiten. Da die Verheißung der Geschichtsphilosophie, daß die Menschen mündig werden und sich mit Natur versöhnen, unerfüllt blieb, die Geschichte ein Reich barbarischer Unfreiheit, erhoffen die Philosophen Autonomie in der Sphäre der Ästhetik (als der Lehre von der lockenden Natur, den schönen Gebilden), - bauen schließlich, da auch diese Hoffnung trügt, auf die medizinische Therapie der Menschennatur.123 Die Frage: »Wie leben mit der Natur, wo sie Macht hat über die Geschichte, wenn es nicht mehr ausreicht, mit ihr >ästhetisch< zu leben?«, sieht Marquard durch die (von Schelling vollzogene) Wendung der Philosophie zur Medizin beantwortet: »Wo die Wende zur Natur und damit das Pensum ihrer unriskanten Präsenz fortdauert, führt innerhalb der Philosophie die Krise der Ästhetik zur Konjunktur der Therapeutik«; mit Worten von Novalis: »Weil >der Poet< als der transzendentale Arzt< versagt, folgt ihm der reale Arzt im Amte des Hüters der transzendentalen Gesundheit<«124 Schelling beginnt die Darstellung der von ihm vollzogenen Umbildung der Fichte123 »Schellings Geschichtsphilosophie fehlt die Theorie der konkreten Wege. Darum wird sie schließlich . . . zur deprimierten Geschichtsphilosophie: Geschichte ist auch für ihn einstweilen nicht das Gelände menschlicher Autonomie. Gleichwohl bleibt die Autonomie für Schelling die menschlichste aller Bestimmungen: daß jedermann über sich selber vollkommen selber bestimmt. Aber wo - wenn doch offenbar nicht in der Geschichte - ist menschliche Autonomie zu finden und zu realisieren? Schelling antwortet - dies gilt wenigstens für die Zeit zwischen 1796 und 1804 - wie vor ihm Schiller: das Exil der Autonomie ist die Kunst.« Sie hat ihren Stoff an der Mythologie. »Schellings Mythologiephilosophie: das ist direkter Heteronomismus; aber er ist indirekter Autonomismus; sie lobt die Mythen; aber sie lobt sie weg: in fernste Zukunft und in fernste Vergangenheit.« O. Marquard, Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling (1971), 261 ff. 124 Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts (1963), 42. Vgl. Novalis (1960), 535 (Fragm. 42). 116 schen Lehre mit einer Kritik der »thrasonischen« Formel »Alles ist nur durch das Ich und für das Ich«: »Die Meinung dieses subjektiven Idealismus selbst konnte nicht seyn, daß das Ich die Dinge außer sich frei und mit Wollen setzte; denn nur zu vieles ist, das das Ich ganz anders wollte, wenn das äußere Seyn von ihm abhienge. Der unbedingteste Idealist kann nicht vermeiden, das Ich, was seine Vorstellungen von der Außenwelt betrifft, als abhängig zu denken ... wenigstens von einer innern Notwendigkeit, und wenn er dem Ich ein Produciren jener Vorstellungen zuschreibt, so muß dies wenigstens ein blindes, nicht in dem Willen sondern in der Natur des Ich gegründetes Produciren seyn.«125 An Schellings quasi-materialistische Argumentation erinnert Adornos Kritik an der Konzeption des Transzendentalsubjekts: »Das Resultat von Abstraktion ist nie gegen das, wovon es abgezogen ward, absolut zu verselbständigen; weil das Abstraktum auf das unter ihm Befaßte anwendbar bleiben, weil Rückkehr möglich sein soll, ist in ihm immer zugleich auch in gewissem Sinn die Qualität dessen, wovon abstrahiert wird, aufbewahrt, wäre es auch in oberster Allgemeinheit. Setzt daher die Bildung des Begriffs Transzendentalsubjekt oder absoluter Geist sich ganz hinweg über individuelles Bewußtsein schlechthin als raumzeitliches, woran er gewonnen ward, so läßt jener Begriff selber sich nicht mehr einlösen; sonst wird er, der alle Fetische demolierte, selber einer, und das haben die spekulativen Philosophen seit Fichte verkannt.. .