HORST LEMPART V e r l a g Die narzisstische Kränkung in Coaching und Beratung REIHE COACHING & BERATUNG • Narzissmus Ich habe es doch nur gut gemeint Junfermann Eine kurze theoretische Einführung · 19 Wenn Kinder nur wenig bedingungslose Liebe erfahren, dann lernen sie, sich so darzustellen, wie sie sein sollen. Daraus resultiert die Frage: Wer muss ich sein, um geliebt zu werden? Die Verbindung zum wahren Selbst geht dadurch mehr und mehr verloren wie auch die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung und Selbstempathie. Der Psychoanalytiker und Kindertherapeut Donald Winnicott hat Winnicott: dafür den Begriff des „falschen Selbst“ geprägt. Das Kind wird von falsches Selbst den Eltern narzisstisch besetzt, weil sie in ihrem Nachkommen unerfüllte Wünsche, Erwartungen oder abgelehnte Eigenanteile ausagieren. Kinder reagieren auf systemische oder atmosphärische Störungen in einer kindgerechten Art: Sie verweigern die Kommunikation, neigen zur Gewalt, nässen plötzlich wieder ein, die Schulleistungen lassen nach oder sie machen erste Erfahrungen mit Süchten. Aus diesen kindlichen Bewältigungsmustern können feste Grundüberzeugungen resultieren, die im späteren Leben wie Wahrnehmungsfilter wirken und die Persönlichkeit prägen. Für eine narzisstische Persönlichkeit kann das bedeuten: „Ich bringe die beste Leistung und bin mir selbst der Nächste.“ Auf der anderen Seite entstehen dazu negative Schemata: „Ich bin unzureichend und verdiene es nicht, geliebt zu werden“. Auch sich selbst können sie keine Liebe entgegenbringen, da ihr natürliches Wesen hinter einem Ideal verschwindet, das stellvertretend alle Zuwendung bekommt. So unwirklich ihr Inneres ist, so verzerrt ist auch die Außenwahrnehmung. Kritiken, Zurückweisungen oder andere Meinungen werden als Bedrohung wahrgenommen und bekämpft. Wie „funktioniert“ die narzisstische Persönlichkeitsstörung? Rainer Sachse hat in seinem Buch „Persönlichkeitsstörungen verEbenen der Interstehen“ sehr anschaulich dargestellt, wie die narzisstische Persönaktion: Motivebene, lichkeitsstörung funktioniert. Demnach finden die InteraktioSchemata, Spielebene nen auf drei unterschiedlichen Ebenen statt. Auf der Motivebene handelt eine Person offenkundig und unverfälscht, sie macht also ihre Beziehungsmotive deutlich. So würde sie verständlich kommunizieren, dass sie Nähe oder Anerkennung wünscht, wodurch eine Befriedigung dieses Motivs möglich wird. Damit ist nicht gesagt, dass das Motiv unmittelbar und umfassend befriedigt wird. Verfügen wir jedoch über regulative Mechanismen, wirft es uns nicht aus der Bahn, wenn wir auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse warten müssen. Bestenfalls haben wir gelernt, uns selbst zu lieben (zu „bemuttern“), auch allein sein zu können und stolz auf uns zu sein. 20 · Ich h a b e es d oc h nur g ut ge m e int Das ist das Tragische an der narzisstischen Persönlichkeit: Sie ist im hohen Maße abhängig von ihrer Umwelt, da sie „Spiegelhalter“ braucht, die ihre Einzigartigkeit und Überlegenheit bestätigen. An dieser Stelle wird das Bedürfnis zur Bedürftigkeit: Der Narzisst ist nicht in der Lage, durch eigene Mittel für seinen Unterhalt (d. h. hier, für seine seelische Gesundheit) zu sorgen. Offenbar verfolgt er sogar Ziele, die seinen eigenen Motiven zuwiderlaufen. Das wird besonders deutlich, wenn einerseits die Ziele Macht und Dominanz verfolgt werden, andererseits das tiefe Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung vorherrscht. Im Coaching-Prozess verwende ich daher viel Zeit mit dem Klienten darauf, seine Ziele und Motive differenziert herauszuarbeiten. Die Abhängigkeit des Narzissten von seiner Umwelt steht in völligem Widerspruch zur zweiten Ebene der Schemata (Grundüberzeugungen oder Glaubenssätze): „Ich brauche niemanden!“ oder: „Ich bin der Beste!