2. Selbstreflexion als Therapie

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2. Selbstreflexion als Therapie
Alle meine Ansätze sind am philosophischen Ende, am
organisch-sexuellen ist gar nichts gekommen.
Freud an Fließ (23. 2. 1898)1
Die psychoanalytische Therapie arbeitet an der Rekonstruktion der
verdrängten Geheimgeschichte neurotischer Individuen, indem sie die
biographische Legende des »offiziellen Bewußtseins« kritisiert und die
unterdrückten Kränkungsszenen aus ihren Spuren (in den »freien«
Assoziationen) zu erraten sucht. Die »Nacherziehung« des Patienten
vollzieht sich im Rahmen des Arrangements der Kur, das der
ursprünglichen Sozialisations-Situation nachgebildet ist. Die
Anamnese-Leistung des Patienten bedarf der Übertragungsliebe als
ihres Vehikels. In den Übertragungs-Phänomenen wie in den
Erinnerungen des Patienten reproduzieren sich die in den Status
neurotischer Unsterblichkeit versetzten neurotogenen FamilienSzenen. Die Kranken wissen nicht mehr, was ihnen widerfahren ist,
aber sie müssen es darstellen; das Verdrängte zwingt sie in die
Kreisbahn ewiger Wiederkehr des Gleichen.2 Durch Wiederholung
aber ist das Trauma nicht zu erschöpfen. Die Psychoanalyse sucht
darum die Patienten vom Darstellungszwang zu befreien, indem die
Darstellung virtualisiert und die bewußte Erinnerung auf Kosten der
Inszenierung provoziert wird. Die an spezifische Bedingungen
gebundene Reproduktion der traumatischen Kindheitsszenen ist zur
Heilung unentbehrlich. Das schlecht gelebte Leben, das nicht sterben
kann, muß nochmals durchlitten, die alten Neurosenarben müssen noch
einmal aufgerissen werden; das Ich hat sich dem Abgewehrten, stets
Vermiedenen zu stellen, um seiner Ohnmacht sich zu entwinden. Erst
wenn die Vergangenheit wieder auflebt,
1 Zitiert nach Jones (1954-57), I, 413 (Anm. 23).
2 »Der Kern des hysterischen Anfalls... ist eine Erinnerung, das hallucinatorische Wiederdurchleben einer für die Erkrankung bedeutungsvollen Scene ..
. Ein Trauma wäre zu definieren als ein Erregungszuwachs im Nervensystem,
dessen sich letzteres durch motorische Reaction nicht hinreichend zu entledigen
vermag. Der hysterische Anfall ist vielleicht aufzufassen als ein Versuch, die
Reaction auf das Trauma zu vollenden . ..« Freud (1894), 107 (Anm. 1).
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die alten Affektstürme noch einmal toben, und das Ich sich Bewußtsein und Erinnerung nicht auf dem eingefahrenen Abwehrwege
erspart, sondern dem Bedrohlichen standhält, macht es sich die
Vergangenheit zu eigen, zieht aus dem Standhalten neue Kraft diejenige, die es seither auf die Abwehr verwenden mußte. Die alten
Geschichten aber werden zur Sprache verhalten. Die Neuauflage der
Kindheitsszenen wird zwar provoziert, aber nur zu einer eigentümlich
sublimierten, auf Verbalisierung gestellten Reproduktion zugelassen.
Das »Agieren«, die einfache, das Ich mitreißende Darstellung der
prekären
Erlebnisse,
die
die
Dimension
sprachlicher
Vergegenwärtigung, distanzierender Mitteilung umgeht, gilt als
Abwehr. Was dem Neurotiker im Leben stets wieder passiert, seine
Interaktionen zum immergleichen Ritual erstarren läßt, ihn in die
immergleichen Konflikte verwickelt, muß in der Analyse sistiert
werden. Er soll nicht in der Reproduktion neurotisierender Szenen aufgehen, sondern sie erinnernd erzählen. Das Unbewältigte erfährt nicht
eine Neuaufführung, sondern wird, wie es zu Zeiten der hypnotischkathartischen Therapie hieß, durch »Absprechen« erledigt. Die
biographischen Schlüsselszenen werden unter den Spielbedingungen
des psychoanalytischen Schattentheaters, die denen des Traumes
gleichen, vorgestellt. In einem im Alltagsleben, in der
gesellschaftlichen
Realität
unvorstellbaren
Maße
herrscht
Ausdrucksfreiheit; die Motilität ist stillgestellt, die Verantwortlichkeit
aufgehoben, die Zensur zurückgenommen; der Therapeut dient als
passiver, wandlungsbereiter Gegenspieler. Ist das Traumtheater einem
Filmtheater vergleichbar, so gleicht das psychoanalytische einer
Sprechbühne. Die (Übertragungs-) Illusion des Akteurs, er sei der
neurotische Akteur und nichts als dieser, der Therapeut sei der geliebte
und gehaßte Gegenspieler aus den Kindheitsszenen, wird immer
wieder dadurch aufgebrochen, daß der vermeintliche Mitspieler bei der
Wiederaufführung der verdrängten Deck- und Urszenen aus der ihm
zugemuteten Rolle fällt und (die Gegenübertragung durchstoßend) den
neurotischen Illusionsschauspieler zur Rollendistanz, zur Selbstreflexion nötigt. Das Aufgehen in der (neurotisch) vorgeschriebenen
Rolle wäre hier (wie auf dem epischen Theater Brechts3) der Verzicht
auf die Leistung, um derentwillen die Institution
3 Vgl. W. Benjamin, Was ist das epische Theater? (1939); Abschn. IV, V und
VII. In: Benjamin (1966), 25-30.
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(der psychoanalytischen Kur) ersonnen ward, ein Kunstfehler des
Therapeuten. Nur indem die ins Unbewußte verbannten Szenen über
die verbale Mitteilung zu bewußten Erinnerungen werden, wird ihr
verhaltensdeterminierender Bann gebrochen, eine lebenspraktisch
wirksame Revision der habitualisierten Ichabwehren möglich.
Die zeitgenössische Medizin hatte, dem Augenschein vertrauend, die
Hysterien als Simulationen verkannt. Freuds »Spurenwissenschaft«4
erwuchs aus der Skepsis gegenüber dem Augenschein, dem Mißtrauen
gegenüber dem »offiziellen Bewußtsein« und seiner Erinnerung. Die
Aufgabe der Verführungstheorie führte nicht zu einem Versuch, die
Erinnerungsfälschung der Neurosepatienten zu umgehen, etwa die zur
Aufklärung der Symptomatik erforderlichen Informationen durch
Befragung von Augenzeugen ihrer Kindheit sich zu verschaffen,
sondern zu einem veränderten Verständnis der Phantasien. Sie galten
nicht mehr als realistische Darstellung von Begebenheiten der
Kindheitsgeschichte, sondern als indirekte Hinweise auf traumatische
Erfahrungen, die sich nur durch Kritik und Deutung der Phantasien
erschließen lassen. Die analytische »Grundregel« ist ein Versuch, die
Patienten dazu zu bringen, ihren Widerständen entgegen, die sie in
Unkenntnis über sich selbst halten, mehr zu sagen, als sie aktuell
wissen (dürfen). Mit Hilfe von Konstruktionen aus diesem
Assoziationsmaterial, um das die Wünsche und Ängste der Patienten
kreisen, wird ein Modell der Geheimgeschichte der Kranken
entworfen, in dessen Kontext die isoliert genommen rätselhaften
Symptome ihren versteckten Sinn freigeben, - als einen hypothetischen
für den Therapeuten, als den wirklichen für den Patienten, sofern er
sich in dem Modell erkennt. Die aus der Erinnerung verstoßenen
»Daten«, Episoden der Kindheit, haben Bedeutung einzig im Kontext
der biographischen Kränkungsgeschichte; ihr Sinn, der oft erst
»posthum« (im Fortgang der Lebensgeschichte) sich bildet, nicht ihre
Faktizität ist für Neurose und Therapie entscheidend. Was der Analytiker gemeinsam mit seinem Patienten sucht, sind nicht »Tatsachen«,
nicht der wirkliche Ablauf dieser oder jener Begebenheit in der
Kindheit des Kranken, sondern deren Bedeutung. Ein bestimmter Tag,
eine bestimmte Szene wurde für die innere Bildungsgeschichte des
Neurotikers entscheidend, weil in der Kette
sensibilisierender Erfahrungen diese eine schließlich den Heranwachsenden so sehr überwältigte, daß seine Ichorganisation eine
bleibende Schädigung davontrug, aus der die neurotische Ichspaltung
sich entwickelte. Dieses Ereignis aber war ein innerliches, das an den
tatsächlichen Begebenheiten jener Kindheitsphase nicht abgelesen und
von niemandem als dem Kranken selbst bezeugt werden kann.
Die Psychoanalyse erschließt die individuelle Lebensgeschichte aus
den direkten und indirekten Mitteilungen ihres Autors. Die
gesellschaftlichen Lebensverhältnisse werden in der therapeutisch
relevanten Selbstdarstellung in der Regel nicht zum Thema, bilden
vielmehr nur deren Kulisse. Auch die pathogenetischen intrafamilialen
Interaktionsstile, die sich im Rahmen spezifischer sozialer
Lebenssituationen einspielen, erforscht die Therapie im Medium von
Anamnesis, als abgelebtes, strukturgewordenes Leben. Ihre
Einstellung ist streng monadologisch. Die Übersetzung der
therapeutischen Erfahrung in die Sprache der Meta-psychologie
impliziert
die
theoretische
Reduktion der
mikrosozialen
Interaktionsprozesse, deren Reflexion und Revision die Therapie in
erster Linie gilt, auf die reine Innerlichkeit des solipsistisch
konstruierten psychischen Apparats. Aus Objekten werden ObjektRepräsentanzen, aus Liebe und Haß Besetzungsverschiebungen, aus
der Auseinandersetzung zwischen Personen die der psychischen
Instanzen. Im Rahmen der Strukturtheorie schrumpft die Dramatik der
infantilen und aktuellen szenischen Interaktionen des Patienten
zusammen auf problematische Relationen der Substrukturen des
»Reizbewältigungsapparats«. Die Personifizierung der »Instanzen« ist
der letzte Hinweis darauf, daß, was sich jetzt nur mehr zwischen den
psychischen »Systemen« zuträgt, einmal die dramatische Interaktion
der Figuren auf der Familienbühne war. Freud hat die Familie als
Sozialisationsagentur entdeckt. Als solche erscheint sie sowohl in den
Fallgeschichten wie im Entwurf der frühen Menschheitsgeschichte als
einer Familiengeschichte. In der Lehre von der psychosexuellen
Ontogenese, von der Therapie und vom psychischen Apparat aber
fristet sie nur ein Schattendasein. Sie ist die soziale Matrix der
Ontogenesen und wird doch nie selbst zum Problem.5 Die Konzeption
der Psychoanalyse als einer Natur-
3 Vgl. S. Bernfeld (1932 b), 482.
5 »Bei allen Einsichten, die Freud uns implizit oder explizit über die Familiensituation
seiner Patienten bescherte, blieb das Teleskop seines Erkennens
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Wissenschaft von der Seele zehrt wesentlich von der metapsychologischen Verallgemeinerung der therapeutischen Erfahrung. Ohne
Rekurs auf den therapeutischen Prozeß als ihre Erfahrungsbasis
erscheint als allgemeine Theorie, was doch nur generalisierte Historie,
Interpretationsrahmen von Lebensgeschichten ist.6 Daß Psychoanalyse
wesentlich eine Interaktionstheorie ist, wird gegenwärtig deutlicher
gesehen.7 Im Rahmen der Sozialisationstheorie wird wie
selbstverständlich der am Paradigma des Rollenhandelns orientierte
symbolische
Interaktionismus
der
Mead-Schule8
der
psychoanalytischen Identifikationstheorie unterlegt.9 Gleichzeitig hat
die psychoanalytisch orientierte Schizophrenieforschung10 ebenso wie
die Familientherapie11 die traditionelle monadologische Orientierung
auf den isolierten Patienten aufgegeben und ist zur Erforschung der
Interaktionsstile und Kommunikationsstrukturen ganzer Familien
übergegangen, deren Mitglieder die neurotische (bzw. psychotische)
Störung arbeitsteilig zur Darstellung bringen.
»Niederschläge« von Objektbesetzungen, »besetzte« Repräsentanzen,
Engramme vertreten im Binnenraum der Monaden, wie sie die
Metapsychologie konzipiert, die »Außenwelt«, - die soziale und die
(durch sie vermittelte) natürliche. Was den Engrammen Virulenz
verleiht, ist die an sie gebundene psychische Energie. Wann immer die
»Triebe«, aus innersomatischen Reizquellen (als aus ihren
Erzeugungsstätten)
aufsteigend,
den
seelischen
»Reizbewältigungsapparat« überfluten, nach Abfuhr drängen, folgen
sie
den
ontogenetisch
erworbenen
Abfuhrbahnen
der
»Triebschicksale«. Seit der Publikation der »Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie« (1905) ist Freuds Trieblehre zur populärsten
Komponente im Kanon der psychoanalytischen
wesentlich auf die analytische Zweierbeziehung und die innerpsychischen Prozesse des
Patienten gerichtet. Er ließ die Familie vergleichsweise unscharf am Rande seines
wissenschaftlichen Interessenhorizontes liegen.« H. Stierlin (1971), 104 f.
6 Vgl. Habermas (1968 b), 290 f., 309 und 318.
7 Vgl. z. B. Caruso (1962); Loch (1969); Loewald (1970); Argelander (1970); Lorenzer
(1971; 1972; 1973).
8 G. H. Mead (1934; 1969); E. Goffman (1959).
9 Vgl. dazu T. Parsons und R. F. Bales (1955); T. Parsons (1964); E. Schwa-nenberg
(1970); L. Krappmann (1971).
10 Vgl. T. Lidz u. a. (1957-59); G. Bateson u. a. (1969); P. Watzlawick u. a. (1967,
1969).
11 Vgl. I. Boszormenyi-Nagy und J. Framo (Hg.), 1965; H. Stierlin (1971).
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Theorien geworden. Sie tritt als (objektivistisch konzipierte) biologisch-materialistische Anthropologie auf. An Versuchen, die LibidoEnergie dingfest zu machen12 oder soziale Institutionen wie Krieg und
Geld direkt von bestimmten Partialtrieben abzuleiten13, hat es daher
nicht gefehlt. Doch auch das naturalistische Inkognito der Triebtheorie
hält näherer Prüfung nicht stand. »Triebe« sind nicht Daten
experimenteller Beobachtung, sondern aus der Erfahrung der Therapie
(im Anschluß an die überlieferten Anthropologien) entwickelte
»mythologische« Interpretationen menschlicher Grundbedürfnisse.
Freuds biologischer Materialismus tendiert zum historischen. In den
einfachsten, physiologischen Formulierungen der Trieblehre sucht
Freud, den »Trieb« als somatischen Binnenreiz und den »Reiz« als die
Anregung, die dem Organismus von außen her zukommt, reinlich
auseinanderzuhalten: »Der Triebreiz stammt nicht aus der Außenwelt,
sondern aus dem Innern des Organismus selbst.« Im Unterschied zum
Reiz wirkt der Trieb »nie wie eine momentane Stoßkraft, sondern
immer wie eine konstante Kraft. Da er nicht von außen, sondern vom
Körperinnern her angreift, kann auch keine Flucht gegen ihn nützen.«
»Wenn z. B. ein starkes Licht auf das Auge fällt, so ist das kein
Triebreiz; wohl aber, wenn sich die Austrocknung der
Schlundschleimhaut fühlbar macht oder die Anätzung der
Magenschleimhaut.«14 Diese Unterscheidung bedarf des Zusatzes:
»vorausgesetzt nämlich, daß diese inneren Vorgänge die organischen
Grundlagen der Bedürfnisse Durst und Hunger sind.« Diese Ergänzung
besagt: Sofern (somatische) Reize Substrat (oder Signal?) von
»Bedürfnissen« sind, handelt es sich um »Triebreize«. Die
Verknüpfung des physiologisch konstatierbaren (und »fühlbaren«)
Datums mit dem Bedürfnis beruht auf Interpretation; der »Triebreiz«
ist eben das gedeutete, in der Selbstwahrnehmung gegebene
physiologische Phänomen. »Innen« und »Außen« sind im Triebreiz
unauflöslich miteinander verschränkt. Die verschiedensten äußeren
Reize können ihn wecken, mit ihm fusionieren. Der »Trieb« selbst
wird als Vertretung oder Signal des somatischen Triebreizes im
psychi12 Vgl. etwa die libidometrischen Studien von S. Bernfeld und S. Feitelberg (1930) oder
W. Reichs »Orgonomie« (1938, 1953 b).
13 Vgl. Fenichels Kritik der entsprechenden Arbeiten von Laforgue und Glo-ver
(Fenichel, 1932, 1934 b, 1935 a).