« »Ein Ich, das in gar keinem Sinn mehr Ich wäre . . ., wäre ein Nonsens ... Die Analyse des absoluten Subjekts muß die Unauflöslichkeit eines empirischen, nichtidentischen Moments daran anerkennen .. .«126 Insofern ist die gedankliche Reflexionsbewegung, in der das empirische Ich sich über sich erhebt und in dem Produzieren des transzendentalen Ichs - dieser mythologischen Personalisierung der gesellschaftlichen Arbeit der vielen Individuen - der Bedingung der Möglichkeit der ihm erscheinenden Welt (samt der ihr zugehörigen Erscheinung seiner selbst) inne wird, immer auch eine »psychologische«. Bei dem solipsistisch argumentierenden Fichte, dem, wie Schelling schreibt, »die ganze Natur« in dem »Begriff des Nicht-Ich, des völlig leeren Objekts« 125 Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen (1827). In: Schriften von 1813-1830, S. 374 f. 126 Drei Studien zu Hegel (1963). In: Gesammelte Schriften 5 (1971), 263 und 264. 117 »zusammengeschwunden« ist127, und der darum die Kluft zwischen empirisch-psychologischem und transzendentalem Subjekt am weitesten aufreißt, wird das deutlicher als bei dem realistischen Hegel. In der Konzeption der erinnernden Aneignung von (bewußtlos erzeugter) Pseudonatur wurde die geschichtsphilosophisch formulierte Erfahrung der großen Revolutionen mit der lebensgeschichtlich-psychologischen Erfahrung befreiender Selbstreflexion verschmolzen. Erst Freud nimmt das Thema als ein rein psychologisches wieder auf, - um den Preis des Psychologismus, des Verkennens gesellschaftlicher Pseudonatur. Arzt und Patient nehmen nun die Plätze des »Philosophen« und des naiven Bewußtseins ein. Das Transzendentalsubjekt ist verschwunden; die Ananke-Außenwelt bleibt für die therapeutische Reflexion undurchdringlich - nicht entfremdet, sondern fremd. Bewußtloser Produzent der ichfremden neurotischen Bildungen ist der Patient selbst; sein Arzt verfügt nur über ein Mehr an Erfahrung, den psychoanalytischen Interpretationsrahmen lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse und ihrer typischen Störungen sowie über einen knappen zeitlichen Vorsprung, da ihm das vom Patienten offenbarte assoziative Material eher zu Konstruktionen von dessen verschütteter Vergangenheit zusammenschießt als dem Kranken, der ja mehr sagen soll, als er sich zu wissen getraut. Und die (unter Zuhilfenahme von Gesetzes-Hypothesen, die den Zusammenhang von Traumen und Symptomen formulieren, gewonnenen) Deutungen sind so lange nichts wert, nicht »wahr«, solange sie nicht vom Patienten (auf der intellektuellen Ebene ebenso wie auf der der Affekte und Symptome) »anerkannt« werden, von bloßen Erkenntnissen über den Patienten zu dessen Selbsterkenntnis geworden sind. Der Patient der psychoanalytischen Kur ist wirklich identisches Subjekt-Objekt seiner Leidensgeschichte. Aber sein (der Amnesie verfallenes) »Produzieren« ist nicht der Freiheit, sondern der Unfreiheit entsprungen. Spontaneität »(relative) Autonomie in einer Welt der Heteronomie«128 - erwächst ihm nur in dem Maße, wie es ihm gelingt, sich seine unglückselige Vorgeschichte erinnernd wieder anzueignen. Schelling deutet den transzendentalen Rückstieg des Ichs aus der Welt des immer schon Gegebenen als Selbstüberschreitung des »jetzt vorhande127 Schelling, a.a.O., 372 f. 128 H. Marcuse, Das Veralten der Psychoanalyse (1963), 87. 