welt SCHWERPUNKT Wie isst die Welt? JUNI - JULI 2010 C 51 78 Nordelbisches Missionszentrum Unser aktuelles Projekt in Orissa/Indien Aus dem Inhalt Kurz vor dem Essen Unser täglich Brot gib uns heute Ohne die Schulheime der Jeypore-Kirche in Orissa hätten viele Kinder keine Chance auf Schule und Ausbildung. Denn noch immer fehlen Schulen und Möglichkeiten einer schulnahen Unterbringung. Unsere indische Partnerkirche ist Trägerin für 43 Schulen in der Region und fördert in ihren zwölf Wohnheimen zurzeit 575 Schülerinnen und Schüler. Für gutes Lernen und die Entwicklung der Kinder sind die gesicherten Mahlzeiten wichtig. Aber die Versorgung der Kinder wird immer teurer, denn die Preise für Grundnahrungsmittel sind in Indien in den letzten Jahren enorm gestiegen. Helfen Sie uns mit Ihrer Spende, die Mädchen und Jungen in Indien auf ihrem Weg zu unterstützen. Nähere Informationen zu Indien auf den Seiten 12-13 und 22 und zum aktuellen Projekt auf der Heftrückseite. Fotos: E. v.d. Heyde (1), C. Plautz (2), Sarah Wiener Stiftung (1), bilderbox.com (1), Deutscher Teeverband (1), N. Gehm (1), M. Hanfstängl (1), E. Fuchs (1) 4 Der globale Kochtopf Die Globalisierung ist längst im Kochtopf angekommen. Unsere Esskultur hat aber auch Auswirkungen auf die Menschen des Südens. 7 „Abbild der Gesellschaft“ Essen ist längst zu einem Industrieprodukt gewordent. Sarah Wiener erläutert im Interview, wie sich Verbraucher gesünder ernähren und besser für sich sorgen können. 9 Mamaligutza! Mamaligutza! – so heißt der Maisbrei in Rumänien. Sein Genuss wird von den Bewohnern regelrecht zelebriert. 10 Von Ameisensaft bis Zitronenfisch „Essen ist für das Volk der Himmel“, so heißt es in China. Welche Rolle hat das Essen heute, in einem Land, wo die Menschen von sich behaupten, „alles zu essen, was Beine hat“? weltbewegt-Postanschrift: NMZ, Postfach 52 03 54, 22593 Hamburg, Adresse: Agathe-LaschIMPRESSUM: weltbewegt (breklumer sonntagsblatt fürs Haus) erscheint sechsmal jährlich. HERAUSGEBER UND VERLEGER: Nordelbisches Zentrum für Weltmission und Kirchlichen Weltdienst, Breklum und Hamburg (NMZ). Das NMZ ist ein Werk der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. DIREKTOR: Pastor Dr. Klaus Schäfer (V.i.S.d.P.), REDAKTION: Ulrike Plautz, GESTALTUNG: Christiane Wenn, KONZEPT: Andreas Salomon-Prym, SCHLUSS KORREKTUR: Constanze Bandowski, ADRESSE: Agathe-Lasch-Weg 16, 22605 Hamburg, Telefon 040/881 81-0, Fax: 040/881 81-210, www.nmz-mission.de. 2 weltbewegt Editorial 12 Kochen ist auch Männersache Nicht nur Gewürze prägen die indische Esskultur, sondern auch Rituale. So wird vor großen Festen gefastet und Männer machen den Abwasch, wenn gefeiert wird. 16+21 Kulturwochen Im Rahmen der „Kulturwochen Mittlerer Osten“ konnten sich Menschen aus Orient und Okzident begegnen, wie auf dem Orientalischen Family Day. 18 Geiz ist verpönt Einen kulinarischen Tag in Tansania beschreibt Jendrik Peters, der dort als „Freiwilliger“ von „weltwärts“ lebt und die herzliche Gastfreundschaft genießt. 23 Künstlermission Erstmals hatte das NMZ Künstler aus Indien, Papua-Neuguinea und Deutschland zu einem mehrwöchigen Künstleraustausch eingeladen. Liebe Leserin, lieber Leser, kaum ein Thema ist so umfassend, vielschichtig, komplex, aber auch so sinnlich und vor allem existentiell, wie das Thema Essen und Ernährung. So hat auch der Lutherische Weltbund das Thema in den Mittelpunkt seiner diesjährigen Vollversammlung im Juli gestellt. Auf dem begrenzten Umfang von 28 Seiten können wir nur einen Bruchteil dessen abbilden, was zum Thema zu denken und zu sagen wäre. So wollen wir diesmal vor allem zeigen, wie reich die Traditionen, wie vielfältig die Ernährungsgewohnheiten der Menschen weltweit sind – und wie groß die Gastfreundschaft ist. Vor allem in Ländern des Südens scheint sie ungebrochen, trotz der Erfahrung des Mangels. Ein Mangel, der nicht dadurch entsteht, dass es an Kompetenz fehlt, sondern weil etwa afrikanische Bauern das Geld nicht haben, um Dünger, Traktoren oder guten Samen zu kaufen. Im Gegensatz zu uns können die meisten Länder des Südens nur einen geringen Teil ihres Haushaltes in die Landwirtschaft stecken, da sie fast alle Devisen für den Schuldendienst brauchen. Während bei uns jährlich 30.000 neue Produkte von der Lebensmittelindustrie lanciert werden, leidet weltweit eine Milliarde Menschen an Hunger. Dabei gäbe es genug zu essen für alle – wenn die Lebensmittel gerechter verteilt wären. Grundlegende Veränderungen in der Landwirtschaft wie die Stärkung von Kleinbauern, wären eine wichtige Maßnahme. Hier sind wir als Konsumenten gefragt. Wir können durch den Kauf von fair gehandelter und umweltfreundlich produzierter Ware dazu beitragen, dass kleine Produzenten ein gutes Auskommen haben. Wir können je nach Saison und Region einkaufen – und tun durch den Genuss von schmackhaften, gesunden Produkten nicht zuletzt auch uns etwas Gutes. „Essen ist für das Volk der Himmel“ heißt es in China. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen den Himmel auf Erden und eine anregende Lektüre Ihre Weg 16, 22605 Hamburg, Telefon 040/881 81-0, Fax -210, E-Mail: [email protected] DRUCK, VERTRIEB UND VERARBEITUNG: Wachholtz Druck GmbH, Neumünster, JAHRESBEITRAG: 15,– Euro, SPENDENKONTEN: VR Bank eG, BLZ 217 635 42, Konto-Nr. 270 00 26 und / oder Ev. Darlehnsgenossenschaft eG, Kiel, BLZ 210 602 37, Konto-Nr. 27 375 – mit Namen gekennzeichnete Artikel geben die Meinung des Autors / der Autorin und nicht unbedingt die Ansicht des herausgebenden Werkes wieder. Die Redaktion behält sich vor, Manuskripte redaktionell zu bearbeiten. Gedruckt auf TCF – total chlorfrei gebleichtem Papier. weltbewegt 3 Der globale Kochtopf Frank Kürschner-Pelkmann S Grundnahrungsmittel auch in El Salvador: Mais Reisopfer im Gottesdienst in Indien 4 weltbewegt ie ist im Kochtopf angekommen, die Eine Welt. Avocadosuppe und Kängurukeule, Koriander und Langusten haben ihre festen Plätze in Kochbüchern und Kochtöpfen erobert. In der Küche entfaltet die Globalisierung ihre schmackhafte Seite. Gut sortierte Küchenschränke und Kühlschränke enthalten Produkte, die in dreißig oder vierzig Ländern zu Hause sind. Und wer nicht selber kochen will, der hat selbst in kleineren Städten die Auswahl zwischen chinesischen, italienischen und griechischen Restaurants. Es hat mehrere Hunderttausend Jahre gedauert, bis der Kochtopf global wurde. Lange vorbei die Zeiten, als von Horde zu Horde die Erfahrung weitergegeben wurde, dass man zähes Elchfleisch mit Salz zu einem schmackhaften Gericht verarbeiten kann. Später zogen Karawanen mit Gewürzen aus Asien durch die Wüste zum Mittelmeer und verkauften ihre Kostbarkeiten zu Höchstpreisen. Und in der Neuzeit erlebten die britischen Eroberer in Indien überrascht, wie köstlich gut gewürztes Essen munden kann. Alle Epochen der Menschheit und alle Völkerwanderungen haben ihre Spuren in den Kochtöpfen hinterlassen, und meist waren es sehr wohlschmeckende Spuren. Essen muss geteilt werden Allerdings, es gab schon immer unterschiedliche Kochtöpfe. Die Kochtöpfe der Reichen waren mit Köstlichkeiten gefüllt, die der Armen blieben oft leer. Die aus der Sklaverei geflüchteten Israeliten erinnerten sich angesichts der kargen Kost in der Wüste an die Fleischtöpfe Ägyptens. Davon hatten sie nur selten probieren dürfen, aber gemessen an Hunger und Durst in der Wüste waren selbst diese wenigen Erinnerungen Anlass zu Murren und Rebellion. Es kamen bessere Zeiten, lesen wir in der Bibel. Ein Linsengericht war so köstlich, dass Esau sogar das Erstgeburtsrecht dafür hergab. Später konnten der Wanderprediger Jesus und seine Schar von Jüngerinnen und Jüngern sich gelegentlich ein gutes Mahl leisten oder wurden als arme Schlucker dazu eingeladen. Dass es dazu auch einmal Wein gab, brachte Jesus den Vorwurf ein, ein „Fresser und Weinsäufer“ zu sein. Jesu Botschaft war nicht ein Evangelium der leeren Kochtöpfe. Im Gegenteil: Als er vor einer großen Menschenmenge predigte und es Abend wurde, sorgte Jesus dafür, dass alle satt wurden. Die „Speisung der Fünftausend“ zählt zu den eindrucksvollsten Schilderungen des Neuen Testaments. Zum wunderbaren Geschehen gehört, dass die Menschen bereit waren, miteinander zu teilen. Danach blieb sogar noch körbeweise Essen übrig. Dass Essen eine Gemeinschaft stärken kann, wurde beim letzten Mahl Jesu und seinen Jüngern unübersehbar deutlich. Schwerpunkt Eine Botschaft Jesu lautete: Gutes Essen sollen nicht exklusiv einige Wenige genießen, wie es im Römischen Reich gar zu oft der Fall war. Selbst von den Hecken und Zäunen sollten Gäste zum Festmahl geladen werden. Dieses gute Mahl wurde mit dem Reich Gottes verglichen. Aber wer den Armen nicht einmal die Brosamen vom Tisch zukommen lässt, der schließt sich selbst aus jener Gemeinschaft aus, die Gott gestiftet hat. Das Gebet Jesu für das tägliche Brot ist Ausdruck der Hoffnung, dass alle satt werden