14 Freud, Triebe und Triebschicksale. GW X, 211 f.
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schen Apparat (im »Es«) aufgefaßt: »Unter einem >Trieb< können wir
zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz
einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle ...«15
Doch das mit »Trieb« Gemeinte läßt sich weder der res cogitans noch
der res extensa eindeutig zuordnen. »Die ökonomische Betrachtung
nimmt an, daß die psychischen Vertretungen der Triebe mit
bestimmten Quantitäten Energie besetzt sind...« (GW XIV, 302) Hier wie in anderen triebtheoretischen Passagen Freuds - wird als »Trieb«
nicht die »psychische Vertretung« einer somatischen Erregung
bezeichnet, sondern diese selbst (das Vertretene). Bald wird der
»Trieb« als ihre psychische Vertretung auf die (selbst unkenntliche)
somatische Energie bezogen, bald jene Energie beim Namen des
»Triebs« als ihrer psychischen Repräsentanz gerufen (die selbst ganz
unbestimmt bleibt, über ihr verborgenes Substrat also auch keinen
Aufschluß gibt). »Trieb ist... einer der Begriffe der Abgrenzung des
Seelischen vom Körperlichen« (GW V, 67). Diese Bestimmung rückt
den Triebbegriff aus der Objektsprache in die Theoriesprache; er soll
der Abgrenzung zweier (theoretisch unterschiedener) Sphären dienen:
»Wir können dem >Trieb< nicht ausweichen als einem Grenzbegriff
zwischen psychologischer und biologischer Auffassung...« (GW VIII,
410 f.) Jedoch: »Wenden wir uns nun von der biologischen Seite her
der Betrachtung des Seelenlebens zu, so erscheint uns der >Trieb< als
ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als
psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in
die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die
dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen
auferlegt ist.«16 Demnach liegt der »Triebbegriff« nicht (sie
vermittelnd) auf der Grenze zweier theoretischer Konzeptionen,
sondern der »Trieb«, wiewohl auch stets »Begriff«, ist selbst ein
Grenzwesen, das zwischen Physis und Psyche haust. Den Trieb, den
wir wohl spüren, als Drängen wie als »Widerstand«, können wir
gleichwohl nicht »an sich« fassen; er bleibt Sendbote aus dem
»inneren Ausland«, das für uns nur indirekt sich erschließen läßt. Jeder
Versuch, spezifische Triebregungen näher zu bestimmen, sieht sich auf
das »äußere Ausland« verwiesen, woher die »Triebschicksale«
stammen. Die psychologische
15 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V, 67.
16 Triebe und Triebschicksale. GW X, 214.
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Erfahrung gibt uns nicht Kenntnis vom Somatischen »an sich«,
sondern vom Somatischen, wie es in der »Innen« und »Außen«
vermittelnden psychischen Arbeit erscheint. Ist der »Trieb« ein
Grenzwesen, so ist die »Psyche« selbst ein Intermedium. Den
intermedialen Charakter des Psychischen, worin Menschennatur
Geschichte, Geschichte »zweite Natur« wird, reflektieren die leitenden
Begriffe der Freudschen Metapsychologie. Die Inkonsequenz im
Gebrauch des Triebbegriffs hat ihr fundamentum in re. Nietzsche
notierte unter dem Titel »Zur Psychologie und Erkenntnislehre«:
»Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: alles, was
uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht,
schematisiert, ausgelegt - der wirkliche Vorgang der inneren >Wahrnehmung<, die Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, wie die zwischen Subjekt und Objekt, uns absolut verborgen - und vielleicht eine reine Einbildung. Diese scheinbare innere
Welt< ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie
die >äußere< Welt. Wir stoßen nie auf >Thatsachen<...«17
Die Triebe sind »großartig in ihrer Unbestimmtheit«; »wir können in
unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei
nie sicher, sie scharf zu sehen«18; die Trieblehre aber ist eine
»Mythologie«. Freud lokalisiert die organischen Triebe im »dunklen«
Es, »das nicht direkt mit der Außenwelt verkehrt und auch unserer
Kenntnis nur durch die Vermittlung einer anderen Instanz zugänglich
wird« (GW XVII, 128). »Wir stellen uns vor, es sei am Ende gegen
das Somatische offen, nehme da die Triebbedürfnisse in sich auf, die in
ihm ihren psychischen Ausdruck finden, wir können aber nicht sagen,
in welchem Substrat« (GW XV, 80). Das Grenzwesen Trieb haust auf
der Grenze zwischen Soma und Es (Psyche). Es läßt sich als die Anforderung charakterisieren, die jeweils eines der großen Körperbedürfnisse an die Arbeit des psychischen Apparats stellt19, als
17 Nietzsche (1887/88), 295.
18 GW XV, 101. - Infolge des ontogenetisch verspäteten Auftretens der »sekundären
Vorgänge« (der an Selbsterhaltung orientierten Hemmung der Abfuhr und des dadurch
ermöglichten denkenden Probehandelns) »bleibt der Kern unseres Wesens, aus
unbewußten Wunschregungen bestehend, unfaßbar und unhemmbar für das Vorbewußte,
dessen Rolle ein für allemal darauf beschränkt wird, den aus dem Unbewußten
stammenden Wunschregungen die zweckmäßigsten Wege anzuweisen.« Die
Traumdeutung, GW II/III, 609.
19 Vgl. GW V, 67, und X, 214.
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die Kraft, mit der es sich äußert (GW XI, 323). Nähere Bestimmung
haben in der psychoanalytischen Arbeit nur die Schicksale der Libido
erfahren. Was die libidinösen Regungen »voneinander unterscheidet
und mit spezifischen Eigenschaften ausstattet, ist deren Beziehung zu
ihren somatischen Quellen und ihren Zielen. Die Quelle des Triebes ist
ein erregender Vorgang in einem Organ und das nächste Ziel des
Triebes liegt in der Aufhebung dieses Organreizes« (GW V, 67); »auf
dem Wege von der Quelle zum Ziel wird der Trieb psychisch wirksam.
Wir stellen ihn vor als einen gewissen Energiebetrag, der nach einer
bestimmten Richtung drängt. Von diesem Drängen hat er den Namen:
Trieb... Das Ziel kann am eigenen Körper erreicht werden, in der Regel
ist ein äußeres Objekt eingeschoben, an dem der Trieb sein äußeres
Ziel erreicht; sein inneres bleibt jedesmal die als Befriedigung
empfundene Körperbeziehung.«20 Beiläufig, in einem Nebensatz
versteckt, taucht hier als bloßes Befriedigungs-Mittel auf, wovon doch
alle nähere Bestimmung des Triebes abhängt: das Objekt, worauf er
sich richtet.21 »Anheftung« und »Loslösung« der Libido »von
Personen und anderen Objekten« (eigentlich: deren intrapsychischen
Repräsentanzen) macht den Inhalt der Triebschicksale aus.22 Libido
hängt an Vorstellungen, tritt nicht »rein« auf, sondern als
Wunschregung.
Die
»Sexualobjekte«
aber
werden
Befriedigungserlebnissen »entnommen« (GW X, 153). »Die Liebe ...
ist ursprünglich narzißtisch, übergeht dann auf die Objekte, die dem
erweiterten Ich einverleibt worden sind, und drückt das motorische
Streben des Ichs nach diesen Objekten als Lustquellen aus« (GW X,
231). Erfahrene Befriedigungslust weist dem Trieb den Weg,
strukturiert ihn, macht ihn konservativ, läßt ihn in die Kreisbahn von
Wiederholung einschwenken, in der Freud die Haupttendenz aller
Triebe erkennt.23 Von den Objekten her und von den Zielen, die ohne
ihr Zutun nicht erreichbar sind, wird erst der Trieb bestimmbar; seine
Schicksale sind die der Objektbeziehungen des Individuums. »Das
Studium der Triebquellen gehört der Psycho20 GW XV, 103 (von mir hervorgehoben, H. D.).
21 »Neben .. . autoerotischen Betätigungen äußern sich sehr frühzeitig beim
Kinde jene Triebkomponenten der Sexuallust. . ., die eine fremde Person als
Objekt zur Voraussetzung nehmen.« GW VIII, 46 (von mir hervorgehoben, H.
D.).
22 Vgl. GW VIII, 308 f.
23 Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, 38 ff.
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logie nicht mehr an; obwohl die Herkunft aus der somatischen Quelle
das schlechtweg Entscheidende für den Trieb ist, wird er uns im
Seelenleben doch nicht anders als durch seine Ziele bekannt« (GW X,
216). Unausgesetzt wird Ichlibido in Objektlibido umgewandelt und
umgekehrt (GW XV, 109); »im Zustande des Narzißmus« sind sie »für
unsere grobe Analyse ununterscheidbar« (GW X, 141), erst »wenn die
Libido vom Ich auf die äußeren Objekte überfließt«, kommen wir in
die Lage, »die libidinösen Triebe als solche zu erkennen und von den
Ichtrieben zu unterscheiden« (GW XII, 5). Das heißt: die Chance, die
Triebe zu erkennen, zu unterscheiden und näher zu bestimmen, hängt
daran, daß sie an »Objekten« haften. Wir wissen von keinem Trieb, der
nicht in Szenen, aktuelle, erinnerte oder ersehnte, eingebunden wäre,
und auch der narzißtisch-rückgewendete erscheint nur vor der Folie
von Objektbeziehungen. Der menschliche Trieb bringt sein Objekt
nicht mit auf die Welt; der bei anderen Lebewesen hereditär fixierte,
geschlossene Kreis von Trieb-Periodizität, spezifischen UmweltAuslösern
und
invariablen
Befriedigungsaktionen
ist
gattungsspezifisch aufgebrochen, - der Trieb luxuriert. Seine
Strukturierung empfängt er in (gesellschafts- und schichtspezifischen)
Sozialisationsprozessen, die die Triebziele mit tradierten Normen
verlöten, sie legitimieren oder tabuieren. Der Trieb erfährt vom Objekt
her seine Bestimmung, das Bedürfnis erwächst erst an seinem
Gegenstand. »Triebschicksal« heißt die Prägung des Triebs durch die
für die individuelle Lebensgeschichte entscheidend gewordenen
Objektbeziehungen. Solange der neurotische Bann nicht gebrochen
wird, wiederholt sich die zum »Schicksal« geronnene, verinnerlichte
Geschichte mißlungener Interaktionen. Was uns als menschliche
»Natur« vor Augen tritt, zu Bewußtsein kommt, ist stets vermittelt
durch (symbolische) Interaktionen, denen der historisch jeweils
herrschende Modus der Vergesellschaftung die Formbestimmtheit
aufprägt, und deren Verinnerlichung der psychischen Arbeit der
Individuen die Aufgaben vorgibt. Darum kann, wie Freud sagt, nie ein
Trieb »Objekt des Bewußtseins werden«, sondern »nur die
Vorstellung, die ihn repräsentiert«. »Würde der Trieb sich nicht an
eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum
Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen« (GW X,
275f.). Die Psychoanalyse hat es nicht mit »Natur« zu tun, sondern mit
historisch modifizierter, be85
arbeiteter Natur, nicht mit »Geist«, sondern mit sublimiertem Trieb; sie
ist weder Natur- noch Geisteswissenschaft, sondern eine soziale, keine
allgemeine Theorie der menschlichen Seele, sondern eine historischspezifische. Ihr Leben hat sie am Widerstreit von Libido und Ananke,
Ich und Es, Individuum und »Kultur«, der in keiner psychischen oder
sozialen Bildung sich stillstellen läßt. Die innere, psychische Arbeit der
Individuen verweist allerorten auf die äußere, die technische
Auseinandersetzung mit unwirtlicher Natur, die sich im Medium der
Klassenkämpfe und -kompromisse vollzieht. Freuds biologischer
Materialismus markiert, daß die Menschen selbst Natur sind; »die
Sprache der Kraft ist« darum »von der Sprache des Sinns niemals zu
besiegen«. Aber »die Psychoanalyse stellt uns« auch »niemals vor
nackte Kräfte, sondern immer vor Kräfte auf der Suche nach einem
Sinn« (Ricoeur24). Darum ist der biologisch-materialistische Charakter
der Triebtheorie ein defizienter Modus; sie bedarf der Historisierung.
Der Trieb ist Repräsentant des Somatischen im Psychischen; dort aber
wird er selbst repräsentiert durch affektgeladene Vorstellungen,
zunächst im Unbewußten. Vor Entwicklung der Triebtheorie definierte
Freud den psychischen Konflikt als einen zwischen unvereinbaren
Vorstellungen, an denen unterschiedliche Affektbeträge haften.25 Der
Konflikt wird entschieden, indem das moralische Bewußtsein dem
verpönten Affekt wie einem unbequemen Sprecher das Wort entzieht,
das ihn erst zu Bewußtsein bringt, der affektiven Regung Sinn gibt,
indem es auf Befriedigungsmöglichkeiten (Objekte, Ziele) hinweist.
Die »peinliche Kontrastvorstellung« wird dadurch »außer Assoziation«
gesetzt. Der von der Wort-Vorstellung, die ihn artikulierte, abgetrennte
»Gegenwille« verfügt über keinen Zugang mehr zur Motilität, es sei
denn, er überliste die Ich-Instanz, indem er sich ihr (etwa im Witz)
inkognito präsentiert. Die ihrer affektiven Ladung beraubte,
neutralisierte Vorstellung verfällt der totalen oder partiellen Amnesie, sie wird vom verdrängten Affekt mit ins Unbewußte gerissen; der
Affekt selbst wird »ein24 Die Interpretation (1965), 159 und 161. Die Doppelformel ist das Resultat
einer genauen Analyse der Freudschen Triebtheorie. Vgl. a.a.O., 2. Buch, 1.
Teil, Kap. III: »Trieb und Vorstellung in den metapsychologischen Schriften«.
25 Vgl. dazu GW I, 1-17 (»Ein Fall von hypnotischer Heilung ...«).
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geklemmt« und in Angst (bzw. Schuldgefühl) verwandelt, die die
reale, um derentwillen die Verdrängung vorgenommen wurde,
potenziert.26 Die Verdrängungs-Abwehr dient der Vermeidung der
intrapsychischen Bearbeitung von Impulsen (Phantasien), die ein
einmal eingespieltes libidoökonomisches Kompromißsystem in Frage
stellen. Sie geht zu Lasten des Ichs, das eine aktuelle Erleichterung
einer mühsamen und riskanten Verarbeitung vorzog. Nichts, was
verdrängt wurde, ist »erledigt«, alles kehrt wieder; die
»Urverdrängung« zieht eine Kette von Folge-Verdrängungen nach
sich; der neurotische Prozeß wird unabschließbar, der
Verdrängungsaufwand schließlich so groß, daß das Ich an »innerer
Verblutung« (Anfänge, 96) zugrunde zu gehen droht. Der sprachlos
gemachte Affekt ist nicht annulliert, sondern sucht auf verschiedenen
Wegen zum Ausdruck, zur Befriedigung zu gelangen. Die
»Kontrastvorstellung«, an der er hing, kann sich somatisieren
(Konversionshysterie) oder sich dem Ich als ein Stück der Außenwelt
darbieten (Projektion); der Affekt kann - in »falscher Verknüpfung« in die Zwangsvorstellung fahren. Verdrängung trifft die TriebRepräsentanzen, um die (im spezifischen sozialen Kontext) als lebensgefährdend eingeschätzte, mit dem Angst-Signal gekoppelte
Affektentwicklung zu hemmen, ehe sie zur Motilität durchbricht. Der
Weg zur Motilität aber führt durchs Bewußtsein. Darum genügt es zur
Lähmung der Affektentwicklung, »der psychischen (Vorstellungs)Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußte« zu versagen
(GW X, 250). »Ein Trieb kann nie Objekt des Bewußtseins werden,
nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er kann aber auch im
Unbewußten nicht anders als durch die Vorstellung repräsentiert sein.
Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als
ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von
ihm wissen.«27 Die Probleme der Triebtheorie verweisen auf die Lehre
von den Trieb-Repräsentanzen, den »Vorstellungen«; und die Theorie
des Verdrängungsmechanismus impliziert eine Theorie der
»zweifachen Niederschrift« von Erfahrung. (Sie wird zunächst
26 Die entsprechende triebtheoretische Formel lautet: »Wenn eine Triebstrebung der Verdrängung unterliegt, so werden ihre libidinösen Anteile in Symptome, ihre aggressiven Komponenten in Schuldgefühle umgesetzt.« GW XIV,
499.