118 nen« Bewußtseins ins »noch nicht« Bewußte. Da die Außenwelt für das bewußte Ich immer schon da ist, muß »es« sie als allgemeines (transzendentales) - vor seiner Individuation, und darum »unbewußt« hervorgebracht haben. »Nichts verhinderte aber, mit diesem jetzt in mir sich-bewußten Ich auf einen Moment zurückzugehen, wo es seiner noch nicht bewußt war, - eine Region jenseits des jetzt vorhandenen Bewußtseyns anzunehmen und eine Thätigkeit, die nicht mehr selbst, sondern nur durch ihr Resultat in das Bewußtseyn kommt. Diese Thätigkeit konnte nun keine andere seyn als eben die Arbeit des zu-sich-selbst-Kommens.. .«129 Schellings Erklärung des »unzerreißbaren Zusammenhangs« von Ich und (notwendig vorgestellter) Außenwelt führt also auf »eine transzendentale Geschichte des Ichs«: »Nur das kann zu sich kommen, was zuvor außer sich war.« Das jenseits des Bewußtseins gedachte »Ich« ist »für alle menschlichen Individuen das gleiche und selbe«, es individuiert sich erst, indem es in den einzelnen Menschen zu sich kommt. Darum zählen die Individuen, was ihre Vorstellung von der Außenwelt anbelangt, »auf die Übereinstimmung aller menschlichen Individuen«. Angekommen »bei dem Ich bin, womit sein individuelles Leben beginnt, erinnert... sich (das Ich) nicht mehr des Wegs, den es bis dahin zurückgelegt hat...« (376) »Das individuelle Ich findet in seinem Bewußtseyn nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Wegs, nicht den Weg selbst. Aber eben darum ist es nun Sache der Wissenschaft und zwar der Urwissenschaft, der Philosophie, ... daß jenes Ich des Bewußtseyns den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn - selbst mit Bewußtseyn zurücklege. Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und erlitten hat...« (376 f.) Das Verfahren der Anamnese beruht auf der Unterscheidung des sich entwickelnden Ichs und des ihm zuschauenden, philosophierenden Ichs. »Durch jeden Moment war in das objektive Ich eine Bestimmung gesetzt, aber diese Bestimmung war nur für den Zuschauer in ihm gesetzt, nicht für es selbst.« Ziel des Prozesses ist, das »objektive Ich selbst auf den Standpunkt des Philosophirenden« zu bringen. 129 Schelling, a.a.O., 375. 119 »Zwischen dem objektiven Ich und dem philosophirenden bestand ohngefähr das Verhältniß wie in den Sokratischen Gesprächen zwischen dem Schüler und dem Meister. In dem objektiven Ich war jederzeit in eingewickelter Weise mehr gesetzt, als es selbst wußte; die Thätigkeit des subjektiven, des philosophirenden Ich bestand nun darin, dem objektiven Ich selbst zu der Erkenntniß und dem Bewußtseyn des in ihm Gesetzten zu verhelfen und es so endlich zur völligen Selbsterkenntniß zu bringen.« (380) Die Psychoanalyse ist, das lehrt die Vergegenwärtigung der Theorie vom bewußtlosen Produzieren als des Zentralproblems der großen idealistischen Systeme, die Auferstehung der Dialektik inmitten der Ära der positivistischen Naturwissenschaften, - die Wiederkehr der Selbstreflexion als Therapie.130 Im Fortgang der Aufklärung sind Transzendentalsubjekt wie empirisches materialistisch entzaubert worden.131 Nicht Weltschöpfung, sondern Umarbeitung der vorgefundenen äußeren und inneren Natur (durch Produktion und Sozialisation) ist das Werk der unfrei vergesellschafteten Individuen; und die jeweiligen Gegenständlichkeitsformen, die »Natur« in diesem Bearbeitungsprozeß annimmt132, erscheinen