sollen. Fotos: B. Fünfsinn (1), C. Kienel (1), C. Plautz (1), Illustrationen: C. Wenn Warum noch immer Menschen hungern Heute, im Zeitalter der Globalisierung, sind die Zusammenhänge rund ums Essen kompliziert geworden. Das Kalb, dessen zartes Filet man gerade genießt, ist vielleicht mit Soja aus Brasilien gefüttert worden. Dort werden dafür Urwaldflächen gerodet. Der knackige Salat stammt aus Südspanien, wo er unter Einsatz großer Wassermengen wächst. Die Übernutzung des Grundwassers trägt dort dazu bei, dass Südspanien zur ersten Wüste Europas zu werden droht. Die leckere Avocado hat eventuell schon einen Langstreckenflug hinter sich, zum Schaden des Klimas. Die hiesigen Essgewohnheiten haben direkte Auswirkungen auf die Menschen im Süden der Welt. Weil hier vor allem die Brust und die Flü- gel von Hühnern gefragt sind, werden die übrigen Teile der Tiere nach Westafrika exportiert und dort sehr billig verkauft. Das hat katastrophale Auswirkungen für die dortigen Tierzüchter, weil sie ihre Absatzmärkte verlieren. Verheerend sind auch die Folgen eines exzessiven Fleischkonsums in einer wachsenden Zahl von Ländern der Welt. Damit ein Tier ein Kilogramm Fleisch ansetzt, benötigt es als Futter etwa sieben Kilogramm Getreide. Das treibt die weltweiten Getreidepreise in die Höhe und führt dazu, dass immer mehr wertvolle Ackerflächen für die Erzeugung von Viehfutter genutzt werden. Gleichzeitig ist das gegenwärtige globale Ernährungssystem von einer gigantischen Verschwendung geprägt: Bei uns wird jedes fünfte Brot weggeworfen und Lebensmittel im Wert von 500 Millionen Euro im Jahr landen im Abfall. Was nicht rasch zu verkaufen ist, wird „entsorgt“. Inzwischen holen die vielerorts entstandenen „Tafel“-Initiativen wenigstens einen kleinen Teil dieser Nahrungsmittel ab und verteilen sie an Arme. Inmitten einer Welt des Überflusses leidet eine Milliarde Menschen auf der Welt Hunger. Dabei gäbe es genug zu essen für alle – wenn die Lebensmittel gerechter verteilt wären. Aber in den Kochtöpfen zeigen sich heute die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich auf der Welt. Deshalb gehört es zu den Protestformen im Süden der Welt, dass Frauen auf leere Kochtöpfe schlagen und so lautstark durch die Geschäftsviertel der Reichen ziehen. Damit alle Menschen mittags aus vollem Herzen und vor einem vollen Teller „Mahlzeit“ sagen können, sind grundlegende Veränderungen in der weltweiten Landwirtschaft erforderlich. Besonders wichtig ist die Förderung von Kleinbauernfamilien. Die meisten Hungernden leben auf dem Lande. Sie besitzen so kleine Äcker und Weiden, dass sie von der Ernte nicht leben können. Sie brauchen mehr Land, bessere Landwirtschaftsberatung und angemessene Preise für ihre Produkte. In vielen Ländern hat sich gezeigt, dass eine ökologisch verantwortungsbewusste Produktion nicht nur der Natur nützt, sondern auch Ernten und Einnahmen der Bauernfamilien vergrößert. Demgegenüber erweist sich die Gentechnik in der Landwirtschaft als Sackgasse. Entgegen aller Propaganda wurden die genveränderten Pflanzen nicht selbstlos für die Armen der Welt entwickelt, sondern dafür, dauerhaft lukrative Geschäfte zu machen. Die Bauern werden von dem genveränderten Saatgut der großen Agrarkonzerne abhängig, statt weiter ihr bewährtes lokales Saatgut zu nutzen. Unternehmen wie Monsanto sichern sich weltweit die Patentrechte an Saatgut und genveränderten Tieren. Monsanto versucht nach Angaben von Greenpeace gegenwärtig sogar, Patente auf Schinken und Schnitzel zu erlangen, wenn die Tiere mit Gengetreide gefüttert wurden. weltbewegt 5 Die Globalisierung der Wirtschaft kann sich auch bei uns negativ auf die Ernährung auswirken. Dies gilt besonders für die wachsende Zahl armer Haushalte. Fast jedes zweite Kind aus Familien mit geringem Einkommen geht morgens ohne Frühstück in die Schule. Aber auch in vielen wohlhabenden Kreisen fallen gemeinsame Mahlzeiten der Familie immer öfter aus, weil alle im Stress sind und weil es keine gemeinschaftliche Esskultur mehr gibt. Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre hat sowohl Discountern wie Lidl und Aldi, als auch FastfoodKetten wie McDonald’s höhere Marktanteile gesichert. Nur noch elf Prozent des Haushaltseinkommens werden in Deutschland für das Essen ausgegeben, in der Nachkriegszeit war der Anteil mehr als vier Mal so hoch. Das geht zulasten der Qualität der Lebensmittel und zulasten der nur noch an möglichst niedrigen Kosten ausgerichteten Tierhaltung. Bedenklich auch, dass die Zahl der Deutschen sinkt, die kochen können – und das trotz aller Kochsendungen im Fernsehen. „Functional Food“, das war hierzulande vor wenigen Jahren noch ein unbekannter Begriff. Inzwischen sind diese Produkte in den meisten Supermärkten zu finden. Die Lebensmittelindustrie verspricht, dass man 6 weltbewegt beim Essen auch gleich etwas für seine Gesundheit tun kann: Probiotischer Joghurt beugt einem Herzinfarkt vor, mit bestimmten Vitamindrinks vermindert man das Krebsrisiko, Hormonbrot hilft gegen die Beschwerden der Wechseljahre und selbst ein Anti-Aging-Bier ist im Angebot. Teurer sind solche Produkte auf jeden Fall. Dass sie irgendeine der versprochenen Wirkungen erzielen, bezweifeln viele Ernährungswissenschaftler. Sie empfehlen, weiter auf die positiven Wirkungen von Obst und Gemüse zu vertrauen. Dennoch, der Absatz des „funktionalen“ Essens boomt – ein Zeichen dafür, wie erfolgreich Werbung sein kann. ebenso vorteilhaft ist wie für die eigene Gesundheit. Die Verfechter von „Slow Food“ setzen sich dafür ein, Essen nicht herunterzuschlingen, sondern es sich auf dem Gaumen zergehen zu lassen. Gefragt ist eine neue Kultur des Kochens und genussvollen und zugleich gesunden Essens. Dann können wir uns mit noch mehr Überzeugung einen guten Appetit wünschen und unserem Schöpfer für das köstliche Mahl danken. Fair, langsam und gut Also, nur noch verzweifelt im Kochtopf herumrühren und über die Schlechtigkeit der Welt klagen? Mitnichten. Es gibt viele einfache Schritte, um schmackhaft zu essen und dabei zugleich die Umwelt zu schonen und den Produzenten ein gutes Auskommen zu sichern. Frische Ökoprodukte aus der Region zu kaufen, ist inzwischen eine Maxime vieler Verbraucherinnen und Verbraucher. Ebenso kaufen viele nur noch Obst und Gemüse der Saison. Fair gehandelte und umweltfreundlich produzierte Güter aus dem Süden der Welt erleben wachsenden Zuspruch. Und viele sehen ein, dass eine Verminderung des Fleischkonsums für das Klima Fotos: C. Kunze (1), C. Palutz (1), Illustrationen: C. Wenn , Sarah Wiener Stiftung (2) Billig und schnell – die hiesigen Ernährungstrends Schwerpunkt „Abbild der Gesellschaft“ Interview mit der Köchin und Gastronomin Sarah Wiener Ulrike Plautz Sie sind seit über 20 Jahren Köchin und betreiben heute drei Restaurants und einen Event-Catering Service in Berlin. Was lieben Sie am Kochen? Ich mag einfach das Handwerk. Ich liebe es, Zwiebeln anzufassen oder Karotten und Auberginen. Die Zubereitung von Mahlzeiten hat etwas sehr, sehr Sinnliches. Dazu kommt, dass ich anderen und schließlich auch mir selbst etwas Gutes tun kann und dann bekommt man für sein Essen auch noch Anerkennung und Liebe. Das ist doch wunderbar! Sie nutzen Ihren Einfluss als Köchin und setzen sich in der Öffentlichkeit für eine gute und gesunde Ernährung ein. Was verstehen Sie darunter? Im Grunde geht es doch darum, wieder ein natürliches Verhältnis für gute, nahrhafte Produkte zu bekommen. Dafür möchte ich Menschen sensibilisieren und ihr Bewusstsein schärfen. Das bedeutet, unabhängig zu werden von der Lebensmittelindustrie, die unsere Geschmacksnerven inzwischen so weit beeinflusst, dass Verbraucher zu dem Schluss kommen, unverarbeitete Nahrung schmeckt nicht. Das ist doch Unsinn! Naturbelassene Produkte haben ihren Eigengeschmack, brauchen keine künstlichen Aromen; sie sind vor allem gesünder, weil sie das enthalten, was wir erwarten und was der Köper braucht. Natürlich hat sich die ökologische Landwirtschaft auch große Verdienste in Aufzucht und Anbau erworben. Trotzdem muss man nicht immer Bio-Produkte kaufen. Wenn ich den Bauern aus der Nachbarschaft kenne und weiß, wie er seine Produkte anbaut und seine Tiere behandelt, dann wäre es doch unsinnig, Biotomaten aus Spanien zu kaufen. Was kritisieren Sie an der Lebensmittelindustrie? Die Industrie ist letztlich an der eigenen Gewinnmaximierung interessiert und nicht primär am Vorteil für den Verbraucher durch Qualität, Gesundheit und Transparenz. Sie verarbeitet viele Produkte so stark, dass vielfach nur noch Unmengen von Kalorien enthalten sind und sie kaum Nährwert haben. Die Werbung arbeitet mit leeren Versprechen, gaukelt Bilder vor, die der Realität nicht entsprechen. Auch die Behauptung, dass Fertigprodukte billiger seien, stimmt natürlich nicht. Es muss alles mit bezahlt werden wie Aufzucht, Anbau, Löhne, Verpackung, Transport und Werbung. Wenn man Nahrungsmittel zu immer tieferen Preisen anbieten möchte, dann geht das letztlich nur auf Kosten der Qualität. Der Qualität der Tiere, des Bodens des Bauern und des Produktes. Das ist völlig widernatürlich - und letztlich respektlos gegenüber dem Lebensmittel. Verbraucher können aber auch bewusst gegensteuern. Wenn ich mein Obst und Gemüse nur aus der Region esse, stärke ich meine unmittelbaren Nachbarn, die Kleinbauern und die Biodiversität. Gleichzeitig habe ich damit eine große Kontrolle, was ich da eigentlich kaufe. Was fehlt unserer Esskultur? Die Wertschätzung der gemeinsamen Mahlzeit und der Lebensmittel. Wenn Menschen auf der Straße eilig große Happen Fertignahrung herunterwürgen und manchmal gar nicht wissen, was sie in sich hineinstopfen, kann es mit unserer Esskultur nicht weit her sein. Essen ist für mich auch immer ein Abbild der Gesellschaft. Hinter mangelnder Achtsamkeit auf das, was ich esse, steckt doch oft auch eine geringe Wertschätzung meines eigenen Körpers. Ich bin überzeugt: Du bist, was Du isst. Sarah Wiener mit Kindern aus einem ihrer Kochkurse Wie kommt es zu der mangelnden Achtsamkeit? Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Die Infrastruktur ist ein wichtiger Faktor in jeder (Koch-) Kultur. Heute, wo Nahrung in unweltbewegt 7 Wodurch wird das Essverhalten noch geprägt? Das Klima spielt natürlich eine große Rolle. Wir beziehen zum Beispiel unser tierisches Protein vom Fleisch großer Haus(nutz)tiere. In anderen Ländern, wo es diese Nutztiere nicht gibt, essen Menschen andere tierische Eiweißspender wie Heuschrecken oder Maden. Sie betonen oft die Wichtigkeit der gemeinsamen Mahlzeit. Warum? Das gemeinsame Essen stabilisiert menschliche Beziehungen und verbindet Generationen miteinander. Es ist Ausdruck von Bodenständigkeit und gliedert gleichzeitig den Tag, in vielen Kulturen sogar das Leben mit seinen Fest- und Fastentagen . Das gemeinsame Mahl kann auch etwas Tröstliches haben in 8 weltbewegt einer Welt, die immer schneller und unübersichtlicher wird. Sie kochen auch mit Kindern und haben, eine Stiftung ins Leben gerufen, um Kindern eine gute Ernährung und das eigene Kochen wieder nahe zu bringen. Was begeistert Kinder am Kochen? Kinder sind grundsätzlich sehr begeisterungsfähig. Alles Sinnliche spricht sie an. Gemeinsam zu kochen ist aber auch ein sozialer Akt. Es hat mit Kommunikation und der Bereitschaft zu teilen zu tun. Darüber hinaus fördert es die Feinmotorik. Kinder lernen beim Kochen mehr als nur die Zubereitung von Speisen. Sie stärken ihr Selbstvertrauen und ihre Kreativität. Darüber hinaus schulen sie den Geschmack, und das Essverhalten der Kinder verändert sich im günstigsten Fall. Was sie selbst gekocht haben, schmeckt viel besser. Kinder, die nur Spaghetti und Pizza kannten, lernen auch Artischocken und Mirabellen kennen und lieben. Kochen kann auch eine spannende Reise in ein genussvolles, unbekanntes Land sein. Wie können Menschen ihr Essverhalten ändern - was sollten sie beachten? Meine wichtigste Empfehlung lautet: Selber kochen! Man muss dabei ja nicht immer den großen Zampano machen. Es reicht ja durchaus, Kartoffeln mit Quark und vielleicht noch etwas Salat anzurichten. Einfach mal kochen, was einem schon immer geschmeckt hat. Beim Einkauf sollten Verbraucher umsich- tiger einkaufen, die Etiketten genau lesen, auf Herkunft und Produktionsbedingungen achten. Der billige Preis, den ich in meiner Geldbörse unmittelbar spüre, hat meist noch einen anderen höheren Preis, den die Umwelt, die Tiere oder die Gesellschaft zahlen müssen. Ich empfehle, regional und saisonal einzukaufen – also zum Beispiel keine Erdbeeren im Winter. Konsumenten müssen auch aushalten, dass nicht immer alles zur Verfügung steht. Ich plädiere dafür, inne zu halten und der eigenen Gier zu misstrauen. So paradox das klingen mag: Zum Genuss gehört auch der Verzicht. Das kann wiederum ein großer Gewinn sein – nicht nur für uns. Sarah Wiener (47) lernte im Restaurant ihres Vaters und machte sich 1990 als Köchin mit einem Crew-Catering selbständig. 1999 eröffnete sie in Berlin ihr erstes Restaurant. Inzwischen betreibt sie drei Restaurants und einen Event-Catering-Service mit mehr als 100 Mitarbeitern. Bundesweit bekannt wurde sie durch Fernsehserien und als Buchautorin. Sarah Wiener engagiert sich für artgerechte Tierzucht, ist Schirmherrin der Aktion „Haushalt ohne Genfood“ und Botschafterin für Biolandbau. Mit ihrer 2007 gegründeten Sarah Wiener Stiftung „Für gesunde Kinder und was Vernünftiges zu essen“ vermittelt sie Kindern praxisnah ein Bewusstsein für gesunde Ernährung. Fotos: C. Plautz (1), bilderbox.com (1), C. Wenn (1), Illustration: C. Wenn (1) seren Breitengraden kaum etwas kostet, setzen viele Menschen andere Prioritäten und sind überfordert, sich auch noch mit einer ausgewogenen Ernährung zu beschäftigen. Es gibt aber auch kulturhistorische Gründe. Die Menschen im Norden waren eben stark durch den asketischen Calvinismus geprägt, wo Arbeit hoch geschätzt wurde und Essen nur dazu diente, den Motor am Laufen zu halten. Frankreich zum Beispiel hat dagegen eine ganz andere Geschichte. Als Folge der französischen Revolution gab es schlagartig viele arbeitslose Köche aus den Adelsfamilien. Sie gründeten zum Überleben Restaurants und prägten auf diese Weise die Esskultur. Aber Kulturen ändern sich zum Glück auch ständig. Schwerpunkt Mamaligutza! Jutta Weiß N ein, ein Essen für ein Buffet ist es nicht, wovon ich hier erzählen will. Es sieht nicht sonderlich attraktiv aus: etwas gelblicher als Griesbrei. Aber ist der Name nicht vielversprechend: Mamaligutza! ? Für zwei Wochen hatte es mich in Rumänien wirklich aufs Dorf verschlagen: Als der Bus von der Hauptstraße abgebogen war, keuchte er 15 Kilometer durch die Schlaglöcher eines Feldweges. Schließlich spie er all die Menschen aus, die drei- und vierfach auf den Sitzen gehockt hatten. Es goss in Strömen. Ich wollte in diesem Dorf am Ende der Welt teilnehmen an einem Sommercamp der orthodoxen Studentengemeinde. 14 Tage lang spielten wir tatsächlich mit den Kindern des Dorfes, gestalteten ein Ferienprogramm für sie, sangen, tanzten, bastelten: 24 junge Menschen voller Ideale und ich, die ich hätte die Mutter dieser jungen Leute sein können. Dennoch ließen sie mich mit ihnen in einem der Zelte schlafen. Und ich erlebte ein paar Tage lang, wie die Studentinnen in kleinen Gruppen die hungrige Meute mit Essen versorgten: Neben der Kirche auf dem Berg kochten sie in einem Häuschen auf einer Feuerstelle. Wasser schleppten sie mit Eimern vom Fuße des Berges dorthin. Morgens, mittags und abends wurde hier mit richtigem Hunger gegessen: am liebsten zweimal am Tag warm! Schließlich kam die Reihe zu kochen auch an mich: Ich zog mich aus der Affäre, indem ich Nudelsalat herstellte. Das kannten sie überhaupt nicht. Ich hatte dazu Gemüse-Konserven aus der Stadt mitgebracht. Es war ein Erfolg. Nach dem ersten staunenden: Was ist denn das?, nach dem ersten Kosten, verschwand der Nudelsalat in Windeseile, und es war ein Essen voller Aufgeregtheit: Etwas Exotisches war auf den Tisch gekommen. Ich war erleichtert, dass eine Studentin mit Bestimmtheit erklärt hatte, sie wollte mir beim Abendessen helfen: Sie würde Maisbrei kochen. Mir stand noch das Mittagessen für den kommenden Sonntag bevor. Und ich erlebte, dass es Knochenarbeit ist, für 24 ausgehungerte Jugendliche auf einer Feuerstelle zu kochen und viele Male das Wasser heranzuschleppen. Während ich Vorbereitungen für das sonntägliche Essen startete, be- gann die Studentin mit großer Ruhe, den runden Topf voller Wasser über die Feuerstelle zu hängen. Ein spezieller Topf für Maisbrei ist üblich in den Häusern dieser Gegend. Ich bemerkte kaum, wie der Mais quoll. Die junge Frau hatte ihn offensichtlich schon viele, viele Male bereitet: Maisbrei, das Nationalessen der Moldauer. Und dann kam auch noch eine Bäuerin aus dem Dorf vorbei und brachte wie selbstverständlich zwei Liter Milch. Die Hungrigen stürmten heran. Bevor sie auf den kargen Holzbänken Platz nahmen, sprachen sie das Vaterunser. Dann wurde der Maisbrei ausgegeben, die Milch gereicht. Und mit einem Male breitete sich eine Stille in dem viel zu engen Raum aus, die mich völlig überraschte und zugleich sehr ergriff. Wie anders saßen meine Freundinnen und Freunde jetzt vor ihren Tellern als mittags beim Nudelsalat. Mit andächtig gebeugtem Nacken löffelten sie still den Maisbrei, nachdem sie den Löffel zuvor in die Milch getaucht hatten. Für einen Moment war mir, als sähe ich bei ihnen ihre Großmütter und Großväter sitzen, ganz in derselben Haltung. “Mamaligutza“, der zärtliche Name für ein Essen, das es in vielen moldauischen Häusern sicher täglich gibt, wenn die Ernte denn gut war. Ich meinte, die Ehrfurcht geradezu riechen zu können vor der Tatsache, dass der Topf mit dem Brei so gut gefüllt war. Und dann sogar Milch! Ehrfurcht von Generationen. Ein heiliges Essen! Mamaligutza! Nein, es gehört nicht auf den Tisch eines Buffets! Aber es stillt einen Hunger, der schwer beschreibbar ist. Jutta Weiß, Pastorin in Kiel, war bis Oktober 2009 Referentin für Ökumenische Spiritualität des NMZ im Christian Jensen Kolleg, Breklum weltbewegt 9 Wie wird der Tee zum Tee? Chinesische Impressionen Katrin Fiedler E ssen ist für das Volk der Himmel“, sagt eine chinesische Redensart. Und wer in China reist, glaubt dies schnell. Ein unsichtbarer Reis-Nudel-Äquator teilt das Land und schafft bereits bei der Hausmannskost eine unübersichtliche Vielfalt: Im Westen wandern Buchweizen, im Norden Weizen und im Süden Reisprodukte in die Essschalen; hinzu kommen regionale Spezialitäten, die von Algensuppe über Wildkräuter bis zu zappelfrischen Fischen reichen. Reisanbau in Guangxi 10 weltbewegt Acht große Regionalküchen kennen die Chinesen, aus deren Hunderten von Zubereitungsformen es ungefähr acht nach Deutschland geschafft haben. Wer sich nach dem Besuch des einen oder anderen deutschen Chinarestaurants aufmacht, ist auf das kulinarische China so gut vorbe- reitet wie ein Italienreisender nach seiner ersten Dose Ravioli. Insbesondere den Kantonesen sagt man nach, „alles zu essen, was Beine hat, außer dem Esstisch, und alles, was Flügel hat, außer Flugzeugen“. So führt der jüngste Wohlstand auch zu experimenteller Kreativität im Spannungsfeld zwischen neuen Geschmackserlebnissen und Geschäftsgelegenheiten: Ob Ameisensaft in der Dose, Maisbonbons oder Fünf-Geschmacks-Erdnüsse – wo ein Wille ist, da ist auch ein Markt. Geradezu klassisch mutet dagegen die in den letzten Jahren sehr populäre Schildkröte an, die man dem Ehrengast, in ihrer klaren Brühe treibend, zur privilegierten Verkostung vorsetzt. Die unter Kadern und städtischen Neureichen mancherorts bereits ausufernde Bankettkultur ist auch ein Produkt jahrzehntelanger Mangelernährung. Trotz massiver Fortschritte im Bereich der Ernährungssicherung sind Schätzungen zufolge immer noch zehn Prozent der chinesischen Bevölkerung unterernährt. Auch langfristig wird Ernährungssicherung für China ein Thema bleiben, denn das Land verfügt nur über sieben Prozent der Welt-Anbaufläche, um damit 22 Prozent der Weltbevölkerung zu ernähren. Neben der gesteigerten landwirtschaftlichen Produktivität sind es daher im Moment vor allem auch Agrarimporte, die die Ernährung im Riesenreich sicherstellen. Jahr für Jahr fallen weitere Ackerflächen der Verwüstung im Norden sowie der Industrialisierung zum Opfer. Die Angst vor dem Verlust von Ackerflächen hat bereits dazu geführt, dass Erdbestattungen – die in China nicht auf Friedhöfen, sondern als Einzelbestattung nach Feng-Shui-Kriterien stattfinden – von der Regierung ungern gesehen werden. Handtuchgroß sind zum Teil die Parzellen, aus denen sich die „Ackerfläche“ von Familien in vielen Bergdörfern zusammensetzt. Geboren sind daher die „typisch chinesischen“ Eigenarten der Küche auch aus der Not. Da Brennmaterial knapp ist, werden die Zutaten zuvor in Stücke gehackt und dann nur noch kurz im Wok, „pfannenrührend“, gegart; wer keinen Sonntagsbraten zerschneiden muss, kommt mit Holzstäbchen prima zurecht und wo die landwirtschaftlichen Überschüsse nicht zur Aufzucht von Vieh reichen, plündert man seit Jahrhunderten die Wildbestände. Vor allem im ländlichen China lautet bis heute der höfliche Gruß: „Hast du schon gegessen?“ Grenzen zwischen Nahrung und Medizin sind fließend Befördert wurde die Herausbildung der monumentalen chinesischen Esskultur auch durch die philosophischen Grundlagen der chinesischen Medizin. Wo „Gesundheit“ Fotos: Deutscher Teeverband (1), NMZ-Bildarchiv (1), A. Knuth (1), Illustration: C. Wenn Von Ameisensaft bis Zimtblütenfisch Und was trinkt man zum Essen? Regionaler Tee gehört zu einem chinesischen Bankett wie der örtliche Wein in manchen Regionen Deutschlands: blumiger Jasmintee im Norden, erdiger Schwarztee in der Provinz Anhui, eleganter Drachenbrunnentee am Westsee, pfirsichartige Wulongtees an der Südküste… Teekultur hat eine lange Geschichte in China. Bereits im 8. Jahrhundert n. Chr. verfasste der Connaisseur Lu Yu den Klassiker zum Tee, das „Chajing“, und legte damit die Grundlagen der chinesischen Teekultur. Bis ins 9. Jahrhundert n. Chr. lässt sich okzidentaler Handel mit chinesischem Tee nachweisen. Zum eigentlichen Exportschlager Schwerpunkt Schwerpunkt wurde er aber erst über die neuzeitlichen Handelswege. Den unterschiedlichen Einfallspunkten, über welche die ausländischen Handelsgesellschaften dabei mit China in Kontakt kamen, verdanken wir noch heute die beiden großen Wortstämme für das Wort „Tee“ in den verschiedenen Weltsprachen. Dort, wo man und „Körper“ mit demselben Wort – shenti – bezeichnet werden, wird der Ernährung als Quelle der Gesundheit besondere Bedeutung beigemessen. Die Grenzen zwischen Nahrung und Medizin sind fließend, auch wenn chinesische Hausfrauen und -männer nicht nach den Prinzipien der “Fünf-ElementeKüche“ kochen – ein Begriff, den man in China selbst nie hört. Aber selbstverständlich werden in vielen Haushalten Nahrungsmittel in „heiße“ und „kalte“ Speisen eingeteilt. In dem Zusammenhang ist nicht ein Aggregatzustand gemeint, sondern Substanzen, die den Körper wärmen, beziehungsweise kühlen. Manche Wohnungen durchzieht auch der strenge Geruch einer Suppe zur Stärkung der weiblichen Körperfunktionen. Bei bikulturellen Paaren wundern sich - laut Studie die nicht-chinesischen Ehepartner anfangs des öfteren über die „seltsamen Zutaten im Kühlschrank“. Über die medizinische Bedeutung hinaus wird Gerichten oft auch ein symbolischer Gehalt zugeschrieben. So sollte man an der Küste während des Essens nie den Fisch auf der Servierplatte umdrehen, um nicht das Kentern des nächsten Fischerboots zu provozieren. Süße Reisbällchen verkörpern zum chinesischen Neujahr die Einheit der versammelten Familie und gehören auf jeden Esstisch; am Vorabend zu Neujahr sollte auf jeden Fall Fisch (yú) geges- Tee über zentralasiatische Handelswege bezog, kannte man ihn unter dem nordchinesischen Begriff „chá“, woraus sich das russische, türkische und persische „chai“ in ihren unterschiedlichen Schreibweisen ableiten. Wo hingegen der Tee zunächst über die Hafenstadt Xiamen bezogen wurde, setzte sich der Begriff „Tee“ beziehungsweise „tea“ durch – abgeleitet vom Begriff „tê“, der im örtlichen südchinesischen Dialekt das Getränk bezeichnet. So trat „thee“ im Gepäck der Dutch East India Company seinen Siegeszug um die Welt an (und fand zum Beispiel über den Umweg des Kolonialismus seinen Weg ins Afrikaans), während die mit dem kantonesischsprachigen Macao handelnden Portugiesen bis heute „chá“ trinken. sen werden, der Überfluss verspricht (ebenfalls yú), und an Geburtstagen verheißen langgezogene Nudeln ein langes Leben. Trotz der Exotik so mancher Zutat ist für viele Ausländer im chinesischen Alltag das einfache Frühstück am schwierigsten zu bewältigen. Mit Wasser zubereiteter Reisschleim und dazu sauer eingelegtes, kaltes Gemüse spiegeln die ländlichen Wurzeln der Küche wieder. In Armutsgebieten müssen Menschen zum Teil bis heute mit zwei gestreckten Mahlzeiten auskommen und durch Einlegen konserviertes Gemüse stellt im Winter eine wichtige Vit- Schriftzeichen für „Tee“ aminquelle dar. Umso wichtiger ist daher allen Chinesen die sorgfältige Zubereitung der jeweils zur Verfügung stehenden Zutaten, ob es sich dabei um ein pochiertes Ei oder geschmorte Froschschenkel handelt. Wenn, wie Soziologen sagen, Kulturen sich durch Ekelgrenzen unterscheiden dann sind die Grenzen in China sehr, sehr weit gezogen. Wer bereit ist, sich auf Ameisensaft und Zimtblütenfisch einzulassen, darf sich zugehörig fühlen, ob als chinesischer Inländer in der Nachbarprovinz oder als ausländischer Gast. Màn màn chi – guten Appetit – oder wörtlich: Iss’ langsam! weltbewegt 11 Kochen ist auch Männersache Kulinarische Eindrücke aus Orissa/Indien S Anna-Katharina Chand mit ihrer Wasserträgerin Niru 12 weltbewegt zenen aus dem Dorf: Zwei Nachbarinnen halten Small-Talk auf der Straße: “Bist Du schon mit Kochen fertig?“ „Welches Curry hast Du denn heute gekocht?“ Über das Wetter wird sich nicht unterhalten. Nach einigen Tagen kommt der Sohn wieder, die Mutter fragt zuerst besorgt, was er denn in dem anderen Dorf zu Essen bekommen hat. Um 13 Uhr kommen Bekannte aus einem Nachbardorf zu Besuch, eigentlich wollten sie nur kurz vorbeischauen, außerdem haben sie zuhause schon gegessen. Trotzdem werden sie genötigt, zum Mittagessen zu bleiben. Erst als sie gegessen haben, ziehen sie weiter. Die Hausfrau kocht danach für die eigene Familie noch einmal. Heute gibt es eben erst um 15 Uhr Mittagessen. Essen spielt in Indien eine große Rolle, allein auch schon deshalb, weil die Zubereitung des Essens viel Zeit in Anspruch nimmt. Es gibt, zumindest auf den Dörfern, kein Fastfood, und so kann die Zubreitung einer Mahlzeit mindestens zwei Stunden dauern. Die Mahlzeit besteht aus Reis, als Sauce Linsen, dazu als Beilage gebratenes Gemüse, das als Curry bezeichnet wird. Das Gemüse ist natürlich scharf, gewürzt mit Chili-, Gelb- wurzpulver und eben Garam Masala, der Gewürzmischung, die wir in Deutschland als Curry bezeichnen. Das Garam Masala stellt jede Hausfrau selbst her und kann daher von Familie zu Familie unterschiedlich schmecken. Mittlerweile gibt es das Gewürz aber auch hier schon fertig zu kaufen. Auf dem Dorf kochen die meisten Familien auf Feuerholz, welches in mühsamer Arbeit gesammelt werden muss. Dafür werden oft weite Wege zurückgelegt, da das Holz immer knapper wird. Das ist die einzige Gelegenheit für Frauen, in die alten Jeans ihres Mannes zu schlüpfen, damit sie so, vor Dornen geschützt, in die Berge ziehen können, um Holz zu schlagen. Langsam halten auch Kerosin-, Gas- oder Elektroherd Einzug, aber Feuerholz ist der günstigste, wenn auch mühsamste Weg, um zu kochen. Gegessen wird zwei bis drei Mal täglich. Also wird auch zwei Mal täglich gekocht. Zum Frühstück gibt es entweder den Reis vom Vorabend, Hirsebrei oder seltener, in Öl gewendete Weizenfladen. Grundsätzlich wird mit der rechten Hand gegessen, die linke Hand gilt als unrein. Der Reis, die Linsen und das Gemüse lassen sich auch zu schönen Bällchen formen, die ein besonderes Geschmackserlebnis versprechen. Wenn kein Geld da ist, um Gemüse zu kaufen oder auch im heißen Sommer, wird der Reis mit Wasser, Salz, grünen Chilischoten und Anna-Katharina Chand ist Krankenschwester und lebt seit 2008 wieder in Litiguda, zusammen mit ihrem Mann, der dort als Pastor tätig ist. rohen Zwiebeln gegessen. Den Reis gibt es nicht fertig abgepackt zu kaufen, sondern er kommt aus eigener Ernte. Er muss dann entweder selbst gemahlen werden oder wird neuerdings auch zur Mühle gebracht, um ihn von der Schale zu befreien. Bevor der Reis gekocht werden kann, muss er noch von Steinen und manchmal auch von Würmern befreit werden. So sieht man am Nachmittag Frauen in Gruppen vor den Häusern sitzen und jede ist damit beschäftigt, ihren Reis zu säubern. Früher wurden die Lebensmittel wie Linsen, Mehl, Zucker in vorgefaltetes Zeitungspapier gepackt. Dies hat sich aber schon innerhalb der letzten fünf Jahre geändert: Alles wird in Plastiktüten verpackt, was natürlich ein Problem darstellt, wenn es keine Müllabfuhr gibt. Es gibt ein Schönheitsideal, zumindest auf dem Dorf, nicht unbedingt dünn zu sein, da Dünnsein für die Menschen hier immer mit Fotos: E. v. d.heyde (1), E. Hofmann (1), Illustration: C. Wenn Anna Katharina Chand Junge in Litiguda Feiern, wenn der erste Reis kommt Kranksein zusammenhängt. Sieht man einen Menschen nach langer Zeit wieder, so unterhält man sich erst darüber, ob dieser nun zu- oder abgenommen hat. Wenn man dann direkt zu hören bekommt: “Du bist aber dicker geworden”, ist dies nicht beleidigend, sondern durchaus als Kompliment gemeint. Langsam stellen sich aber viele die Frage, warum gerade die sechs beleibteren Leute im Dorf in den letzten Jahren an Diabetes mellitus erkrankt sind. Auf dem Dorf gibt es nur frisches Gemüse. Dosen oder fertig geschnittenes Gemüse aus der Tiefkühltruhe gibt es nicht. So ändert sich der Speiseplan je nach Ernte- und Jahreszeit. Dass die Ernte dabei jedes Mal gut ausfällt, ist nicht selbstverständlich. Sobald die ersten Früchte oder das Gemüse heranreifen, wird dieses als Dank innerhalb eines Gottesdienstes zum Altar gebracht. Selbst wenn eine Kuh das erste Mal Milch gibt oder eine Henne das erste Mal ein Ei legt, werden diese Produkte als Dank in die Kirche gebracht. Bevor der erste Reis nach der Ernte gegessen wird, sitzt die Familie zusammen, betet gemeinsam und isst dann den ersten Reis in der Form von süßem Milchreis. In Orissa gibt es sogar einen regionalen Feiertag, um den frisch geernteten Reis zu essen. Auch die beginnende Mangozeit wird unter den Christen feierlich an Ostern begonnen. So verspeisen die Frauen ihre Mangos, nachdem sie ein Bad genommen haben, am Fluss. Essen ist lebensnotwendig, aber um sich auf andere Dinge besser konzentrieren zu können, wird vor großen Festen als Vorbereitung gefastet: vor der Konfirmation, vor der Hochzeit oder teilsweise auch vor dem Abendmahl. Viele Menschen fasten ein bis zwei Mal in der Woche, mittwochs und freitags, und nehmen am Fastengebet teil. Der durch die eingesparte Mahlzeit gewonnene Erlös wird gespendet, um arme Menschen zu unterstützen. Kochen ist nicht nur Frauensache. Einmal im Monat, wenn die Frau ihre Menstruation hat und hier als unrein gilt, kochen die Ehemänner. An großen Festen sind das Kochen, Bedienen und der Abwasch Männersache. Zu Hochzeiten, zu denen Hunderte von Menschen aus allen Religionen und Kasten zusammen kommen, werden nur Brahmanen, die Schwerpunkt höchste Kaste, als Köche engagiert. Das Essen aus ihrer Hand gilt als rein und kann ausnahmslos von allen Kasten gegessen werden. Wenn ein Gast zu einer Mahlzeit eingeladen wird, so wird dieser in besonderer Form geehrt: Alleine nimmt er die Mahlzeit ein, es wird nachgefüllt, auch wenn der Teller noch nicht geleert ist. Erst nachdem der Gast die Mahlzeit beendet hat, unterhält man sich. Die Gastgeber essen erst anschließend. Mahlzeiten werden nicht gemeinsam am Tisch eingenommen, zumal es in den meisten Häusern keinen Tisch gibt und auch nicht den Platz, um zusammen zu sitzen. Die Kommunikation findet während der langen Zubereitungszeit statt. Während der Mahlzeiten konzentrieren sich alle nur auf das Essen und schweigen meistens, um in den vollen Genuss des Mahles zu kommen. Es ist eine Frage der Zeit und des Geldes vielleicht, bis Fastfood hier Einzug hält, aber mindestens so lange gilt hier das Sprichwort, dass nur das Essen mundet, das mit Zeit und Liebe zubereitet ist. Zu dieser indischen Gewürzmischung gehören 1 - 2 Kardamonkapseln 1/4 - 1 EL schw. Pfefferkörner 2 - 3 Kreuzkümmelsamen 3 - 4 EL Koriandersamen 1/2 - 1 TL Chilipulver 1 TL Gewürznelken 1 - 2 Zimtstangen 1 EL Fenchelsamen 1/2 - 1 TL Ingwerpulver 1/4 geriebene Muskatnuss Alle Gewürze einzeln leicht in der Pfanne rösten (außer Chili, Pfeffer, Muskatnuss und Ingwerpulver!) und in eine Schüssel geben. Mit einem Mörser oder Mixer fein vermahlen. In einem luftdicht verschließbaren Glas aufbewahren. weltbewegt weltbewegt 13 13 Der Welthungerindex (WHI) erfasst statistische Daten zu Hunger und Unterernährungssituationen in Staaten der Erde. Er wurde 2006 erstmals von dem Internationalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik entwickelt und zusammen mit der Welthungerhilfe veröffentlicht. Seit 2007 gehört auch die irische Nichtregierungsorganisation Concern Worldwide dazu. Jedes Jahr wird der Index zu einem Schwerpunktthema ermittelt. Im Jahr 2009 waren es 121 Entwicklungs- und Schwellenländer, deren Daten erhoben wurde, 84 davon wurden in einer Rangliste klassifiziert. 14 weltbewegt Im WHI werden unterschiedliche Aspekte von Hunger und Unterernährung angegeben. Dazu werden drei gleichwertige Indikatoren zugrunde gelegt: Indikator 1: Anteil der Unterernährten (Menschen, die ihren täglichen Kalorienbedarf nicht decken können) an der Bevölkerung eines Landes in Prozent Indikator 2: Anteil der Kinder unter fünf Jahren mit Untergewicht (die als Folge davon an Gewichtsverlust bzw. zu geringem Wachstum leiden) Indikator 3: Die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren (Relation von Nährstoffmangelversorgung und schlechtem Gesundheitszustand) Very British W Quelle: Welthungerindex 2009 Quelle: Wikipedia John Beer ie die Deutschen können auch die Briten über ihr Essen definiert werden. Denken Sie an Roast Beef, das oft mit „Yorkshire Pudding“, gemacht aus einer Art Eierkuchenteig, gegessen wird. Der französische Einfluss hat uns merkwürdige Namen für Fleisch gegeben: Wir essen „beef“ (bœuf), nicht „cow“ (Rindfleisch), „pork“ (porc), nicht „pig“ (Schweinefleisch), „mutton“ (mouton), nicht „sheep“ (Hammelfleisch). Wir umhüllen auch ein Fischgericht in Teig und essen es mit frittierten Kartoffeln – „Fish and Chips“. Die Schotten lieben ein merkwürdiges Gericht mit dem Namen „Haggis“. Es wird aus Herz, Leber und Lunge eines Schafes zubereitet. Und wir lieben sahnigen Kartoffelbrei („creamed mashed potato“) mit der Art von Würstchen, die kein Deutscher, der etwas auf sich hält, Würstchen nennen würde! Aber seit den 70er Jahren hat uns unsere multikulturelle Gesellschaft indisches und chinesisches Essen gebracht. Auch italienische Pasta und Pancetta. Tikka Masala, das ein Engländer als typisch indisches Gericht erfunden hat, verkauft sich besser als jedes andere Gericht im Supermarkt. Und es sind Supermärkte, die unsere „cheap food culture“ befördert haben, bei der der Preis und nicht die Qualität alles ist und Tiefkühlprodukte und Fertiggerichte als die schnellste Zubereitungsweise von Essen verkauft werden. Viele Familien haben selten gemeinsame Mahlzeiten und machen dafür Zeitmangel oder das Fernsehen verantwortlich. Damit ist ein wichtiges Bindeglied für Beziehungen verlorengegangen. Mahlzeiten sind häufig zu „Tankstellen“ geworden und werden immer seltener genutzt, um miteinander zu reden. Fotos: E. Fuchs (2), C. Hunzinger (1) Die Daten für den WHI 2009 wurden aus verschiedenen Quellen aus den Jahren 2002 2009 zusammengestellt. Der bestmögliche Wert liegt bei 0 und der schlechteste bei 100. Je höher der Wert, desto schlechter die Ernährungslage. Schwerpunkt Paradoxerweise sind die britischen Medien gesättigt von Sendungen über Essen und Trinken mit Sterneköchen und Rezepten. Der Wunsch zu kochen ist sicherlich vorhanden. Doch scheinbar sehen sich die Menschen lieber Köche im Fersehen an, anstatt selbst zu kochen. Auch durch den wachsenden Wohlstand ist es für viele erschwinglicher geworden, auswärts zu essen und sogar der traditionelle britische „Pub“, der einst nur Getränke servierte, bereitet gutes, wenn nicht billiges, Essen und verdient Geld, indem er Wein mit einer Gewinnspanne von 300 Prozent anbietet! Fettleibigkeit ist zu einem wichtigen gesundheitlichen Problem geworden. Es gibt zu viel Fett, Salz, Zucker. Aber billiges Essen braucht Fett und Salz, um es schmackhaft zu machen, und schon kleine Kinder können leicht Geschmack an diesen Dingen finden. Abnehmen wäre da gut. Aber es scheint, als würden sich auch in dem Fall viele lieber Fernsehsendungen zum Thema anschauen, statt selbst abzunehmen. Es ist viele Jahrzehnte her, dass die britische Durchschnittsfamilie Eier und Schinken zum Frühstück aß. Die meisten essen nun Müsli, Cornflakes und Obst, aber anders als die Deutschen keine Wurst oder Käse. Doch wenn sie sich im Urlaub etwas Gutes gönnen wollen, bestellen die Briten „a full English breakfast“ (gebratener Speck, Ei, Würstchen, Bratkartoffeln, Pilze). Gleichwohl, wenn dieser Engländer nach Nordelbien kommt, verlangt ihn nach diesen wundervollen deutschen Frühstücken, und, wenn es richtig kalt ist, Grünkohl – natürlich ohne das Schweinefett! The Venerable John Beer, Archdeacon of Cambridge und Vorsitzender des “Northelbe Committee” in der englischen Partner-Diözese Ely – Übersetzung: Christa Hunzinger weltbewegt weltbewegt 15 15 Orientalischer Family Day D er Orient gibt an diesem herrlichen Sonnabend ein Gastspiel in Othmarschen. In der kleinen Küche des Gemeindehauses der Christuskirche wirbeln zwei Männer und drei Frauen, arabische Zurufe gehen hin und her, exotische Düfte liegen in der Luft. Auf den Küchentischen stehen Schüsseln und Bleche voller geschnittener Zwiebeln, Artischocken, Gurken und Knoblauchzehen. Im Flur schneiden Helfer Tomaten und Paprika, dazwischen toben Kinder. Ein Essen mit fünf Gängen soll der Höhepunkt des „Orientalischen Family Day“ sein. Knapp 70 Gäste sind der Einladung des Nordelbischen Missionszentrums an diesem Sonnabend nach Othmarschen gefolgt. „Wir wollen Räume schaffen, um Begegnung zu ermöglichen“, beschreibt Dr. Detlef Görrig vom NMZ die Intention der Veranstaltung, die ein Programmpunkt der „Kulturwochen Mittlerer Osten“ ist. Das Essen soll dafür quasi ein Katalysator sein. „Heute kochen wir typisch arabische Gerichte, aber 16 weltbewegt alles vegetarisch“, sagt Dr. Mohammed Khalifa, „zum Beispiel Bamia mit Okra-Schoten, Zwiebeln und Tomaten oder Moussaka, ein Auflauf mit Auberginen und Kartoffeln.“ Der freundliche Ägypter ist im Hauptberuf Dozent für Arabistik, Geschichte und Kultur des Vorderen Orients an der Universität Hamburg. Heute ist Khalifa quasi Küchenchef, koordiniert die 15 Helfer, die das Essen vorbereiten. In der Küche setzt Kejal Hasan gerade Kartoffeln auf. „Bei uns hilft man sich immer gegenseitig“, sagt die Kurdin aus dem irakischen Teil Kurdistans, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt. „Das geht nicht nur schneller, sondern macht auch noch mehr Spaß.“ Dann eilt sie in den benachbarten Saal, wo ihr Sohn einen Auftritt hat. Er gehört zum Kindermusikensemble „Sol“, das auf der Bühne unter der Leitung des irakischen Musikers Ali Shibly arabische und deutsche Lieder darbietet, zum Beispiel das alte deutsche Kinderlied „Alle Vöglein sind schon da“ in arabischem Gewand – mit Mandolinen, Klavier und Schlaginstrumenten. Auch eine interkulturelle Begegnung. Nach dem Auftritt der Kinder hat Mohammed Khalifa ein wenig Zeit, in einem Nebenraum Fragen zur orientalischen Esskultur zu beantworten. „Im arabischen Orient ist es Sitte“, so führt er aus, „dass man nicht allein isst. Wenn man kocht, dann fragt man automatisch den Nachbarn oder einen Freund, ob er mit einem essen möchte.“ Auch wenn unangemeldet Gäste kämen, so seien die selbstverständlich zum Essen eingeladen. In Deutschland sei es dage- gen oft noch etwas Offizielles, jemanden zum Essen einzuladen. Während der gestresste Mitteleuropäer die Nahrungsaufnahme häufig eher nebenbei erledigt, wird dem Essen im arabischen Kulturraum tendenziell noch mehr Bedeutung beigemessen. „Orientalen lassen sich mehr Zeit, die Dinge zu genießen. Das Essen hat eine zentrale Bedeutung“, sagt Khalifa, „und wenn man isst, lässt man sich dabei auch nicht stören.“ Eine große Rolle spielt das Essen auch beim höchsten islamischen Fest, dem Opferfest. „Es wird gemeinsam gekocht, mit viel Fleisch. Nach dem Besuch der Moschee besucht man Verwandte und Bekannte, es gibt Kleinigkeiten zu essen und zu trinken, die Kinder bekommen Süßigkeiten“, erklärt der Ägypter. Als er aus seiner Heimat nach Deutschland kam, machte Khalifa in Bayern die erste Bekanntschaft mit der deutschen Küche. „Klöße kannte ich aus Ägypten nicht“, berichtet er lachend, „und Sauerkraut auch nicht. Das hab ich richtig genossen.“ Dass an diesem Sonnabend Deutsche ins Gemeindehaus der Christuskirche gekommen sind, um orientalische Küche kennenzulernen, freut ihn, auch wenn er auf mehr deutsche Besucher gehofft hatte: „Aber da ist wohl doch noch eine Hemmschwelle.“ Die Veranstaltung sei auf jeden Fall „ein Signal dafür, dass sich die Araber voll integrieren wollen“. Eine besondere Tradition des Orients ist auch die Gastfreundschaft, die sogar in einzelnen Suren des Korans ausdrücklich als Verpflichtung benannt wird. „Gäste sind bei uns heilig“, sagt dazu Mahmoud Khalifa, der Bruder von Mohammed Fotos: N. Gehm (4), Illustration: C. Wenn Kristian Stemmler Schwerpunkt Während die Erwachsenen kochen, gibt es ein Märchen für die Kinder Khalifa, der zu den freiwilligen Helfern in der Küche gehört. „Das ist auch bei ärmeren Leuten so, die selbst nicht viel zu essen haben. Haben sie einen Gast, wird alles aufgetragen, selbst wenn die Familie am nächsten Tag nichts mehr zu essen hat.“ Von dieser orientalischen Großzügigkeit weiß auch Hanna Lehming vom NMZ zu berichten. Sie erzählt die Geschichte von einer Deutschen, die mit einem Ägypter verheiratet ist und Besuch von den Schwiegereltern empfing. „Bevor die Schwiegereltern zum Stadtbummel aufbrachen, fragte die Frau sie, wieviel Kartoffeln sie zum Mittagessen haben wollten“, sagt Hanna Lehming. „Die wären fast abgereist.“ Im Orient ist es üblich, dass als Zeichen der Gastfreundschaft so lange Speisen gereicht werden, bis der Gast abwinkt oder vom Tisch aufsteht. Da wurde die Frage der Schwiegertochter als unhöflich empfunden. In der Küche sind die Vorbereitungen für das Essen abgeschlossen, die Helfer können sich ausruhen. Im benachbarten NMZ unterhält ein Märchenerzähler die Kinder, die Kleineren spielen auf dem Spielplatz hinter dem Gemeindehaus, die Erwachsenen sitzen draußen in der Sonne. Hanna Lehming freut sich über die „entspannte Atmosphäre“. Von der Qualität der orientalischen Küche können sich die Besucher dann beim gemeinsamen Essen, dem Höhepunkt des Programms überzeugen. Im Flur werden Tische zusammengestellt und mit weißen Tischtüchern bedeckt. Dann werden die Schüsseln aufgetragen. Bevor es los geht, versammeln sich alle um die Tische und singen für ein Mädchen, das heute Geburtstag feiert: „Zum Geburtstag viel Glück!“ – auf deutsch, arabisch und kurdisch. Nach diesem verbindenden Erlebnis ist das Buffet freigegeben. Die Besucher verteilen sich mit dem Essen im Flur und in den Räumen. In einer Ecke des Eingangsbereichs genießen Silke Kröger und Doris Möller, beide Lehrerinnen an der Grundschule Lurup, den Nach- tisch, Konafa, der mit Butter, Creme Caramel und Ananas gemacht wird. „Super lekker“, finden sie übereinstimmend. Auch die Kartoffeln und die Okraschoten haben ihnen geschmeckt. Was sie mit orientalischer Esskultur verbinden? „Dass man sich viel Zeit lässt“, antwortet Silke Kröger. Auch Barbara Greiner findet das Essen „köstlich“. Sie lobt die Initiative: „Es ist ein gelungener Tag. Ich halte es für wichtig, derartige Veranstaltungen zu initiieren, um zu einer besseren Verständigung zu kommen.“ Sie verbindet mit orientaltischer Esskultur vor allem Großzügigkeit und Vielfalt. Nach dem Essen gibt es noch einen kleinen Sprachkurs mit Dr. Khalifa und seinem Bruder, die einige arabische Vokabeln vermitteln. Wer will, dem wird sein Name in arabischen Schriftzeichen aufgeschrieben. Detlef Görrig sei „insgesamt zufrieden“ mit dem Verlauf der Veranstaltung. Seine Bilanz: „Es sollte in Zukunft darum gehen, noch mehr Begegnungsräume für Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zu schaffen. Wenn Menschen gemeinsam etwas tun, zum Beispiel eine Mahlzeit vorbereiten und zusammen essen, spricht man viel eher über alltägliche Dinge. Das kommt in herkömmlichen Diskussionsveranstaltungen oft zu kurz. Veranstaltungen wie diese sind ermutigend für die Zukunft.“ Mohammed Khalifa am orientalischen Büfett Hanna Lehming, Referentin für christlich-jüdischen Dialog und Dr. Detlef Görrig, Referent für christlich-islamischen Dialog, gehören zu den Initiatoren der Veranstaltung weltbewegt 17 Geiz ist verpönt Ein kulinarischer Tag in Tansania D ie Sonne geht gerade auf über Mbeya, einer der kleineren Großstädte Tansanias im SüdWesten des Landes. Überall in der Stadt wird Wasser auf Kohle- oder Gaskochern zum Brodeln gebracht. Man trifft Vorbereitungen zum ersten Tee am Tag. Danach wird es auch noch etwas Festes zum Frühstück geben. Von Cassava, Kochbananen und frittiertem Ge-bäck über Eier und Teigtaschen mit Fleisch gefüllt bis hin zu Rinder- oder Hühnersuppe. Für jede Einkommensklasse und jeden Geschmack etwas. Schulkinder, die in den Schulen wohnen, bekommen in der Regel eine Art Brei aus Maismehl mit sehr viel Zucker. Anschließend werden Kühe und Ziegen nach draußen in den Garten oder an den Straßenrand zum Grasen gebracht. Einige Dorfbewohner 18 weltbewegt bugsieren ihr Schwein in ein Fass auf den Gepäckträger eines Fahrrades, um es zum Schlachter zu bringen. Einen Karren kann sich nicht jeder leisten. Heute ist ein ganz normaler Tag auf dem Markt. Überall hört man Händler feilschen und ihre Ware anpreisen. Im Hintergrund kreischen Hühner. Die ersten Stände, die ich entdecke, sind mit Saison-Früchten gefüllt: Zurzeit sind es Orangen und einige übrig gebliebenen Ananas. Dahinter sehe ich Kartoffeln, Reis und Maismehl – die Grundnahrungsmittel der Bevölkerung in dieser Region. Die Frau, bei der ich immer mein Gemüse kaufe, kommt freudig auf mich zu und begrüßt mich strahlend. An ihrem Stand gibt es fast alles: Kohl, Gurken, Tomaten, Zwiebeln, Paprika, Karotten bis hin zu Trauben und Äpfeln. Nach eini- gem Handeln – das ist hier üblich – gehe ich weiter zu dem Fleischstand. Die Stücke hängen am Haken – und sind damit luftig getrennt vom aufgeheizten Wellblechdach. Etwas weiter entfernt gackern Hühner in Käfigen. Fleisch gehört zu den Luxusgütern. Auf dem Markt gibt es sonst alles, was man noch zum Kochen braucht: Öl, Gewürze, auch Körbe, Töpfe und sogar Kohleöfen. Kurz vor Mittag beginnen die Essensvorbereitungen. Es gibt Reis, festen Maisbrei, Kochbananen oder frittierte Kartoffelstücke mit Bohnen, Erbsen, Spinat oder Fleisch und eventuell eine Banane oder Avocado zum Dessert. Wer nicht selber kocht, kann sich seine Mahlzeit von den zahlreichen Straßenverkäufern besorgen. Gegessen wird meist im Freien. Die Grundnahrungsmittel variieren in Tansania und sind abhängig Fotos: J. Bollmann (1), M. Hanfstängl (1), J. Peters (1), Illustration: C. Wenn Jendrik Peters Schwerpunkt UGALI mit Bohnenoder Gemüsesauce Zutaten für eine Bohnen- oder Gemüsesauce (für 4 Personen) 500 g trockene Bohnen oder frisches Gemüse 3 Zwiebeln 2 grüne Paprika 500 g Tomaten Öl von der Region. An der Küste werden meist Fisch und porridge (ugali) aus Maismehl, Hirse, und Maniok gegessen. Im mittleren tropischen Hochland gehören Bananen zu den Grundnahrungsmitteln, die auf verschiedene Weise zubereitet werden. Dann gibt es den „Maisgürtel“, in dem vorwiegend Mais gegessen wird. Fast die Hälfte der Tansanier ernährt sich vorwiegend von Fleisch und Milch mit Porridge. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben vom Ertrag ihrer Landwirtschaft. Am Abend bin ich bei einer tansanischen Familie zum Essen eingeladen. Sie gehört zu den etwas wohlhabenderen Familien. So gibt es hier eine Soda als Willkommensdrink. In der Regel werden zur Begrüßung Tee oder – wie auf dem Dorf – eine frische Kokosnuss serviert. Die Mahlzeit wird von den Frauen des Hauses vorbereitet. Nur zur Begrüßung schaut die Gastgeberin einmal kurz ins Wohnzimmer. Es soll ein Huhn geben. Der Sohn der Familie zeigt mir, wie man es schlachtet, rupft und ausnimmt. Als das Essen fertig ist, begeben wir uns ins Esszimmer. Zu Beginn bringt die Gastgeberin warmes Wasser zum Hände waschen. Anschließend wird ein längeres Gebet gesprochen. Man bedankt sich für das, was man am Tag geschenkt bekommen hat. Das kann auch schon einmal fünf Minuten dauern. Als Gast wird mir zuerst angeboten, dann bekommen Gastgeber und die Erst-Geborenen, danach sind die Jüngeren dran. Unauffällig versuche ich, am Essen zu schnuppern. Eine Geste, die als unhöflich gilt. Sie wird als Misstrauen dem Essen gegenüber gedeutet. Inzwischen hat mir die Hausherrin eine Riesenportion aufgetan. Gastgeber versuchen grundsätzlich immer mehr zu geben, als sie eigentlich haben. Bereits am Morgen serviert man übervolle Becher Tee, um nicht als geizig zu gelten. Ich sitze nun vor meinem Teller gefüllt mit Pilau, einem Gemisch aus Reis, Fleisch und Kartoffeln und Hähnchen – alles mit Gewürzen veredelt. Stolz erzählen sie mir, dass alles aus eigenem Anbau beziehungsweise vom eigenen Feld kommt. Sie bauen, wie viele andere, auch an, um durch den Verkauf der Ernte Geld dazu zu verdienen. Wir beginnen zu essen, alle mit der rechten Hand, wie es sich gehört. Ich bin inzwischen in Übung – denke ich. Trotzdem biete ich Anlass zu Gesprächsstoff und einigen Lachern. Man isst langsam. Nach dem Essen wird erneut Wasser geholt. Nach ausführlichem Bedanken fürs Essen und Kommen werde ich von den Gastgebern nach Hause gebracht – und bin wieder um eine herzliche Erfahrung reicher. Bohnen waschen und einige Stunden oder über Nacht weichen lassen. Danach auf kleiner Flamme kochen lassen. Zwiebeln, grüne Paprika und Tomaten schneiden. Zwiebeln und Paprika in etwas Öl braten, bis die Zwiebeln hellbraun sind. Tomaten hinzufügen und braten, bis alles gar ist. Die gekochten Bohnen hinzufügen, mit den übrigen Zutaten gut durchmischen und etwas Wasser hinzufügen für eine Sauce. Weiter auf kleiner Flamme kochen, bis es servierfertig ist. Zutaten für Ugali (Porridge) 1 kg Mais, Hirse, Maniok (Körner o. Mehl) 500 ml Wasser Mais (oder Hirse, Maniok) mit dem Mörser zerstoßen oder Maismehl nehmen. Mit einem Drittel des Wassers verrühren und es langsam über der Feuerstelle aufkochen. Anschließend unter Rühren mehr und mehr Mehl – und bei Bedarf Wasser – hinzufügen und verrühren. Langsam etwa 5 bis 10 Minuten weiterrühren, dabei die Hitze reduzieren, bis der Brei sehr dick wird. Vorbereitungszeit: 30 Minuten (die Bohnen müssen vorher eingeweicht werden), Kochzeit: 40 Minuten. Jendrik Peters lebt zurzeit in Mbeya/ Tansania. Er besucht das Land als „Freiwilliger“ im Rahmen des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“. weltbewegt 19 MUMU – ein Festessen für viele Menschen „Essen hält die Familie zusammen“ Interview mit Hofagao Kaia Ulrike Plautz Haben sich die Gewohnheiten geändert? Leider ja. Es wird süßer gegessen als früher und man kann beobachten, dass in den letzten fünf Jahren Menschen dicker geworden sind. Aber noch hat sich diese Entwicklung nicht durchgesetzt. Nach wie vor essen die Menschen sehr traditionell. Es gibt mittlerweile zwar einige Restaurants, die jedoch meist von Touristen und nur wenigen wohlhabenden Einheimischen besucht werden. Welchen sozialen Stellenwert hat das Essen in Ihrer Kultur? Der ist hoch. Die gemeinsame Mahlzeit hält die Familie zusammen. Häufig werden auch Nachbarn kurzfristig zum Essen eingeladen. Die Mahlzeit ist demnach nicht nur für die Familie, sondern auch für den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft sehr wichtig. In einer Erdkuhle werden Steine und Holz aufgeschichtet und ein Feuer angezündet (1). Auf die erhitzten Steine werden Bananenblätter, Gemüse und Fleisch gelegt (2). Zur Abdeckung wieder Bananenblätter, darüber heiße Steine (3). Alles zusammen gart ein paar Stunden (4). Nach ca. drei Stunden ist das Essen fertig (5). 20 weltbewegt Fotos: H. Lehming (2), C. Wenn (1), M. Khalifa (1), H. Heidenreich (5), Illustration: C. Wenn/NMZ Wie sieht die Esskultur der Menschen in Papua-Neuguinea aus? Es wird jeweils zwei Mal am Tag gekocht und zwar eher etwas Herzhaftes. Meist gibt es Süßkartoffeln, unser Grundnahrungsmittel, dazu etwas Gemüse. Anders als ich es hier kennen gelernt habe, gibt es morgens kein Brot zum Frühstück. Zwischendurch gibt es dann etwas Obst, zum Beispiel Passionsfrüchte, Mangos, Ananas und Bananen, die bei uns übrigens ganz anders schmecken als hier. Manche essen zwischendurch auch Zuckerrohr. Die Menschen leben von dem, was sie selbst anbauen. Das ist natürlich abhängig von der Region. Auf dem Hochland wird eher Gemüse gegessen und an der Küste gibt es viel Fisch, zum Beispiel Aal oder Krabben und Muscheln. Immer mehr Menschen kochen mit Reis, allerdings sind das eher die Wohlhabenden in der Stadt, da Reis importiert werden muss. Die Zubereitung des Essens kann eine Stunde und länger dauern, da alles aus frischen Zutaten gekocht wird. Die Mehrheit, die in den Dörfern lebt, kocht über offenem Feuer. Dagegen bereiten die Stadtbewohner ihr Essen auf einem Elektroherd zu. Kochen gilt bei uns übrigens als unmännlich und ist Frauensache. Dass meine Brüder kochen, ist eher eine Ausnahme. Schwerpunkt Forum Forum Erfolgreiche Begegnungen Detlef Görrig M it 22 Veranstaltungen und rund 2000 Besuchern sind die „Kulturwochen Mittlerer Osten“ erfolgreich verlaufen. Aber was heißt Erfolg, wenn es um die Vermittlung eines Kulturraumes geht, der so facettenreich wie unabgrenzbar, so historisch und religiös bedeutsam wie politisch konfliktreich ist. Ein erster Erfolg besteht darin, diese Vielschichtigkeit zuzulassen. Orient, arabische oder islamische Welt, das sind Zuschreibungen, die die komplexe Wirklichkeit verkürzen. Der Mittlere Osten ist nicht nur islamisch oder arabisch, er ist auch persisch und syrisch, aramäisch und armenisch, jüdisch und christlich. Das zu sehen bewahrt davor, Grenzen zu ziehen, wo es Übergänge und Mischungen gibt. Der Neffe des äthiopischen Kaisers, Dr. Asserate, betonte die Veränderlichkeit von Kultur: Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen, zitierte er im Völkerkundemuseum. Ein weiterer Erfolg ist die Wahrnehmung der Vielfalt hier bei uns. Unzählige Menschen leben in Hamburg, die biographisch in der Region zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean, zwischen Rotem und Kaspischem Meer ihre Wurzeln haben. Zudem sind viele Hamburgerinnen und Hamburger mit dem Mittleren Osten durch Reisen, persönliche Freundschaften oder ehrenamtliches Engagement verbunden. Es gibt Gesellschaften, die sich bestimmten Länderbeziehungen widmen, Organisationen, die Hilfsprojekte unterstützen und Vereine, die sich für den kulturellen Austausch engagieren. Sie alle miteinander ins Gespräch zu bringen, war eines der Ziele beim Kulturfest Marhaba, zu dem etwa 120 Personen kamen. Gemeinsame Wurzeln entdecken Schließlich ist es ein Erfolg zu nennen, wenn wir uns auf die verschiedenen religiösen Traditionen einlassen, die ihren Ursprung im Nahen und Mittleren Osten haben. Ob Mekka oder Jerusalem – die Wallfahrtsorte der monotheistischen Religionen sind seit alters her durch Karawanenwege, politische Großreiche und regen Handel verbunden. Es ist die Region, in der auch die Überlieferungen von Abraham lokalisiert werden, ein Gott Suchender, der sich auf den Weg machte. Judentum, Christentum und Islam haben unterschiedliche Traditionen, aber in allen spielt Abraham, spielt das Pilgern eine Rolle. Das wurde beim Podium über die Pilgerziele der Religionen deutlich. Nach islamischer Vorstellung wandelten Abraham und sein Sohn die Kaaba zum Pilgerort um, und das Opferfest, zu dem jedes Jahr Millionen muslimischer Pilger nach Mekka aufbrechen, erinnert an die durch Gott unterbundene Opferung des Sohnes Abrahams, von der schon Eröffnung der Fotoausstellung mit arabischen Fotografen die Bibel erzählt. Die jährlichen jüdischen Passah-, Wochen- und Laubhüttenfeste waren bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels ebenfalls Wallfahrtsfeste und noch heute machen sich Juden aus aller Welt zu den Festtagen auf den Weg nach Jerusalem, um dort an der Westmauer des ehemaligen Tempels ihre Gebete zu sprechen. Christen, die sich in Jerusalem und Galiläa auf die Spuren Jesu begeben, erleben das oft als Fünftes Evangelium. Es gibt viel zu entdecken – im Mittleren Osten und bei uns. Die Kulturwochen haben das gezeigt, und sie haben gezeigt, wie erfolgreich es sein kann, sich zu begegnen. Gemeins am feiern und essen Dr. Asserate Konzert mit Elija Avital Zur aktuellen Situation im Iran weltbewegt 21 „An old man in a hurry“ Zum Tod von Dr. Kunchala Rajaratnam D r. Kunchala Rajaratnam verstarb am 7. April 2010 im Alter von 89 Jahren. Er hinterlässt vier Kinder, Enkel und Urenkel. Es sind vor allem die kleinen Szenen, die mich immer wieder an ihm beeindruckt und tief bewegt haben. Studenten, die auf ihn zutraten und um Hilfe baten, fanden ein offenes Ohr und Unterstützung. Jugendliche hatten in ihm ein Sprachrohr, wenn es darum ging, auf Missstände in der Kirche hinzuweisen und nach neuen Formen gelebten Glaubens zu suchen. Er war für alle ansprechbar und hatte immer Zeit. Ich traf Dr. Rajaratnam das erste Mal im Frühjahr 1995. Wir, eine Gruppe von Vikarinnen und Vikare der Nordelbischen Kirche, saßen in Chennai im Church Women’s Center und warteten auf den „Doctor“, wie er von vielen nur genannt wurde. Seinem klangvollen Namen ging bereits ein Ruf voraus. Als er dann – mit angemessener Verspätung – in unserer Runde Platz nahm, nahm er scheinbar selbstverständlich alle unsere Aufmerksamkeit in Beschlag. Er beeindruckte durch seine konzentrierte Präsenz und Lebendigkeit. Er hörte alle Fragen so interessiert, als erfahre er sie zum ersten Mal – und antwortete mit einem Engagement und einer Begeisterung für die Sache, die es uns erleichterte, seine Sache auch zu unserer zu machen. Dr. Kunchala Rajaratnam hatte die Gabe, Ideen zu entwickeln und Menschen zu bewegen, ihren Glauben in aktives Handeln umzumünzen. Er lebte die Vision, dass die Kirche eine Dienerin der Welt sei und ließ nicht nach, dies immer wieder und in voller Konsequenz anzumahnen. Kunchala Rajaratnam studierte Wirtschaftswissenschaften und pro22 weltbewegt movierte 1964 an der London School of Economics. Dieser Blickwinkel blieb auch in allen seinen kirchlichen Aktivitäten unübersehbar. Seit 1971 hat er das Gurukul Lutheran College and Research Institute geleitet. Er hat sich dort dafür eingesetzt, dass die Ausbildung der zukünftigen Pastorinnen und Pastoren den Kontext von Armut und Ausgrenzung der indischen Gesellschaft wahrnehmen und reflektieren muss. Dalit Theologie und Women’s Studies wurden verpflichtende Studienfächer. Beobachter und Mahner Von 1975 bis 1979 arbeitete er für den Lutherischen Weltbund (LWB) als Asienreferent in der damaligen Abteilung für Kirchliche Zusammenarbeit. Von 1985 bis 1990 war er Mitglied des Exekutivkomitees des LWB. Zurück in Indien gründete Dr. Kunchala Rajaratnam 1979 das Forschungszentrum für eine neue internationale Wirtschaftsordnung (Centre for Research on New International Economic Order) mit Sitz in Chennai. Hier verband sich das wirtschaftswissenschaftliche Interesse mit dem Wunsch, die Kirchen in ihrem Engagement für die Rechte der Ausgegrenzten und Armen zu beraten, Menschen zu schulen und fortzubilden. Das Dorfentwicklungsprojekt WIDA, das gemeinsam mit dem NMZ und dem LWB aufgebaut wurde, ist ein Produkt der neuen Ideen und entwicklungstheoretischen Ansätze, die in diesem Zusammenhang entwickelt wurden. Bis 2002 fungierte er als Exekutivsekretär der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche in Indien (UELCI) – der insgesamt elf lutherische Kirchen angehören – und war auch Chefredakteur des Kirchenmagazins „The Indian Lutheran“. Viele Jahre war er Vorsitzender des Nationalkomitees des LWB in Indien. Daneben hielt er als engagierter Bürger und lutherischer Christ weitreichende Verbindungen zu Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und engagierte sich für ein enges Zusammenwachsen aller Kirchen in Indien. „Die Kirche ist ein Verein für Nichtmitglieder“, war ein Satz, den er gern zitierte und durch den er immer wieder darauf verwies, dass die Wahrhaftigkeit der Frohen Botschaft sich angesichts der Lebenswirklichkeit der Menschen zeigen muss. Bis zum Schluss blieb er ein wacher Beobachter und scharfzüngiger Mahner angesichts der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in seiner Kirche, in seinem Land und in der Welt. In den letzten Jahren seines Lebens hat ihn die Sorge um die Zukunft dessen, was er mit so zahlreichen Institutionen und Organisationen aufgebaut hat, nicht losgelassen. „An old man in a hurry“ hat er ein spätes Projekt für die Absicherung der UELCI und des Gurukul Colleges genannt. Dies war das Stichwort seines inneren Pulsschlages. Täglich hat er – und wenn auch nur für wenige Stunden – seinen Schreibtisch weiter aufgesucht. Die große Aufgabe hat ihn unablässig beschäftigt. Mir wird Dr. Rajaratnam als lebensfroher, liebenswerter und vielseitig interessierter Mensch, als engagierter Christ und unerbittlicher Mahner, als guter Zuhörer und wunderbarer Freund in Erinnerung bleiben. Ich bin dankbar für alle Gelegenheiten gemeinsamer Arbeit. Ich habe viel von ihm gelernt. Fotos: C. Kienel (1), E. v. d. Heyde (1), NMZ-Bildarchiv (2), S. Geßner (1) Eberhard von der Heyde