27 Das Unbewußte. GW X, 275 f.
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in unbewußten Engrammen fixiert und kann unter bestimmten
Bedingungen dann auch bewußt werden.) Was die Psychoanalyse von
der Funktionsweise des psychischen Apparats weiß, ist ihr bei der
widerstandsüberwindenden Deutungsarbeit an Verdrängungsprodukten
aufgegangen. Das Medium der Therapie ist die Sprache, die Kur - nach
der klassischen Definition von Breuers Patientin Anna O.28 - eine
»talking cure«29. So konvergieren die psychoanalytischen Lehren in
einer Theorie der Sprache. Obwohl in Freuds Schriften nur Fragmente
einer solchen entwickelt worden sind30, bildet sie das geheime Zentrum
der neuen Psychologie. Die Sprache aber ist »das selbstredende Dasein
(des Gemeinwesens)«31; darum ist die Psychoanalyse - vor aller »Anwendung« - eine (psychologisch orientierte) Theorie der vergesellschafteten Individuen. Deren Verhältnis zueinander wie zu sich
selbst, zur eigenen Physis, ist sprachlich verfaßt. Sozialisation ist
wesentlich Spracherwerb: die (durch die jeweils herrschenden
Produktionsverhältnisse bedingten) Formen der
28 »Frl. Anna O . . .« (eigentlich Bertha Pappenheim) muß neben Breuer und
Freud zu den »Erfindern« des psychoanalytischen Verfahrens gezählt werden.
Ihre Krankheit war, nach heutigen Begriffen, eher eine Psychose als eine Neu
rose. Vgl. ihre Krankengeschichte in: Freud und Breuer (1895), 20-40; ferner
den Aufsatz von Bram, Das Geschenk der Anna O. (1965)
29 Freud und Breuer (1895), 27. - S. Bernfeld hat (1941) das psychoanalyti
sche Verfahren gegenüber szientistischen Fehldeutungen als eine Weiterent
wicklung des Alltagsgesprächs charakterisiert. Die Theorie der »Technik« gilt
ihm als »a >theory< of getting at the secrets by removing obstacles, internal
or external. This theory does no more than articulate every-day life experience . . .« (294 f.) Wie das Alltagsgespräch stößt das therapeutische auf die
Grenze des »Geheimnisses« und versucht, durch Umstrukturierung der Situa
tion ein »Bekenntnis« zu ermöglichen: »In using the technic of removal of
obstacles to communication the psychoanalyst gets knowledge of facts which
are not at all available to Observation without that technique. The pattern of
secret-confession does not occur if you do not actively produce it; the secrets
confessed would have been permanently withheld from the psychologist had
he not removed the obstacles to communication. Thus this technic is equivalent to the use of a new Observation instrument« (303).
30 Seine sprachtheoretischen Erörterungen kreisen um das Problem des Verhältnisses von »Primär«- und »Sekundärprozeß« bzw. um das der Verdrängung.
- G. Jappe hat (1971) die von ihr als sensualistisch-elementaristisch
charakterisierte Freudsche Sprachtheorie im Wege einer »begriffsgeschichtlichen
Analyse« (S. 95) rekonstruiert und ihre latente Problematik im Hinblick auf
neuere Versuche, Linguistik und Psychoanalyse miteinander zu verbinden,
entfaltet.
31 Marx, Grundrisse, 390.
88
Interaktion werden im Zusammenhang mit den Regeln der Umgangssprache angeeignet - als (unreine) »Sprachspiele« im Sinne
Wittgensteins.32 Das kollektive wie individuelle Bewußtsein reicht so
weit wie die Sprache; ihre innere Natur ist den Individuen nur so weit
zugänglich, wie sie umgangssprachlich gedeutet ist. Wo das
geschwächte Ich angstvoll die Selbstzensur ausübt, Verpöntem das
Wort entzieht, das Feld des Bewußtseins einschränkt, wird die
Verdrängung als »soziales Phänomen«33 kenntlich. Neurose und
Psychose sind wesentlich Kommunikationsstörungen.34 Als
»Sprachanalyse«,
»semantische
Korrektur«35,
sucht
die
psychoanalytische Therapie jene »Sprachverwirrung« rückgängig zu
machen, die, Lorenzer zufolge, durch (pseudo-)umgangssprachliche
Kaschierung der (komplexbezogenen) Regression auf Privatsprache
entstanden ist.36 »Sprachverwirrung« aber ist der Fluchtpunkt, in dem
Neurose und Ideologie konvergieren, so wenig sonst »gesellschaftlich
notwendig falsches Bewußtsein« und »Rationalisierung« (von
Triebwünschen
oder
posthypnotischen
Auftragshandlungen)
miteinander zu tun haben. Für die psychoanalytische Sprachkorrektur
ist die Umgangssprache die Appellationsinstanz; der Patient ist geheilt,
wenn seine idiosynkratischen Fehl-Symbolisierungen aufgehoben, der
innere Monolog seiner intrapsychischen Arbeit nach Maßgabe der
wiederhergestellten Kommunikationsfähigkeit wieder in Gang
gebracht wurde.37 Der Ideologiekritik gilt die Umgangssprache selbst
als revisionsbedürftig, soweit von partikularen Interessen diktierte
Interpretationen der gesellschaftlichen Realität sich in ihr als fraglos
geltende, allgemein verbindliche Sprachregelungen festgesetzt haben,
in denen das kritische Potential der sprachlichen Weltauslegung
stillgestellt
32 »Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie
verwoben ist, das >Sprachspiel< nennen.« »Das Wort >Sprachspiel< soll hier
hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder
einer Lebensform.« Wittgenstein (1960), Philosophische Untersuchungen, 7 (S.
293) und 23 (S. 300). Vgl. dazu G. Pitcher (1964), Kap. 10.
33 Ferenczi, Bausteine III, 426.
34 Vgl. dazu Lidz u. a. (1957-59); Bateson u. a. (1969); Watzlawick u. a.
(1967, 1969).
35 Vgl. Habermas (1968 b), Kap. 10-12; Lorenzer (1970a), S. 15 und Kap. III
und IV.
36 Lorenzer, a.a.O., S. 92 und Kap. VII.
37 »Die pseudokommunikative Privatsprache wird in das Allgemeinverständnis hereingeholt«, schreibt Lorenzer (a.a.O., 204).
89
ist. »Die Sprache von Herrn Schulze und Herrn Müller ist die Sprache,
die der Mann auf der Straße wirklich spricht; sie ist die Sprache, die
sein Verhalten ausdrückt; sie ist damit das Zeichen für Konkretheit. Sie
ist jedoch auch das Zeichen einer falschen Konkretheit. Diese
Sprache... ist eine gereinigte Sprache, gereinigt nicht nur von ihrem
>unorthodoxen< Vokabular, sondern auch von dem Vermögen,
irgendwelche anderen Inhalte auszudrücken als die, mit denen heute
die Individuen von ihrer Gesellschaft versorgt werden.« Die Intention
der Ideologiekritik zielt darauf ab, in der Sprache, durch Sprache
ausdrücklich zu machen, was deren bornierter Gebrauch verdeckt oder
ausschließt, »denn was aufgedeckt und denunziert werden muß, ist
innerhalb des Universums der Alltagssprache wirksam, und die
herrschende Sprache enthält die Metasprache.«38 Die Kritik der
politischen Ökonomie ist wesentlich eine semantische Revision des
herrschend gewordenen, mit der Umgangssprache verschmolzenen
Sprachgebrauchs der klassischen bürgerlichen Ökonomen, der
Kapitalisten und (folgenreicher!) Lohnarbeiter hindert, die eigene
gesellschaftliche Praxis zu begreifen. Bekannt ist etwa Engels' Kritik
des »Kauderwelsch(s)«, »in welchem deutsche Ökonomen sich
auszudrücken pflegen, ... worin z. B. derjenige, der sich für bare
Zahlung von andern ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und
der Arbeitgeber derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen
wird.«39 Im Abschnitt über den »Arbeitslohn«40 analysiert Marx
zunächst die Rede vom Preis oder Wert »der Arbeit«: »Die klassische
politische Ökonomie entlehnte dem Alltagsleben ohne weitere Kritik
die Kategorie >Preis der Arbeit<, um sich dann hinterher zu fragen,
wie wird dieser Preis bestimmt?« (S. 559 f.) Abgesehen von
Preisoszillationen auf dem Arbeitsmarkt ließ sich der Wert der
»Arbeit«, d. h. der »Arbeitskraft, die in der Persönlichkeit des
Arbeiters existiert, und von ihrer Funktion, der Arbeit, ebenso
verschieden ist, wie eine Maschine von ihren Operationen« (561), nur
durch ihre Produktionskosten ausdrücken. Das aber führte auf Tautologien, denn: »Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der
Werte, aber sie selbst hat keinen Wert« (559). Arbeits38 Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964), 188 und 210.
39 Vorwort zur 3. Auflage des »Kapitals«. MEW 23, S. 34.
40 Das Kapital, Bd. I, Kap. 17: »Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft in
Arbeitslohn.« MEW 23, S. $57-564.
90
kraft wird, als Tauschwert verkauft, entsprechend ihren jeweiligen
Reproduktionskosten bezahlt, in der Produktion aber als
Gebrauchswert angewendet. Die Rede vom Preis der Arbeit, vom
Arbeits-Lohn, die die quantitativ (zeitlich) bestimmte Verausgabung,
Anwendung von Arbeitsvermögen mit dem Terminus »Arbeit«
bezeichnet (der zugleich das Resultat dieses unter bestimmten
technischen Bedingungen verausgabten Vermögens meint), verdeckt
den spezifischen, wertbildenden Charakter der Ware Arbeitskraft und
läßt alle Arbeit als immer schon »bezahlt« erscheinen. »Die Form des
Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des Arbeitstags in
notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte Arbeit
aus... Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der
Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des
Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser
Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und
grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des
Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle
apologetischen Flausen der Vulgärökonomie« (562). »Der Austausch
zwischen Kapital und Arbeit stellt sich der Wahrnehmung zunächst
ganz in derselben Art dar wie der Kauf und Verkauf aller andren
Waren« (563). Der Sprachgebrauch ist also im Einklang mit der
Empirie; das tröstet über die Widersprüche hinweg, die sich bei jedem
Klärungsversuch ergeben müssen. Vom (»gerechten«) Arbeitslohn und
der Aneignung fremder Arbeit, die sich im Äquivalententausch
realisiert, gilt »dasselbe, was von allen Erscheinungsformen und ihrem
verborgnen Hintergrund. Die ersteren reproduzieren sich unmittelbar
spontan, als gang und gäbe Denkformen, der andre muß durch die
Wissenschaft erst entdeckt werden. Die klassische politische
Ökonomie stößt annähernd auf den wahren Sachverhalt, ohne ihn
jedoch bewußt zu formulieren. Sie kann das nicht, solange sie in ihrer
bürgerlichen Haut steckt.«41 Die psychoanalytische Therapie holt die
Neurose-Patienten auf den Boden der sozialen Wirklichkeit und der
allgemeinen Sprache zurück. Ideologiekritik aber leitet die Menschen
an, sich mit dieser Realität und ihren Legitimationen nicht abzufinden,
- und sich doch auch nicht in die Privatwelt der Neurose (oder
Psychose) zu flüchten, sondern die soziale Wirk41 A.a.O., S. 564.
91
lichkeit im Licht der eigenen, unbefriedigten Bedürfnisse auf ihre
praktische Veränderbarkeit hin zu prüfen. Eine Psychoanalyse, die
solchermaßen in Ideologiekritik überginge, steht noch aus.
Den ersten Schritt zum Spracherwerb hat Freud sehr eindrücklich im
»Entwurf einer Psychologie« (und, rekapitulierend, im VII. Kapitel der
Traumdeutung)
als
einen
bio-sozialen
beschrieben:
der
befriedigungsunfähige Organismus des Neugeborenen verfällt am
Rande des »Biotraumas«42 in (vergebliche) Abfuhrbewegungen, auch
vokale. Der ihm abgepreßte Schrei ruft »fremde Hilfe« herbei, »indem
durch die Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung ein
erfahrenes Individuum auf den Zustand des Kindes aufmerksam
wird.«43 Das Schreien des Kindes ist - noch nicht für es selbst, wohl
aber für »ein erfahrenes Individuum« - schon Signal; erste
Kommunikation wird es, sobald der Ablauf Unlust-Schreien-Abhilfe
sich der Erfahrung einprägt und das Kind lernt, sich des Schreisignals
als eines solchen zu bedienen. »Diese Abfuhrbahn gewinnt so die
höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung...«(Anfänge,
326)
»Die Sprachinnervation ist ursprünglich eine ventilartige Abfuhr .. .,
um Quantitätsschwankungen ... zu regeln, ein Stück der Bahn zur
inneren Veränderung, die die einzige Abfuhr darstellt, solange die
spezifische Aktion erst zu finden ist. Diese Bahn gewinnt eine Sekundärfunktion, indem sie das hilfreiche Individuum (gewöhnlich das
Wunschobjekt selbst) auf den begehrlichen und notleidenden Zustand
des Kindes aufmerksam macht, und dient von nun an der Verständigung, wird also in die spezifische Aktion miteinbezogen.«44
»Das Ganze stellt... ein Befriedigungserlebnis dar, welches die
eingreifendsten Folgen für die Funktionsentwicklung des Individuums
hat« (326). Infolge des Befriedigungserlebnisses verschmelzen (nach
dem »Grundgesetz der Assoziation durch Gleichzeitigkeit«)
Objektwahrnehmung und Bewegungsbild der (durch die von außen
gebotene Befriedigung ausgelösten) komplementären Reflexreaktion
mit dem Schreisignal zu einer Einheit. »Mit Wiederauftreten des
Drang- oder Wunsch-Zustandes geht nun die Besetzung auch auf die
beiden Erinnerungen über und belebt sie. Zunächst wird wohl das
Objekterinnerungsbild
42 Zum Begriff des »Biotraumas« vgl. den Aufsatz von Max M. Stern (1972).
43 Freud (1895), 326.
44 A.a.O. (»Entwurf einer Psychologie«), 365. Vgl. GW II/III, 570ff.
92
von der Wunschbelebung betroffen« (327). Die (an sich) unbewußte
Objekt- und Aktions-Erinnerungsspur wird mit der SchreiErinnerungsspur (dem ersten »Wort«) gekoppelt; die »eigene
Schreinachricht« charakterisiert das »Objekt«, »die erste Klasse
bewußter Erinnerungen ist geschaffen. Es braucht nun nicht viel, um
die Sprache zu erfinden. Es gibt andere Objekte, die konstant gewisse
Laute von sich geben, in deren Wahrnehmungskomplex also ein Klang
eine Rolle spielt. Vermöge der beim Urteilen auftretenden ImitationsTendenz kann man zu diesem Klangbild die Bewegungsnachricht
f i n d e n . . . « (365) Sprache wird mimetisch in Interaktionsprozessen
angeeignet. Erst wenn die Klang- und Bewegungsbilder der Worte zu
den unbewußten Erinnerungsspuren der Dinge und ihrer Relationen
hinzutreten, entsteht das bewußte Gedächtnis: »die Sprachabfuhrzeichen stellen die Denkvorgänge den Wahrnehmungsvorgängen gleich, verleihen ihnen eine Realität und ermöglichen deren
Gedächtnis« (365). Diese »Überbesetzung« der Sach- durch
Wortvorstellungen schafft eine »neue Qualitätenreihe«, damit eine
»neue Regulierung, welche das Vorrecht des Menschen vor den Tieren
ausmacht.«
»Die Denkvorgänge sind nämlich an sich qualitätslos bis auf die sie
begleitenden Lust- und Unlusterregungen, die ja als mögliche Störung
des Denkens in Schranken gehalten werden sollen. Um ihnen eine
Qualität zu verleihen, werden sie beim Menschen mit den Worterinnerungen assoziiert, deren Qualitätsreste genügen, um die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich zu ziehen und von ihm aus dem Denken eine neue mobile Besetzung zuzuwenden.«45 Die für die Theorie
der Verdrängung ausschlaggebende Unterscheidung unbewußter
Sachvorstellungen und vorbewußter Wortvorstellungen, deren
Kombination Bewußtsein und deren Trennung Aufhebung des
Bewußtseins bedeutet, hat Freud in seiner 1891 veröffentlichten
kritischen Studie »Zur Auffassung der Aphasien« - in Anlehnung an
die zeitgenössische Sprachpsychologie (und Neurologie) entwickelt.46 Diese Unterscheidung bildet den Kern seiner
Sprachtheorie und wird in der 1913 niedergeschriebenen (letzten)
Darstellung des topographischen Mo45 Freud, Die Traumdeutung. GW II/III, 622.
46 Im Resümee dieser Arbeit heißt es: »Für die Psychologie ist die Einheit der
Sprachfunction das >Wort<, eine complexe Vorstellung, die sich als zusammengesetzt aus
akustischen, visuellen und kinästhetischen Elementen erweist. Die Kenntnis dieser
Zusammensetzung verdanken wir der Pathologie, welche
93
dells des psychischen Apparats (im Anschluß an eine Erörterung des
»Überwiegen(s) der Wortbeziehung über die Sachbeziehung« beim
Schizophrenen) zur Klärung des Verdrängungsmechanismus
herangezogen:
»Die bewußte Vorstellung umfaßt die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewußte ist die Sachvorstellung allein.
Das System Ubw enthält die Sachbesetzungen der Objekte, die ersten
und eigentlichen Objektbesetzungen; das System Vbw entsteht, indem
diese Sachvorstellung durch die Verknüpfung mit den ihr entsprechenden Wortvorstellungen überbesetzt wird. Solche Überbesetzungen, können wir vermuten, sind es, welche eine höhere psychische Organisation
herbeiführen und die Ablösung des Primärvorganges durch den im
Vbw herrschenden Sekundärvorgang ermöglichen. Wir können jetzt
auch präzise ausdrücken, was die Verdrängung bei den Übertragungsneurosen der zurückgewiesenen Vorstellung verweigert: Die Übersetzung in Worte, welche mit dem Objekt verknüpft bleiben sollen. Die
nicht in Worte gefaßte Vorstellung oder der nicht überbesetzte psydiisdie Akt bleibt dann im Ubw als verdrängt zurück.«47
Zu Bewußtsein kommen die Vorstellungen, Wunschregungen, durch
die Sprache, genauer: durch Verknüpfung der (unbewußten)
»Sachvorstellungen«
mit
den
zugehörigen
(vorbewußten)
»Wortvorstellungen«. Die letzteren sind selbst auditive (eventuell
visuelle) Wahrnehmungs-Erinnerungen, und die Verknüpfung mit
ihnen läßt die »Sachvorstellungen« der inneren Wahruns zeigt, daß bei organischen Läsionen im Sprachapparate eine Zerlegung der Rede nach
dieser Zusammensetzung eintritt. . .
Wir lernen sprechen, indem wir ein >Wortklangbild< mit einem >Wortinnervationsgefühle associiren. Wenn wir gesprochen haben, sind wir in den Besitz einer
>Sprachbewegungsvorstellung< (centripetale Empfindungen von den Sprachorganen)
gelangt, so daß das >Wort< für uns motorisch doppelt bestimmt ist . . .
Das Wort erlangt aber seine Bedeutung durch die Verknüpfung mit der >Objectvorstellung<, wenigstens wenn wir unsere Betrachtung auf Substantiva beschränken.
Die Objectvorstellung selbst ist wiederum ein Associationscomplex aus den
verschiedenartigsten visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen
Vorstellungen . ..
Die Objectvorstellung erscheint uns . . . nicht als eine abgeschlossene, kaum als eine
abschliessbare, während die Wortvorstellung uns als etwas Abgeschlossenes, wenngleich
der Erweiterung Fähiges erscheint. Die Behauptung, die wir auf Grund der Pathologie der
Sprachstörungen nun aufstellen müssen, geht dahin, dass die Wortvorstellung mit ihrem
sensibeln Ende (vermittelst der Klangbilder) an die Objectvorstellung geknüpft ist." Zur
Auffassung der Aphasien (1891), S. 75 und S. 79 f. 47 Das Unbewußte. GW X, 300.
94
nehmung zugänglich werden, macht sie bewußtseinsfähig. Diesen
Prozeß der Bewußtwerdung hat die Psychoanalyse aus seiner
Umkehrung bei der Verdrängung erschlossen; ihre Therapie zielt
darauf ab, die von den zugehörigen »Sachvorstellungen« durch Zensur
abgeschnittenen »vorbewußten Mittelglieder« mit jenen wieder zu
verbinden und so die dem inneren Monolog wie der Kommunikation
entzogenen traumatischen Szenen und verpönten Impulse ins
Bewußtsein zurückzubringen. Die Sprache entsteht, Freud zufolge,
ontogenetisch als Evokation einer vergangenen, schon einmal
erfahrenen Befriedigung; sie entsteht als Wunsch. (Und die Not, den
Wunsch
zu
realisieren,
erzwingt
die
Einsetzung
der
»Realitätsprüfung«.) Schon die unartikulierte »Schreinachricht« ist
gegenüber dem, was sie ausdrückt, den je spezifischen Körpernöten,
ein Allgemeines. Die (unabschließbare) Gegenstandserfahrung wird
um ein Klangbild zentriert, dem Wort subsumiert. Durch das »teilweise
Zusammenfallen der Wahrnehmungsbesetzungen mit Nachrichten vom
eigenen Körper ... sondern sich die Wahrnehmungskomplexe in einen
konstanten, unverstandenen Teil, das Ding, und einen wechselnden,
verständlichen, die Eigenschaft oder Bewegung des Dinges.« Die
vielfältigen Korrelationen von »Dingen« und »Eigenschaften« eröffnen
die Möglichkeit, »die Denkwege von diesen beiderlei Komplexen zum
gewünschten Ding-Zustand gleichsam in allgemein giltiger Weise und
abgesehen von der jeweils realen Wahrnehmung auszuarbeiten«
(Anfänge, 381). Das ist der Schritt von Wahrnehmungen zu Begriffen
und Urteilen, - der Schritt von den flüchtigen Wahrnehmungspräsenzen
zur Objekt-Konstanz in der Vorstellung auch bei realer Absenz des
Objekts. Um den Vorstellungsablauf von der automatischen LustUnlust-Regulierung unabhängiger werden zu lassen, »bedurfte das
Vbw-System eigener Qualitäten, die das Bewußtsein anziehen
könnten«, und erhielt sie durch Verknüpfung mit den Spracherinnerungsresten. Dadurch wurde das Bewußtsein, »das vorher nur
Sinnesorgan für die Wahrnehmungen war, auch zum Sinnesorgan für
einen Teil unserer Denkvorgänge. Es gibt jetzt gleichsam zwei
Sinnesoberflächen, die eine dem Wahrnehmen, die andere den
vorbewußten Denkvorgängen zugewendet.«48 Mit Hilfe der
Worterinnerungsreste werden Urteile über Erfahrungskomplexe fürs
Bewußtsein fixiert, »Dinge« (für uns) erst
48 Die Traumdeutung. GW II/III, 580.
95
konstituiert. Die Begriffe aber sind Abstraktionen vom Fluß der
Erscheinungen und ihrer Widersprüchlichkeit, von der qualitativen
sinnlichen Erfahrung. Die sprachliche Artikulation der Erfahrung setzt
fest, schafft Identitäten; gerade wo sich das (bewußte) Denken vom
Lustprinzip emanzipiert, fälscht es auf seine Weise die Realität.49 »Das
Ziel des praktischen Denkens ist die Identität« (von Wunschbild und
Wahrnehmung), und die Fehler, die infolge der sprachlichen Fixierung
entstehen, lassen sich wiederum nur mit den Mitteln der Sprache
korrigieren. Abstraktion ist Verneinung, das Absehen von der Unlust,
die ein Objekt der Wahrnehmung bereitet, und vom Widerspruch zwischen Sache und Begriff.50 Das Lust-Unlust-Prinzip wird gleichsam
eingeklammert, das Objekt neutralisiert, um es im Bewußtsein
festhalten zu können; der Name hält es in fiktiver Konstanz (als
»Repräsentanz«) fest, damit im denkenden Probehandeln mit ihm
operiert werden kann.51
»Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von
Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts
als Metaphern der Dinge ...
Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen ... (Der
Mensch stellt) sein Handeln als >vernünftiges< Wesen unter die
Herrschaft der Abstraktionen; er leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er
verallgemeinert alle die Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen. Alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von
dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu
verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen.«52
49 »In die Urteilsschöpfung kann sich bereits der Irrtum eindrängen. Die Dingoder Bewegungskomplexe sind nämlich nie ganz identisch, und unter den
abweichenden Bestandteilen können sich solche finden, deren Vernachlässigung
den Ausfall in der Realität stört. Dieser Mangel des Denkens stammt aus dem
Bestreben, das wir ja hier nachahmen, dem Komplex ein einzelnes Neuron zu
substituieren, wozu gerade die ungeheure Komplexität nötigt. Das sind
Urteilstäuschungen oder Fehler der Prämissen. Ein anderer Grund des Irrtums
kann darin liegen, daß die Wahrnehmungsobjekte der Realität nicht vollständig
wahrgenommen wurden, weil sie sich nicht im Sinnesbereich befanden. Das
sind Irrtümer der Ignoranz, allen Menschen unvermeidlich« (Anfänge, 381).
50 Vgl. dazu Freud, Über den Gegensinn der Urworte. GW VIII, 213-221.
51 Vgl. dazu Freud, Die Verneinung. GW XIV, 9-15.
52 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873).
Werke (1958), III, 312f. und 314.
96
Sprache ist Herrschaft53 und birgt doch die Mittel, sich dieser
Herrschaft zu entwinden. Bornierter Sprachgebrauch, gewaltsam
sistierte, unterdrückte Kommunikation entziehen die gesellschaftlich
nicht lizensierten Wunschregungen der Einzelnen, das wirkliche
Verhältnis der sozialen Klassen, das den Begriffen subsumierte NichtIdentische der Sachverhalte dem individuellen wie dem allgemeinen
Bewußtsein.
Die
gesellschaftlich
notwendige
wie
die
lebensgeschichtlich unvermeidliche Sprachverwirrung, die der
allgemeinen Bewußtlosigkeit eine zusätzliche private aufpfropft,
blockieren die Erkenntnisarbeit, die sonst erste und zweite Natur
vermittelt. Das Ich, die Instanz des Bewußtseins, verfällt gegenüber
der Ananke-Welt der Gesellschafts-Natur in Mimikry und darf sein
»inneres Ausland«, soweit es dem widerspricht, nicht mehr kennen.
Alle Bedürfnisse von Menschen sind immer schon gesellschaftlich
interpretiert, doch nicht alle sind auch sozial legitimiert.54 Der nichtlizensierte Triebwunsch sucht, nachdem er durch Abtrennung von der
zugehörigen (Wort-)Vorstellung außer Kontrolle der Ich-Instanz
geraten ist, sich mit Hilfe vorsprachlicher Mittel zu äußern; er greift
auf die Bilder-, Gesten- und Körper-»Sprache« zurück als auf (private)
Ausdrucksformen, die dem »offiziellen« Bewußtsein unverständlich
bleiben, weil sie einer anderen (vielleicht älteren) »Logik« folgen als
die im Zusammenhang mit Natur- und Menschenbeherrschung
ausgebildete begriffliche Sprache. Freud hat jenes ungehemmte
(unbewußte) Bilderdenken als »Traumsprache« oder »Primärprozeß«
beschrieben, als Negativ des diskursiven Denkens.55 Es kann freilich
den »Denk- und Realitätszwang« (GW VI, 141) - die Zensur - nur
unterlaufen, in53 »Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben
sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäußerung der Herrschenden
zu fassen: sie sagen >das ist das und das<, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.«
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887). Werke (1958), II, 773.
54 Vgl. Habermas (1967), 190 f.
55 »In der Traumsprache sind die Begriffe noch ambivalent, vereinigen in sich
entgegengesetzte Bedeutungen, wie es nach den Annahmen der Sprachforscher
bei den ältesten Wurzeln der historischen Sprachen der Fall gewesen ist. . . In
der Tat ist die Deutung eines Traumes durchaus analog der Entzifferung einer
alten Bilderschrift, wie der ägyptischen Hieroglyphen« (GW VIII, 403 f.).
»Für die Vorgänge im Es gelten die logischen Denkgesetze nicht, vor allem
nicht der Satz des Widerspruchs ... Es gibt im Es nichts, was man der Nega97
dem es mit dem Vorbewußten kooperiert56, selbst als Sprache laut
wird, wennschon als »Sklavensprache«57. Als »Sklavensprache«
begreift die Psychoanalyse sowohl die des Traums wie die der Kunst.
Der Ausdruck des Verpönten in der »Sklavensprache« ist das
»normale« Gegenstück zur neurotischen (pseudoumgangssprachlich
maskierten) Regression auf Privatsprache: nicht Selbstaufgabe des
Ichs, sondern »Regression im Dienste des Ichs«58, nicht
Reaktionsbildung, sondern Sublimierung. Mittels ichkontrollierter
Regression kompensiert die Ichinstanz Erfahrungsdefizite, die ihr unter
der Herrschaft des »Denk- und Realitätszwangs« erwuchsen, setzt sich
(und andere) neuerlich der Erfahrung des Nicht-Identischen59 aus.
Freud hat solche Regressionen, die Lust, Fest, Witz und Kunst erst
ermöglichen,
als
»Wiederherstellungen
alter
Freiheiten«60
61
charakterisiert. Seine
tion gleichstellen könnte .. . Selbstverständlich kennt das Es keine Wertungen, kein Gut
und Böse, keine Moral« (GW XV, 80 f.).
56 »Eine Kooperation zwischen einer vorbewußten und einer unbewußten, selbst intensiv
verdrängten Regung kann zustande kommen, wenn es die Situation ergibt, daß die
unbewußte Regung gleichsinnig mit einer der herrschenden Strebungen wirken kann. Die
Verdrängung wird für diesen Fall aufgehoben, die verdrängte Aktivität als Verstärkung der
vom Ich beabsichtigten zugelassen. Das Unbewußte wird für diese eine Konstellation
ichgerecht ... die verstärkten Strebungen .. . befähigen zu besonders vollkommener
Leistung.« Freud, Das Unbewußte. GW X, 289 und 293.
57 Vgl. das Kapitel »Texte in der Sklavensprache« in Hans Mayers Brecht-Studien (1971,
S. 104-115). »Sklavensprache« entstammt dem Versuch, »durch eine Sprache des
scheinbaren
Einverständnisses
den
Widerspruch
und
die
Schärfe
des
Nichteinverständnisses sichtbar zu machen.« Ebd., S. 113.
58 Ernst Kris, Psychoanalytic Explorations in Art (1952), 177 und passim.
59 Zum Begriff des Nicht-Identischen vgl. Adorno, Negative Dialektik (1966 b).
60 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). GW VI, 143.
61 Im Bann von Theorien, die Widerspruchslosigkeit mit Wahrheit verwechseln,
erscheint auch die Dialektik als Regression. Dialektisch aber wird mit der Sprache gegen
die Sprache gedacht, um der Sache willen. Dialektik »will sagen, was etwas sei, während
das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant,
was es also nicht selbst ist.« »Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.
Sie bezieht nicht vorweg einen Standpunkt. Zu ihr treibt den Gedanken seine unvermeidliche Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt.« Adorno, Negative Dialektik
(1966b), 150 und 15. Nietzsche hat die Dialektik zu Recht als Sklavensprache
charakterisiert: »Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat... Sie kann
nur Notwehr sein, in den Händen solcher, die keine andern Waffen mehr haben. Man muß
sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden
waren deshalb
98
Formel für den »Hergang der Witzbildung bei der ersten Person«62
lautet: »Ein vorbewußter Gedanke wird für einen Moment der
unbewußten Bearbeitung überlassen, und deren Ergebnis alsbald von
der bewußten Wahrnehmung erfaßt« (GW VI, 189). Der
Gedankengang wird für einen Augenblick fallengelassen, gleichsam
als Köder für die im Unbewußten lauernden Phantasien, die sich seiner
bemächtigen sollen, um ihm die originelle Wendung zu geben;
gewitzigt taucht er wieder auf: »Man verspürt... etwas
Undefinierbares, das ich am ehesten einer Absenz, einem plötzlichen
Auslassen der intellektuellen Spannung vergleichen möchte, und dann
ist der Witz mit einem Schlage da, meist gleichzeitig mit seiner
Einkleidung.« »Der Gedanke, der zum Zwecke der Witzbildung ins
Unbewußte eintaucht, sucht dort nur die alte Heimstätte des einstigen
Spiels mit Worten auf..., um so der kindlichen Lustquelle wieder
habhaft zu werden« (191, 194). »Die Psychogenese des Witzes hat uns
belehrt, daß die Lust des Witzes aus dem Spiel mit Worten oder aus
der Entfesselung des Unsinns stammt, und daß der Sinn des Witzes nur
dazu bestimmt ist, diese Lust gegen die Aufhebung durch die Kritik zu
schützen« (147). Der Witz bringt das zuwege, indem er die Zensur
durch die intellektuelle »Vorlust« besticht, sie ablenkt, sodaß die
verpönte Tendenz durchbrechen kann, - ein Fest ersparten
Hemmungsaufwands, der im Gelächter frei wird.
Verdrängung, jener Fluchtreflex, durch den sich das geschwächte Ich
der Wahrnehmung ichfremd gewordener, angsteinflößender Impulse
entzieht, wirkt durch Blockierung der Sprachfunktion.63
Dialektiker; Reineke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch? -« In diesem Kontext
weist er - auf seine Art - auf die soziale Klasse hin, der Dialektik zugute kommt: »der
Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf«. Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem
Hammer philosophiert (1889); Werke (1958)) II, 953. - Der Witz ist der Auftritt der
Dialektik in der Psychopathologie des Alltagslebens. Freud spricht vom »scheinbare(n)
Witz aller unbewußten Vorgänge«: »Alle Träumer sind . . . unausstehlich witzig und sie
sind es aus Not, weil sie im Gedränge sind, ihnen der gerade Weg versperrt ist.« An Fließ,
11. 9. 99; Anfänge, 255.
62 A.a.O., 204. »Der Witz ist die sozialste aller auf Lustgewinn zielenden seelischen
Leistungen.«
63 Freud weist in »Totem und Tabu« (GW IX, 71) auf eine ethnologische Parallele zur
Verdrängung hin: Auf Todesfälle reagieren viele Stämme mit der Verpönung des Namens
des Verstorbenen. Bei einigen dieser Stämme wird das Namenstabu auch auf all jene
Worte ausgedehnt, die dem nicht mehr
99
Die soziale Bedeutung der Verdrängung liegt darin, daß das
individuelle Bewußtsein unter dem Druck sozialer Kontrolle sich
gegen Regungen blind macht, die die mühsam errungene Realitätsanpassung immer wieder in Frage stellen, und daß durch
Aufrichtung der »Gegenbesetzungen« jenen unversöhnlichen
Triebwünschen der Weg zur Kommunikation verlegt wird. So bleiben
sie ich-fremde Phantasien, deren Abwehr durch neurotische
Selbstlähmung (»Ich-Einschränkung«) erkauft wird, ziehen den
Einzelnen aus der Realität heraus (GW VII, 449), machen ihn krank
und »asozial« (GW XIII, 159), statt widerspruchsbewußt und
rebellisch. Die unterdrückten Motive gehen weder in das
Spannungsfeld ein, in dem das reflektierende Ich immer aufs neue
seine Identität herstellt64, noch in das durch Kommunikation
vermittelte kollektive Handeln. Peter Winch gibt zu Wittgensteins
These »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner
Welt«65 den Kommentar: »Indem wir die Sprache erörtern, erörtern
wir faktisch die Frage, was als zur Welt gehörig angesehen werden
soll.«66 Die Sprache selbst setzt durch ihre Struktur der kollektiven
und individuellen Erfahrung Grenzen67, die sich die Ideologie zunutze
macht, indem sie sie fixiert. (Sie können einzig durch die Anstrengung
der Kritik, jenen reflektierten Gebrauch der Sprache, der sie gegen ihre
eigene Borniertheit wendet68, hinausgerückt werden.) Der Verdrängungsmechanismus aber ist ein Verfahren der Realitätsleugnennbaren Namen ähnlich sind, wodurch »eine nie zur Ruhe kommende Veränderung des
Sprachschatzes« ausgelöst wird. »Als bedeutsame Folge dieses Unterdrückungsprozesses
ergibt sich, daß diese Völker keine Tradition, keine historischen Reminiszenzen haben und
einer Erforschung ihrer Vorgeschichte die größten Schwierigkeiten in den Weg legen.«
64 Zur sozialpsychologischen Konzeption der Ich-Identität vgl. G. H. Mead (1934), Teil
III, und (1969), Kap. 2; E. H. Erikson (1946-1956), Kap. 3; E. Goffman (1959; 1963); D.
J. de Levita (1965); L. Krappmann (1971).
65 Tractatus logico-philosophicus (1921), 5. 6. In: Schriften I (1960), S. 64.
66 Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie (1958),
25.
67 Vgl. Nietzsches Sprachkritik: »Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um
das >Werden< auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung,
beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von >Dingen< usw. zu setzen.« Aus dem
Nachlaß der Achtzigerjahre. Werke (1958), III, 685.
68 »Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun sollen,
wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn.« A.a.O.,
862.
IOO
nung, das die sprachlich artikulierte Welterfahrung zusätzlich
einschränkt.
Verinnerlichte soziale Gewalt schließt durch Blockierung der
Sprachfunktion Antriebsqualitäten von Erfahrung und Kommunikation
aus, die weder im bestehenden System der gesellschaftlichen Arbeit
sich verwerten lassen, noch in den ihm komplementären Formen
institutionalisierter Sublimierung Befriedigung finden können. Mittels
des Verdrängungsmechanismus werden sexuelle oder aggressive
Impulse unterdrückt, die auf Grund schmerzhafter Erfahrungen als
unlustvoll perzipiert werden69 und - im Kontext der geltenden sozialen
Normen - die Selbsterhaltung der Individuen gefährden. Die das
Überleben des Organismus sichernde Ichinstanz verdrängt Es-Antriebe
und die sie interpretierenden Vorstellungen »im Auftrage« des ÜberIchs, also unter dem Druck starr verinnerlichter moralischer Normen,
deren Verletzung durch Entbindung »sozialer Angst« (Angst vor
Liebesverlust, Kastrationsangst) geahndet wird. Das schwache Ich
scheidet unter dem Druck der Gewissensinstanz eine Sphäre als ichfremd von sich ab (die des Verdrängt-Unbewußten) und verbietet sich
die Erfahrung des Nicht-Identischen. Der verdrängte Trieb wird der
Reflexion entzogen, die Sphäre des Unbewußten dehnt sich auf Kosten
des Bewußtseins aus. Der blinden Stelle in der Selbstwahrnehmung
entspricht eine perzeptive Verzerrung der äußeren Realität.70
Gleichzeitig wird die Legitimität der herrschenden Normen, der
Verzicht-Forderungen, vor kritischer Überprüfung bewahrt;
Reflexionsprozesse, praxis-orientierte Diskurse werden sistiert, deren
Vollzug doch für die Praxis sozialer Klassen lebensnotwendg ist,
sofern die gesellschaftlichen Institutionen zu Fesseln der in ihrem
Rahmen entwickelten produktiven Kräfte geworden sind.71 Eine
reflexive Korrektur starr verinnerlichter Normen kann - vorausgesetzt,
sie sind objektiv obsolet geworden - nur Zustandekommen, wenn die
»dysfunktionalen« Triebwünsche in den individuellen Prozeß der
»Realitätsprü69 »Sicherlich ist alle neurotische Unlust . . . Lust, die nicht als solche empfunden werden
kann.« Freud, GW XIII, 7.
70 Freud spricht von der »Verdrängungsnarbe«. GW XVI, 235.
71 »Somit unterhält die Gesellschaft einen Zustand von Kulturheuchelei, dem ein Gefühl
von Unsicherheit und ein Bedürfnis zur Seite gehen muß, die unleugbare Labilität durch
das Verbot der Kritik und Diskussion zu schützen.« Freud, GW XIV, 107.
101
fung« eingehen - und damit potentiell der Kommunikation und der
rationalen öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden -, statt
das Ich von vornherein durch Angstentbindung zu lähmen. Ein von
sozialer Angst emanzipiertes Ich, das fähig geworden ist, sich von der
erlernten und beherrschten Norm wieder zu distanzieren, vermöchte
es, den auf unmittelbare Lust zielenden Trieben von Fall zu Fall
Befriedigung zu schaffen oder, wo solche mit privaten Mitteln nicht zu
haben ist, institutionenändernde Praxis in Gang zu bringen.
eine Beschädigung, die gestörten Bildungsprozessen entstammt und
einzig durch sozialisationsförmige Therapie aufzuheben ist. Im
Rahmen der von Alfred Lorenzer kritisch revidierten psychoanalytischen Repräsentanzen-Lehre lassen sich »Neurose« und
»Therapie« folgendermaßen bestimmen: Die intrapsychischen
(miteinander verschränkten) Selbst- und Objektrepräsentanzen sind
Knäuel von symbolisierten Interaktionsszenen; »das macht ihre
>Geschichtlichkeit< aus.«
»Ich will gern auf alle von der Gesellschaft verpönten Wege der Befriedigung verzichten, aber bin ich sicher, daß mir die Gesellschaft diese
Entsagung lohnen wird, indem sie mir - wenn auch mit einem gewissen
Aufschub - einen der erlaubten Wege öffnet? Es läßt sich laut sagen,
was diese Witze flüstern, daß die Wünsche und Begierden des Menschen ein Recht haben, sich vernehmbar zu machen neben der anspruchsvollen und rücksichtslosen Moral, und es ist in unseren Tagen in nachdrücklichen und packenden Sätzen gesagt worden, daß diese Moral nur
die eigennützige Vorschrift der Reichen und Mächtigen ist, welche
jederzeit ohne Aufschub ihre Wünsche befriedigen können. Solange die
Heilkunst es nicht weiter gebracht hat, unser Leben zu sichern, und
solange die sozialen Einrichtungen nicht mehr dazu tun, es erfreulicher
zu gestalten, so lange kann die Stimme in uns, die sich gegen die
Moralanforderungen auflehnt, nicht erstickt werden ... Man darf die
Forderungen der eigenen Bedürfnisse nicht unrechtmäßig erfüllen,
sondern muß sie unerfüllt lassen, weil nur der Fortbestand so vieler
unerfüllter Forderungen die Macht entwickeln kann, die gesellschaftliche Ordnung abzuändern.«72
»Die Objektrepräsentanz >Mutter< z. B. erweist sich, auch wenn wir
nur die bewußten Anteile, die >Symbole< in Erwägung ziehen, als vielschichtiges Gebilde aus verbal faßbaren, >discursiven< wie auch averbal
>präsentativen< Symbolen. Das gilt für die ubw. Repräsentanzen in
einer besonderen Weise: hier fächert sich die Mutterimago auf in einer
Serie von Momentbildern mit jeweils differentem Beziehungsgehalt, z.
B. als zärtliche Mutter, strafende Mutter usw. In den verschiedenen
Augenblicken der psychoanalytischen Therapie tauchen Facettierungen
als historisch exakte Momentbilder auf: die Mutter in der und der
Situation an einem bestimmten Tag. Häufig handelt es sich dabei um
Deckerinnerungen, d. h. um Erinnerungen, die stellvertretend nach Art
eines typischen Porträts bestimmte entscheidende Züge der Beziehungslage repräsentieren. Letztlich lassen sich die Imagines aber auf Originalvorfälle zurückführen, also auf jene >Szenen<, in denen die Verdrängung das Ganze der Situation zerschlagen hat, um die verpönten
Situationsanteile zu desymbolisieren.«73
Wenn irgendwo in den Freudschen Schriften, dann ist hier der
Übergang von Kalkülen privater Libidoökonomie zu politischem
Engagement stringent formuliert worden. Parallelen finden sich
lediglich in der Schrift »Die Zukunft einer Illusion« aus dem Jahre
1927. Die zitierte Passage führt ihren zeitlichen Index mit: »in unseren
Tagen«. Das Buch über den Witz ist im Jahre 1905 geschrieben
worden. In Freuds Reflexionen ist etwas von dem Beben zu spüren,
das die erste russische Revolution auslöste, die das Jahrhundert der
großen sozialen Umwälzungen eröffnete.
Die Aufklärung der Hysterie führte Freud zur Einsicht in die
sozialisationsvermittelte Ontogenese; die Neurose erwies sich als
72 Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). GW VI, 121.
Als Symbolbildungsinstanz läßt Lorenzer - in Übereinstimmung mit
neueren psychoanalytischen Autoren und in Abgrenzung gegen die
von Ernest Jones vertretene ältere Symboltheorie -nur das Ich gelten,
während das Es als Reizquelle sui generis für die Symbolisierung
fungiert. »Die These einer zweipoligen Anlage der Erkenntnisbildung
- das Ich als Organisationszentrum und das Ubw als Reizzentrum wahrt die Betonung der Differenz vom Ubw und Bw, reinigt aber
zugleich die psychoanalytische Theorie von dem Einschlag einer
Ontologisierung des Unbewußten« (77). Verdrängung läßt die Interaktionen, Szenen repräsentierenden - Symbole zu nicht mehr
verfügbaren, der psychischen Arbeit des Ichs entzogenen Klischees
einschrumpfen. Die »Klischees« bilden eine zweite Klasse von
»Repräsentanzen«: »Sie erfüllen dynamisch dieselbe Funktion wie
Symbole; sie können besetzt werden.« »Sie lassen sich in Symbole
verwan73 A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion (1970 a), 79 f.
102
103
deln und sind aus Symbolen verwandelt worden.« »Während Symbole
aber unabhängig von der Realsituation evoziert werden können,
bedürfen die Klischees eines szenischen Arrangements« (und sei es
eines phantasierten) »zur Auslösung« (81). De-Symbolisierung
verwandelt Handlungsmotive in »Ursachen«, bindet menschliche
Reaktionen starr und irreversibel an spezifische Auslösesituationen
(Pendants
des
verdrängten
»Originalvorfalls«).
Der
Wiederholungszwang, dem der Neurotiker unterworfen ist, macht sein
Verhalten dem von der Ethologie beschriebenen Tierverhalten ähnlich
(82 f.). Freilich ist klischeebestimmtes Verhalten »stets mit
symbolvermitteltem Handeln vermischt«; »nicht Sprachlosigkeit,
sondern eine eigentümliche Sprachverwirrung liegt vor« (83, 92); wo
Wort- und Sachvorstellung auseinandergerissen werden, erfahren die
betroffenen Begriffe der Umgangssprache eine spezifische,
privatsprachliche Bedeutungsverschiebung, werden »Bestandteil einer
>pseudo-kommunikativen Privatsprache<« (92). Sekundäre Bearbeitung kompensiert den Sprachverlust, indem sie ihn vertieft (91). Daran
hängen Möglichkeit und Schwierigkeit der psychoanalytischen
Therapie als einer (auf Änderung von Interaktionsformen zielenden)
Sprachanalyse.
Die
das
Liebesobjekt
repräsentierende
Objektrepräsentanz wird verdrängt, desymbolisiert, weil die (dem Ich
unerträgliche) Triebregung an ihr haftet. Verdrängung resultiert in
»innerer Verleugnung«, die das verleugnende Ich an der (dem Objekt
korrespondierenden) Stelle trifft, an der es in die traumatische Szene
involviert war (84f.).
»Beim Übertritt über die Verdrängungsschwelle in Richtung auf die
Klischees geschieht ein doppeltes: a) der szenisch-situative Aspekt
prävaliert, er saugt gleichsam das Objekt auf, b) der szenisch-situative
Aspekt verliert seine symbolische Fassung<. Die >Situation< kann
ebensowenig mehr vorgestellt werden wie das >Objekt< ..., sie können
nicht mehr begriffen werden . ..
Klischeebestimmtes Verhalten ist als Teilhabe an einem
Aktionsgefüge, d. h. einer >Szene< zu bezeichnen, wobei sich das
Spiel über den Kopf der Individuen hinweg durchsetzt.
Symbolvermitteltes Verhalten dagegen ist ein Verhalten, bei dem die
Individuen
auf
die
eine
Kommunikation
begründenden
Repräsentanzen reflektieren können. Hier ist die Fähigkeit
ungebrochen, die im Sozialisationsprozeß erworbenen Regulatoren in
den Blick zu nehmen.«74
74 A.a.O., 87 und 89 f.
104
Die psychoanalytische Lehre von Neurose und Therapie ist im Kern
eine Theorie des Zwanges, den unfreiwillige, unbewußte
Produktionen75 des Ichs über es ausüben, und eine Anweisung, die
Genesis dieser falschen Objektivationen anamnestisch aufzudecken,
das intrapsychische Nicht-Ich (des Verdrängt-Unbewußten) als ein
dem Ich Entglittenes zu erkennen und es ihm dadurch wieder
verfügbar zu machen. Die Dialektik von defizienter Entäußerung und
versöhnender Erinnerung aber bewegt nicht nur die Psychoanalyse; sie
bildete das Kernproblem der großen idealistischen Philosophie von
Kant bis Hegel. Georg Lukács hat (1923) in »Geschichte und
Klassenbewußtsein«76 diese Dialektik geschichtsmaterialistisch als
Theorie der bürgerlichen Praxis gedeutet, als metaphysische
Verarbeitung des Problems der widersprüchlichen Stellung der
bürgerlichen Klassen-Individuen zu der von ihnen bewußtlos
erzeugten gesellschaftlichen Objektivität. Freuds Maxime »Wo Es
war, soll Ich werden« (GW XV, 86) nimmt die Fichtesche, spekulativ
hinter das empirische Ich und sein Objekt auf die »Tathandlung« des
transzendentalen zurückzugehen77, und die Hegelsche, die Substanz
als Subjekt zu erkennen78, im Medium der Therapie wieder auf.
75 »Der Witz in der Hysterieauflösung, der mir gefehlt hat, besteht in der
Entdeckung einer neuen Quelle, aus der ein neues Element der unbewußten
Produktion herrührt. Ich meine die hysterischen Phantasien, die regelmäßig,
wie ich sehe, auf die Dinge zurückgehen, welche die Kinder früh gehört und
erst nachträglich verstanden haben . . .« Freud an Fließ (6. 4. 1897); Anfänge
(1887-1902), 166. (Meine Hervorhebung, H. D.)
76 Vgl. vor allem den zentralen Teil des Buches: Die "Verdinglichung und das
Bewußtsein des Proletariats. Lukács (1968), 257-397.
77 »Man wird immer vergeblich nach einem Bande zwischen Subjekte und
Objekte suchen, wenn man sie nicht gleich ursprünglich in ihrer Vereinigung
aufgefaßt hat . . .
Das Ich ist nicht zu betrachten als bloßes Subjekt, wie man es bis jetzt beinahe
durchgängig betrachtet hat, sondern als Subjekt-Objekt. . .« Fichte, Versuch
einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Fortsetzung. (1797) AW III, 112
und 113.
78 »Es kommt nach meiner Einsicht . . . alles darauf an, das Wahre nicht als
Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken . . .
Die lebendige Substanz ist ferner das Seyn, welches in Wahrheit Subjekt, oder
was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die
Bewegung des Sichselbstsetzens, oder die Vermittlung des Sichanderswerdens
mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben da
durch die Entzweiung des Einfachen, oder die entgegensetzende Verdopplung,
welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres
Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Refle105
Diese Wiederkehr der Dialektik von Entfremdung und Aneignung als
Grundfigur der psychoanalytischen Neurosenlehre ist von
verschiedenen Autoren bemerkt worden, zuerst wohl von Arnold
Gehlen, der auf die Fichtesche Philosophie als auf ihre originale
Formulierung hingewiesen hat.79 Jean Hyppolite80 und Jacob Taubes81
haben die Verwandtschaft Freudscher und Hegelscher Motive vor
allem anhand der »Phänomenologie des Geistes« aufgezeigt. Jürgen
Habermas hat die Psychoanalyse als methodische Selbstreflexion
interpretiert.82 Odo Marquard schließlich hat die Beziehungen
zwischen Schelling und Freud herausgearbeitet. Er beginnt damit, die
Traditionslinien, die Maria Dorer83 und andere von Freud zu seinen
Lehrern Meynert und Brücke sowie zu Herbart gezogen haben, bis zu
den großen Idealisten hin zu verlängern.84 Freuds Biographen, auch
Bernfeld85, haben sich daran orientiert, daß seine Lehrer ihr wissenschaftliches Selbstverständnis wesentlich auf den Bruch mit der
xion im Andersseyn in sich selbst - nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder
unmittelbare als solche, ist das Wahre.« Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807),
Vorrede, S. 22 und 23.
79 Gehlen geht es darum, die »zentrale Modellvorstellung aller neuen Revolutionen«
herauszuarbeiten (1963, 344). »Die beiden wichtigsten und folgenreichsten
philosophischen Erfindungen der beiden letzten Jahrhunderte gehen auf Fichte zurück. Das
ist die dialektische Denkmethode und die hier besprochene Fichtesche Formel von der
>verlorenen Freiheit< von der Entfremdung und Übermacht des von uns Erzeugten. In
psychologischer Anwendung ist diese Fichtesche Formel, ohne daß jemand dies bemerkt
hätte, weltpopulär geworden: in Freud.« So läuft »von Fichte über Marx zu Freud ein
unsichtbarer >roter Fadem . . .« Gehlen, Ober die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung
(1952), S. 234 und 244.
80 Phénomenologie de Hegel et psychanalyse (1957).
81 Dialectique et psychanalyse (1965): »Freud reprend .. . le leitmotiv de l'idealisme
allemand depuis Fichte jusqu'a Hegel: la Constitution du Moi. Que represente en effet
l'arsenal nevrotique explore par Freud, sinon les pro-duits inconscients de l'activiti
spontanee du Moi, qui s'alienent a lui puis, devenus des surpuissances, des fetiches, se
retournent contre lui?« (S. 114)
82 Vgl. Kap. 10-12 von »Erkenntnis und Interesse« (1968 b).
83 Historische Grundlagen der Psychoanalyse (1932).
84 »Dorer hat nicht reflektiert, daß Herbarts Lehrer Fichte gewesen ist. Fich-tes Schüler
war Schelling. Zu Schellings Anhängern gehörte der große Physiologe Johannes Müller.
Dessen Schüler Ernst Brücke war der andere Lehrer Freuds. . . Dorer reflektiert wiederum
nicht, daß Fechner sich als >von Schellings Stamme gefallen< verstand.«
Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der
Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts (1963), 25.
85 Freud's earliest theories and the school of Helmholtz (1945).
106
Naturphilosophie gründeten. Dadurch entging ihnen, daß Freuds
Neurosenpsychologie eine eigentümliche, therapeutische Variation des
zentralen Problems des deutschen Idealismus, der Dialektik von
Entfremdung und Aneignung, war, und daß in seiner Terminologie
neben physikalischen philosophische Begriffe eine prominente Rolle
spielen. Marquards Interesse gilt den »sachliche(n) Gemeinsamkeiten
zwischen Schelling und Freud«. Beide »bemühen ein recht
gleichgeartetes Ensemble von Grundbegriffen« (bewußtlose und
bewußte Tätigkeit, Trieb, Hemmung, Verdrängung, RepulsionAttraktion, genetisches Denken, Konstruktion, Anamnese, etc.).86 Was
ihre Theorien innerlich verbindet, ist, nach Marquards Analyse, die
(resignierte) Abwendung von der Geschichtsphilosophie und die
Hinwendung zur Natur, die bei Schelling die Gestalt der Ästhetik (und
Mythologie) annahm, bei Freud dann (nach deren »Versagen«) die
Gestalt der Therapeutik. »Freuds Psychoanalyse bezieht ihre
philosophische Position innerhalb der Wachablösung der Ästhetik
durch Therapeutik folgerichtig in der Form einer Wiederholung von
Denkfiguren der transzendentalphilosophischen Wende zur Natur (die
freilich zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts überwiegend noch
nicht zur Therapeutik, sondern überwiegend noch zur Ästhetik führte);
sie ist darum... kein >Gegensatz<, sondern eher ein >2ustand< dieser
Transzendentalphilosophie: darum jene Ähnlichkeit gerade der
Theorien Schellings und Freuds ...« (S. 53)
Lukács' Studie über »Die Antinomien des bürgerlichen Denkens«87
soll »den Zusammenhang der Grundprobleme« der klassischen
bürgerlichen Philosophie »mit dem Seinsgrund, von dem ihre Fragen
sich abheben und zu dem sie begreifend zurückzukehren bestrebt sind,
andeutungsweise aufdecken.« Kants »Kopernikanische Wendung«
stellte die Aufgabe, »die Welt nicht mehr als ein unabhängig vom
erkennenden Subjekt entstandenes (z.B. von Gott geschaffenes) Etwas
hinzunehmen, sondern sie vielmehr als eigenes Produkt zu
begreifen.«88 Ein Denken, das solchermaßen »den rationalen
Kategorien eine universale Bedeutung« verleiht, steht vor dem
Doppelproblem der »Unerfaßbarkeit der Totalität von den
Begriffsbildungen der
86 Marquard, a.a.O., 25-28.
87 Geschichte und Klassenbewußtsein (1968), 287-331.
88 A.a.O., 287 f. und 289.
107
rationellen Teilsysteme aus« und der »Irrationalität der einzelnen
Begriffsinhalte« (S. 293 f.). Seine Tendenz ist, »zu einer Konzeption
des Subjekts vorzudringen, das als Erzeuger der Totalität der Inhalte
gedacht werden kann.« Hinter der empirisch gegebenen Spaltung in
Subjekt und Objekt sucht es den »Einheitspunkt«, von dem jene sich
herleiten läßt, von dem aus sie erzeugbar ist, und findet ihn in der
»Tätigkeit«. Auf Kants »Kritik der praktischen Vernunft« folgt Fichtes
Lehre von der »Tathandlung«: »Es ist daher gar nicht so unbedeutend,
als es einigen vorkommt, ob die Philosophie von einer Tatsache ausgehe, oder von einer Tathandlung (d. i. von reiner Tätigkeit, die kein
Objekt voraussetzt, sondern es selbst hervorbringt, und wo sonach das
Handeln unmittelbar zur Tat wird). Geht sie von der Tatsache aus, so
stellt sie sich in die Welt des Seins und der Endlichkeit, und es wird ihr
schwer werden, aus dieser einen Weg zum Unendlichen und
Übersinnlichen zu finden; geht sie von der Tathandlung aus, so steht
sie gerade auf dem Punkte, der beide Welten verknüpft, und von
welchem aus sie mit Einem Blicke übersehen werden können.«89 Der
»Rationalismus
als
Universalmethode«90
sucht
der
Irrationalitätsschranke durch Formalisierung Herr zu werden. »Der
Versuch, alles Irrationell-Inhaltliche auszuschalten, (richtet sich) nicht
nur auf das Objekt, sondern ... auch auf das Subjekt.« Das
Erkenntnissubjekt wird des-anthropomorphisiert, vom empirischen
Menschen geschieden und in ein »reines« verwandelt (306). Das
erzeugende Subjekt ist demnach nicht das empirische, sondern ein
überempirisches, »transzendentales«; das empirische bleibt
kontemplativ und erhebt sich nur in der Reflexion, also immer post
festum, zum »absoluten«.
Diese Widersprüchlichkeit ist aber »der gedankliche Ausdruck der objektiven Sachlage selbst, die (den Philosophen) zum Begreifen aufgegeben ist. D. h. der hier zum Vorschein gelangte Widerspruch zwischen
Subjektivität und Objektivität der modernen rationalistischen Formsysteme .. ., der Widerstreit zwischen ihrem Wesen als von >uns< >erzeugtem Systemen und .. . ihrer menschenfremden und menschenfernen
fatalistischen Notwendigkeit ist nichts anderes als die logisch-methodologische Formulierung des modernen Gesellschaftszustandes: eines Zu89 Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre für Leser, die schon ein
philosophisches System haben (1797). AW III, 52. Zit. bei Lukács, a.a.O., 301.
90 Lukács, a.a.O., 294.
108
Standes, in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß
>naturwüchsigen<, die irrationell-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter
sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, >selbsterzeugten<
Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben
unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte
(pünktlicher: die in dieser Form erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse) getan
haben.«91
Die Erfahrung, daß die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft
Akteure und Objekte zugleich sind, daß sie zu der von ihnen
unzweifelhaft geschaffenen »Welt« im Verhältnis des Zauberlehrlings
stehen, über den sie Gewalt hat, schlug sich in der Konzeption nieder,
daß die Wirklichkeit Resultat des unbewußten Produzierens eines
überindividuellen Subjekts sei, das vom reflektierenden (empirischen)
Subjekt, wie es sich, selbst eine Tatsache, in der Welt der Tatsachen
eingesperrt findet, immer nur nachträglich erschlossen werden kann.92
Bereits Kant definiert die Synthesis93 als »die bloße Wirkung der
Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion
der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden,
der wir uns aber nur selten einmal bewußt sind.« Aufgabe des
Verstandes ist es, sie auf Begriffe zu bringen, uns bewußt zu
machen.94 Fichte nimmt den Gedanken auf und schreibt über
Produktion und Reflexion des (absoluten) Ichs95: »Es ist sogleich
91 A.a.O., 307.
92 »Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auch ihre
wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der wirklichen Entwicklung
entgegengesetzten Weg ein«, bemerkt Marx bei Gelegenheit der Waren-Analyse und im
Hinblick auf Hegel. »Die Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln und daher
der Warenzirkulation vorausgesetzt sind, besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen
des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen,
nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als
unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt.« Marx, Das Kapital (1867), Bd. I. MEW
23, S. 89 f.
93 »Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung,
verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer
Erkenntnis zu begreifen.« Synthesis ist »dasjenige, was eigentlich die Elemente zu
Erkenntnissen sammelt, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das erste,
worauf wir Acht zu geben haben, Wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis
urteilen wollen.« Kritik der reinen Vernunft (1781). Werke, II, 116 f. (B 103)
94 A.a.O.
95 »Das Ich ist für Fichte nicht wie für Cartesius bloß der zum Behuf des
109
einleuchtend, daß das dieses Produkt setzende Ich im Setzen desselben
sich selbst vergißt, daß mithin dieses Produkt ohne Bewußtsein des
Anschauens angeschaut wird ... Dieser Handlung wird das Ich sich nie
bewußt, und kann sich derselben nie bewußt werden; ihr Wesen
besteht in der absoluten Spontaneität, und sobald über diese reflektiert
wird, hört sie auf Spontaneität zu sein. Das Ich ist nur frei, indem es
handelt; sowie es auf diese Handlung reflektiert, hört dieselbe auf, frei,
und überhaupt Handlung zu sein, und wird Produkt.«96 Der Verstand
»ist das Vermögen, worin ein Wandelbares besteht, gleichsam
verständigt wird (gleichsam zum Stehen gebracht wird)... was fixiert
ist, ist bloß im Verstande fixiert. Der Verstand läßt sich als die durch
Vernunft fixierte Einbildungskraft, oder als die durch Einbildungskraft
mit Objekten versehne Vernunft beschreiben ... Daher unsre feste
Überzeugung von der Realität der Dinge außer uns, und ohne alles
unser Zutun, weil wir uns des Vermögens ihrer Produktion nicht
bewußt werden.«97 Weil er das spontan handelnde, produzierende Ich
zum (solipsistischen) Weltschöpfer hypostasiert98, muß Fichte es zum
empirischen Verstandes-Ich in äußersten Gegensatz bringen. In der
Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre charakterisiert er daher
sein System als eines, »dessen Anfang und Ende und ganzes Wesen
darauf geht, daß die Individualität theoretisch vergessen, praktisch
verleugnet werde ...99 Das empirische Ich ist das bloß anschauende,
bloße »Möglichkeit des Selbstbewußtseins«, des »Zurückkehren(s) in
sich«.100 Der Philosoph geht aus solcher Befangenheit heraus, stellt
sich (um es zu erkennen) auf einen Standpunkt außerhalb des
wirklichen Lebens: er spekuliert.101 Indem er sich über sein
Philosophirens angenommene, sondern der wirkliche, der wahre Anfang, das absolute
Prius von allem.« Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener
Vorlesungen (1827). In: Schriften von 1813-1830, 374, Anm. (Aus einem älteren
(Erlanger) Manuscript.)
96 Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische
Vermögen (1795). AW I, 562 f.
97 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). AW I, 426 f.
98 »Das Ich ist nicht zu betrachten als bloßes Subjekt, . . . sondern als Subjekt-Objekt . .
.« Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Fortsetzung. (1797)
AW III, 113.
99 AW III, 100 f.
100 Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre... (1797). AW III, S. 42 und 43.
101 Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen (1799). AW III, 206.
110
empirisches Ich erhebt, erteilt er ihm den Anstoß zur Rückkehr in sich,
zum Sich-selbst-Konstruieren. Für ihn ist »als bloßes Faktum das
System der gesamten Erfahrung schon da, welches vom Ich unter
seinen Augen zustande gebracht werden soll, damit er die
Entstehungsart desselben kennen lerne.«102 Bei Hegel wird dies
Privileg des Philosophen demokratisiert. »Das reine Selbsterkennen im
absoluten Andersseyn, dieser Äther als solcher, ist der Grund und
Boden der Wissenschaft...« »Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite
an das Selbstbewußtseyn, daß es sich in diesen Äther erhoben habe,
um mit ihr und in ihr leben zu können und zu leben. Umgekehrt hat
das Individuum das Recht zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die
Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm denselben
aufzeige.«103 Aufgabe der »Phänomenologie des Geistes« ist es, »das
Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu
führen«; es soll die »wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte
der Bildung der Welt« erinnernd sich zu eigen machen, sie als die
seine erkennen. »Dieß ist aber von der Seite des allgemeinen Geistes
als der Substanz nichts anderes, als daß diese sich ihr
Selbstbewußtseyn giebt, ihr Werden und ihre Reflexion in sich
hervorbringt.«104 Das Subjekt der Bildungsgeschichte der Welt aber
faßt Hegel mythologisch; nicht die sozialen Klassen haben sie mit
falschem Bewußtsein, sondern der »Weltgeist« hat sie, der
»Volksgeister« und »großen Männer« listig sich bedienend, unbewußt
vollbracht. Gegen Bruno Bauer polemisierend, schreibt Marx: »Schon
bei Hegel hat der absolute Geist der Geschichte an der Masse sein
Material und seinen entsprechenden Ausdruck erst in der Philosophie.
Der Philosoph erscheint indessen nur als das Organ, in dem sich der
absolute Geist, der die Geschichte macht, nach Ablauf der Bewegung
nachträglich zum Bewußtsein kömmt. Auf dieses nachträgliche
Bewußtsein des Philosophen reduziert sich sein Anteil an der
Geschichte, denn die wirkliche Bewegung vollbringt der absolute
Geist unbewußt.«105 Den Weltgeist materialisierend, hat Lukács in
seiner Studie aus dem Jahre 1923 das Proletariat als »identisches
Subjekt-Objekt
102 Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre . . . (1797). AW III, 42 f.
103 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 28 f.
104 A.a.O., S. 30 und 31.
105 Marx und Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno
Bauer und Konsorten. (1845) MEW 2, S. 90.
III
des gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungsprozesses« gedeutet.106 Das Selbstbewußtsein des Arbeiters ist (der Möglichkeit nach)
»das Selbstbewußtsein der Ware«, die Selbstenthüllung der
kapitalistischen Gesellschaft. Die als Ware gehandelt werden, können
selbstbewußt handeln, die Objekte von Naturgeschichte können zu
Subjekten einer menschlichen werden. »Die Selbsterkenntnis des
Arbeiters als Ware ist aber bereits als Erkenntnis praktisch. D. h. diese
Erkenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am
Objekt ihrer Erkenntnis.« »Da das Bewußtsein hier nicht das
Bewußtsein über einen ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern
das Selbstbewußtsein des Gegenstandes ist, umwälzt der Akt des
Bewußtwerdens die Gegenständlichkeitsform seines Objekts.«107
Durch die Bestimmung, das Bewußtsein des Arbeiters sei auch,
»soweit er noch praktisch unfähig ist, sich über (seine) Objektsrolle zu
erheben«, »Selbstbewußtsein der Ware«, wird eine bloß antizipierte
Möglichkeit gegenüber der Praxis (des Klassenkampfes) hypostasiert,
durch die sie einzig zu einer Wirklichkeit werden kann. Auch das
Selbstbewußtsein der Ware ist im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft
nur ein »zurechenbares«108 oder (als empirisches) ein
106 Lukács (1923), 331 und passim. Josef Revai hat bald nach Erscheinen des Buches
den Einwand erhoben, das moderne Proletariat sei nicht mit dem Geschichtssubjekt der
Vergangenheit identisch: »Das moderne um den Kommunismus kämpfende Proletariat ist
kein Subjekt der Antike, der feudalen Gesellschaft. Es begreift diese Epoche als seine
eigene Vergangenheit, als Stufen zu ihm selbst, aber es ist nicht ihr Subjekt.« Gleichwohl
sei die Projektion des Proletariats auf die Geschichte »eine unvermeidliche
Begriffsmythologie«. Révai, Rezension von »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1925);
zit. nach Cerutti u. a. (1971), 190 f. - Lukács selbst ist später von seiner überschwenglichen
These skeptisch abgerückt mit der Bemerkung, es handele sich dabei um »ein Überhegeln
Hegels«: »Ist aber das identische Subjekt-Objekt in Wahrheit mehr als eine rein
metaphysische Konstruktion? Wird durch eine noch so adäquate Selbsterkenntnis, auch
wenn diese zur Basis eine adäquate Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt hätte, also in
einem noch so vollendeten Selbstbewußtsein wirklich ein identisches Subjekt-Objekt
zustande gebracht? Man muß diese Frage nur präzis stellen, um sie zu verneinen.« Lukács
(1968), S. 25 (Vorwort aus dem Jahre 1967). Das »identische Subjekt-Objekt« gilt ihm
nicht mehr als historisch-politische, sondern nur mehr als eine ästhetische Kategorie. Vgl.
Die Eigenart des Ästhetischen (1963), Kap. 7 (Der Weg des Subjekts zur ästhetischen
Widerspiegelung) und 13 (Das Kunstwerk als Fürsichseiendes).
107 Lukács (1968), 353 und 363.
108 »Die rationell angemessene Reaktion nun, die . . . einer bestimmten typi-
112
falsches. Lukács trennt das tatsächliche, psychologische Bewußtsein
des Proletariats vom »Klassenbewußtsein« so scharf wie einst Fichte
das gegenständliche vom transzendentalen109: das Klassenbewußtsein
schwebt (als Idee) über den Tageskämpfen, Einzelinteressen, in denen
es sich als ihr »Sinn« »jeweils vergegenständlicht«; ja, ob diese
Einzelinteressen das Ziel verdeutlichen oder verdecken, »hängt
ausschließlich vom Klassenbewußtsein des Proletariats und nicht vom
Sieg oder Scheitern im Einzelkampf ab.«110 Und in dem Maße, wie der
Sinn des Klassenkampfes im empirischen Bewußtsein der
Klassenangehörigen nicht sich inkarnieren, unter marxistischem
Vorzeichen aber auch nicht als Idee ohne Träger gedacht werden kann,
muß der Fichtesche Philosoph - in Gestalt der Partei des Proletariats wiederauferstehen. Wie für den »Philosophen« (und für den »absoluten Geist«) die Geschichte immer schon vollbracht ist, zu deren
Erinnerung er das subjektive Bewußtsein, dessen In-sich-Zurückgehen er zusieht, anleitet, so ist die Aktion des Proletariats von der
Partei, in der sich das Klassenbewußtsein inkarniert, immer schon
antizipiert worden.111 Lukács' Theorie der kommunistischen Partei
macht aus der Not der nachrevolutionären bolschewistischen eine
Tugend, er idealisiert deren unfreiwillig subschen Lage im Produktionsprozeß zugerechnet wird, ist das Klassenbewußtsein.« Indem
ihr (empirisches) Bewußtsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, »werden jene
Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage
haben würden«, wenn sie diese Lage, ihre Interessen und die Struktur der Gesellschaft
»vollkommen zu erfassen fähig wären.« A.a.O., 223 f.
109 Vgl. Lukács, a.a.O., 248 ff.
110 Vgl. dazu die Marxsche Konzeption: »Die Kommunisten sind . . . praktisch der
entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben
theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den
Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus . . . Die
theoretischen Sätze der Kommunisten . . . sind nur allgemeine Ausdrücke eines
existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden
geschichtlichen Bewegung.« Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei
(1847/48). MEW 4, S. 474 f.
111 Sowohl die gesellschaftlichen Bedingungen als auch die »Gedanken, Empfindungen
usw.« (Lukács, a.a.O., 223 f.) der revolutionären Akteure erscheinen als »historische
Notwendigkeit«. Vgl. dazu die Kritik von J.Habermas (1963, 1971), S. 442 ff.: »Im
Historischen Materialismus hat die Klasse als (absolutes Subjekt), das sich zum SubjektObjekt der Geschichte vollendet, keine Stelle.« Habermas sieht in Lukács' Anschluß an die
Stalin-Fraktion die Konsequenz von dessen neuhegelianischer KlassenbewußtseinsTheorie.
113
stitutionalistische Praxis wie ihre Konkurrenzlosigkeit: »Die
kommunistische Partei ist eine - im Interesse der Revolution selbständige Gestalt des proletarischen Klassenbewußtseins.«112 »Die
organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist
notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewußtsein, als
geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne ...«113 Die
Apologie des neuen Substitutionalismus114 greift zurück auf den
theoretischen Ausdruck einer historisch früheren, ebenfalls
substitutionalistischenPraxis: auf Fichtes Jakobinismus. Unter den
bolschewistischen Theoretikern selbst hat Trotzki schon 1923 den
»Fetischismus« kritisiert, der in dem Glauben zutage tritt, die
Dezisionen einer Parteiführung, die von Massen und Mitgliedern nicht
kontrolliert wird, sondern ihnen diskussionslos befiehlt, seien115 nichts
anderes als der reine Ausdruck
112 Geschichte und Klassenbewußtsein (1968), 508 (Methodisches zur Organisationsfrage). Vgl. dazu auch das III. Kapitel (Die führende Partei des Proletariats) seiner
Lenin-Studie (a.a.O., 534-545).
113 A.a.O., 504.
114 In ihrem Zeichen steht noch Merleau-Pontys Interpretation von Lukács' Parteitheorie,
die die alten Formeln mit neuem Leben erfüllt: »Das Klassenbewußtsein ist im Proletariat
kein seelischer oder kognitiver Zustand und ist dennoch keine Konzeption des
Theoretikers, weil es eine Praxis ist, das heißt weniger als ein Subjekt und mehr als ein
Objekt. . .« Die proletarische Praxis »erheischt eine kritische Verarbeitung, Korrekturen.
Für diese Kontrolle (!) sorgt eine Praxis höheren Grades«, die der Partei. »Sie zieht die
Arbeiterklasse aus dem heraus, was sie unmittelbar ist. . . Aber nicht willkürlich; die Partei
muß zeigen, daß ihr Ausdruck der Arbeiterklasse wahr ist, indem sie diese dazu bringt (!),
sie zu akzeptieren.« »Nachgezogen, aber nicht manipuliert, liefer(t) sie der Politik der
Partei das Siegel der Wahrheit.« Dabei »handelt (es) sich nicht darum, fortwährend den
Proletariern die revolutionäre Tragweite ihrer Aktionen in eine klare Sprache zu
übersetzen: das hieße manchmal, sie allzusehr das Gewicht der zu besiegenden
Widerstände fühlen zu lassen, die sie, ohne es zu wissen, überwinden werden, und das
hieße auf jeden Fall den Feind warnen.« Die Abenteuer der Dialektik (1955), S. 59, 63 und
64. Daß das Verschweigen der theoretischen Einsicht die Manipulation ist, bleibt ungesagt.
Und die Empfehlung, aus taktischen Gründen die Theorie durch Opium zu ersetzen, auf
daß die Ahnungslosen Taten vollbringen, vor deren Risiken sie als Einsichtige
zurückschaudern würden, erneuert den Gedanken einer »List der Vernunft«, mit der hier
die Partei anstelle des Weltgeistes arbeitet. Merleau-Ponty hat denn auch (noch zehn Jahre
nach dem stalinistischen Massenterror) viel Mühe darauf verwandt, die Moskauer
Schauprozesse mit der historischen »Vernunft« in Einklang zu bringen. (Vgl. Humanismus
und Terror (1947), I. Teil, Kap. 2 und 3.)
115 - so sehr das politische Handeln der Führung selbst sich, in bloßen Reaktionen auf
wechselnde Situationen erschöpfen mag -
114
der Interessen der proletarischen Klasse.116 Motive dieser und der
älteren Luxemburgschen Kritik an Lenins Parteikonzeption117 kehren
bei Jürgen Habermas wieder, der Lukács' Theorie des Verhältnisses
zwischen revolutionärer Partei, Massen und Klassenfeind im Hinblick
auf das Modell des psychoanalytischen »therapeutischen Diskurses«
von Arzt und Patient kritisiert.118 Dies Modell ist brauchbar, »um
normativ das Verhältnis zwischen der kommunistischen Partei und den
Massen, die sich durch die Partei über ihre eigene Lage aufklären
lassen, zu strukturieren.«119 Therapeut wie Partei(-Intellektueller)
wollen durch ihr Handeln Prozesse der Selbstreflexion provozieren.120
In beiden Fällen entscheidet über die Alternative Beeinflussung versus
Selbstreflexion, Kommando versus Spontaneität, ob wirklich »der
Patient selbst letzte Instanz (ist).«121 Der Vergleich des politischen mit
dem therapeutischen Diskurs lehrt, daß die theoretische Antizipation
politischen Handelns sich nicht (wie Lukács unterstellt) nach dem
Modell retrospektiver Selbstreflexion konstruieren läßt:
»In einem dialektisch aufzuklärenden Zusammenhang systematisch verzerrter Kommunikation handeln wir nur, solange dieser sich undurchschaut, auch von uns undurchschaut perpetuiert... Die praktischen
Folgen der Selbstreflexion sind Einstellungsänderungen, die sich aus
der Einsicht in vergangene Kausalitäten ergeben, und zwar eo ipso
ergeben. Das zukunftsgerichtete strategische Handeln, das in den
internen Diskussionen der Gruppen, die (als Avantgarde) gelungene
Aufklärungsprozesse für sich selbst bereits unterstellen, vorbereitet wird,
kann hingegen nicht in derselben Weise durch reflexives Wissen
gerechtfertigt werden.«122
116 Vgl. Trotzki, Cours Nouveau (1923 c); ferner seine Kritik des »bürokratischen Ultimatismus« der KPD-Führung in den Jahren vor Hitlers Machtergreifung, in: Schriften über Deutschland (1929-40), 133 f. und 202-210.
117 Vgl. Rosa Luxemburg (1904).
118 Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln.
(Einleitung zur Neuausgabe von »Theorie und Praxis«, 1971, 9-47.)
119 A.a.O., 36.
120 »Die Stellung der Partner im analytischen Gespräch ist asymmetrisch; sie ...
terminiert erst am Ende einer gelingenden Behandlung in jener symmetrischen Beziehung,
die zwischen Diskursteilnehmern von Anbeginn statthat« (a.a.O., 34).
121 A.a.O., 35. »Verstöße gegen Standesnormen und Kunstregeln sind in Grenzen
kontrollierbar . . . die Patientenrolle ist nicht total . . . Innerhalb gewisser Grenzen bleibt
dem Patienten die Möglichkeit, den Analytiker zu wechseln oder die Behandlung
abzubrechen« (ebd.).
122 A.a.O., 44.
115
In Schellings Münchener Vorlesungen »Zur Geschichte der neueren
Philosophie« (1827), in denen er die Gedankenbewegung des
deutschen Idealismus (und seine eigene Rolle darin) rekonstruierte,
erscheint die Theorie vom bewußtlosen Produzieren in einer Version,
die der späteren psychoanalytischen außerordentlich nahe kommt. Die
Verwandtschaft läßt sich, wie Marquard gezeigt hat, aus der
Abwendung der Philosophie von der Geschichte und ihrer
Hinwendung zur Natur, die Ästhetik (und Mythologie) wie
Therapeutik kennzeichnet, herleiten. Da die Verheißung der
Geschichtsphilosophie, daß die Menschen mündig werden und sich
mit Natur versöhnen, unerfüllt blieb, die Geschichte ein Reich
barbarischer Unfreiheit, erhoffen die Philosophen Autonomie in der
Sphäre der Ästhetik (als der Lehre von der lockenden Natur, den
schönen Gebilden), - bauen schließlich, da auch diese Hoffnung trügt,
auf die medizinische Therapie der Menschennatur.123 Die Frage: »Wie
leben mit der Natur, wo sie Macht hat über die Geschichte, wenn es
nicht mehr ausreicht, mit ihr >ästhetisch< zu leben?«, sieht Marquard
durch die (von Schelling vollzogene) Wendung der Philosophie zur
Medizin beantwortet: »Wo die Wende zur Natur und damit das
Pensum ihrer unriskanten Präsenz fortdauert, führt innerhalb der
Philosophie die Krise der Ästhetik zur Konjunktur der Therapeutik«;
mit Worten von Novalis: »Weil >der Poet< als der transzendentale
Arzt< versagt, folgt ihm der reale Arzt im Amte des Hüters der
transzendentalen Gesundheit<«124 Schelling beginnt die Darstellung
der von ihm vollzogenen Umbildung der Fichte123 »Schellings Geschichtsphilosophie fehlt die Theorie der konkreten Wege. Darum
wird sie schließlich . . . zur deprimierten Geschichtsphilosophie: Geschichte ist auch für
ihn einstweilen nicht das Gelände menschlicher Autonomie. Gleichwohl bleibt die
Autonomie für Schelling die menschlichste aller Bestimmungen: daß jedermann über sich
selber vollkommen selber bestimmt. Aber wo - wenn doch offenbar nicht in der
Geschichte - ist menschliche Autonomie zu finden und zu realisieren? Schelling antwortet
- dies gilt wenigstens für die Zeit zwischen 1796 und 1804 - wie vor ihm Schiller: das Exil
der Autonomie ist die Kunst.« Sie hat ihren Stoff an der Mythologie. »Schellings
Mythologiephilosophie: das ist direkter Heteronomismus; aber er ist indirekter
Autonomismus; sie lobt die Mythen; aber sie lobt sie weg: in fernste Zukunft und in
fernste Vergangenheit.« O. Marquard, Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei
Schelling (1971), 261 ff.
124 Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der
Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts (1963), 42. Vgl. Novalis (1960), 535 (Fragm.
42).
116
schen Lehre mit einer Kritik der »thrasonischen« Formel »Alles ist nur
durch das Ich und für das Ich«: »Die Meinung dieses subjektiven
Idealismus selbst konnte nicht seyn, daß das Ich die Dinge außer sich
frei und mit Wollen setzte; denn nur zu vieles ist, das das Ich ganz
anders wollte, wenn das äußere Seyn von ihm abhienge. Der
unbedingteste Idealist kann nicht vermeiden, das Ich, was seine
Vorstellungen von der Außenwelt betrifft, als abhängig zu denken ...
wenigstens von einer innern Notwendigkeit, und wenn er dem Ich ein
Produciren jener Vorstellungen zuschreibt, so muß dies wenigstens ein
blindes, nicht in dem Willen sondern in der Natur des Ich gegründetes
Produciren
seyn.«125
An
Schellings
quasi-materialistische
Argumentation erinnert Adornos Kritik an der Konzeption des
Transzendentalsubjekts:
»Das Resultat von Abstraktion ist nie gegen das, wovon es abgezogen
ward, absolut zu verselbständigen; weil das Abstraktum auf das unter
ihm Befaßte anwendbar bleiben, weil Rückkehr möglich sein soll, ist in
ihm immer zugleich auch in gewissem Sinn die Qualität dessen, wovon
abstrahiert wird, aufbewahrt, wäre es auch in oberster Allgemeinheit.
Setzt daher die Bildung des Begriffs Transzendentalsubjekt oder absoluter Geist sich ganz hinweg über individuelles Bewußtsein schlechthin
als raumzeitliches, woran er gewonnen ward, so läßt jener Begriff
selber sich nicht mehr einlösen; sonst wird er, der alle Fetische demolierte, selber einer, und das haben die spekulativen Philosophen seit
Fichte verkannt.. .«
»Ein Ich, das in gar keinem Sinn mehr Ich wäre . . ., wäre ein Nonsens
... Die Analyse des absoluten Subjekts muß die Unauflöslichkeit eines
empirischen, nichtidentischen Moments daran anerkennen .. .«126
Insofern ist die gedankliche Reflexionsbewegung, in der das empirische Ich sich über sich erhebt und in dem Produzieren des
transzendentalen Ichs - dieser mythologischen Personalisierung der
gesellschaftlichen Arbeit der vielen Individuen - der Bedingung der
Möglichkeit der ihm erscheinenden Welt (samt der ihr zugehörigen
Erscheinung seiner selbst) inne wird, immer auch eine
»psychologische«. Bei dem solipsistisch argumentierenden Fichte,
dem, wie Schelling schreibt, »die ganze Natur« in dem »Begriff des
Nicht-Ich, des völlig leeren Objekts«
125 Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen (1827).
In: Schriften von 1813-1830, S. 374 f.
126 Drei Studien zu Hegel (1963). In: Gesammelte Schriften 5 (1971), 263 und 264.
117
»zusammengeschwunden« ist127, und der darum die Kluft zwischen
empirisch-psychologischem und transzendentalem Subjekt am
weitesten aufreißt, wird das deutlicher als bei dem realistischen Hegel.
In der Konzeption der erinnernden Aneignung von
(bewußtlos
erzeugter)
Pseudonatur wurde
die geschichtsphilosophisch
formulierte Erfahrung der großen Revolutionen mit der
lebensgeschichtlich-psychologischen
Erfahrung
befreiender
Selbstreflexion verschmolzen. Erst Freud nimmt das Thema als ein
rein psychologisches wieder auf, - um den Preis
des
Psychologismus, des Verkennens gesellschaftlicher Pseudonatur.
Arzt und Patient nehmen nun die Plätze des »Philosophen« und des
naiven Bewußtseins ein.
Das Transzendentalsubjekt
ist
verschwunden;
die
Ananke-Außenwelt bleibt
für
die
therapeutische
Reflexion
undurchdringlich - nicht entfremdet,
sondern fremd. Bewußtloser Produzent der ichfremden neurotischen
Bildungen ist der Patient selbst; sein Arzt verfügt nur über ein Mehr an
Erfahrung,
den
psychoanalytischen
Interpretationsrahmen
lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse und ihrer typischen Störungen
sowie über einen knappen zeitlichen Vorsprung, da ihm das vom
Patienten offenbarte assoziative Material eher zu Konstruktionen von
dessen verschütteter Vergangenheit zusammenschießt als dem Kranken,
der ja mehr sagen soll, als er sich zu wissen getraut. Und die (unter Zuhilfenahme von Gesetzes-Hypothesen, die den Zusammenhang von
Traumen und Symptomen formulieren, gewonnenen) Deutungen sind
so lange nichts wert, nicht »wahr«, solange sie nicht vom Patienten (auf
der intellektuellen Ebene ebenso wie auf der der Affekte und
Symptome) »anerkannt« werden, von bloßen Erkenntnissen über den
Patienten zu dessen Selbsterkenntnis geworden sind. Der Patient der
psychoanalytischen Kur ist wirklich identisches Subjekt-Objekt seiner
Leidensgeschichte. Aber sein (der Amnesie verfallenes) »Produzieren«
ist nicht der Freiheit, sondern der Unfreiheit entsprungen. Spontaneität »(relative) Autonomie in einer Welt der Heteronomie«128 - erwächst
ihm nur in dem Maße, wie es ihm gelingt, sich seine unglückselige
Vorgeschichte erinnernd wieder anzueignen. Schelling deutet den
transzendentalen Rückstieg des Ichs aus der Welt des immer schon
Gegebenen als Selbstüberschreitung des »jetzt vorhande127 Schelling, a.a.O., 372 f.
128 H. Marcuse, Das Veralten der Psychoanalyse (1963), 87.
118
nen« Bewußtseins ins »noch nicht« Bewußte. Da die Außenwelt für
das bewußte Ich immer schon da ist, muß »es« sie als allgemeines
(transzendentales) - vor seiner Individuation, und darum »unbewußt« hervorgebracht haben.
»Nichts verhinderte aber, mit diesem jetzt in mir sich-bewußten Ich
auf einen Moment zurückzugehen, wo es seiner noch nicht bewußt
war, - eine Region jenseits des jetzt vorhandenen Bewußtseyns anzunehmen und eine Thätigkeit, die nicht mehr selbst, sondern nur durch
ihr Resultat in das Bewußtseyn kommt. Diese Thätigkeit konnte nun
keine andere seyn als eben die Arbeit des zu-sich-selbst-Kommens..
.«129
Schellings Erklärung des »unzerreißbaren Zusammenhangs« von Ich
und (notwendig vorgestellter) Außenwelt führt also auf »eine
transzendentale Geschichte des Ichs«: »Nur das kann zu sich kommen,
was zuvor außer sich war.« Das jenseits des Bewußtseins gedachte
»Ich« ist »für alle menschlichen Individuen das gleiche und selbe«, es
individuiert sich erst, indem es in den einzelnen Menschen zu sich
kommt. Darum zählen die Individuen, was ihre Vorstellung von der
Außenwelt anbelangt, »auf die Übereinstimmung aller menschlichen
Individuen«. Angekommen »bei dem Ich bin, womit sein individuelles
Leben beginnt, erinnert... sich (das Ich) nicht mehr des Wegs, den es
bis dahin zurückgelegt hat...« (376)
»Das individuelle Ich findet in seinem Bewußtseyn nur noch gleichsam
die Monumente, die Denkmäler jenes Wegs, nicht den Weg selbst. Aber
eben darum ist es nun Sache der Wissenschaft und zwar der Urwissenschaft, der Philosophie, ... daß jenes Ich des Bewußtseyns den ganzen
Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn - selbst mit Bewußtseyn zurücklege. Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen,
was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan
und erlitten hat...« (376 f.)
Das Verfahren der Anamnese beruht auf der Unterscheidung des sich
entwickelnden Ichs und des ihm zuschauenden, philosophierenden
Ichs. »Durch jeden Moment war in das objektive Ich eine Bestimmung
gesetzt, aber diese Bestimmung war nur für den Zuschauer in ihm
gesetzt, nicht für es selbst.« Ziel des Prozesses ist, das »objektive Ich
selbst auf den Standpunkt des Philosophirenden« zu bringen. 129
Schelling, a.a.O., 375.
119
»Zwischen dem objektiven Ich und dem philosophirenden bestand ohngefähr das Verhältniß wie in den Sokratischen Gesprächen zwischen dem
Schüler und dem Meister. In dem objektiven Ich war jederzeit in eingewickelter Weise mehr gesetzt, als es selbst wußte; die Thätigkeit des
subjektiven, des philosophirenden Ich bestand nun darin, dem objektiven Ich selbst zu der Erkenntniß und dem Bewußtseyn des in ihm
Gesetzten zu verhelfen und es so endlich zur völligen Selbsterkenntniß
zu bringen.« (380)
Die Psychoanalyse ist, das lehrt die Vergegenwärtigung der Theorie
vom bewußtlosen Produzieren als des Zentralproblems der großen
idealistischen Systeme, die Auferstehung der Dialektik inmitten der
Ära der positivistischen Naturwissenschaften, - die Wiederkehr der
Selbstreflexion als Therapie.130 Im Fortgang der Aufklärung sind
Transzendentalsubjekt wie empirisches materialistisch entzaubert
worden.131 Nicht Weltschöpfung, sondern Umarbeitung der
vorgefundenen äußeren und inneren Natur (durch Produktion und
Sozialisation) ist das Werk der unfrei vergesellschafteten Individuen;
und die jeweiligen Gegenständlichkeitsformen, die »Natur« in diesem
Bearbeitungsprozeß annimmt132, erscheinen den in ihn verstrickten
Individuen als eine »zweite Natur« von unwandelbarer Notwendigkeit.
Nur diese ihnen entfremdete Pseudonatur ist einer Auflösung und
Rücknahme (Wiederaneignung)133 fähig, nicht Natur, »Gegenständlichkeit« überhaupt. Indem sie sich den gesellschaftlich konstituierten
Zwängen wie einem Naturgesetz unterwerfen, den Widerspruch
zwischen den sozialen Institutionen134 und den sie
130 In Gehlens Formulierung: »Auf dem soziologischen und wirtschaftlichen Gebiet . . .
scheint die Zeit abgelaufen zu sein, in der die Freiheit sich noch enthusiastisch realisieren
wollte. Dieses Stück Idealismus ist abgelebt, sein anarchischer Gehalt wie ein Bazillus
eingekapselt in der Psychoanalyse verborgen, dort auf die Stunde der Politisierung dieser
Glaubenslehre wartend.« Ober die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung (1952), 243.
131 »Synthesis im materialistischen Verstande ist eine auf die Sphäre der Weltgeschichte
relativierte Tathandlung; Marx verweist Fichte in die Schranken, die durch Kants
Transzendentalphilosophie und Darwins Evolutionismus gezogen sind.« Habermas,
Erkenntnis und Interesse (1968 b), 56 f.
132 »Die Geschichte wird (bei Marx) zur Geschichte der Gegenständlichkeitsformen, die
die Umwelt und die innere Welt des Menschen bilden, die er gedanklich, praktisch,
künstlerisch usw. zu bewältigen sich bemüht.« Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein
(1968), 375.
133 Durch Reflexion auf ihre Genesis und eine von solcher Reflexion inspirierte
institutionenändernde Praxis.
134 »Dieselben Konstellationen, die den Einzelnen in die Neurose treiben,
120
zweideutig legitimierenden Traditionen einerseits, den eigenen
ungestillten Triebwünschen anderseits sich verhehlen, laufen sie
Gefahr, die Chance der Befreiung ungenutzt zu lassen. Dies Risiko
provozierte die Ausbildung der beiden Versionen von »kritischer
Theorie«, in deren Gestalt die Dialektik auf uns gekommen ist, die »in
dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das
Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs
einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch
nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren
läßt...« (Marx135) Psychoanalyse wie historischer Materialismus sind
Kritiken gesellschaftlich konstituierter Pseudonatur. In der
arbeitsteiligen Aufspaltung der Kritik in eine, die es mit
gesellschaftlicher Objektivität zu tun hat, und eine andere, die die
neurotische Selbstverdinglichung der einzelnen Menschen aufklärt,
kommt der Bruch zwischen den Individuen und der Form ihrer
Vergesellschaftung, in der sie sich nicht erkennen können, die sie nicht
als die ihre anerkennen können, zum Ausdruck. Die Psychoanalyse
arbeitet an der Auflösung der inneren Pseudonatur, indem sie ihre
Patienten, anamnestisch deren Lebensgeschichte rekonstruierend, zur
Einsicht in die bewußtlose Produktion der dem Ich entglittenen,
verselbständigten Symptome bringt. Im Maße wie es gelingt, die
Bewußtlosigkeit ihrer Erzeugung aufzuheben, verliert sich deren
Fremdheit, kann das Ich sich das Verlorene, es bearbeitend, wieder zu
eigen machen. Das Thema der Psychoanalyse ist der Widerspruch
zwischen der menschlichen Natur (den luxurierenden Triebwünschen)
und den jeweiligen Formen ihrer Versagung und Befriedigung - ihrer
(in Sozialisationsprozessen erworbenen) Struktur. Da aber die
gesellschaftliche Pseudonatur, unter deren Druck die Individuen
unwillentlich eine psychologische erst ausbildeten, von der
psychoanalytischen Kritik nicht angegriffen wird136, behalten deren
Resultate etwas Vorläufiges, Widerrufbares. Sie selbst bleibt dem
Einwand ausgesetzt, »die materielle Entfremdung durch eine rein
innerliche spiritualistische Aktion vernichbewegen die Gesellschaft zur Errichtung von Institutionen . . . Wie der Wiederholungszwang von innen, so bewirkt der institutionelle Zwang von außen eine der
Kritik entzogene und verhältnismäßig starre Reproduktion gleichförmigen Verhaltens.«
Habermas, a.a.O., 353.
135 Nachwort zur 2. Auflage von »Das Kapital« (1873). MEW 23, S. 28.
136 Vgl. dazu das Kapitel (I. 4) über gesellschaftliche Genesis und Wirkung der
Psychoanalyse.
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ten zu wollen.«137 Tatsächlich ist die »>idealistische< Abwendung von
aller Faktizität«138 der Kunstgriff des psychoanalytisch-kritischen
Verfahrens; es traktiert »reale, objektive, außer mir existierende
Ketten« als »bloß ideelle, bloß subjektive, bloß in mir existierende
Ketten«139, - greift die objektive Unfreiheit der Individuen als
subjektive an, die sie immer auch ist (und ohne die die objektive nicht
fortbestünde). »Aber um sich zu erheben, genügt es nicht, sich in
Gedanken zu erheben ...«140 Zwar sind es nicht bloße Vorstellungen,
Redeweisen, die die Psychoanalyse revidiert, sondern - durch deren
Vermittlung - Triebstruktur und Interaktionsformen ihrer Patienten.
Doch die Tragweite, die gesellschaftliche Relevanz dieser
therapeutischen Revisionen wird der Psychoanalyse in ihrer
traditionellen Gestalt nicht zum Problem. Der Widerstreit zwischen der
Menschennatur der Individuen und den Formen ihrer
Vergesellschaftung kommt in der Arbeitsteilung der beiden kritischen
Theorien zum Ausdruck; er bedingt ihre Differenz wie ihre je
spezifische Unzulänglichkeit. Der historische Materialismus spürt
durch
Kritik
der
gesellschaftlichen
Objektivität
deren
Entwicklungstendenzen auf und bezeichnet den Klassenindividuen
Interventionschancen gegenüber dem gesellschaftlichen Schicksal, das
sie zu verschlingen droht. An der Ausbildung ihrer psychischen
Struktur in Sozialisationsprozessen zeigt er sich desinteressiert. Die
Psychoanalyse aber ignoriert die historisch-spezifische Form der
Vergesellschaftung der Individuen, deren psychische Beschädigung sie
aus ihrer Lebensgeschichte als einer Kränkungsgeschichte verständlich
zu machen sucht. So lange die Ohnmacht der Individuen, die
Übermacht ihrer Verhältnisse währt, so lange bleibt Max Horkheimers
Formel - »Eine materialistische Geschichtsschreibung ohne genügende
Psychologie ist mangelhaft. Psychologistische Geschichtsschreibung
ist verkehrt«141 - in Geltung. Daraus folgt aber auch, daß man die
beiden Kritiken nicht, den realen Bruch zwischen Menschen und
Institutionen, den ihre Aufspaltung dokumentiert, verleugnend, einfach
miteinander »kombinieren« kann. »Marxismus und Psychoanalyse
zusammenfügen, wie sie
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Marx, in: Marx/Engels, Die heilige Familie ... (1845); MEW 2, S. 87.
A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion (1970 a), 201.
Marx, a.a.O., 87.
Ebd.
Dämmerung (1934), 112. (»Zur Charakterologie«)
sind, hieße synkretistisch beider Blindheiten für die Sache des je
andern zusammenfügen ... Daß die Psychoanalyse an einem Moment
von Gesellschaftlichkeit scheitert, deren pionierhafte Theorie ihrerseits
an einem von Innerlichkeit scheitert, heißt, daß sie füreinander nicht
positive Komplemente sein können, sondern ihre gegenseitigen
kritischen Regulative sie vorantreibende Negationen sind .. .«142
142 U. Sonnemann, Hegel und Freud (1969 b), 215. Vgl. auch dessen Negative
Anthropologie (1969 a), S. 15 und 87.
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