den in ihn verstrickten Individuen als eine »zweite Natur« von unwandelbarer Notwendigkeit. Nur diese ihnen entfremdete Pseudonatur ist einer Auflösung und Rücknahme (Wiederaneignung)133 fähig, nicht Natur, »Gegenständlichkeit« überhaupt. Indem sie sich den gesellschaftlich konstituierten Zwängen wie einem Naturgesetz unterwerfen, den Widerspruch zwischen den sozialen Institutionen134 und den sie 130 In Gehlens Formulierung: »Auf dem soziologischen und wirtschaftlichen Gebiet . . . scheint die Zeit abgelaufen zu sein, in der die Freiheit sich noch enthusiastisch realisieren wollte. Dieses Stück Idealismus ist abgelebt, sein anarchischer Gehalt wie ein Bazillus eingekapselt in der Psychoanalyse verborgen, dort auf die Stunde der Politisierung dieser Glaubenslehre wartend.« Ober die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung (1952), 243. 131 »Synthesis im materialistischen Verstande ist eine auf die Sphäre der Weltgeschichte relativierte Tathandlung; Marx verweist Fichte in die Schranken, die durch Kants Transzendentalphilosophie und Darwins Evolutionismus gezogen sind.« Habermas, Erkenntnis und Interesse (1968 b), 56 f. 132 »Die Geschichte wird (bei Marx) zur Geschichte der Gegenständlichkeitsformen, die die Umwelt und die innere Welt des Menschen bilden, die er gedanklich, praktisch, künstlerisch usw. zu bewältigen sich bemüht.« Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1968), 375. 133 Durch Reflexion auf ihre Genesis und eine von solcher Reflexion inspirierte institutionenändernde Praxis. 134 »Dieselben Konstellationen, die den Einzelnen in die Neurose treiben, 120 zweideutig legitimierenden Traditionen einerseits, den eigenen ungestillten Triebwünschen anderseits sich verhehlen, laufen sie Gefahr, die Chance der Befreiung ungenutzt zu lassen. Dies Risiko provozierte die Ausbildung der beiden Versionen von »kritischer Theorie«, in deren Gestalt die Dialektik auf uns gekommen ist, die »in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt...« (Marx135) Psychoanalyse wie historischer Materialismus sind Kritiken gesellschaftlich konstituierter Pseudonatur. In der arbeitsteiligen Aufspaltung der Kritik in eine, die es mit gesellschaftlicher Objektivität zu tun hat, und eine andere, die die neurotische Selbstverdinglichung der einzelnen Menschen aufklärt, kommt der Bruch zwischen den Individuen und der Form ihrer Vergesellschaftung, in der sie sich nicht erkennen können, die sie nicht als die ihre anerkennen können, zum Ausdruck. Die Psychoanalyse arbeitet an der Auflösung der inneren Pseudonatur, indem sie ihre Patienten, anamnestisch deren Lebensgeschichte rekonstruierend, zur Einsicht in die bewußtlose Produktion der dem Ich entglittenen, verselbständigten Symptome bringt. Im Maße wie es gelingt, die Bewußtlosigkeit ihrer Erzeugung aufzuheben, verliert sich deren Fremdheit, kann das Ich sich das Verlorene, es bearbeitend, wieder zu eigen machen. Das Thema der Psychoanalyse ist der Widerspruch zwischen der menschlichen Natur (den luxurierenden Triebwünschen) und den jeweiligen Formen ihrer Versagung und Befriedigung - ihrer (in Sozialisationsprozessen erworbenen) Struktur. Da aber die gesellschaftliche Pseudonatur, unter deren Druck die Individuen unwillentlich eine psychologische erst ausbildeten, von der psychoanalytischen Kritik nicht angegriffen wird136, behalten deren Resultate etwas Vorläufiges, Widerrufbares. Sie selbst bleibt dem Einwand ausgesetzt, »die materielle Entfremdung durch eine rein innerliche spiritualistische Aktion vernichbewegen die Gesellschaft zur Errichtung von Institutionen . . . Wie der Wiederholungszwang von innen, so bewirkt der institutionelle Zwang von außen eine der Kritik entzogene und verhältnismäßig starre Reproduktion gleichförmigen Verhaltens.« Habermas, a.a.O., 353. 135 Nachwort zur 2. Auflage von »Das Kapital« (1873). MEW 23, S. 28. 136 Vgl. dazu das Kapitel (I. 4) über gesellschaftliche Genesis und Wirkung der Psychoanalyse. 121 ten zu wollen.«137 Tatsächlich ist die »>idealistische< Abwendung von aller Faktizität«138 der Kunstgriff des psychoanalytisch-kritischen Verfahrens; es traktiert »reale, objektive, außer mir existierende Ketten« als »bloß ideelle, bloß subjektive, bloß in mir existierende Ketten«139, - greift die objektive Unfreiheit der Individuen als subjektive an, die sie immer auch ist (und ohne die die objektive nicht fortbestünde). »Aber um sich zu erheben, genügt es nicht, sich in Gedanken zu erheben ...«140 Zwar sind es nicht bloße Vorstellungen, Redeweisen, die die Psychoanalyse revidiert, sondern - durch deren Vermittlung - Triebstruktur und Interaktionsformen ihrer Patienten. Doch die Tragweite, die gesellschaftliche Relevanz dieser therapeutischen Revisionen wird der Psychoanalyse in ihrer traditionellen Gestalt nicht zum Problem. Der Widerstreit zwischen der Menschennatur der Individuen und den Formen ihrer Vergesellschaftung kommt in der Arbeitsteilung der beiden kritischen Theorien zum Ausdruck; er bedingt ihre Differenz wie ihre je spezifische Unzulänglichkeit. Der historische Materialismus spürt durch Kritik der gesellschaftlichen Objektivität deren Entwicklungstendenzen auf und bezeichnet den Klassenindividuen Interventionschancen gegenüber dem gesellschaftlichen Schicksal, das sie zu verschlingen droht. An der Ausbildung ihrer psychischen Struktur in Sozialisationsprozessen zeigt er sich desinteressiert. Die Psychoanalyse aber ignoriert die historisch-spezifische Form der Vergesellschaftung der Individuen, deren psychische Beschädigung sie aus ihrer Lebensgeschichte als einer Kränkungsgeschichte verständlich zu machen sucht. So lange die Ohnmacht der Individuen, die Übermacht ihrer Verhältnisse währt, so lange bleibt Max Horkheimers Formel - »Eine materialistische Geschichtsschreibung ohne genügende Psychologie ist mangelhaft. Psychologistische Geschichtsschreibung ist verkehrt«141 - in Geltung. Daraus folgt aber auch, daß man die beiden Kritiken nicht, den realen Bruch zwischen Menschen und Institutionen, den ihre Aufspaltung dokumentiert, verleugnend, einfach miteinander »kombinieren« kann. »Marxismus und Psychoanalyse zusammenfügen, wie sie 137 138 139 140 141 122 Marx, in: Marx/Engels, Die heilige Familie ... (1845); MEW 2, S. 87. A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion (1970 a), 201. Marx, a.a.O., 87. Ebd. Dämmerung (1934), 112. (»Zur Charakterologie«) sind, hieße synkretistisch beider Blindheiten für die Sache des je andern zusammenfügen ... Daß die Psychoanalyse an einem Moment von Gesellschaftlichkeit scheitert, deren pionierhafte Theorie ihrerseits an einem von Innerlichkeit scheitert, heißt, daß sie füreinander nicht positive Komplemente sein können, sondern ihre gegenseitigen kritischen Regulative sie vorantreibende Negationen sind .. .«142 142 U. Sonnemann, Hegel und Freud (1969 b), 215. Vgl. auch dessen Negative Anthropologie (1969 a), S. 15 und 87.