“ Wenn im Hintergrund dann noch negative Haltungen wirken wie: „Mit mir hält es „Kompensation“ sowieso niemand aus“ oder: „Ich kann es keinem recht machen“, bzw. „Übermüssen die Größenfantasien umso übertriebener ausgestaltet werKompensation“ den. Sachse spricht hier von einer „Kompensation“ bzw. „ÜberKompensation“. Eine besondere Dramatik bekommt die dritte Ebene, die Spielebene. Hier entfaltet die narzisstische Persönlichkeit ihr besonders manipulatives Verhalten. Sie teilt sich ihren Interaktionspartnern nämlich nicht offen und unverfälscht mit, sondern sie „wirft einen Köder aus und baut darauf, dass der Fisch ihn schluckt“. Das zentrale Motiv der narzisstischen Persönlichkeit ist Anerkennung. Bleiben wir der Einfachheit halber daher bei diesem Motiv. Wenn der Narzisst seine Anerkennung nicht freiwillig, umfassend und sofort bekommt, packt er seinen Spielekoffer aus. Die Verbindung zu einem kindlichen Verhalten ist nicht zufällig. Auch Kinder versuchen, ihre Bedürfnisse auf kreative Art und Weise zu befriedigen, anstatt sofort den Rückzug anzutreten. Denken Sie an Ihre eigene Kindheit oder beobachten Sie Ihren Nachwuchs! Ein manipulatives Spiel kann darin bestehen, dass ein Narzisst in besonderer Weise betont, wie einzigartig er ist: durch Wissen, theatralische Auftritte, übertriebenes Engagement, durch Arbeitsanweisungen an andere usw. Diese manipulativen Spiele verursachen hohe Beziehungskosten. Mit der Zeit Verdoppele deine geht der Narzisst seiner Umwelt ziemlich auf die Nerven. Seine UnAnstrengungen oder fehlbarkeit, seine Besserwisserei, seine Inszenierungen gehen den reagiere aggressiv, meisten ziemlich gegen den Strich und sie reagieren mit Rückzug. aber stelle dich Was ist für den Narzissten Mittel der Wahl? „Verdoppele deine Annicht infrage! strengungen oder reagiere aggressiv, aber stelle dich nicht infrage!“ Eine kurze theoretische Einführung · 21 Motivebene Schemaebene Zentrales Motiv der narzisstischen Persönlichkeit ist Anerkennung. Weitere Motive sind z. B. Bedeutung und Solidarität. Auf dieser Ebene werden die Bedürfnisse transparent, die Intention ist erkennbar. Positive Grundüberzeugungen sind z. B.: „Ich bringe die beste Leistung.“ „Ich bin mir selbst der Nächste.“ Negative Grundüberzeugungen sind z. B.: „Ich bin unzureichend.“ „Ich verdiene es nicht, geliebt zu werden.“ Spielebene Das strategische Handeln richtet sich nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Lob, Bewunderung und verfolgt manipulative Strategien. Abbildung 2: Handlungsregulation der narzisstischen Persönlichkeit (nach Sachse 2011) Wenn das manipulative Spielangebot vom Gegenüber nicht angenommen wird oder der Interaktionspartner aus dem Spiel aussteigt, reagiert die narzisstische Persönlichkeit mit einer narzisstischen Kränkung. Man könnte sagen: „Der Köder hat vor allem dem Angler geschmeckt, nicht aber dem Fisch.“ Narzisstische Persönlichkeiten verwechseln Bewunderung mit Liebe. Fühlen sie sich nicht bewundert, fühlen sie sich nicht geliebt. Ihre Beziehungen sind damit immer an Bedingungen geknüpft. Narzisstische Persönlichkeit vs. Antisoziale Persönlichkeit Die narzisstische Persönlichkeitsstörung überschneidet sich in ihrer Symptomatik mit anderen Persönlichkeitstypen, unter anderem auch mit der antisozialen Persönlichkeit. In der Außenwirkung ist das Verhalten ähnlich, die Ursachen dafür sind aber recht unterschiedlich. Während die narzisstische Persönlichkeit eher unter ihrer geringen Empathiefähigkeit leidet, geht die antisoziale Persönlichkeit rücksichtslos mit den Gefühlen anderer Menschen um. Während der Narzisst zwischenmenschliche Beziehungen ausnutzt, missachtet die antisoziale Persönlichkeit Umgangsformen. Allerdings steht bei der narzisstischen Persönlichkeit das Großartigkeitsmerkmal deutlich im Vordergrund, was bei der antisozialen Persönlichkeit kaum eine Rolle spielt. Weitere Überschneidungen stelle ich Ihnen im Kapitel 1.5 vor. 22 · Ich h a b e es d oc h nur g ut ge m e int 1.2 Der gesunde Narzissmus und Narzissmus ohne Krankheitswert Was ist „krank“? Was ist „gesund“? Die Psychopathologie unterscheidet nur zwischen krank und nicht krank (wobei „nicht krank“ noch lange kein Hinweis darauf ist, dass es sich um „gesunde“ Denkoder Verhaltensweisen handelt). Für die narzisstische Persönlichkeitsstörung gilt: Nur wenn mindestens fünf der Diagnosekriterien aus dem DSM (s. Seite 17) erfüllt sind, spricht man von einer „Störung mit Krankheitswert“. Allerdings wird, wie bereits erwähnt, die narzisstische Persönlichkeitsstörung bis heute in der ICD gar nicht explizit aufgeführt, sondern nur am Rande erwähnt. Auch das mag ein Hinweis darauf sein, dass narzisstische Verhaltensweisen in großen Teilen unserer Gesellschaft etabliert und akzeptiert sind. Auch beim Burnout ist die gesellschaftliche Akzeptanz höher als bei einer psychischen Erkrankung. Burnout wird von einigen Fachleuten als eine Form der Depression oder als Anpassungsstörung gedeutet, andere Bei narzisstischem sehen darin ein eigenständiges Krankheitsbild. Verhalten stellt sich also die Frage: Störung oder keine Störung? Bei narzisstischem Verhalten stellt sich also die Frage: Störung oder keine Störung? Mich begeistert an meiner Tätigkeit als Coach und psychologischer Berater, dass ich mit „gesunden“ Menschen arbeite. Das unterscheidet meine Arbeit von der vieler Psychotherapeuten und Mediziner: Ich arbeite nicht mit Störungen. Ich arbeite mit Menschen. Coaches und Berater müssen sich in psychischen Krankheitsbildern auskennen, um die (ohnehin schwierige) Grenze zur Pathologie einschätzen zu können. Aber ich bin überhaupt kein Freund von Diagnosen. Diagnosen beschränken mich in meiner Wahrnehmung und führen dazu, dass ich am Ende nur noch die Symptome sammle, die meine Diagnose bestätigen. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Bestätigung oder Anerkennung durch den Klienten bekomme, dann ist das doch ein guter Anfang, um meine fachliche Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen. Die Illusion, alles im Griff zu haben, besser als der Klient zu wissen, woran er leidet, ist sehr verlockend. Sie erkennen auch an dieser Stelle, wie nah wir uns im Alltag an der Schwelle zu narzisstischem Verhalten bewegen. Ich widme daher der narzisstischen Kränkung des Coachs ein ganz eigenes Kapitel (siehe Seite 146 ff.). Eine kurze theoretische Einführung · 23 Nicht gestört, sondern verhaltensoriginell Damit ich jeden Morgen wieder daran erinnert werde, wie nah Gesundes und Gestörtes beieinanderliegen, habe ich mir ein Frühstücksbrettchen angeschafft mit der Aufschrift: „Ich bin nicht gestört, ich bin verhaltensoriginell!“ Mit diesen Verhaltensoriginalitäten arbeite ich, wenn Klienten zu mir in die Praxis kommen. Das Umdeuten einer Störung in eine Verhaltensoriginalität ist übrigens ein wichtiges Werkzeug, das ich Ihnen in meinem ersten Fall „Mutterliebe, die erdrückt“ vorstelle (siehe S. 54 ff.). Natürlich habe auch ich meine Originalitäten: Nach dem Aufstehen nehme ich mir morgens zwischen zwanzig und dreißig Minuten Zeit für die Morgentoilette. Wenn ich mit Duschen, Eincremen, Rasieren und Parfümieren fertig bin, schaue ich mich im Spiegel an und sage „Horst, du siehst wieder gut aus!“ Mein Mann, der dieses Ritual seit Jahren kritisch beobachtet und nicht müde wird, Kommentare dazu abzulassen, geht inzwischen zum Angriff über: „Du bist so ein Narzisst!“ Stellen Sie sich die absurde Situation vor, ich würde nun mit dem Kommentar kontern: „Ich habe es doch nur gut gemeint!“ Hier würde meine narzisstische Kränkung in eine verblüffend neue Richtung der Selbsterkenntnis führen. Für mich ist meine morgendliche Bad-Zeit ein Vorzeichen für den Tag. Mein Mann pflegt seine Sprüche, ich pflege meine Seele. Die knappe halbe Stunde Zeit widme ich daher gerne meinen narzisstischen Anteilen. Gelegentliche narzisstische Kränkungen sind kein K.o.-Kriterium für erfüllende Beziehungen. Wie bereits erwähnt, wirken sie eher wie ein Seismograf, der uns anzeigt, das etwas in Bewegung gerät und unsere Hinwendung und Aufmerksamkeit fordert. Es kommt auf die Dosis an, auf das „Zuviel des Guten“ und die Heftigkeit der Eruptionen. Gelegentliche narzisstische Kränkungen sind kein K. o.-Kriterium für erfüllende Beziehungen. Gestört, gesund – oder etwas dazwischen? Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, wo im Spektrum der narzisstischen Persönlichkeitsanteile ich meine Darstellungen einordne: