Anerkennung durch Dialog: Zur ethischen Grundlage

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Kyeong-Bae Lee
Anerkennung durch Dialog:
Zur ethischen Grundlage des Verstehens
in Gadamers Hermeneutik
kassel
university
press
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Erziehungswissenschaft / Humanwissenschaften der
Universität Kassel als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der
Ingenieurwissenschaften (Dr. phil.) angenommen.
Erster Gutachter: Prof. Dr. Hans-Georg Flickinger
Zweiter Gutachter: Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Tag der mündlichen Prüfung
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar
Zugl.: Kassel, Univ., Diss. 2007
ISBN print: 978-3-89958-648-0
ISBN online: 978-3-89958-649-7
URN: urn:nbn:de:0002-6493
© 2009, kassel university press GmbH, Kassel
www.upress.uni-kassel.de
Druck und Verarbeitung: Unidruckerei der Universität Kassel
Printed in Germany
30. November 2007
Für meine Mutter
Vorwort
Im Vorwort könnte der Verfasser die Entstehungsgeschichte des Verfassten ankündigen, wie
das Verfasste zustande kommt, wer sein Gesprächspartner im spürbaren Werdegang war, wie
der philosophische Denkanstoß, der von vornherein nur embryonal geblieben ist, zu seiner
eigenen Form hingeführt wird. Denn jedes Sinngewebe hat ihre eigene Entstehungsgeschichte,
die die gesamten Phasen skizziert. Für die vorliegende Anfertigung meiner Arbeit habe ich in
erster Linie Prof. Dr. Hans-Georg Flickinger, der mit mir diesen langen Weg durchgängig
zusammengeht, zu danken. Ohne seinen unentbehrlichen Anstoß und seine dauerhafte
Betreuung wäre die Dissertation zu dieser vorliegenden Form nicht durchführbar gewesen. Er
war immer bei dem gesamten Entstehungsprozess meiner Arbeit mit den vielen Gesprächen,
die mir die wissenschaftlichen Impulse verliehen und mich zur fachlichen Erkenntnis ermutigt
haben. Ihm gilt mein besonderer Dank. Ich verdanke auch Prof. Dr. Wolfdietrich SchmiedKowarzik, der mir in der Arbeitserstellungszeit viele philosophische Anlässe zum anderen
Denkhorizont gegeben und die persönliche Unterstützung gewährt hat. Außerdem gilt mein
Dank auch Prof. Dr. Thomas Göller und Prof. Dr. Gottfried Heinemann, die beide im
Dissertationsverfahren mit mir über die Grundeinsicht der Arbeit kritisch, aber hilfsreich
diskutiert haben. Mein Lerngang, der durch die philosophischen Diskussionen mit den
Professoren/in, Prof. Dr. Heidrun Hesse, Prof. Dr. Stefan Majetschak und apl. Dr. Heinz
Eidam erfüllt wird, verpflichtet mich auch zum persönlichen Dank.
Ohne die finanzielle Unterstützung meiner Mutter und meines Bruders wäre mein
langjähriges Studium nicht leichter gewesen. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen. In
den schwierigen Phasen haben meine Frau und meine Tochter, Han-Ul, mich stets emotionell
unterstützt und mir den Mut gegeben. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Schließlich danke ich
auch meiner jüngsten Tochter, Ga-ram, die noch ihren ersten Blick auf die Welt erwartet.
Kassel, im November 2007
Lee, Kyeong-Bae
Tag der Disputation: 30. 11. 2007
Inhaltsverzeichnis
Einleitung .................................................................................................................................. 1
Erster Teil: Hegel–Repräsentation in Gadamers philosophischer Hermeneutik ............ 13
I. Die Bedeutung der ontologischen Erfahrung vor dem Hintergrund der Ontogenese des
Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes.......................................................... 19
I - 1. Wohin soll das Bewusstsein führen? - Das Ziel der dialektischen Darstellung .............. 19
I - 2. Die Erfahrung des Bewusstseins: Der Verstand im relativen Verhältnis........................ 26
I - 3. Zum ontologischen Wesen von Selbst und Leben: Die Wechselbeziehung des
Selbstbewusstseins ................................................................................................................... 30
II. Das Prinzip der Anerkennung in der früher Zeit ................................................................. 37
II - 1. Der Begriff der Liebe in der Frankfurter Zeit: Das Streben nach der Befreiung vom
Leiden an der Zerrissenheit ...................................................................................................... 40
II - 2. Die Perspektive der politisch–gesellschaftstheoretischen Philosophie in der frühen
Jenaer Zeit ................................................................................................................................ 47
2 – 1. Die Selbstnegation und die Selbstidentifizierung im Naturrechtsaufsatz ...................... 47
2 – 2. Liebe und Anerkennung als das Prinzip der Sozialbeziehung zwischen den Subjekten
im „System der Sittlichkeit“..................................................................................................... 52
III. Das Anerkennungsverhältnis in der Geistesphilosophie 1803/04, 1805/06....................... 64
III – 1. Die mediale Intimbeziehung zwischen Ich und Du ..................................................... 69
III – 2. Die freiwillige Reintegration des Ichs ins Wir–Bewusstsein....................................... 89
IV. Die Anerkennungsbewegung zum Lebensganzheitshorizont als ontologischer Grundlage
für die Lebendigen in der Phänomenologie des Geistes ........................................................ 106
IV – 1. Das Anerkennungsverhältnis des Selbstbewusstseins in der ungestillten Sehnsucht
nach dem Lebensganzen......................................................................................................... 106
IV – 2. Die anerkennende Gewissensdialektik von dem „Schönen“ und dem „Bösen“ ........ 123
Exkurs zur Ethos–Ethik: Die Sittlichkeit als eine Lebensform (Rüdiger Bubner) ................ 137
V. Resümee – Von einer reflexiven Abgeschlossenheit zum spielerischen
Reflexionsverhältnis der ästhetischen Erfahrung ................................................................... 151
Zweiter Teil: Die ontologische Struktur der hermeneutischen Erfahrung im
Verstehensmodell ................................................................................................................. 161
I. Die Geschichtlichkeit der Erfahrung des hermeneutischen Bewusstseins ......................... 166
I – 1. Die ontologische Grundlage der Erfahrung: Die Rehabilitierung der Vorurteile als die
Vorstruktur des Verstehens .................................................................................................... 166
1 – 1. Gadamers Kritik am neuzeitlichen Ideal des Objektivismus und des Subjektivismus 167
1 – 2. Die unentrinnbare Angewiesenheit des menschlichen Verstehens auf das
hermeneutische „Vor“ ............................................................................................................ 181
I – 2. Die Wirkungsgeschichte als das Prinzip des Verstehens: Die überlieferte Tradition und
die Rekonstruktion in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit....................................... 197
I – 3. Das distanzierende Verstehen und die Sinnrekonstruktion .......................................... 217
I – 4. Das Bewusstsein der Endlichkeit und die hermeneutische Offenheit .......................... 229
II. Die Zirkelbewegung und die Erwartung der Sinnganzheit ............................................... 239
II – 1. Wagnischarakter im Verstehen: Die Hin– und Herbewegung zwischen dem Eigenen
................................................................................................................................................ 239
II – 2. Der Sinnhorizont der Erwartung auf den Sinnvollzug ................................................ 247
II – 3. Die Horizontverschmelzung als die wahrhafte Verständigung ................................... 255
Dritter Teil: Vom Verstehen des Textes zur Verständigung im Dialog .......................... 263
I. Die dialogische Verständigung als die Gemeinsamkeitsbildung durch die sprachliche
Vermittlung ............................................................................................................................ 268
I – 1. Die Universalität der Sprache, in der wir sind.............................................................. 268
I – 2. Hören auf das Ungesagte, das wir im Gesprächsverhältnis ständig aussagen wollen .. 293
I – 3. Dialog als Urphänomen des Denkens: Woran orientiert sich die dialogische
Gesprächsführung?................................................................................................................. 304
II. Die dialogische Ethik im Gesprächsverhältnis.................................................................. 327
II – 1. Aristoteles’ phronesis in Bezug auf den Platonischen Dialog .................................... 327
II – 2. Praktische Applikation als die Vollzugsform des dialogischen Verstehens................ 344
Ein kurzer Ausblick ............................................................................................................. 351
Literaturverzeichnis............................................................................................................. 354
Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Gadamers philosophischer Hermeneutik und zwar
unter einer Grundthese: Dialog ist ethisch. Die aufgestellte These bedarf keiner
Demonstration, die durch das logische Schlussverfahren bewiesen werden soll, sondern sie
schließt von Anfang an vor allem den Fragehorizont, was ein Dialog ist, ein. Sie weist
überdies auf die inhaltliche Annahme hin, dass der Dialog die ontologische Grundlage stiftet,
auf der das Ethische sich verwirklicht und konkretisiert. Nun könnte hier ohne die weiteren
Bestimmungen von „Dialog als Ethik“ die Rede sein. Aber Gadamers philosophische
Hermeneutik ist von vornherein dialogisch und zugleich dialektisch, insofern sie die
Grundstruktur der menschlichen Erfahrung als die offene Bewegung im „Zwischen“ von
Wiederholung und Differenz auffasst. Wenn hier einerseits gezeigt wird, dass sie im Grunde
dialogisch ist, besagt dies, dass das hermeneutische Verstehen von der erfahrenen Begegnung
mit dem Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit ausgeht. Da das hermeneutische
Verstehen im Prinzip auf die Sachwahrheit in der dialogischen Teilnahme des
Gesprächspartners abzielt, kann man andererseits sagen, dass philosophische Hermeneutik
auch dialektisch ist. Der hermeneutische Anspruch in dieser Dialogdialektik stellt die ethische
Verhaltensweise aller Beteiligten, die nicht von einem abgeleiteten Dritten, sondern von der
jeweils gegenwärtigen Dialogsituation verlangt wird, in den Vordergrund, weil jeder der
Beteiligten die ethische Verantwortung für seinen Anderen, nämlich einerseits das Zuhören
auf die Andersheit und andererseits die daraus folgende Beantwortungspflicht, übernimmt,
damit er sich nicht nur über seinen Anderen, sondern auch über sich selbst verständigen kann.
Von daher wird sich zeigen, dass der Dialog sich immer schon auf einer ethischen Grundlage
bewegt, sofern die menschliche Erfahrung mit dem unendlichen Bezug auf den Anderen
zustande kommt.
Im Allgemeinen gilt, dass die Hermeneutik von vornherein auf die Frage abzielt, was
Verstehen sei. Mit dieser Aufgabenstellung will sie nicht eine exakte Methodik aufstellen,
sondern dasjenige, was im Verstehen passiert, wie Verstehen stattfindet, phänomenal
darstellen. Deshalb wurde öfter gesagt, Hermeneutik sei die „Kunst des Verstehens“. Aber
diese Kunst verweist keinesfalls auf eine Art und Weise der Beherrschung einer ihr
zugeordneten Methode oder den Besitz eines erstarrten Wahrheitskriteriums. Vielmehr geht
Hermeneutik
vom
Einwand
gegen
das
Ideal
des
naturwissenschaftlichen
Methodenbewusstseins aus, das sich auf die unentbehrliche Spaltung von Subjekt und Objekt,
nämlich auf eine Objektivitätsinstanz stützt. Von diesem Ausgangspunkt aus fasst sie das
1
Verstehen als die menschliche Welterfahrung ins Auge. Aus der hermeneutischen Sicht ist das
Verstehen mithin die existenzielle „Seinsweise“ des Menschseins. So ist es das unentrinnbare
Grundphänomen aller Erfahrungen, nämlich der menschliche Weltbezug selbst.
Im Anschluss an ihre Grundauffassung von der existenziellen Umgangsstruktur der
menschlichen Erfahrung mit der Welt, bemüht sich Hermeneutik um die Bewahrung des
Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit. Hierbei zeigt die Unabgeschlossenheit des
Verstehensverlaufes bzw. die Unaufhebbarkeit der Andersheit uns dasjenige an, was die
Hermeneutik sich fragt. Die Unerschöpfbarkeit des Anderen ist der Grundbestandteil der
Hermeneutik, weil die Hermeneutik sich immer die Frage stellt, was zu verstehen ist. Wenn
alles endgültig verstanden werden könnte, dann gäbe es keine hermeneutische Erfahrung.
Aber wir dürfen dabei nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass die Idee einer
absoluten Vollendung des Verstehens auf das eschatologische Ende der menschlichen
Erfahrung verweist und dass das Verstehen die unendliche Bewegtheit in seiner
Selbstbeziehungsstruktur findet, insofern es sich immer wieder auf das Verstandene zurück
beziehen muss. Aus diesem Grund fragt die Hermeneutik nach dem Missverstehen und dem
Nicht–Verstehen als Rahmenbedingungen für das Verstehen. Was die Nichtverstehbarkeit
angeht, gibt es in der hermeneutischen Sicht nichts, das absolut nicht zu verstehen wäre. Denn
das Nicht–Verstehen selber rückt das zu Verstehende in den Vordergrund: Was nicht
verstanden wird, das schließt unmittelbar den Impuls des Verstehenwollens ein. Aufgrund
seiner Auffälligkeit verleiht das Nicht–Verstehen uns den Anstoß, dass wir verstehen wollen
und müssen. Allerdings müssen wir bemerken, dass dasjenige, das vollständig unverständlich
ist, jenseits des Verstehens liegt. Aus der hermeneutischen Sicht setzt die prinzipielle
Verstehbarkeit unseren Willen zum Verstehen voraus. 1 Bei uns geht es um das Missverstehen.
1
2
Zur wohlwollenden Hermeneutik, die von Georg Friedrich Meier verlangt wird, vgl. Wolfgang Künne,
„Prinzipien der wohlwollenden Interpretation“, in: Intentionalität und Verstehen, hrsg. v. Forum für
Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1990, S. 212 – 236. Uns ist auch die jüngste Debatte, die mit
Derridas Nachfrage bei Gadamer begonnen hat, bekannt. Innerhalb des umstrittenen Diskussionsrahmens, der
im Pariser Symposium im Jahr 1981 stattfand, hat Derrida hauptsächlich nach der hermeneutischen
Willensstruktur zum Verstehen eine verdächtige Frage gestellt, wenn es auch in der Anfangsphase von
Derridas Fragestellung um Heideggers Nietzsche–Interpretation gegangen war. Derridas These lautete: Der
gute Wille zum Verstehen sei auch der Wille zur Macht. Im Anschluss an den Verdacht hinsichtlich der
Machtstruktur im menschlichen Verstehensversuch hat die Dekonstruktion darauf hingewiesen: Das Verstehen
muss das Missverstehen sein. So muss jedes Verstandene unabdingbar in den Zustand eines Verlustes an
Glaubwürdigkeit verfallen sein. Vgl. Jacques Derrida, „Guter Wille zur Macht (I) – Drei Fragen an Hans–
Georg Gadamer“, S. 56 - 58 und ders., „Guter Wille zur Macht (II) – Die Unterschriften interpretieren
(Nietzsche/Heidegger)“, in: Text und Interpretation – Deutsch–französische Debatte mit Beiträgen von J.
Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H. – G. Gadamer, J. Greisch und F. Laruelle, München 1984, S. 62 – 77.
Zudem zu Derridas Denkposition in Verbindung mit dieser Debatte, vgl. Heinz Kimmerle, „Gadamer, Derrida
und kein Ende“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (Jg. 16), hrsg. v. J. Simon, Stuttgart 1991, S. 59 –
69 und auch Derrida unter der philosophiegeschichtlichen Denklinie, ders., „Ist Derridas Denken
Ursprungsphilosophie? – Zu Habermas’ Deutung der philosophischen >>Postmoderne<<“, in: Die Frage nach
dem Subjekt, hrsg. v. M. Frank u. a., Frankfurt a. M. 1988, S. 267 – 282. In der Festrede zur Gedenkfeier an
Sofern wir etwas verstehen wollen, trifft uns stets die Gefahr des Missverständnisses. Da das
menschliche Verstehen ins Missverstehen gefallen sein kann, bedarf das Verstehen am
Leitfaden der wechselseitigen Einwirkung im Dialogverhältnis der hermeneutischen
Anstrengung, in deren Verlauf alle Vormeinungen durch die innere Selbstkritik überprüft
werden und wir vermittels der Selbstkorrektur den richtigen Zugang zur Welt und die
treffende Umgangsweise mit dem Anderen finden können.
In der unaufhörlich suchenden Orientierung am Selbstverständnis setzt die
hermeneutische Verständlichkeit keine vollständige Ich–Objektivierung in Gang, sondern ist
im unerschöpfbaren Fremdbezug verwurzelt. So können wir sagen, dass das Verstehen das
des Anderen ist. Im wechselseitigen Verhältnis zu jeweils Anderen steht das menschliche
Verstehen immer zwischen der Aneignung und der Differenz: Das Verstehen vollzieht sich in
der Bewegung, die als der hermeneutische Zirkel bezeichnet wird. In der hermeneutischen
Perspektive der unauflösbaren Zirkelbewegung des Verstehens meint die Aneignung hier
jedoch nicht die endgültige Aufhebung der Andersheit, sondern sie kommt immer mit der
Bewahrung der Andersheit des Anderen zu sich selbst. 2 So geht es beim hermeneutischen
Gadamer am 15. Feb. 2003 in Heidelberg hat Derrida auch Gadamers Perspektive auf den inneren Dialog in
den Vordergrund gestellt, wenn es auch in seiner Rede hauptsächlich um die Interpretation zu Paul Celans
Gedicht „Atemwende“ geht. Die hermeneutische Denkstruktur des inneren Dialogs zugestehend, sagt Derrida:
„Und doch war ich mir sicher, daß wir von nun an auf eine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen
würden. Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eine Vorahnung: Was Gadamer
wahrscheinlich einen >>inneren Dialog<< genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden,
manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder indirekt.“ (S. 8) Vgl. Jacques Derrida, „Der ununterbrochene
Dialog: Zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht“, in: Jacques Derrida Hans–Georg Gadamer Der
ununterbrochene Dialog, hrsg. v. Martin Gessmann, Frankfurt a. M. 2004, S. 7 – 50. Darüber hinaus hat
Habermas in einer anderen Denkrichtung den eigenen Anspruch auf die „Tiefenhermeneutik“, die von Alfred
Lorenzer begründet wurde, gegen die hermeneutische Vorstruktur erhoben. Damit hat er die therapeutische
Funktion der Psychoanalyse, die Kommunikationsstörung in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen
aufzuklären, als das Vorbild des menschlichen Verstehens bevorzugt. Vgl. Jürgen Habermas, „Der
Universalitätsanspruch der Hermeneutik“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971, S. 120 –
159. Aber dennoch ist es leicht vorzustellen, dass die Tiefenhermeneutik immer schon auf die noch tieferen
Schichten gerichtet ist und um ihrer selbst willen den Begründungsanspruch auf die letzte Instanz erhoben hat.
Auch zum Denkansatz der objektiven Hermeneutik, die wir die objektive Sozialforschung nennen sollten,
gegen die Subjektivität in der Tiefenhermeneutik, vgl. Ulrich Oevermann, „Die objektive Hermeneutik als
unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der
Tiefenhermeneutik“, in: >>Wirklichkeit<< im Deutungsprozeß – Verstehen und Methode in den Kultur– und
Sozialwissenschaften, hrsg. v. Thomas Jung und Stefan Müller–Doohm, Frankfurt a. M. 1993, S. 106 – 189.
2
Vgl. Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach
Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1985, S. 21 Anm. 11, S. 33. Dort weist er darauf hin, dass Gadamers Dialog
aufgrund seines Universalsubjektivitätscharakters unmittelbar mit Hegels Absolutem Geist identisch sei.
Hinsichtlich des Stellenwerts des Anderen im hermeneutischen Verstehensvorgang hat er auf das Verhältnis
der Gadamerschen Hermeneutik zu Hegels subjekttheoretischen, systemphilosophischen Ansprüchen sein
Augenmerk gerichtet. An dieser Stelle glaubt er von nun an, dass Gadamers Dialog, wie die Homogenität des
absoluten Wissens in Hegels Systemphilosophie sich gezeigt hat, die Individualität des Anderen letztendlich
auch aufzuheben scheint. Sein Vorwurf gegen Gadamers Dialogdenken ist deshalb mit der Kritik an der
„Horizontverschmelzung“ zugespitzt. So verstanden scheint auch Gadamers Aufnahme von Hegels Formel,
Selbsterkenntnis im „Anderssein“, insbesondere eine totale Vermitteltheit zu skizzieren, an deren Endpunkt
die Andersheit mit dem Erreichen des Einverständnisses als Horizontverschmelzung aufgesaugt wird. Aber
sein verkürzter Einwand gegen Gadamers Hermeneutik hat m. E. zwei wichtige Punkte aus den Augen
3
Verstehen immer um den unabschließbaren Bezugspunkt aller Betroffenen, der bei Gadamer
als das „hermeneutische Zwischen“ bezeichnet wird. Das Zwischen zeigt sich als das
unendliche Wechselverhältnis, in dessen Licht das Verstehen als solches stattfindet. Dies gibt
uns auch den entscheidenden Hinweis, dass dem Verstehen die Anerkennung der
unaufhebbaren Andersheit des Anderen stets zugrunde liegt. Darüber hinaus müssen wir in
Anknüpfung an Gadamers Grundeinsicht in den Ereignischarakter des Verstehenssinns
bemerken, dass die Unaufhebbarkeit der Andersheit nicht eine bloße Forderung der
Hermeneutik ist, sondern die hermeneutische Grundbedingung für die menschliche Erfahrung
prägt. Von daher lässt sich sagen, dass das hermeneutische Verstehen nie zu Ende kommt,
seine Grenze bereits anerkennt: Die absolute Vollendung des Verstehens des Anderen ist
mithin ein Grenzfall.
Aus der hermeneutischen Einsicht in die mitkonstitutive Funktion der Andersheit des
Anderen in jedem Verstehensakt können wir nunmehr auf die Ethik eingehen, die in
Gadamers Dialoghermeneutik erarbeitet werden soll. Die Ethik des dialogischen Verstehens, 3
wie es genannt werden soll, vollzieht die Anerkennungsbewegung im Blick auf den
Lebensvollzug. Da die Anerkennungsbewegung sich innerhalb des unabschließbaren
Gesprächsverhältnisses zwischen dem Antworten und dem Vernehmen vollzieht, geht das
dialogische Verstehen ohne den ethischen Impuls nicht weiter. Außerdem haben wir bereits
gesehen, dass das hermeneutische Verstehen allererst von der Anerkennung des Anderen,
3
4
verloren: Einer ist die hermeneutische „Offenheit“ gegen Hegels systemphilosophische, teleologische
Abgeschlossenheit. Der Andere ist in Gadamers Begriffsgebrauch „die hermeneutische Reflexion“, wenn
Gadamer die Selbsterkenntnis im Anderssein als den Grundzug der Reflexivität der hermeneutischen
Erfahrung aufgefasst hat. Die hermeneutische Reflexion ist bei Gadamer die Wiedererkenntnis des
hermeneutischen Bewusstseins, dass es seine geschichtliche Abhängigkeit, Begrenztheit erkennt. Hier ist die
Wiedererkenntnis des hermeneutischen Bewusstseins weder die Wiedergabe des Ur-Ich noch die Rückkehr
zum unhintergehbaren Grund, sondern sie ruft das Vergessene in Erinnerung, d. h. sie ist ein reflexiver
Rückgang zum verlorenen Selbst mit Hilfe der unauflöslichen Mitkonstruktion der Andersheit des Anderen. In
diesem Sinne fängt die hermeneutische Reflexion, Gadamer zufolge, weder mit dem „Nullpunkt“ an, noch
kommt sie zu einem Ende.
Zu Gadamers Denkansatz zur ethischen Haltungsweise im hermeneutischen Dialogverhältnis in Bezug auf
Gadamers Denkentwicklung, vgl., Hans–Georg Flickinger, „Pädagogik und Hermeneutik – Eine Revision der
aufklärerischen Vernunft“, in: Praktische Philosophie und Pädagogik, Kasseler Philosophische Schriften 37,
hrsg. v. Heinz Eidam u. Frank Hermenau, Kassel 2003, S. 120 - 131. Zur Ethik der „Interpretation“, vgl.,
Michael Hofer, Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit – Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer
und Schleiermacher, München 1998, insb. S. 119 ff. Bezüglich der Interpretationsethik lautet seine These,
dass die Hermeneutik im Prinzip darauf hinweist, „eine Ethik der Interpretation auszuarbeiten, ja die
Hermeneutik insgesamt und somit den Verstehensakt als ethisches Unterfangen aufzuweisen.“ (S. 11 – 12) Im
kurzen Selbstanzeigen über diese Arbeit bemerkt er, dass „durch die generelle Unterbelichtung der
Selbstbewusstseinsthematik [...] sich die neuere Hermeneutik über weitere Strecken um ein beträchtliches
Begründungspotential im Rahmen einer >>Ethik der Interpretation<< [bringt], die Verstehen begründen und
Anerkennung sichern will.“ Vgl., ders., „Michael Hofer: Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen
und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher. München 1998, S. 298“, in: Dilthey – Jahrbuch, Bd.
12, Göttingen 2000, S. 275 – 277. Unter dieser Hypothese der Selbstbewusstseinskonzeption hat er versucht,
die subjekttheoretische Begründung unter drei verschiedenen Argumentationsrichtungen, d. h.
„epistemologisch“, „erkenntnistheoretisch“, „konstitutionstheoretisch“, aus der Hermeneutik zu erarbeiten.
nämlich von der Bereitschaft zum Verstehen des Anderen ausgeht. An dieser Stelle ist
nunmehr festzuhalten, dass die Annahme des Anderen als Partner den dialogdialektischen
Weg 4 von Selbstbehauptung und Selbstüberprüfung, von Bejahung und Verneinung eröffnet,
dass der hermeneutische Sinnvollzug sich durch den sich entfaltenden Prozess zur
Selbsterkenntnis bzw. zur bewussten Anerkennung der Andersheit ereignet.
Im Anschluss an den engen Zusammenhang von Verstehen und Anerkennen legt die
philosophische Hermeneutik ihr Augenmerk über die Textinterpretation hinaus zur ethischen
Haltung und zur zwischenmenschlichen Verständigung im Gesprächsverhältnis, kurzum, über
die theoretische hinaus zur praktischen Philosophie, weil das Verstehen als die menschliche
Erfahrungsweise bereits auf den Fremden, den Anderen angewiesen ist. Insofern hat das
Verstehen den Fremden, den Anderen zu seinem Gegenstand und umgekehrt nimmt der
Fremde bzw. der Andere seinen Stellenwert als ein Grundelement des Verstehens ein. Das
hermeneutische Verstehen sieht deshalb nicht nur die Interpretation der schriftlich fixierten
Texte und der Kunstwerke als seine Aufgabe an, sondern stellt vor allem die
zwischenmenschliche und zwischenkulturelle Verstehensaufgabe in den dialogischen
Prozessen in den Vordergrund. Angesichts dessen geht es in der Hermeneutik um die
Andersheit in der stetigen Distanzierung zum Eigenen, weil der Andere nur mit Bezug auf das
Selbst, nämlich ein Anderer für den Eigenen im oszillierenden Wechselverhältnis ist: Dass der
Andere als Anderer gezeigt und aufgefasst wird, setzt deshalb voraus, dass er in Bezug auf
das Selbst als Anderer anerkannt, verstanden wird. So gesehen ist der Andere nur gegenüber
dem Selbst als Anderer und der Fremde ist auch nur gegenüber dem Eigenen als Fremder. Für
Gadamer ist der Andere im Dialog weder das substanzielle Subjekt noch die andere Person,
die an sich unhintergehbar fixiert bleibt, sondern der Andere ist immer schon ins
Gesprächsverhältnis eingelassen. Mit dem Eintritt ins Gespräch ist der Andere nicht mehr die
reflexiv erworbene Ichheit als ein evidentes Personalpronomen in jedem Urteilssatz, sondern
der Andere ist selber darin nur ein Aufrufendes „du“ oder ein Sagendes „ich“. Hinter diesem
dialogischen Austausch von Aufrufen und Sagen bleibt das Selbst unthematisiert. Aber
4
Vgl., Herbert Schnädelbach, „Dialektik und Diskurs“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Jg. 12, hrsg.
v. J. Simon, Stuttgart 1987, S. 1 – 24. Hier hat er in erster Linie versucht, die Dialektik von dem Dialog,
sozusagen dem Diskurs abzusondern. Im Anschluss an diese Unterscheidung hat er andererseits den Anspruch
auf die metaphysische Vernünftigkeit, in seinen Worten, „negative Metaphysik“ erhoben. Denn der Dialog,
auf den die Hermeneutik aufmerksam gemacht hat, habe in seinen Augen die ‚dialektische’ Zugänglichkeit für
die Wahrheit unterschätzt. Aber sein Konzept zur negativen Metaphysik in Orientierung an Adorno lässt m. E.
den ständig thematisierten Wahrheitsanspruch im dialogischen Suchen außer Acht. Zur hermeneutischen
Erwägung gegen den Anspruch von H. Schnädelbach, vgl., Jean Grondin, „Ist die Hermeneutik eine Krankheit?
– Antwort auf Herbert Schnädelbach“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 45, hrsg. v. Otfried
Höffe, Frankfurt a. M. 1991, S. 430 – 438. Hierbei kommt es noch mehr darauf an, die Wahrheit mit dem
hermeneutischen Bewusstsein der Geschichtlichkeit der menschlichen Vernünftigkeit philosophisch in
Verbindung zu bringen.
5
dennoch ist anzunehmen, dass das Selbstwissen in jedem Ich–Sagen immer „da“ ist. 5 Damit
deklariert die ontologische Differenz von nun an keinen unüberwindbaren Abgrund, sondern
sie selber ist bereits auf den dialogischen Spielraum der Verstehbarkeit bezogen. Dass
Gadamers philosophische Hermeneutik ohne die Ethik nicht verstehbar ist, dass sie die
ethische Grundlage in unserem lebensweltlichen Dialogverhältnis achtet, dies basiert von
vornherein auf dem hermeneutischen Bewusstsein, dass die existentielle Erfahrung der
Unaufhebbarkeit der Andersheit eine ontologische Grundvoraussetzung für das Verstehen sei.
Insofern
liegt
die
Anerkennung
der
Andersheit
nicht
in
der
sollenslogischen
Handlungsdimension, die immer aus einem begründeten Prinzip deduktiv abgeleitet wird,
sondern das Verstehen selber ist die Anerkennungsbewegung, die die ethischen Implikationen
sichtbar macht.
Gadamers Auffassung, derzufolge das menschliche Verstehen sich immer schon im
Anerkennungsverhältnis befinde, dass das Verstehen als ein menschlicher Wesenszug in der
Welt deshalb ethisch sei, erlaubt es nunmehr uns mit Hegel auseinanderzusetzen, ja auf
Hegels Konzeption zur geschichtlichen Selbstentwicklung und zur wechselseitigen
Anerkennungsbewegung zu rekurrieren. Hierbei geht es insbesondere um Hegels Denken der
Geschichtlichkeit der Erfahrung des Bewusstseins, nämlich die ontogenetische Ausbildung
des Selbstbewusstseins und die Wechselseitigkeit bei der Selbstausbildung in seiner
Phänomenologie
des
Geistes.
Gemäß
Gadamers
Einsicht
in
die
wechselseitige
Angewiesenheit der menschlichen Erfahrung auf die Andersheit habe Hegels Philosophie
eindrucksvoll bewusst gemacht, dass unsere Erfahrung sich geschichtlich und wechselseitig
entfaltet und entwickelt, dass die Selbstausbildung des Selbstbewusstseins deshalb mit dem
stetigen Bezug auf die Andersheit des Anderen verbunden sei: Das Bewusstsein von Ich steht
mithin im zwischenmenschlichen Bezug. An diese Denkweise Hegels knüpft Gadamers
Hermeneutik an; aber dennoch ist die Aufnahme des Hegelschen Denkens in die Hermeneutik
weder eine reproduktive Wiederherstellung noch eine restaurative Wiedergabe, weil die
5
6
Zu den subjektivitätstheoretischen Selbstbewusstseinsmodellen unter der modernphilosophischen
Denktradition von Descartes über Kant, Fichte, Hegel bis zu Husserl, Heidegger, vgl., Klaus Düsing,
„Strukturmodelle des Selbstbewußtseins – Ein systematischer Entwurf“, in: Fichte – Studien, Bd. 7, hrsg. v.
Klaus Hammacher u. a., Amsterdam 1995, S. 7 – 26. Vom Zirkeleinwand gegen die modernen
Subjektivitätstheorien ausgehend hat er hier in Orientierung an Husserls „phänomenologisches
Horizontmodell“ und Heideggers existenzielles „In–der–Welt–Sein“ sein Konzept für das
Selbstbewusstseinsmodell vorgelegt. Sein Denkansatz zum „Mitbewusstsein“ erlaubt uns zu erwähnen, dass
das Selbstbewusstsein ein „begleitetes“ Bewusstsein, wie es genannt werden soll, sei. Es ist eine Tatsache,
dass wir ein Bewusstsein von etwas haben, wenn wir etwas wahrnehmen. Aber es liegt auch auf der Hand,
dass das Bewusstsein von Ich sich innerhalb eines solchen Wahrnehmungshorizontes unthematisch mitbewegt.
Keiner kann davon sprechen, etwas ohne das Selbst wahrzunehmen und bewusst zu machen. Das bedeutet,
dass das Selbst als Subjekt im Bewusstsein von etwas immer dabei bleibt, aber dennoch davon keine klare
Vorstellung haben muss.
Hermeneutik es von vornherein als ihre Aufgabe ansieht, die alte Überlieferung dem
gegenwärtigen Anspruch angemessen zu vergegenwärtigen. So behält Gadamers Hermeneutik
besonders die anerkennende Wechselwirkung unter den Menschen im bewussten Rückgang
zum Selbst in Hegels Philosophie im Auge. Zugleich distanziert sich Gadamers Hermeneutik
kritisch vom reflexionsphilosophischen, teleologischen Denkzug in Hegels Philosophie: Das
Subjekt weiß dort mit seiner reflexiven Denkkraft vollständig um sich selbst und ist zudem
mit sich selbst substanziell verschlossen. Hegel glaubte den grundsätzlichen Zirkel zwischen
„ich denke“ und „ich bin“ mit der Reflexionskraft des denkenden Ichs aufbrechen zu können. 6
Aber aus Gadamers hermeneutischer Sicht ist Hegels philosophischer Anspruch auf die totale
Vermittlung zwischen dem Sein und dem Denken, nämlich die vollendete Einigkeit von der
Wahrheit und der Geschichte in einem homogenen System, eine überfordernde Ermächtigung
der subjektiven Reflexivität. Für uns wird deshalb ersichtlich, dass die teleologische
Ontogenese von Anbeginn in Hegels Systemphilosophie auf das „absolute Wissen“ gerichtet
ist, dem das Ideal der Reflexionskraft des denkenden Ichs zugrunde liegt. Im Anschluss an die
teleologische Intention können wir auch bemerken, dass dahinter Hegels Glaube an die
subjektive Allwissenheit vorausgesetzt ist. Auf dem ausgeführten Endpunkt, wo das denkende
Ich das bewusste Selbstwissen ergreift, geht das absolute Wissen selber auch über den
geschichtlichen Wandel hinaus, d. h. es ist über das Sein hinweg übergeschichtlich. In
6
Zu Hegels Selbstbewusstseinstheorie im Deutschen Idealismus, vgl., Walter Schulz, „Das Problem des
Selbstbewußtseins in Hegels System“, in: Philosophisches Jahrbuch, Jg. 91, hrsg. v. Hermann Krings,
Heinrich Rombach u. a., Freiburg/München 1984, S. 1 – 15. Hier betont er, dass Hegels Subjektivitätstheorie
zuerst im Zusammenhang mit seinem gesamten System verstanden werden muss. Denn sie selbst skizziert die
Negation der selbstsüchtigen Einzelheit und den ontogenetischen Aufstieg zur intersubjektiven Ordnung, in
Hegels Wort, zum absoluten Geist. Im Anschluss an die subjektphilosophische Formel des Selbstbewusstseins,
dass das Bewusstsein sich seiner selbst bewusst ist, liegt Hegels Einsicht darin, dass das Ich von etwas als
Meinigem weiß, und dass das Ich darin von mir weiß. Hierbei ist Hegels Grundüberlegung bereits
vorausgesetzt, dass das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein ein und dasselbe sind. Solche gelungene
Gleichwertigkeit zwischen dem Bewusstsein und dem Selbstbewusstsein garantiert von nun an die reflexive
Selbstdurchsichtigkeit und die Selbstumsetzung in Freiheit. Aber wir können den reflexionsphilosophischen
Denkzug der Selbstbestimmung des Subjekts vor allem in Fichtes Subjektivitätsphilosophie finden. Es kann
hier zuerst gezeigt werden, dass Fichtes Konzept für das philosophische Ich–Bewusstsein von der Frage, wie
das Selbstbewusstsein ohne die unendliche Iteration gedacht werden kann, ausgeht, während seine Vorgänger
sie aus den Augen verloren haben, weil solche Theoretiker nur die prinzipielle Begründungsfunktion im
Selbstbewusstsein betrachten. Fichtes Erwägung dieser Frage weist darauf hin, dass das Bewusstsein von ‚Ich’
von vornherein die reine Tätigkeit sei, die im Prinzip von der Zirkularität des subjektiven Reflexionsaktes
abgetrennt ist. Dass das Ich von vornherein tätig ist, heißt bei Fichte, dass von „Ich“ immer gesprochen wird,
wenn ich in einem Sprachakt „ich bin“ sage. Von daher lässt sich sagen, dass von „Ich“ dort immer vorher
gesprochen wird, wo das Ich zu sich selbst „ich“ sagt. Das Ich–Sagen zeigt von nun an einen gleichzeitigen
Akt von dem Wissenden und dem Gewussten. Denn „ich bin“ ist ohne das Ich–Bewusstsein nicht sagbar, aber
das gewusste Ich–Sagen ist dennoch ohne die Vorbedingung des Ich–Seienden unmöglich. Unter seiner
Einsicht in solche gleichzeitige Tätigkeit zwischen dem Ursprünglichen und dem Abgeleiteten hat Fichte
versucht, die Zirkelstruktur der Präposition, dass das Ich sich auf sich selbst reflektierend besinnen soll, in die
Ich–Identität seiner Releta umzusetzen. Zu Fichtes Selbstbewusstseinstheorie, vgl., Dieter Henrich, „Fichtes
ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik – Festschrift für Wolfgang Cramer, hrsg. v. D.
Henrich und Hans Wagner, Frankfurt a. M. 1966, S. 188 – 232. Gleichwohl ist im Auge zu behalten, dass
Fichte die spekulative Deduktion des Ich–Bewusstseins, auf deren Sphäre das „Sich–Setzen“ als die sich selbst
bestimmende Tätigkeit stets zur vollendeten Zurückführung auf die ursprüngliche Ichheit tendiert, entwickelt.
7
Gadamers Hermeneutik hingegen lässt der vorreflexive Sinnhorizont sich ständig hinter dem
Erfahrungsverfahren des verstehenden Subjekts entdecken, aber dennoch von uns nie ganz
einholen.
Unter Gadamers Perspektive auf Hegels Systemphilosophie werden wir zunächst auf
Hegels Gedankengang eingehen. Vorweg ist hier festzuhalten, dass die Erfahrung des
Bewusstseins bei Hegel die prozessuale, deshalb geschichtliche Selbstentfaltung aufzeigt,
dass die Geschichtlichkeit der Erfahrung die Eingebundenheit in der Andersheit, nämlich die
ständige Wechselbeziehung zwischen den beiden Bestandteilen einschließt, und dass der Weg
der geschichtlichen Selbstausbildung des Bewusstseins zum Selbstbewusstsein sich deshalb
als die wechselseitige Anerkennungsbeziehung, die den Anderen in seiner Andersheit
beständig begleitet, erscheint. Damit bestätigt die Anerkennung der Angewiesenheit der
Selbsterfahrung auf die unaufhebbare Andersheit bei Hegel die integrative Selbstumwandlung
in „ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“ 7 , nämlich in den
zwischenmenschlichen Sinnhorizont. Aus diesem Grund besteht Gadamers Anliegen zur
Aufnahme von Hegels Denken nicht darin, dass das Selbstbewusstsein in seiner
ontogenetischen Erfahrungsgeschichte seine letzte Instanz geltend macht, sondern fokussiert
auf die dialektische Wechselseitigkeit, in deren Dynamik das Spannungsverhältnis zwischen
dem Endlichen und dem Unendlichen nicht aufgehoben wird. Darüber hinaus ist im Blick zu
behalten, dass die Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins bei Hegel nicht nur die
Selbstmodifikation, sondern auch den unendlichen Wandel des Gegenstandsfeldes, ja die
Selbsthinführung zur anderen Erfahrungsstufe skizziert. Entlang dieser geschichtlichen
Erfahrungsphasen wird der Anstoß zum Wirklichkeitsbezug vom Bewusstsein selber
hergestellt, weil es mit jedem gelungenen Wissen zugleich seine Grenze markiert, sich auf die
Eingeschränktheit der jetzigen Erfahrungslage besinnt. Da das Bewusstsein hierbei als
dasjenige verstanden wird, das die Begrenztheit seiner Erfahrung innerlich bewusst macht,
legt seine geschichtliche Selbsterfahrung einen ständigen Bezug auf den Anderen als seinen
Anderen und damit zugleich eine unabschließbare Übertragung der Andersheit auf den
eigenen Gesichtspunkt offen. Für unseren Zusammenhang genügt es hier vor allem darauf zu
achten, dass der Übergangsmotor nicht die Aufwendigkeit der Gegenstandserkenntnis ist,
sondern in dem Prozess der immanenten Selbstkritik und –besinnung verankert ist.
Der Dialog stiftet den Sinnvollzugshorizont des „gegenseitigen Anerkennens“, weil er
nicht nur aus dem ontologischen Einbezogensein auf die Begegnung mit dem Anderen besteht,
sondern auch sich im ununterbrochenen Übersetzungsverhältnis befindet. Aus der
7
8
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bände, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl
Markus Michel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 493. Im folgenden abgekürzt: PhdG.
hermeneutischen Sicht ist das menschliche Verstehen selber der dialogische Umgang mit
seiner eigenen Welt. Angesichts dessen soll gezeigt werden, dass der Vollzug der
wechselseitigen Anerkennung immer schon auf das dialogische Verstehen angewiesen ist.
Gleichwohl ist der dialogische Sinnvollzug, der von allen Beteiligten selber verlangt wird und
gestaltet werden muss, entsprechend dem geschichtlichen Situationswandel immer
diskontinuierlich. Denn es gibt im Prinzip kein Ende des Dialogs: Jeder thematisierte Dialog
schließt aufgrund seiner formalen Begrenztheit unabdingbar mit einem bestimmten Zeitpunkt
ab. Ein jeweilig geschlossener Endpunkt des Dialogs verweist hier deshalb nicht auf die
abgeschlossene Absolutheit, wo, wie bei Hegel, alles in eins verschlungen wird, sondern
versichert sich des wiederholenden Anfangs des unthematisch verborgenen Sinnhorizontes.
Von daher wird klar, dass der Dialog sich immer schon mit dem inneren Gespräch, das
Gadamer so häufig betont hat, mitbewegt. Wenn der Dialog den unabgeschlossenen
Austausch von der Vernehmung der Andersheit und der daraus folgenden Beantwortung
darstellt, dann könnte man sagen, dass der Dialog von vornherein einen spekulativen
Sinnhorizont bildet, in dem alle Beteiligten ihren Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit
anerkennen und sich selbst in ihrer eigenen Andersheit erkennen. Der Dialog mithin leitet den
inneren Rückgang auf sich selbst, der nicht an dem unhintergehbaren Ur–Ich orientiert ist,
sondern die Selbstumsetzung in den inneren Dialog mit seinem eigenen Anderen erschließt.
Infolgedessen lässt sich sagen, dass der Dialog, der seine Internalisierungsdynamik bereits
einschließt, dessen Andersheit nicht entzieht, sondern stets begleitet. So trägt der Dialog, in
dessen Sinnnetzwerk das Erkennen bzw. das Anerkennen sich vollzieht, die lebensweltliche
Praxis, die auf eine ethische Grundlage verweist.
Bevor wir uns Gadamers philosophischer Hermeneutik näher zuwenden, handelt der
erste Teil vom Anerkennungsverhältnis in Hegels Philosophie, das von vornherein die
ontologische Erfahrungsstruktur umfasst. Er geht in Anknüpfung an Gadamers Denkansatz
zur hermeneutischen Erfahrung über, weil die Anerkennungsbewegung durch die
Überwindung der selbstsüchtigen Ichheit hindurch den Aufstieg zum übersubjektiven
Ordnungssystem bzw. zur anerkannten Freiheit, nämlich die Beziehung auf die
Lebensganzheit bestätigt. Um die Anerkennungstheorie, die von Hegel in jeder
Entwicklungsphase seines Denkens unterschiedlich konzipiert wird, sichtbar zu machen,
werden wir hier zuerst seinen Gedankengang von der frühen Frankfurter Zeit über die Jenaer
Realphilosophie bis zur Phänomenologie verfolgen. Von dieser Untersuchung erhoffe ich mir,
dass wir verstehen können, wie Hegels eigene Philosophiekonzeption verschiedene
Konzeptionsumwandlungsphasen
durchläuft
und
welchen
Stellenwert
seine
9
Anerkennungstheorie überdies im geschichtlichen Wandel seines Denkens annimmt. Hegels
Denkanliegen zum zwischenmenschlichen Bezug stellt sich nunmehr so unterschieden dar: 1.
Liebesbeziehung als die ontologische Begegnung mit dem unmittelbaren Gegenüber in der
Frankfurter Zeit, 2. Anerkennungsverhältnis als ein medialer Bezugspunkt zwischen den
Betroffenen in der Jenaer Zeit, 3. Anerkennungsbewegung unter den Menschen und
Verzeihung in Gottes Liebe unter der ontogenetischen Erfahrungsgeschichte in der
Phänomenologie. Wenn wir deshalb Hegels verschiedene Anerkennungskonzeptionen aus
Gadamers Sicht der ontologischen Erfahrung behandeln wollen, ist der Versuch, Hegels
theoretische Entwürfe separat wiederherzustellen, sinnlos. Vielmehr geht es für unseren
Zusammenhang darum, sie unter einer Entwicklungslinie verständlich zu machen.
Dementsprechend müssten wir feststellen können, dass Hegels Anerkennungstheorie ihren
eigenen
Übergangsweg
vom
Liebesverhältnis
als
einer
unmittelbaren
Anerkennungsbeziehung über den Kampf um Anerkennung unter der Konfliktsituation zur
wechselseitig anerkannten Versöhnung skizziert. Nur so wird schließlich gezeigt, dass die
Anerkennungsbewegung selber die geschichtliche Selbsterfahrung des Bewusstseins ist, d. h.
dass das Anerkennungsverhältnis als solches die ontologische Grundlage der Selbstausbildung
des Bewusstseins ist.
Im zweiten Teil geht es uns hauptsächlich um die Grundstruktur des hermeneutischen
Verstehens. Aus der hermeneutischen Sicht ist die menschliche Erfahrung unabdingbar mit
ihrer eigenen Geschichte verbunden: Die Erfahrung steht von vornherein im Horizont der
Geschichtlichkeit. Von daher ist für uns entscheidend darauf zu achten, dass die menschliche
Erfahrung bzw. das hermeneutische Verstehen im wesentlichen Sinne die Anerkennung der
ontologischen Angewiesenheit auf die Andersheit ist. Da der Andere als der hermeneutische
Gegenstand nunmehr auf die geschichtlich tradierte Überlieferung verweist, ist die Andersheit
des Anderen für das hermeneutische Verstehen nicht mehr jenseits von uns, sondern sie ist der
Andere für uns, nämlich unsere eigene Andersheit. Die Andersheit ist deshalb in der
hermeneutischen Sicht zwar die ontologische Vorgegebenheit, aber sie lässt das
Unerschöpfbare immer noch hinter sich, weil das geschichtlich Vorgegebene hier kein
Unhinterfragbares mehr ist, auf das das hermeneutische Verstehen stets zu reduzieren sei,
sondern den Motivationshorizont etabliert, von dem das Verstehen immer schon ausgeht und
in den es bereits hineingeworfen ist. So steht das hermeneutische Verstehen zwischen dem
geschichtlich Tradierten und unserer Gegenwärtigkeit, d. h. es liegt im Gespräch zwischen
uns und unserem Anderen. Dieses dialogische Zwischen zeigt sich deshalb als die
Grundstruktur der hermeneutischen Erfahrung des menschlichen Daseins. Da das Zwischen
10
selber die unabschließbare Bewegung und die Andersheit in diesem dialogischen Zwischen
mitkonstitutiv ist, blicken wir mit Bezug auf unseren Anderen ständig zu demjenigen hinüber,
was vor uns geschehen ist.
Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Gadamerschen Dialogik, die von Anbeginn
einen ethischen Anspruch untermauert. Insbesondere handelt es sich hier um den Dialog und
die ethische Implikation, die nicht vom deduktiven Prinzip hergestellt, sondern dem
Dialogvorgang selber immanent ist. Sobald wir uns der ethischen Grundlage im dialogischen
Wechselverhältnis von Sprechen und Hören näher zuwenden, werden wir sehen, dass ihm der
ethische Impuls im Gespräch mit dem Anderen bereits zugrunde liegt, weil Sprechen
notwendig „etwas“ mitteilt, und damit stets auf den Anderen gerichtet ist. Um den Anderen
verständlich zu machen und zu verstehen, sollen wir allererst den Anderen erreichen und ihm
zuhören.
Hieraus
folgt
dialogethisch
die
verantwortungsbewusste
Haltung
aller
Dialogteilnehmer; einerseits das Ernstnehmen der Andersheit, andererseits die Pflicht zur
Beantwortung: Verantwortlichkeit also. Was wir sagen können, dies ist von unserer
Andersheit vorweg bestimmt, weil das Sprechen selber nicht nur auf den Anderen gerichtet ist,
sondern auch auf den geschichtlich tradierten Sprachhorizont angewiesen ist. Es kommt
deshalb von nun an in den Blick, dass ein dialogischer Austausch von Sprechen und Hören
von vornherein dem menschlichen Sozialisierungsprozess zugehört, dass das miteinanderSprechen-Können selber bereits auf das Zugehörigsein zu einem Sprachkreis verweist, in den
wir seit je her hineingeboren sind. Die ethische Aufgabe, die allen Beteiligten gegeben wird,
kann mithin nur durch die angemessene Haltung innerhalb der Handlungsrahmenbedingungen
und durch das praktische Wissen um die sich ständig verändernde Dialogsituation erfüllt
werden. Im Anschluss an Gadamers Einsicht werden wir auch sehen, dass die hermeneutische
Angemessenheit in jeder Dialogsituation immer schon von der Sprache selber erschlossen ist,
weil die Sache für uns nur vermittels der Sprache zu Worte kommt. Im Sinne von: „Kein ding
sei wo das wort gebricht.“ 8
Dass wir existenziell endlich sind, dies bestätigt die offenkundige Tatsache, dass es für
uns kein Letztes gibt. Aber trotzdem lässt die Besinnung auf unsere existenzielle Endlichkeit
uns in den offenen Sinnraum der unendlichen Suche nach der Wahrheit eintreten. Und das
Selbsteintreten in den gemeinsamen Sinnhorizont, wo der Sinngehalt, den die Welt uns
verleiht, sich zeigt, lässt uns auch unsere Existenz befragen, uns für unsere unaufhebbare
8
Stefan George, „DAS WORT“, in: Gedichte, hrsg. v. Ernst Osterkamp, Frankfurt a. M./Leipzig 2005, S. 221.
Heidegger hat den letzten Vers dieses Gedichtes unter seiner eigenen Auffassung verstanden. So sagt er: „Es
gebricht heißt: es fehlt. Kein Ding ist, wo das Wort fehlt, nämlich das Wort, das jeweils das Ding
nennt.“ Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 13. Aufl., Stuttgart 2003, S. 163. Daran anschließend
können wir sagen: Das Wort allein nimmt das Ding als Ding an, d. h. das Wort lässt das Ding existieren.
11
Andersheit offen halten. Das Bewusstsein der ontologischen Endlichkeit eröffnet die endlose
Seinsmöglichkeit, die wir suchen.
12
Erster Teil: Hegel–Repräsentation in Gadamers philosophischer Hermeneutik
„Wir müssen endlich wieder lernen, wie man
ein richtiges Gespräch führt. Das ist eine sehr
verantwortungsvolle
Aufgabe
für
die
Philosophie. Ein Gespräch setzt voraus, dass
der andere Recht haben könnte.“ 1
„Wenn wir als Aufgabe erkennen, mehr Hegel als Schleiermacher zu folgen, muß die
Geschichte der Hermeneutik ganz neu akzentuiert werden.“ 2 Mit seiner Berufung auf und
Aktualisierung von Hegels Philosophie, insbesondere der Geschichtlichkeit der Erfahrung des
Bewussteins in Bezug auf den Bildungsanspruch innerhalb der Tradition der Philosophie des
geschichtlich–hermeneutischen Denkens, setzt der zweite Teil von Gadamers Hauptwerk
Wahrheit und Methode hauptsächlich dort an, wo die ontologische Grundlage der
hermeneutischen Erfahrung im menschlichen Verstehen behandelt wird. Wenn wir zunächst
von Schleiermachers „allgemeiner Hermeneutik“ ausgehen, werden wir sehen, dass er sich
mit der Sprachproblematik als der Grundvoraussetzung für die Hermeneutik beschäftigt hat.
Somit kann man sagen, dass es Schleiermacher ist, der den spezifischen, produktiven
Charakter der Sprache im Auslegungsprozess herausgefunden hat. Im Anschluss an diesen
Denkansatz glaubte er auch, „die universellen Regulativitäten“ in der Hermeneutik formal
aufstellen zu können, „die die praktische Auslegungsarbeit steuern“ sollten. 3 Mit dieser
epistemologischen Aufforderung zu einem Kanon der Interpretation lässt die Sprache sich bei
ihm anhand ihrer zwei Seiten betrachten: Die eine Seite bezieht sich auf den
„Universalitätsanspruch“, in dem das Sprachfeld der Hermeneutik als eine Art „letzte
Instanz“ der Interpretation bezeichnet wird. Somit wären alle Sprachäußerungen nach
Schleiermacher auf die vorgegebene Syntax oder den kodifizierten Sprachgebrauch
reduzierbar. Das bedeutet: Der Sprachausdruck entspricht bereits den gemeinsamen Regeln in
der Kommunikationsgesellschaft, weshalb man die totale Verständigung in Bezug auf die
Weltanschauung als eine überindividuelle Dimension potenziell erreichen kann. Eine solche
sprachliche Universalität im Interpretationsgang hat Schleiermacher als „die grammatische
1
Hans–Georg Gadamer, „Über Chancen und Grenzen der Philosophie“, in: Spiegel, Nr. 8, 21. 02. 2000, S. 305.
Ders., Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, GW 1, Tübingen
1999, S. 177. Gadamers Schriften werden unter der Sigle GW mit der Angabe von Band– und Seitenzahl
zitiert.
3
Manfred Frank, „Einleitung“, in: F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. M. Frank, Frankfurt a. M.
1977, S. 9.
2
13
Interpretation“ bezeichnet. Hier stellt sich die Sprache auch als „ein individuelles
Allgemeines“ dar. 4 Hieran schließt die Tatsache an, dass die Sprache freilich die individuelle
Innerlichkeit zum Ausdruck bringt, während die grammatische Interpretation, die die reguläre
Allgemeinheit der Sprache bereits impliziert, in einem universellen System des prinzipiellen
Sprachgebrauchs verwurzelt ist. Von daher soll und kann ein kongenialer Interpret,
Schleiermachers Ansicht zufolge, das Innere, nämlich die Seele des Sprechers oder Autors,
mit der Sprache verstehen und auslegen. Mit dieser zweiten Seite, die bei ihm als „die
psychologische Interpretation“ 5 bezeichnet wird, ist gemeint, dass der Interpret mit dieser
künstlichen Methode die individuelle Besonderheit, die ein Autor durch den Gebrauch seiner
eigenen Sprache zum Ausdruck bringt, herausarbeiten und das der Sprache innewohnende
Urkonzept
eines
Textes
nachkonstruieren
können
soll.
Dementsprechend
kann
Schleiermacher mithin von einem „Besserverstehen“ im Vergleich zum Urheber sprechen. In
diesem Zusammenhang erhebt Gadamer den Einwand gegen Schleiermachers reproduktive
Reduktion der Textinterpretation auf den Urheber, nämlich die subjektive Seite 6 , indem er
schreibt, dass der Interpret „die Texte unabhängig von ihrem Wahrheitsanspruch als reine
Ausdrucksphänomene“ betrachten muss. (GW. 1, S. 200) Damit sieht Gadamer zugleich die
übergeschichtliche Universalität in Schleiermachers Hermeneutik. Über Schleiermachers
Anspruch auf die Universalität im hermeneutischen Verstehen schreibt Gadamer auch: „Das
ist Schleiermachers Schranke, bei der die historische Weltanschauung nicht stehen bleiben
konnte.“ (GW. 1, S. 201)
Mit
diesem
kritischen
Einwand
gegen
Schleiermachers
„allgemeine
Hermeneutik“ wird deutlich, dass Gadamers philosophische Hermeneutik von der
Geschichtlichkeit der Erfahrung des Bewusstseins in Hegels Philosophie, vor allem in der
Phänomenologie des Geistes, als der grundlegenden Integrationsstruktur im menschlichen
Verstehen ausgeht, da sich Hegels Begriff des Geistes aus Gadamers Perspektive
grundsätzlich auf die „denkende Vermittlung mit dem gegenwärtigen Leben“ in seiner
geschichtlichen Entwicklung stützt. (GW. 1, S. 174) In diesem Zusammenhang ist die
„dialektische Bewegung“ bei Hegel, in deren Prozess das Bewusstsein durch „den Weg der
Verzweiflung“ hindurch zum Selbst gelangt, „eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt
wird.“ (PhdG., S. 72 u. 78) Durch den Prozess der Selbstkorrektur und der Selbstüberprüfung
4
Ebd., S. 38.
Vgl. Ebd., S. 39 – 57.
6
Vgl. Karl–Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S. 199. Hier hat er
Schleiermachers Theorie über die Interpretation, das Verstehen, dahingehend verstanden, dass sie mit dem
Vorwurf gegen die isolierte Subjektivität, wie Hegels Kant–Kritik, konfrontiert wird, weil sie „die Einheit und
Evidenz eines methodisch solipsistisch konzipierten Gegenstandes – bzw. Selbstbewußtseins“ zu erarbeiten
trachtet.
5
14
hindurch, gelangt das Bewusstsein zu einem Sinnhorizont, der das Leben in seiner Ganzheit
begreift. Vor diesem Sinnhorizont – um diesen Horizont zu erreichen, sollte das Bewusstsein
die Enttäuschung und das Leiden auf allen Stufen der Erfahrung ertragen haben – findet das
Bewusstsein seine lebendige Ganzheit, die alle Gegensätze in sich vereint und von sich aus
überwunden hat. Somit kann hier gezeigt werden, dass Hegels dialektische Bewegung in der
ontogenetischen Entstehungsgeschichte der Erfahrung des Bewusstseins „ein Geschehen der
ständigen Horizonterweiterung“ ist, „welche dadurch zustande kommt, daß das Bewußtsein
seine Horizonte stets aufs neue thematisiert.“ 7 Gadamer begreift dabei Hegels Substantialität
des Geistes als die geschichtliche Vorgegebenheit, die als ontologische Grundlage für die
Erfahrung des Bewusstseins, besser gesagt des Subjektes, fungiert, da wir auf unserer Suche
nach der Wahrheit einen phänomenalen Ort in der Geschichte, an der wir teilnehmen oder mit
der wir schon immer verbunden waren, finden könnten. Gadamers Äußerung zufolge „habe
sie (= die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik, KBL) den Weg der Hegelschen
Phänomenologie des Geistes insoweit zurückzugehen, als man in aller Subjektivität die sie
bestimmende Substanzialität aufweist.“ (GW. 1, S. 307)
Obwohl Gadamer innerhalb der hermeneutischen Denktradition die Geschichtlichkeit
der Erfahrung des Bewusstseins in Hegels Philosophie mit Recht aktualisiert hat, setzt er sich
auch von der „totalen Selbstvermittlung der Vernunft“ in Hegels Dialektik der Reflexion
kritisch ab. 8 (GW. 1. S. 351) Die Erfahrung des Bewusstseins zielt bei Hegel auf das
Bewusstsein von sich selbst durch die dialektische Bewegung der zu sich selbst kommenden
Reflexion ab. Diese Bewegung führt sich selbst schließlich zu einem Ende, an dem die
abgeschlossene
Absolutheit
vollzogen
ist
und
mit
der
zugleich
das
vollendete
„Sichwissen“ gelungen ist. (GW. 1, S. 307) Alle Stufen, die das Bewusstsein im gangbaren
7
8
Michael Theunissen, „Begriff und Realität“, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hrsg. v. Rolf–
Peter Horstmann, Frankfurt a. M. 1978, S. 327. Dennoch stellt sich für uns die Frage, ob die
Horizontverschmelzung
im Sinne
von
Gadamers
philosophischer
Hermeneutik
als
die
„Horizontverschiebung“ verstanden werden muss oder ob sie auch als „Horizonterweiterung“ verstanden
werden kann. Wenn man die Horizontverschmelzung unter der Horizonterweiterung versteht, könnte von der
Entfaltung der Horizonte unserer Erfahrung oder vom sich selbst entwickelnden Besserverstehen in Bezug auf
die Erfahrung des Bewusstseins in Hegels Philosophie die Rede sein. Gleichwohl, Jean Grondins Bericht
zufolge, spricht Gadamer in einem Brief nicht „von der Erweiterung“, sondern „von der Verschiebung“.
Diesbezüglich: Jean Grondin, Hermeneutische Wahrheit ?. Zum Wahrheitsbegriff Hans–Georg Gadamers,
Weinheim 1994, S. 159 – 160. Die Formulierung „Horizontverschiebung“ sei im Sinne Gadamers vor allem
als kritische Gegenposition gegen den dogmatischen Glauben an den grenzenlosen Fortschritt in der
Aufklärungszeit zu verstehen.
Vgl. zum Verhältnis von Gadamers philosophischer Hermeneutik und Hegels Dialektik. Karl–Otto Apel,
„Reflexion und Materielle Praxis. Zur erkenntnisanthropologischen Begründung der Dialektik zwischen Hegel
und Marx“, in: Hegel – Studien/Beiheft 1, hrsg. v. Hans–Georg Gadamer, Bonn 1984, (2. Aufl.), S. 151 – 166
und dazu ders., Hans–Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik“, in: Hegel–Studien, Bd. 2, hrsg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Bonn 1963, S. 314 – 322
und Wolfhart Pannenberg, „Hermeneutik und Universalgeschichte“, in: Seminar: Die Hermeneutik und die
Wissenschaften, hrsg. v. Hans–Georg Gadamer u. Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1978, S. 283 – 319.
15
Prozess der Erfahrung bzw. im Reflexionsverhältnis zu sich selbst durchlaufen soll, sind
schließlich bei Hegel unter dem absoluten Wissen subsumiert, das, wie Hegel selber in der
Phänomenologie geschrieben hat, „der sich als Geist wissende Geist“ sei. Alle Stufen der
dialektischen Bewegung werden schließlich, an der Endstation des absoluten Wissens
angelangt, lediglich zur „Schädelstätte des absoluten Geistes“, obwohl das Bewusstsein
seinen adäquaten Gegenstand in allen Stufen des gängigen Prozesses konstruiert und durch
die Erkenntnis von der Unvollständigkeit dieser Konstruktion zu etwas anderem übergeht. Die
Gesamtheit dieser Bewegung bei Hegel ist die Absolutheit des Sichwissens. (PhdG., S. 591)
Aus dieser Bewegung der sich reflektierenden Hinführung zum absoluten Wissen um sich
selbst resultiert das asymmetrische Verhältnis in Hegels abgeschlossener Systemphilosophie
auf zweierlei Seiten: Einerseits das Verhältnis des subjektiven Bewusstseins zum absoluten
Geist, andererseits das des Individuums als eines Mitglieds der Gesellschaft zum Staat. 9
Gadamer betont zu Recht, dass Hegels Dialektik, die die Absolutheit des Sichwissens
vollendet vollbracht hat, die „Erfahrung der menschlichen Endlichkeit“, nämlich die
unüberwindbare Grenze unserer Erfahrung, übersehen und übersprungen hat. (GW. 1, S. 363)
Gadamers Ansicht zufolge befindet sich die menschliche Erfahrung immer schon von
vornherein im Wissen um unsere Endlichkeit, weshalb „nicht die Erfahrung zu Ende und eine
höhere Gestalt des Wissens erreicht (Hegel), sondern in ihr (= die Idee einer vollendeten
Erfahrung, KBL) ist Erfahrung erst ganz und eigentlich da.“ (Ebd.) Das Bewusstsein von
unserer Endlichkeit und der unerreichbaren Vollkommenheit in unserer Erfahrung dürfen wir
ihm zufolge nicht für mangelhaft halten, sondern wir müssen diese Unvollkommenheit und
diese Endlichkeit als das „Wesen des geschichtlichen Seins, das wir sind“ bedingungslos
annehmen. (GW. 1, S. 307) In diesem Sinne ist das hermeneutische Verstehen nicht die
restlose Reflexionsbewegung, wie Hegel gedacht hat, sondern lässt immer etwas hinter sich,
enthält nämlich immer das noch zu Verstehende in sich. Deshalb geht es bei Gadamer um die
hermeneutische Offenheit für die potenzielle Zukunft in der kritischen Auseinandersetzung
der gegenwärtigen Erfahrung mit der vergangenen Vorgegebenheit. Aus diesem Grund ist „im
Gespräch sein“ Gadamers Ansicht zufolge, ein realer Ort der Offenhaltung unserer
ontologischen Erfahrung für die Zukunft, weil unser Gespräch grundsätzlich die Anerkennung
des Gesprächspartners, nämlich den Anspruch auf die Berücksichtigung der Eigentümlichkeit
des Anderen, impliziert, ohne die Andersheit des Partners zu verletzen und wir als die
9
Vgl. zur ausführlichen Darlegung der Asymmetrie in Hegels Philosophie: Ludwig Siep, Anerkennung als
Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes,
Freiburg/München 1979, S. 278 – 285.
16
Teilnehmer am Gespräch im Verlauf des Gesprächs erleben, dass das endgültig letzte Wort
keineswegs gefunden werden kann.
Die zweite Berufung Gadamers philosophischer Hermeneutik auf Hegels Philosophie
ist die Anerkennungstheorie, die dem Gesprächsverhältnis in Gadamers Dialoghermeneutik
strukturell
zugrunde
liegt.
Hegel
legt
die
Basis
für
ein
intersubjektives
Anerkennungsverhältnis, in dem die Verständigung aus dem Ich–Du–Verhältnis heraus in die
freiwillige Integration des Ichs in die Gesellschaft im Ich–Wir–Verhältnis münden soll. In
dieser
gegenseitigen
Anerkennungsbewegung
erfüllt
der
Betroffene
den
eigenen
Bildungsanspruch dadurch, dass das Sich–Finden durch die Anerkennung des Anderen
zustande kommt und damit zugleich die gegenseitig anerkennende Selbstbeschränkung
eingelöst wird. Die Erfahrung der Anerkennung lässt sich bei Hegel nunmehr auf zweifache
Weise betrachten: Erstens als Liebesbeziehung und zweitens als Kampf um Anerkennung.
Der Liebesbeziehung mißt Gadamer dabei jedoch die wichtigere Bedeutung zu, da sie als „das
unmittelbare
Verhältnis
von
Mann
und
Frau“
das
musterhafte
Exemplar
der
zwischenmenschlichen Wechselbeziehung zum Ausdruck bringt, während der Kampf um
Anerkennung aus der symmetrischen Beziehung zwischen den Beteiligten unweigerlich eine
ungleiche macht. (GW. 1, S. 349) Daran anschließend stützt sich der gangbare Prozess des
hermeneutischen Verstehens im Gesprächsverhältnis Gadamers Ansicht zufolge auf die
Freundschaft und die Solidarität, die im Grunde aus der Anerkennung des Anderen in seiner
unaufhebbaren Andersheit und auf der Seite der Geschichtlichkeit der menschlichen
Erfahrung aus der Anerkennung der geschichtlichen Vorgegebenheit entsteht, mit der wir
immer schon verknüpft sind. An dieser Stelle richtet Gadamer seinen Blick auf die Hegelsche
Anerkennungstheorie, indem er sich auf die ontologische Erfahrung des hermeneutischen
Verstehens im Gesprächsprozess bezieht, deren Ziel es ist, die Position des Anderen zu
verstehen und das Recht des Anderen anzuerkennen. In einem solchen Prozeß des Sich–
Hineinversetzens würde man nicht nur die Position des Anderen verstehen, sondern auch sich
selbst. Aufgrund der ontologischen Erfahrung des sich–hineinversetzenden Verstehens im
Gespräch zieht Gadamer auch die Möglichkeit in Betracht, „dass der andere Recht haben
könnte“, die wiederum eine unmittelbare Anerkennung erfordern würde. Im Anschluss an
diese ontologische Erfahrung der wechselseitigen Verständigung im Gespräch, die die
Zugehörigkeit des Ichs zum Du und des Ichs zum Wir konstituiert, bezieht Gadamer den
substanziellen Wahrheitsbegriff auf die Sprache. Mehr noch als das, ist es die unendliche
Suche nach Wahrheit bzw. der die Wahrheit tragenden Sprache, die mit ihrer eigenen
Geschichtlichkeit verbunden ist, die er in das hermeneutische Verstehen integrieren will,
17
während die Anerkennungsbewegung bei Hegel auf den teleologischen Endzweck
hinausläuft. Dabei muß man jedoch betonen, dass diese kritische Einschätzung aus der
Überbewertung des Kampfs um Anerkennung in Hegels Phänomenologie entsteht und
prinzipiell nur der Reflexivität entspricht, die der Hegelsche Begriff der Erfahrung enthält. In
diesem Zusammenhang sagt Gadamer, dass er aufgrund des hermeneutischen Verstehens im
Dialog, nämlich der gegenseitigen Verständigung im unendlichen Prozess der Suche nach
Wahrheit und Übereinstimmung, „zum Anwalt der >schlechten Unendlichkeit<“ 10 bei Hegel
wurde.
Um den Einfluß Hegels auf Gadamers philosophische Hermeneutik deutlich zu
machen, werde ich im ersten Teil meiner Arbeit, wie bereits erwähnt, auf zwei Bereiche
eingehen, in denen sich Gadamer in seiner Hermeneutik auf Hegels Philosophie bezieht:
Einerseits die ontologische Grundlage in der ontogenetischen Entstehungsgeschichte der
Erfahrung des Bewusstseins, andererseits die Anerkennungsbewegung, die von vornherein
den geschichtlichen Bildungsprozess, der die ontologische Erfahrung voraussetzt, mit
einschließt. Gadamer hat sich in einigen seiner Aufsätze und zum Teil auch in seinem
Hauptwerk Wahrheit und Methode mit diesen beiden Seiten der Hegelschen Philosophie
beschäftigt. In dieser Auseinandersetzung hat Gadamer sich auch mit den Jugendschriften
Hegels und der Phänomenologie des Geistes beschäftigt. Vor diesem Hintergrund sieht er die
zentrale Aussage der Hegelschen Dialektik in der Geschichtlichkeit der Erfahrung, die auf der
Grundlage der Ontologie beruht. In Bezug darauf möchte ich die folgenden Fragen
formulieren: Inwiefern ist die Philosophie Hegels innerhalb des Diskussionsrahmens von
Gadamers philosophischer Hermeneutik immer noch aktuell? Welchen Stellenwert nimmt
Hegels Philosophie in Gadamers philosophischer Hermeneutik ein? Oder anders formuliert:
Inwieweit lassen sich die ontologischen Grundzüge der menschlichen Erfahrung in der
Hegelschen Entstehungsgeschichte des Selbstbewusstseins nachzeichnen? Welchen Einfluß
hat Hegels Anerkennungstheorie auf Gadamers Dialoghermeneutik? Und schließlich: Wie
kommt es zur Entstehung eines lebendigen Sinnhorizontes aus der Verschmelzung zwischen
den einzelnen Teil-Horizonten?
10
Hans–Georg Gadamer, „Das Erbe Hegels“, in: Das Erbe Hegels. Zwei Reden aus Anlaß der Verleihung des
Hegel – Preises 1979 der Stadt Stuttgart an Hans –Georg Gadamer am 13. Juni 1979, Frankfurt a. M. 1979, S.
39.
18
I. Die Bedeutung der ontologischen Erfahrung vor dem Hintergrund der Ontogenese des
Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes
I - 1. Wohin soll das Bewusstsein führen? - Das Ziel der dialektischen Darstellung
Hegels Idee der Phänomenologie des Geistes können wir zunächst als einen dynamischen
Prozess bezeichnen, durch den hindurch der Gegensatz zwischen dem absolut Wahren als
dem „an-sich-sein“ und dem davon isolierten Subjekt aufgelöst wird. Vor diesem Hintergrund
sieht Hegel die Aufgabe der zeitgenössischen Philosophie darin, dass sie „das wirkliche
Erkennen dessen, was in Wahrheit ist“, leisten können muß. Diese Aufgabe der
Phänomenologie, deren Ziel das vollständige Erkennen des Wahren ist, gelangt damit
gleichzeitig zum Ergebnis, dass das Bewusstsein sich selbst zum Gegenstand hat und somit
die Wahrheit in sich selbst finden kann: Auf diesem Weg kann die Ebene „absoluten
Wissens“ erreicht werden und wird so in den Stand der Wissenschaft erhoben. Das absolute
Wissen, das bei Hegel als „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ zum Ziel der
Phänomenologie wird, ist am Ende der Darstellung Bewusstsein vom Selbst. Mit anderen
Worten: Das absolute Wissen ist nun das sich auf sich beziehende Bewusstsein, nämlich ein
Ich, das sich zum allgemeinen Bewusstsein erhebt. Das bedeutet, einen Weg zu beschreiten,
auf dem das Ich durch den Unterschied in sich selbst überhaupt erst zum Selbst gelangt und
somit die absolute Versöhnung mit dem eigenen Ich erreicht. Die Vergegenständlichung des
eigenen Selbst und die damit in Zusammenhang stehende Erkenntnis des eigenen
Bewusstseins als die Gestalt des absoluten Wissens kann Hegel zufolge somit auch aus dem
sich selbst erkennenden Bewusstseinsmodell heraus als das „einheimische Reich der
Wahrheit“ bezeichnet werden. (PhdG., S. 138) Das Selbstbewusstsein verfügt bereits über das
Bild des Absoluten in sich, weil es von außen zum inneren Selbst zurückkehrt und somit eine
unendliche Bandbreite an Variationen in Bezug darauf, wie das Selbst das Andere erfährt und
das Allgemeine anerkennt, in sich vereint. An dieser Stelle begnüge ich mich mit dieser
kurzen Skizze, da die Erfahrungsgeschichte der Wechselbeziehung des Bewusstseins des
Selbst später näher diskutieren werden wird.
Bezüglich der Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins werden wir zunächst der
„Einleitung“ der Phänomenologie unsere Aufmerksamkeit schenken, stellt Hegel doch das
grundsätzliche Anliegen der Phänomenologie hier dar. Wie bekannt, beginnt Hegel seine
Einleitung mit der Kritik am Kantischen Dualismus. Tatsächlich hat Hegel sich jedoch bereits
mit Beginn seiner Jugendarbeiten mit der kritischen Philosophie Kants, der so genannten
19
Reflexionsphilosophie, kritisch auseinandergesetzt. 11 In Hegels Augen hat das erkennende
Subjekt sich in der Kantischen Erkenntnistheorie vom Objekt dichotomisch distanziert. Die
Dualismen Kants weisen nunmehr selbstverständlich darauf hin, dass die Sinne des Subjekts
einerseits vom äußerlichen Objekt affiziert werden und der kategorialische Begriff
andererseits vom Subjekt im aktiven Verstandesakt autonom konstruiert werden muss. Indem
Kants epistemologische Frage sich dabei auf die Trennung zwischen „Spontaneität und
Rezeptivität“ gründet, bringt einzig die Erkenntnis des Verstandes die formelle Konstruktion
der Verbindung zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Erkenntnisobjekt hervor. Von ihr
ist Hegels Perspektive zufolge der Inhalt abstrahiert, so dass das Ding „an–sich“, das bei
Hegel das zu erkennende Wahre „an-sich“ ist, unkenntlich geworden ist.
Hegel versucht in seiner Einleitung, das irreführende Verfahren der Kantischen
Deduktion zu kritisieren und vor allem den Gegensatz zwischen dem Subjekt und dem Objekt
zu überwinden. Diese Hegelsche Argumentation gegen die Kantische Abstraktion der
formellen Kategorien von jeglichen Inhalten spielt für die gesamte Konzeption seiner
Philosophie, insbesondere der Phänomenologie, eine große Rolle. Den epistemologischen
Dualismus betreffend schreibt Hegel:
„ [...] vorzüglich aber dies, daß das Absolute auf einer Seite stehe und das Erkennen auf der
andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten doch etwas Reelles [...]“ (PhdG., S. 70)
Dieser Äußerung Hegels zufolge hat der Kantische Dualismus eine nahezu unüberbrückbare
Kluft zwischen der kategorialen Form und ihrem Gegenstand zu Beginn der Fragestellung
nach „der Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis“ geschaffen. Durch diese
unüberbrückbare Kluft gelangt die erkenntnistheoretische Grundfrage wiederum in den
Vordergrund, die Hegel „das Werkzeug und das Mittel“ des Erkennens nannte. (PhdG., S. 68)
Das Ziel der erkenntnistheoretischen Aufgabe, die sich selbst am Wissen des Wahren
orientiert, führt dann unvermeidlich in die Irre, wenn das Erkennen bloß als Werkzeug und
Mittel betrachtet wird. In diesem Fall benötigt das Erkennen einen von außen kommenden
Maßstab, der darüber entscheidet, ob es wahr oder falsch ist. Um es noch deutlicher zu
machen: Die irreführende Vorstellung, hierbei handele es sich nur um ein Werkzeug und
11
Vgl. Wolfgang Bonsiepen, Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, in: Hegel – Studien
Beiheft 16, hrsg. v. Friedhelm Nicolin/ Otto Pöggeler, Bonn 1977, S.135. Es gibt hingegen auch eine andere
Interpretation. Zu dieser Interpretation: Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes – Ein
einführender Kommentar zu Hegels >>Differenzschrift<< und >>Phänomenologie des Geistes<<, Darmstadt
2000, S. 74. Er betont, dass Hegel sich mit der Kantischen Philosophie direkt in Bezug auf die Methode der
Darstellung nicht auseinandersetzen wollte. Nach seiner Auffassung habe Hegel jedoch versucht, über den
Dualismus vom Jakobinismus noch präziser zu debattieren.
20
Mittel des Erkennens, führt das erkennende Subjekt zur „Prüfung der Erkenntnis“ (PhdG., S.
69), ob das Werkzeug und das Mittel dem zu erkennenden „an-sich-sein“ gerecht wird. Bei
dieser Prüfung stellt sich immer wieder die Frage nach dem Maßstab, der angelegt werden
soll.
Diese
Schwierigkeit
soll
bei
Hegel
durch
die
entstehungsgeschichtliche
Darstellungsmethode, bekanntlich die Dialektik, vermieden werden. Anders ausgedrückt: die
Wissenschaft muss die Spur der Erscheinung des Bewusstseins nachzeichnen können, um den
Gegensatz zwischen der zu prüfenden Position und dem angewendeten Maßstab ausräumen
zu können, so dass wir einem erneuten Abgleiten in die unüberbrückbare Kluft der
Dichotomie entgehen können. Denn die Wissenschaft selbst ist es, die bei Hegel im
geschichtlichen Verlauf des sich selbst darstellenden Prozesses zum Vorschein kommt. Sie
geht als eine absolute jedoch der Erscheinung stets voraus. Daher kann sie allein die sich
negierende Darstellung des „erscheinenden Wissen[s]“ vollbringen. Diesen skeptischen Weg
vom Erfahrenen zur neuen, weiteren Erfahrung betreffend, schreibt Gadamer: „Die
Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn, […] sondern er (=
ein beliebig aufgelesener Gegenstand, KBL) muß so sein, daß man an ihm ein besseres
Wissen nicht nur über ihn, sondern das, was man vorher zu wissen meinte, also über ein
Allgemeines gewinnt.“ (GW. 1, S. 359) Die hermeneutische Erfahrung, die prinzipiell das
Bewusstsein der Endlichkeit der menschlichen Erfahrung mit einschließt, hat daher denselben
Charakter wie der Weg der Verzweiflung in Hegels Begriff der Erfahrung, der die prozessuale
Geschichtlichkeit beinhaltet. Dementsprechend meint die menschliche Erfahrung im Prozess
des hermeneutischen Verstehens einerseits die unendliche Veränderung des gegenständlichen
Bereiches, die vom Erfahrenden erwartet wird, andererseits aber die Erweiterung des
Horizontes des Erfahrenden selber durch das Scheitern der Erwartung. Aus diesem
geschichtlichen Prozess heraus entsteht immer wieder die neue unerwartete Erfahrung und
macht damit zugleich die gesamte Erfahrung unserer Lebensganzheit bzw. den ganzen
Prozess unseres Lebens aus. Auf diese Weise wird das „sich-äußern“ des „erscheinenden
Bewusstseins“ im Verlauf der Darstellung der Phänomenologie die Reihe seiner
verschiedenen Gestalten durchlaufen. (PhdG., S. 73) Dieser Prozess ist damit auch die
Ursache für die Dialektik als skeptischer Modus der „bestimmten Negation.“ (PhdG., S. 74)
Seine Stufen vollends erfahrend, sich selbst und seine Gegenstände in jeder Phase verändernd,
wird das erscheinende Bewusstsein zu seiner Endstation, nämlich dem „absoluten Wissen“,
gelangen. Dass die Vollendung des Bewusstseins im Verlauf durch seine verschiedenen
21
Gestalten konsequent realisiert und vollzogen werden kann, ist der Grundgedanke der
Phänomenologie.
„Das natürliche Bewusstsein“ hält sich, Hegel zufolge, am Vorhandensein fest und
weicht dem Neuen aus, weil es unfähig ist, seine eigene Wahrheit zu erkennen. Die
Hinführung des natürlichen Bewusstseins zum absoluten Wissen stellt sich aus der
Perspektive des Bewusstseins als Selbstnegation, d. h. als skeptischer Weg dar. Es muss aber
diesen skeptischen Weg durchschreiten, um das wahre Selbst zu erreichen, das erst nach
dieser leidvollen Erfahrung in den Blick kommen wird. Dies drückt Hegel folgendermaßen
aus:
„Er (= Der Weg, KBL) kann deswegen als der Weg des Zweifels angesehen werden oder
eigentlicher als der Weg der Verzweiflung; […] ein gehöriges Wiederverschwinden des
Zweifels und eine Rückkehr zu jener Wahrheit erfolgt, […]. Sondern er ist die bewußte
Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem dasjenige das Reellste ist, was in
Wahrheit vielmehr nur der nicht realisierte Begriff ist.“ (PhdG., S. 72)
Der skeptische Modus, gewissermaßen „der Weg der Verzweiflung“, weist nunmehr auf die
„bestimmte Negation“ hin, bei der das natürliche Bewusstsein sein Wahres überprüft und sich
selbst aufhebt. Dieser Verzweiflungsweg des Bewusstseins bezeichnet zunächst den Schritt
zur Übereinstimmung mit dem wahren Selbst und führt daher zur Selbsterkenntnis. Dadurch,
dass diese Selbstherausarbeitung des Bewusstseins als der selbsterkennende Prozess nicht
eine verwüstete Selbstvernichtung bedeutet, sondern vielmehr seinen Wendepunkt zum
Wahren darstellt, impliziert die Selbstnegation von vornherein die Bestimmtheit der Negation,
ganz hegelianisch, „die Identität der Negativität mit sich“. 12 Nach Hegel ist dabei „eine neue
Form gelungen und in der Negation der Übergang gemacht.“ (PhdG., S. 74) Das Bewusstsein
12
Vgl. Dieter Henrich, „Anfang und Methode der Logik“, in: ders., Hegel im Kontext, 4. Aufl., Frankfurt a. M.
1971, S. 86ff. und dazu ders., „Formen der Negation in Hegels Logik“, in: Hegel-Jahrbuch 1974, Köln, S. 24ff.
u. S. 253-254. In diesen beiden Interpretationen, besonders seinem Aufsatz „Formen der Negation“ versucht er,
die Bedeutung der Negation in Hegels Logik durch die begriffliche Unterscheidung klar zu machen, da der
Negationssinn als ein Konglomerat anzusehen sei. Seiner Ansicht zufolge müssen wir deswegen zuerst Hegels
Begriff der Negation in den verschiedenen Negationstypen verstehen. Darüber hinaus betont er, dass Hegels
Gedankengang durch die Kombinationen der Negation und der Negativität schrittweise die Vollständigkeit
seines Systems gewonnen habe.
Die „Bestimmtheit“ bezieht sich bei Hegel auf die Negation vom Anderen im Ablauf der inneren Differenz
vom Anderen. Sie beinhaltet hier schon die erste Negation. Die erste Negation, die sich auf die Beziehung der
Andersheit bezieht, verwandelt sich auch gleichzeitig in die Selbstbeziehung mit der Elimination der
Andersheit des Anderen. Diese doppelte Negation verweist bei Hegel darauf, dass sich das Selbst auf das
Andere in der Andersheit an sich wechselseitig bezieht und in diesem Verlauf zu sich selbst kommt. Die
Negation der Negation hat es mit der Rückkehr zur Identität mit sich selbst, gewissermaßen mit der
Affirmation der Verneinung zu tun. Die negative Rückkehr zu sich selbst ist auch als „Motor“ der
Selbstverwirklichung des Geistes vorstellbar.
22
leistet mit dieser negierenden Negation die Selbstprüfung seiner Erfahrung, deren Reihenfolge
die Vollständigkeit des Selbsterlebnisses bedeutet. Das Bewusstsein muss den Selbstverlust
im unausweichlichen Übergang zur Selbsterkenntnis notwendigerweise erfahren. Eine solche
unvollendete Selbsterkenntnis des Bewusstseins hat m. E. innerhalb der umfassenden
Erfahrungsgeschichte die Bedeutung einer ontologischen Erfahrung. 13 Freilich müssen wir
dann über den Hegelschen Lebensbegriff des Geistes nachdenken, weil die Spur des
Bewusstseins auch aus der Perspektive der Selbstverwirklichung des Geistes heraus verfolgt
wird. Sein Ziel ist der aufhebende Übergang des Bewusstseins und zugleich die Vereinigung
mit dem Bewusstsein auf jeder Stufe der Selbstverwirklichung des Geistes.
Wir sehen, dass die Darstellung der Selbstprüfung des Bewusstseins aus der
Perspektive des Bewussten die Frage aufwirft, ob eine Erfahrung, bei der das Bewusstsein
notwendigerweise unter dem Selbstverlust gelitten hat und zu sich selbst gekommen ist,
wesentlich oder unwesentlich ist. Das erscheinende Bewusstsein macht eine Erfahrung, in der
es zuerst das „an-sich-sein“ als den Gegenstand anschaut und dann versucht, das Gewusste in
sich selbst zu überprüfen. Der dialektische Prozess der Selbstprüfung des Bewusstseins führt
dazu, dass in der Wechselwirkung zwischen dem Bewusstsein und dem „an-sich-sein“ in
Wahrheit eine ontologische Erfahrung enthalten ist, weil es sich um die Überprüfung handelt,
ob der Inhalt des Wissens dem Gegenstand entspricht. In der Selbsterfahrung unterscheidet
das Bewusstsein das Wesentliche vom Unwesentlichen und es gewinnt mit der Überwindung
der Verzweiflung seine neue Gestalt. Dies führt nicht nur zu seiner eigenen Veränderung,
sondern auch zur Veränderung seines Gegenstandes. Die Selbstüberprüfung des Bewusstseins,
die die Selbsterfahrung korrigiert, verwandelt das alte Wissen auf der Grundlage der
ontologischen Erfahrung in ein neues Wissen, in dem das alte sich bewährt und verändert hat.
So gesehen agiert die Selbstprüfung nicht mit einem von außen kommenden Maßstab,
sondern enthält vielmehr ihren Maßstab in sich selbst. In dem Maß, wie sich das Bewusstsein
verändert, verändert sich auch der Maßstab. Der Maßstab wird im Prozeß der Annäherung des
Bewusstseins an das wahre Wissen aus dem Bewusstsein selbst hergestellt. Im
Transformationsprozeß transportiert es sich selbst auf die jeweils neue Stufe. Aus der
Perspektive des Betrachters sehen wir diesem Übergang vom alten zum neuen zu, während
13
Vgl. Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt
a. M. 1932, S. 262 ff., dazu Ludwig Siep, „Die Bewegung des Anerkennens in der Phänomenologie des
Geistes“, in: G. W. F. Hegel Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Dietmar Köhler/Otto Pöggeler, Berlin 1998,
S. 108-109. Marcuse hat insbesondere die Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins auf den ontologischen
Aspekt hin ausführlich interpretiert. Nach ihm darf der Übergang vom Bewusstsein zum Geist bei Hegel nicht
vor dem Hintergrund der erkenntnistheoretischen Position verstanden werden, da sich das Bewusstsein und das
Selbstbewusstsein als das Leben notwendig mit dem allgemeinen Ich, sozusagen dem Geist als der
ontologischen Wesentlichkeit, verbinden.
23
dem das Bewusstsein seine prüfende Darstellungsabfolge vornimmt und sich selbst zur
Selbsterkenntnis führt. Vom Standpunkt des Bewusstseins aus, sind „wir“ nur das „reine
Zusehen“ (PhdG., S. 77), jedoch verhält sich die Prüfung des erscheinenden Bewussteins auch
hier so, dass wir der vor uns entfalteten Erfahrung des Bewusstseins prüfend zuschauen, ob
das „für-es-sein“ dem „an-sich-sein“ entspricht, also das Wissen dem Gegenstand gemäß ist.
Demgegenüber werden wir im Verlauf des Wandels der Perspektive der
Selbsterfahrung des Bewusstseins den Blickwinkel zu unserem eigenen Tun verändern
müssen. Denn das Bewusstsein weiß selbst noch nichts von der Selbstentwicklung der
Begriffe, obwohl es, sich selbst prüfend, das Unwesentliche in sich aufheben kann. Bei der
notwendigen Anhebung des natürlichen Bewusstseins hin zur Wissenschaft, 14 sollen wir
selber das Unwesentliche, das sich notwendigerweise aus der Bildung des Bewusstseins
heraus ergibt, herausfiltern. Durch „das Weglassen“ unseres Zutuns können wir die
Erscheinung des absoluten Wissens als solches erreichen. Mit unserem Zutun werden die
Irreführung des Bewusstseins und unsere Einfälle korrigiert. Einzig mit unserem Zutun bringt
das Absolute deshalb sein Wesen zur Erscheinung. 15 Dies Tun ist die Selbstverwirklichung
des Geistes und es leitet, mit Hegels Worten, „die Umkehrung des Bewusstseins.“ (PhdG., S.
79) Durch dieses Tun wird die dialektische Darstellung garantiert und erreicht die
Vollständigkeit der Erfahrung des Bewusstseins.
Über die Idee der Darstellung der Phänomenologie bzw. die Vollständigkeit der
Erfahrung des Bewusstseins, die durch die notwendige Anhebung des natürlichen
Bewusstseins zur Wissenschaft erreicht wird, schreibt Hegel im folgenden Satz deutlich:
„Indem es (= das Bewusstsein, KBL) zu seiner wahren Existenz sich forttreibt, wird es einen
Punkt erreichen, auf welchen es seinen Schein ablegt, mit Fremdartigem, das nur für es und
als ein Anderes ist, behaftet zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird, seine
Darstellung hiermit mit eben diesem Punkt der eigentlichen Wissenschaft des Geistes
zusammenfällt; und endlich, indem es selbst dies sein Wesen erfaßt, wird es die Natur des
absoluten Wissens selbst bezeichnen.“ (PhdG., S. 80 – 81, meine Hervorhebung)
14
Vgl. zum Verhältnis der Phänomenologie, zur Logik in Hegels System, Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M.
1977, S. 181 und dazu Otto Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/München 1973,
S. 212. Das absolute Wissen, das am Ende der Phänomenologie zur Wissenschaft gelangt, ist schon der
Begriff, der sich in der Logik Hegels darstellt. Im Anschluss an die Logik kann man somit behaupten, dass
Hegel die Phänomenologie des Geistes als die Einleitung ins System oder zumindest als die Voraussetzung
der Logik konzipiert hat. Trotzdem ist es m. E. merkwürdig, dass man auch über die Entfernung der
Phänomenologie vom späten Hegel diskutieren kann. Denn Hegel selbst bezeichnete die Logik später als „die
Wissenschaft der Voraussetzung der Voraussetzungslosigkeit“. In der Logik bedürfen die Begriffe daher nicht
mehr der Begründung, sondern setzen sich vielmehr selbst. Entsprechend bedarf die Logik nicht mehr der
Vorbereitung, um den Begriff selbst zu erreichen.
15
Vgl. Martin Heidegger, Holzwege, S. 190ff.
24
Das Bewusstsein geht bei Hegel, wie oben schon dargelegt, durch alle Stufen seiner
Erfahrung den Weg vom Unterschied zu sich selbst bis hin zur Rückkehr zu sich selbst,
nämlich das Wissen um sich selbst, hindurch. Hegels dialektische Bewegung der Erfahrung
des Bewusstseins bildet strukturell eine Bewegung des Kreises, wie Hegel selber häufig
beschrieben hat, die immer von sich selbst ausgeht, zu sich selbst zurückkehrt und deshalb das
abgeschlossene System genannt werden kann. Hinsichtlich der hermeneutischen Erfahrung
hingegen sagt Gadamer, dass die Erfahrung „ihre eigene Vollendung nicht in einem
abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung
selbst freigespielt wird, hat.“ (GW. 1, S. 361) An dieser Stelle setzt sich Gadamer von Hegels
Idee über die Teleologie der Erfahrung des Bewusstseins ab, die mit „einem Punkt“ bzw. dem
absoluten Wissen abgeschlossen ist. Gadamers Äußerung zufolge zeichnet sich Hegels
absolutes Wissen auch dadurch aus, „überhaupt kein Anderes, Fremdes mehr außer sich“ zu
haben. (Ebd.) Bei dieser kritischen Distanzierung von Hegels absoluter Vollständigkeit der
Erfahrung will Gadamer von der Endlichkeit der menschlichen Existenz aus das Wesen der
hermeneutischen Erfahrung ableiten. Indem die hermeneutische Erfahrung sich immer auf das
Bewusstsein der Endlichkeit der menschlichen Erfahrung bezieht, beinhaltet die prozessual
geschichtliche Entfaltung der menschlichen Erfahrung im hermeneutischen Verstehen daher
die Offenheit für eine weitere Erfahrung. Diese Offenheit für eine weitere Erfahrung bedeutet
im Prinzip die Unvollständigkeit der menschlichen Erfahrung und somit, dass noch etwas
übrig bleibt, das es zu verstehen gilt. Auf diese Weise weist die hermeneutische Erfahrung der
Offenheit, nämlich der unerreichbaren Vollkommenheit, immer auf das Neue hin.
25
I - 2. Die Erfahrung des Bewusstseins: Der Verstand im relativen Verhältnis
Wie bereits gezeigt wurde, führt die dialektische Darstellung der verzweifelnden Erfahrung
des Bewusstseins auf seine durch es selbst vermittelte Selbsterkenntnis hin. In ihr erlebt es in
jeder Phase der Erfahrung seinen Selbstverlust und findet zugleich das zu sich kommende
Selbst als das Wahre wieder. In diesem Verlauf der Rückkehr zu sich selbst, bringt das
Bewusstsein seine vielfältigen Facetten schließlich zu einer Einheit. Kurz gesagt: das Ziel der
Erfahrung ist die Überwindung der Einseitigkeit und die Wiederherstellung des „bei-sichselbst-seins“. Die erste Etappe dieses Ganges kommt bei Hegel als das „Bewusstsein“ vor, in
das die drei Bereiche, nämlich „die sinnliche Gewissheit“, „die Wahrnehmung und Kraft“ und
„Verstand“ eingeschlossen sind. Das Bewusstsein kommt zum Selbstbewusstsein als dem
Wahren als solchem erst nachdem es die erste Etappe durchlaufen hat, wobei alle drei
Bereiche sich wechselseitig aufeinander beziehen. Um die Verborgenheit des wahren Selbst
zu erhellen, soll das natürliche Bewusstsein von vornherein die Erfahrung des Leidens
ertragen. Diesbezüglich will ich mich hier zunächst auf die Stufe des natürlichen
Bewusstseins in Bezug auf die Idee der Phänomenologie konzentrieren, um den
entstehungsgeschichtlichen Charakter der Erfahrung des Bewusstseins zu skizzieren. Im
Anschluß daran werde ich die Entstehung und damit auch die Erfahrung des
Selbstbewusstseins im Leben als der vorweggenommenen Gestalt des Geistes ausführen.
Was die sinnliche Gewissheit betrifft, die die erste Gestalt des natürlichen
Bewusstseins ausmacht, so handelt es sich bei ihr zunächst um das „Wissen des
Unmittelbaren oder Seienden.“ (PhdG., S. 82) Das Bewusstsein fasst als die abstrakte
Empfänglichkeit nur das reine Vorhandensein ins eigene Auge. Dementsprechend hält dieses
empfängliche Bewusstsein daran fest, dass Dies für sich allein seine Wahrheit sei. Dennoch
tritt diese Unmittelbarkeit als solche bloß als „die abstrakte und ärmste Wahrheit“ auf. (Ebd.)
Anders formuliert, nimmt das Bewusstsein auf dieser Erfahrungsstufe das Etwas lediglich als
das noch Unbestimmte aus dem Vorhandensein auf. Da unser gewöhnliches Bewusstsein sich
jedoch dazu bringen läßt, die gegenwärtige Erfahrung im Alltag auszudrücken, spricht das
empfängliche Bewusstsein, um seine jetzige Wahrheit zu benennen, den erfahrenen Inhalt
gerade heraus aus. Wenn dieses Bewusstsein z. B. im Hinblick auf seine eigene Erfahrung
sagt: „das Jetzt ist die Nacht“ oder „das Hier ist der Baum,“ muss es mit diesem Ausspruch
zugleich beweisen, warum es sich in Bezug auf Zeit oder Raum genau so verhält. (PhdG., S.
84 u. S. 85) In diesem Sinn ist das Bewusstsein zeitlich diesem Jetzt-Sein oder räumlich
diesem Hier-Sein unterworfen. Dadurch, dass das Bewusstsein jedoch aus dem
26
Vorhandensein das bestimmte Jetzt bzw. Hier auswählt und damit zugleich von dem spricht,
von dem es weiß, dass es sich in dem Widerspruch befindet, der zwischen Bejahung und
Verneinung in der Aussage liegt. Mit Hilfe des Aussagens und des Aufzeigens, dass das Jetzt
die Nacht ist, werden wir das veränderte Jetzt erfahren können, was dann bedeutet, dass dieses
Jetzt nicht die Nacht, sondern der Mittag ist. Die Aufforderung, unser Wissen in Worte zu
fassen, führt dazu, dass die sinnliche Unmittelbarkeit die Täuschung über unser Wissen
entlarvt. Das Bewusstsein erfasst, dass das ausgesagte und aufgezeigte Jetzt als solches nun
die Wahrheit ist. Dies drückt Hegel aus, indem er sagt: „Das Aufzeigen ist das Erfahren, daß
Jetzt allgemein ist.“ (PhdG., S. 89) Durch die sich selbst ausweisende Erfahrung in der
sinnlichen Gewissheit weiß das Bewusstsein, dass seine Wahrheit nicht im ärmsten Sein der
leeren Kopula liegt. Vielmehr ergibt sich das Wahre des Bewusstseins zum jeweiligen
Zeitpunkt aus dem konkreten Prädikat, gewissermaßen den vielfältigen Eigenschaften.
Die neue Bewusstseinsform, die aus dem widersprüchlichen Kulminationspunkt der
sinnlichen Gewissheit entsteht, ist die Beobachtung des Dinges mit den Eigenschaften, das
den Titel „die Wahrnehmung“ trägt. Das Bewusstsein, welches Hegel die Wahrnehmung
nannte, konzentriert sich hier auf die innere Eigenschaft des Objekts. Es handelt sich
deswegen bei ihm um das Allgemeine der vielfältigen Eigenschaften, das die Vielheit in die
innere Einheit transportiert. Das Bewusstsein, das nun das Wahre benennen will, stellt die
Frage nach dem zusammengefassten Allgemeinen, mit dem die Einheit des Dinges und ihre
mannigfaltigen Eigenschaften verbunden sind. Dass dieses einfache Allgemeine als die beide
„zusammenfassende Dingheit“ auftritt, drückt Hegel folgendermaßen aus:
„Dies Salz ist einfaches Hier und zugleich vielfach; es ist weiß und auch scharf, auch kubisch
gestaltet, auch von bestimmter Schwere usw.“ (PhdG., S. 95)
Dieser Äußerung Hegels zufolge ist das „auch“ hier ein Medium, dass dieses Salz als ein
selbständiges Ding mit dem wahrgenommenen Vielen in Verbindung bringt. Indem dieses
„auch“ sich jedoch zugleich auf die Mannigfaltigkeit bezieht, erscheint es im wahrnehmenden
Bewusstsein nicht nur als ein Ding, sondern auch als Gleichgültigkeit. Dementsprechend
schließt ein einfaches „auch“, z. B. „auch scharf“, ein anderes „auch“ aus, weil jedes
„auch“ als die Dingheit nunmehr auch ein „für-sich-sein“, nämlich ein Selbständiges ist.
Anders gesagt, entspricht dieses „auch“ einem „nebeneinander-sein“, das in den Augen des
Bewusstseins einerseits die Eigenschaft der Zugehörigkeit zu einem Ding und andererseits die
einer Materie als solche hat. Es liegt auf der Hand, dass dieses Salz gar nicht weiß sein kann,
27
„insofern“ wir unser Augenmerk auf die Eigenschaft „scharf“ richten. (PhdG., S. 101) Dieses
„insofern“ führt das wahrnehmende Bewusstsein zu einem Widerspruch in sich, da es von
Anfang an das Anliegen des Bewusstseins war, mit seiner Wahrnehmung nach der
allgemeinen Eigenschaft zu suchen. Nachdem das Bewusstsein nun diese Erfahrung gemacht
hat, erscheinen ihm die verschiedenen Mannigfaltigkeiten nun eher als einfache allgemeine
Einheit. Die neue Gestalt des Bewusstseins, die aus diesem Widerspruch und der Erkenntnis
der Unerreichbarkeit entstanden ist, ist bei Hegel der Verstand. Der Verstand stellt die Frage
nach der Auffassung des Begriffs, der die ausgeschlossenen Mannigfaltigkeiten in die
notwendige Relation versetzt.
Der Verstand, der sich aus der Täuschung des wahrnehmenden Bewusstseins ergibt,
wendet seine Aufmerksamkeit der einfachen allgemeinen Innerlichkeit zu. Diese Innerlichkeit
ist noch immer „die Einheit des für-sich-seins und des für-ein-anderes-seins“, die bei Hegel
zuerst mit dem Kraftbegriff gefasst ist. (PhdG., S. 108) Denn nach der Einsicht des
Verstandes macht die Kraft ein zusammengesetztes Ding aus oder zerlegt dieses
Zusammengesetzte auseinander. Diese Erscheinung ergibt sich aus dem Wesen der Kraft als
der einheitlichen Innerlichkeit, da die Kraft als solche beide extreme Gestalten aufweist.
Diese Extreme sind im wesentlichen zum einen die sich entfaltende und zum anderen die
verschwindende Kraft. Beim Zurückdrängen der Kraft in sich selbst, ist sie verschwunden.
Bei der Entfaltung nach außen hingegen vereint die Kraft als Medium die vielen. (PhdG., S.
111) Demnach kann man sagen, dass die Erscheinung der Kraft im Prinzip als zwei
verschiedene Kräfte zum Vorschein kommt. Mit Hilfe der „Erklärung“ des Gesetzes versucht
der Verstand nunmehr, sich „das Spiel der Kräfte“ zu erschließen, indem die Kraft ihre
„Äußerung und Zurückdrängung in-sich“ wechselseitig leistet. (PhdG., S. 115 u. S. 116, S.
125) Bei dem Versuch der Erklärung des Gesetzes ist der Verstand jedoch deshalb in einen
Widerspruch geraten, weil die Kräfte in der erscheinenden Welt wechselseitig aufeinender
wirken, während das Gesetz immer wieder aufs neue auf alle Fälle gleich angewendet werden
soll. Dementsprechend gibt das Bewusstsein den Versuch auf, das Wahre an der Erscheinung
aufzuzeigen. In dieser Hinsicht geht es über sich selbst hinaus. Mit diesem unübertrefflichen
Hinausgehen wirft das Bewusstsein zunächst aber einen vergeblichen Blick auf „die
übersinnliche Welt“, gewissermaßen auf das Jenseits der erscheinenden Welt, obwohl es das
Wahre schon mit sich selbst hat. In diesem Sinn bringt diese Blickrichtung des Bewusstseins
wiederum auch eine Leere hervor, so wie der Gegenstand der sinnlichen Gewissheit sich als
das ärmste Allgemeine gezeigt hatte, ohne den konkreten Inhalt zu enthalten, da die
28
Verwandlung des Bewusstseins ins Übersinnliche den Gegensatz zwischen dem Diesseits und
dem Jenseits erzeugt: zum einen das Unruhige, zum anderen der leere Stillstand.
Um diesen Gegensatz wieder rückgängig zu machen, soll das Bewußtsein den
Übergang zu seinem eigenen Inneren vollziehen. Mit der Umkehrung in sich selbst wird für
das Bewusstsein erreicht, dass das stillstehende Gesetz nicht mehr das vollkommene Wahre
ist, da sich dieses Gesetz von der dynamischen Wirklichkeit unterscheidet. Ganz im Gegenteil:
das Wahre des Bewusstseins ist nunmehr „das in-sich-verkehrt-sein“, anders ausgedrückt:
„das Ungleiche des Gleichen.“ (GW. 3, S. 39) Hinsichtlich „der verkehrten Welt“, also der
Umkehrung im Bewusstsein selber, sagt Hegel:
„Das Bewußtsein eines Anderen, eines Gegenstandes überhaupt, ist zwar selbst notwendig
Selbstbewußtsein,
Reflektiertsein
in
sich,
Bewußtsein
seiner
selbst
in
seinem
Anderssein.“ (PhdG., S. 135)
Nimmt man diesen Hegelschen Satz in seiner vollen Bedeutung, liegt es auf der Hand, dass
die bisherige dialektische Bewegung des Bewusstseins auf das Lebendige hinzielt. Dieses
Lebendige weist nach Gadamer auf das „sich–gegen–sich–selbst-gekehrt[e]“ Sein, nämlich
das Verhältnis mit sich selbst hin, da es als das Selbst die Identität mit sich und zugleich die
Unendlichkeit des Unterschiedes in sich enthält. Nach der Ankunft beim Lebendigen liegt der
Erfahrung des Bewusstseins nicht mehr die Möglichkeit der Erkenntnis des äußerlichen
Gegenstandes zugrunde. Vielmehr liegt sie der Selbsterkenntnis und der Selbstkorrektur
zugrunde, die aus dem notwendigen Verlauf der Erfahrung folgt. Aufgrund dieses
Sachverhaltes äußert sich Gadamer wie folgt: „Die Seinsweise des Lebendigen entspricht
darin der Seinsweise des Wissens selber, das das Lebendige versteht.“(GW. 3, S. 45) Daher
wird die Behauptung gewagt, dass der Übergang zum Selbstbewusstsein in der
Phänomenologie Hegels aus dem notwendigen Prozess der dialektischen Bewegung des
Bewusstseins, noch konkreter formuliert, aus der Innerlichkeit des Verstandes heraus
entstanden sein muss. 16
16
Vgl. Otto Pöggeler, „Selbstbewusstsein als Leitfaden der Phänomenologie des Geistes“, in: G. W. F. Hegel
Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Dietmar Köhler/Otto Pöggeler, Berlin 1998, S. 133. Insbesondere
glaubt er in diesem Zusammenhang, dass Hegel sich, im Grunde genommen, mit dem sich selbst
auffassenden und lebendigen Selbstbewusstsein beschäftigt hat, obwohl die drei Gestalten des Bewusstseins
im 1. Kapitel (A.) bei uns die Frage nach der Erkenntnis vom Objekt zu stellen scheinen. Auf der Stufe des
Verstandes könnte die Kraft als der zusammenfassende Knoten geradewegs ins Leben führen, weil die
Struktur der verständlichen Erfahrung erstens gerade der Selbsterfahrung des lebendigen Selbst in Beziehung
zur Einheit der Identität mit dem Unterschied steht, zweitens das Wissen von der Welt und dem Selbst
insgesamt das Handeln des Menschen selbst ist.
29
I - 3. Zum ontologischen Wesen von Selbst und Leben: Die Wechselbeziehung des
Selbstbewusstseins
Das Selbstbewusstsein ist das sich von sich selbst unterscheidende Ich, das sich zugleich auf
sich selbst bezieht. Das Ich bleibt zunächt in der Beziehung, so wie die Kräfte auf der Ebene
des Verstandes aufeinander wirken. Die Kraft des Verstandes verbleibt im relativen
Verhältnis, in dem ein Ding zu seiner Existenz kommt oder zum Verschwinden gebracht wird.
Bei der Aufforderung zur Erklärung dieses Verhältnisses wird das Bewusstsein ins Innere
zurückgedrängt. Es dreht sich in Richtung auf seine eigene Innerlichkeit hin, d. h. es übt das
zu sich selbst kommende Tun aus. Das Bewusstsein hält nunmehr nicht länger an der
Gegenständlichkeit des äußeren Gegenstandes fest, sondern findet das Selbst als das Wahre
wieder: Es macht sich selbst zum Gegenstand. Mit dieser Selbstvergegenständlichung tritt das
Bewusstsein von sich selbst in dieser Phase der ontogenetischen Erfahrung des Bewusstseins
zum Vorschein. Hierin erfährt das Selbstbewusstsein, dass es sich von sich selbst
unterscheidet und vom eigenen „anders-sein“ zu sich selbst kommt. Das Selbst entzweit sich.
Es stößt sich zwar von sich selbst ab, identifiziert sich in diesem Vorgang jedoch zugleich mit
sich selbst. Mit dem Selbst als der Selbstentzweiung und Selbstidentifizierung zugleich, tritt
„das einheimische Reiche der Wahrheit“ vor uns zutage. (PhdG., S. 138) Jedoch begründet
das Selbst bei Hegel nicht mehr die transzendentale Subjektivität, obgleich es sich immer auf
sich selbst bezieht. Denn das Selbst hält nicht an der leeren Tautologie „Ich bin Ich“ fest,
sondern bezieht sich in der Beziehung auf sich selbst und zugleich auf das sich negierende
Tun. (Ebd.)
Der erste Versuch des Selbst, den Gegensatz im Bewusstsein zu überwinden und die
Einheit mit sich selbst herzustellen, heißt bei Hegel „die Begierde“, die das Moment der
Versöhnung in sich trägt. (PhdG., S. 139) Das Selbst zeigt sich in der Doppelseitigkeit der
Begierde: Zum einen treibt die Begierde das Ich zur Überwindung des Gegensatzes zwischen
dem Subjekt und dem Objekt an. Im Moment der zu befriedigenden Begierde trifft das Ich
jedoch auf der anderen Seite das selbständige Andere, sozusagen dasselbe Lebendige: Das
begehrende Ich muss für seine Selbsterhaltung den äußeren Gegenstand verzehren. Folglich
findet es sein Anderes im Verlauf der Befriedigung der Begierde, das ebenfalls die Negation
des Gegenstandes ist. Indem das Ich das sinnliche Selbstgefühl nur durch die Befriedigung
des eigenen Strebens erreicht, ist es sein oberstes Ziel, sich das Andere anzueignen und zu
vernichten, auch wenn das Andere seinerseits ein selbständiges Lebendiges ist. Mit anderen
Worten: Das Ich hält das lebendige Andere sowohl für ein Mittel, als auch für einen
30
Gegenstand, der für das eigene Leben verzehrt werden muss. An dieser Stelle macht das Ich
jedoch zwangsläufig die Erfahrung, dass das lebendige Andere nicht gänzlich vernichtet
werden darf, da das Ich sich selbst in der vollständigen Vernichtung des Anderen nicht finden
können wird. Mit diesem Moment der Begierde ist das Ich ins „Bestimmen des Lebens“
eingetreten, denn das Ich strebt mehr noch nach dem Leben als nach der Beherrschung über
das Andere. (PhdG., S. 140)
Nachdem das Ich sich auf das Spielfeld des Lebens begeben hat, weiß es zugleich,
dass es von vornherein vom lebendigen Anderen abhängig ist. Besteht das Ich auf seinem
sinnlichen Gefühl, muss es für die egoistische Befriedigung seiner eigenen Begierde das
Andere, nämlich den lebendigen Gegenstand, vernichten und aufzehren. Indem das Ich jedoch
nach dem Wiederreichen des Lebendigen durch das Andere anerkannt werden will, macht es
die Erfahrung, dass es kein „sich–finden“ im Anderen und die Anerkennung durch das
Andere geben kann, ohne selbst das überlebende Andere zu sein. Denn das Ich, das sich selbst
egoistisch behauptet, wird schließlich nicht nur das Andere, sondern vielmehr sein eigenes
Leben selber zerstören: Das Ich würde dann jegliches „außer–sich-sein“ zerstören, wenn ihm
dafür nur die natürliche Begierde nach dem Verzehren bliebe. Das Moment der Überwindung
dieser natürlichen Unmittelbarkeit ist bei Hegel geradezu das Bewusstsein vom lebendigen
Anderen. Auf diese Weise lernt das Ich, dass seine Existenz unter allen Umständen vom
Leben des Anderen abhängt, so dass das Ich sich selbst im Anderen findet und durch das
Andere auch die Anerkennung seiner Selbständigkeit erfährt. Aufgrund dieser Erfahrung
verzichtet das Ich darauf, auf seiner hartnäckigen Selbstbehauptung zu bestehen. Für den
Moment des „sich–anschauens“ im Anderen begibt sich das Ich selbst nun voll ins Leben,
anders gesagt, verzichtet es um seiner selbst willen auf seine natürliche Unmittelbarkeit.
Das Ich, das an dieser Stelle durch die Aufhebung der natürlichen Selbstbehauptung in
der Lebendigkeit versunken ist, bezieht sich nun auf die Lebensganzheit, in der das Ich sich
erzeugen lässt und das Andere erlebt: Das Ich lebt nur im Verhältnis zur Entfaltung des
Lebens. Das Leben als das Ganze enthält somit den Charakter des unendlichen Unterschiedes
und der Integration. 17 Auffallend ist, dass die ontologische Struktur des Lebens sowohl die
Entzweiung als auch die Identifizierung mit sich selbst aufweist. Im ununterbrochenen
Verlauf der dynamischen Bewegung des Lebens, sozusagen „im beständigen Austausch von
Assimilation und Selektion“, hat es jedes Ich mit dem Anderen und seiner Umgebung zu tun.
Diese Bewegung des Lebens weist darauf hin, dass die Gattung als die Grundlage der
17
Vgl. Charles Taylor, Hegel, Frankfurt a. M. 1983, S. 203ff. Nach seiner Behauptung habe Hegel von Anfang
des Kapitels „Selbstbewußtsein“ an auf die totale Integrität abgezielt. Anders gesagt, liegt der
Integritätsbegriff dem Streben des Selbst fundamental zugrunde.
31
Seinsweise des Einzelnen zeitlich voran geschritten ist. (GW. 3, S. 50ff.) Diese Struktur des
Lebens betreffend sagt Hegel:
„Das Leben in dem allgemeinen flüssigen Medium, ein ruhiges Auseinanderlegen der
Gestalten wird eben dadurch zur Bewegung derselben oder zum Leben als Prozeß. Die
einfache allgemeine Flüssigkeit ist das Ansich und der Unterschied der Gestalten das
Andere.“ (PhdG., S. 141)
Und ergänzend dazu:
„Denn da das Wesen der individuellen Gestalt, das allgemeine Leben, und das Fürsichseiende
an sich einfache Substanz ist, so hebt es, indem es das Andere in sich setzt, diese seine
Einfachheit oder sein Wesen auf, d. h. es entzweit sie, und dies Entzweien der
unterschiedslosen Flüssigkeit ist eben das Setzen der Individualität.“ (PhdG., S. 142)
Das Leben ist, wie so eben betont, der Prozess, der alles Lebendige in der unendlich flüssigen
Entzweiung erzeugt, in der alles Lebendige integriert ist. Im Prozess der Erfahrung, die sich
maßgeblich auf dem Leben aufbaut, erlebt jedes Einzelne zugleich das ganze Leben wie auch
die „einfache flüssige Substanz.“ (PhdG., S. 140) Zu diesem Zweck hebt das Einzelne die
unmittelbare Begierde, nämlich die abstrakte Selbständigkeit, auf. Das Einzelne erkennt sich
selbst nur in dem gewissen Bewusstsein, dass sein „für-sich-sein“ oder sein „anerkanntwerden“ sich aus dem Leben als der Gattung ergibt, weil jedes Einzelne sich, wie oben bereits
erwähnt, nur durch die unmittelbare Begegnung mit dem Anderen anschauen kann. Es liegt
auf der Hand, dass das Ich sich um seiner selbst willen bei der unmittelbaren Begegnung mit
dem lebendigen Anderen auf das Gattungsleben, in dem es sich selbst bestätigen und das
Andere erfahren kann, einlässt. Auf der anderen Seite ist das ganze Leben als das „einfache
allgemeine Medium“ oder die „allgemeine Flüssigkeit“ (Ebd.) für die Gliederung in die
einzelnen Gestalten verantwortlich. 18 Das flüssige Leben besteht in dem schrittweisen
Hervortreten der einzelnen Gestalten und auch in seinem Tod. In diesem Sinn ist das Leben
der fundamentale Schauplatz, auf dem jeder zur Welt und zum Tode kommt. Hier wird vor
allen Dingen deutlich, dass das allgemeine Leben als ein unaufhörlicher Kreislauf von
18
Vgl. H. Marcuse, Hegels Ontologie, S. 261. Nach seiner Position sind diese drei Bestimmungen, d. h. „das
einfache allgemeine Medium“, „allgemeine Flüssigkeit“ und „einfache flüssige Substanz“, die der Ontologie
Hegels, weil der Lebensbegriff bei Hegel zuallererst als der Geist selbst auftritt, der sich von sich selbst
abstößt und sich zu sich selbst verhält. Deshalb verweist der Prozess des Lebens auf die Selbstverwirklichung
des Geistes.
32
Erzeugen und Tod die ontologische Grundlage für alle Lebendigen ist. Das Medium des
allgemeinen flüssigen Lebens teilt zudem die Einheit der Gliederung in die einzelnen
Gestalten auf, in denen jedes Ich seine je eigene Besonderheit, d. h. seine Natürlichkeit,
negiert. Diese Einheit ist bei Hegel „die einfache Gattung.“ (PhdG., S. 143) Somit stellen wir
fest, dass das Leben, das die mediale Einheit des Selbst mit dem Anderen realisiert, bereits
das Vorbild des Geistes ist. Dass das Leben hier jedoch bereits die Selbstentwicklung oder
den Charakter des Geistes bestätigt, stellt sich nicht in der Form da, dass der Geist in dieser
Stufe des Selbstbewusstseins bereits verwirklicht ist. Der Hegelsche Begriff des Geistes wird
sich, dem Ablauf seiner textimmanent kompositorischen Konstellation zufolge, erst am Ende
der Phänomenologie offenbaren. (GW. 3, S. 49) 19 Dennoch kann man bereits jetzt sagen, dass
das geistige Leben schon der von Hegel selbst vorweggenommene Begriff des Geistes ist.
Nach der doppelten Negation, einerseits der Selbstnegation durch die unentrinnbare
Betroffenheit mit dem unmittelbaren Gegenüber und andererseits der Negation des Anderen
in den kompletten Lebenszusammenhängen, kehrt das Ich in sich selbst zurück. Anders
formuliert, will das Ich zunächst dieses sich selbst behauptende Selbst in der Negation des
Anderen bewahren und damit zugleich sich selbst in der Selbstnegation finden, da das Ich die
Anerkennung durch das Andere anstrebt. Dieser Prozess kann als die Rückkehr zum
ontologischen Wesen von Selbstbewusstsein und Leben angesehen werden. Aus dieser
ständig sich selbst negierenden Erfahrung lernt das Ich, dass „das Selbstbewußtsein seine
Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein erreicht.“ (PhdG., S. 144) Daraus, dass
das Ich von der unausweichlichen Abhängigkeit vom Anderen im Verlauf der wechselseitigen
Anerkennung weiß, ist zu schlußfolgern, dass diese intersubjektive Anerkennung im
allgemeinen Bewusstsein, also unserem gemeinsamen Bewusstsein, verankert ist. Die
Anerkennung als Ich–Du–Beziehung hat zwangsläufig die Ich–Wir–Beziehung zur Folge, da
das Ich immer schon in der Wir–Dimension als einem ontologischen Sinnganzheitshorizont
eingebettet ist. Diese wird das Ich auf diesem Weg zu der Erkenntnis dessen führen, was der
19
Vgl. Otto Pöggeler, Hegels Idee, S. 248, S. 283. Auf diesen beiden Seiten macht er vor allem auf die
gesellschaftliche und religiöse Rolle des Geistes im Verhältnis zum gesamten System der Phänomenologie
aufmerksam. Diese Rolle wird später im Kapitel über den Geist oder die offenbare Religion realisiert,
obwohl der Lebensbegriff im Selbstbewusstsein schon als der Inbegriff des Geistes erscheint. In diesem Sinn
könnte das „Leben“ Gottes und das göttliche „Erkennen“ als die Ausbreitung und Ausstrahlung der
göttlichen „Liebe“ aufgefasst werden. Aber das Bewusstsein soll, wie in der Einleitung beschrieben, den
Weg zur Selbstverzweiflung, d. h. zur Selbstnegation bis hin zum notwendigen Übergang zur Station des
Geistes erfahren. Auch Gadamer glaubte, dass die Wahrheit von Selbstbewusstsein und Leben in der Etappe
des erscheinenden Geistes erreicht wird, in der sich die Einheit des Selbst mit dem Bewusstsein bildet.
Dagegen bringt L. Siep seinen Zweifel zum Ausdruck, dass der Hegelsche Lebensbegriff mit dem
„animalischen Leben“ oder dem „metaphysischen Leben“ verbunden sei, so wie sich das „Wahre“ beim
frühen Hegel zeigt. Diesbezüglich vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, S. 100.
33
Geist selbst als die absolute Freiheit bedeutet. Den Begriff des erscheinenden Geistes
vorwegnehmend, äußert sich Hegel wie folgt:
„Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute
Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes,
nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich,
das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem
Begriff des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des
sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag
der Gegenwart einschreitet.“ (PhdG., S. 145)
In diesem Zusammenhang führt das intersubjektive Anerkennungsverhältnis dem Bewusstsein
vor Augen, dass es die wechselseitige Anerkennung mit der Anerkennung vom allgemeinen
Bewusstsein zu tun hat; dem Ich im Wir und dem Wir im Ich. So gesehen kann man sagen,
dass der Geist als die absolute Harmonisierung des Subjekts mit der Substanz hier
vorweggenommen wird, obwohl dieses Ziel erst am Ende der Phänomenologie ausführlich
realisiert wird. Hegel stellt überdies mit dem vorweggenommenen Begriff des Geistes die
Wechselbeziehung zwischen Herr und Knecht als die berühmte Dialektik der zwei
verschiedenen Formen des Selbstbewusstseins dar.
Schon aus dieser Erörterung der Ich–Wir–Beziehung geht folglich hervor, dass der
Kampf um Anerkennung der verschiedenen Ausprägungen des Selbstbewusstseins in der
Phänomenologie nicht direkt ins Rechtsverhältnis übergeht, weil die Idee der Phänomenologie,
das Bewusstsein von der Einheit des Ich mit dem allgemeinen Bewusstsein, wie es oben
erwähnt wurde, erst auf der Ebene des Geistes zum Ziel führen wird. Folglich führt die
gegenseitige Anerkennung in der Phänomenologie nicht zur Harmonie, also der Versöhnung
des Individuums mit der Gesellschaft. Vielmehr geht dieses Anerkennungsverhältnis mit dem
noch nicht aufgelösten Widerspruch zu Ende. An dieser Stelle kann man sich wiederum in
Erinnerung rufen, dass Hegel die Entstehungsgeschichte des einzelnen Bewusstseins in der
Phänomenologie ausführen wollte, während der frühe Hegel das Rechtsverhältnis von der
intersubjektiven Wechselbeziehung vornehmlich aus der Jenaer Geistesphilosophie ableitet.
Warum Hegel die interpersonelle Wechselbeziehung im Rechtsverhältnis im Kapitel
„Selbstbewusstsein“ der Phänomenologie nicht abhandelt, ergibt sich m. E. aus der
Gesamtkonzeption der Phänomenologie.
34
Mit
dem
oben
angedeuteten
Problem,
das
aus
dem
Systementwurf
der
Phänomenologie, anders gesagt, deren ontogenetischem Charakter entstanden ist, kann man
davon ausgehen, dass sich das Herr– und Knechtverhältnis in der Phänomenologie als ein
brutaler Kampf zeigt. In der Tat gibt es in der Phänomenologie die Struktur des
revolutionären und tödlichen Kampfes, dessen Prozess man auch als einen Klassenkampf
sehen kann. Kojève hat aus der Anerkennungstheorie Hegels eigene Aspekte herausgearbeitet,
die man anthropologisch und geschichtlich nennen kann. In Kojèves Augen beginnt die
existenzielle Grundlage des Menschen inmitten der verzehrenden Begierde, mit dem „das
Daseiende zerstörenden und negierenden Tun.“ Demzufolge gründet sich die Existenz des
Menschen bei ihm zu Beginn lediglich auf das animalische Leben. So gesehen folgt die
menschliche Existenz seiner Ansicht nach einzig aus dem brutalen Kampf oder dem
Prestigekrieg. Demzufolge kann weder der Krieger–Herr noch der dem Herrn unterworfene
Knecht, sondern nur der durch die Arbeit sich selbst bewusste Knecht, die wesentliche
Existenz des Menschen verwirklichen und den wahrhaften Fortschritt der menschlichen
Geschichte erreichen. An dieser Stelle gibt Kojève uns aus der materialistischen Perspektive
gesehen den Hinweis, dass Hegels Anerkennungstheorie in der Phänomenologie nichts
anderes als der Kampf der Klassen ist, der die komplette Geschichte der Menschheit
durchzieht, die Menschengattung somit insgesamt zur Emanzipation von der primitiven
Klassenarbeit hinströmt. 20
Im Gegensatz dazu geht es Gadamer um die ontologische Perspektive, die sich aus der
unmittelbaren Begegnung mit dem Anderen, sozusagen der alltäglichen Sitte, ergibt. Auf der
gesellschaftlichen Ebene und in der alltäglichen Lebenswelt, in der wir unsere Anderen
treffen und erleben, hat man dann ein Gefühl des Leidens, wenn das eigene Benehmen durch
den Anderen verkannt oder die Anerkennung von anderem verweigert wird. Dieser alltägliche
Umgang mit dem Anderen in der Lebenswelt steht auf jeden Fall im Zusammenhang mit der
Liebe oder der Vertrautheit zueinander. Somit kann man sagen, dass der Grundstein der
zwischenmenschlichen Beziehung, die sich aus dem natürlichen Bedürfnis nach Liebe ergibt,
in der Familie gelegt ist. Die unmittelbare Begegnung von Mann und Frau, die in die Familie
als dem ersten Modus der Versöhnung miteinander übergehen wird, beinhaltet offensichtlich
das Moment der Liebe. (GW. 1, S. 349, GW. 3, S. 56) Im Anschluss an Gadamers Einsicht
können wir nunmehr davon ausgehen, dass der wechselseitigen Anerkennung des jeweiligen
20
Vgl. Alexandre Kojève, Hegel, Frankfurt a. M. 1975, S. 55 – 62, S. 70. Zum Einspruch gegen die
marxistischen und materialistischen Interpretationen von Hegels „Dialektik von Herrschaft und
Knechtschaft“, Henning Ottmann, „Herr und Knecht bei Hegel – Bemerkungen zu einer missverstandenen
Dialektik“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Otfried Höffe,
Meisenheim/Glan 1981, S. 365 – 366.
35
Selbstbewusstseins bei Hegel eine „emotionelle Beziehung“ zugrunde liegt, 21 wie die Liebe in
der Familie und die Solidarität im Rechtsverhältnis vorausgesetzt ist. So müssen wir nicht nur
auf das „Selbstbewußtsein“ der Phänomenologie, sondern auch auf Hegels Jenaer
Geistesphilosophie unser Augenmerk werfen. Von hier aus wird der Kampf um Anerkennung
auf dem alltäglichen Spielfeld der gesellschaftlichen Sitte, als eine Intimbeziehung zwischen
Gebendem und Nehmendem, Beleidigendem und Beleidigten in Betracht gezogen werden
müssen: Die Anerkennung als die Aufforderung, sich selbst zum Menschen zu werden, wird
durch die Verkennung und die Verachtung durch den Anderen aus der unmittelbaren
Beziehung unter den Menschen in der alltäglichen Lebenswelt vereitelt. Anders formuliert
darf der Anerkennungskampf, der darin besteht, das Selbst im Anderen wieder zu finden,
nicht nur auf dem Weg zum kriegerischen, revolutionären und brutalen Kampf stattfinden.
Vielmehr werden wir der Begierde nach dem Leben, also dem Willen des Selbst, das Leben
zu erhalten, dessen Antrieb für die Versöhnung das Motiv der Liebe ist, unsere
Aufmerksamkeit schenken müssen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit
das Leben und die Liebe die Fähigkeit besitzen, das einzelne Subjekt mit dem allgemeinen
Bewusstsein zu vereinigen. In Hegels Darstellung vom Übergang von der menschlichen
Natürlichkeit über die egozentrische Eigensinnigkeit hin zur Harmonie mit dem Anderen in
der Gesellschaft, begegnen wir dem wieder, das damit zugleich zeigt, welche Rolle dabei die
Liebe in Bezug auf das ethisches Moment spielen sollte. Ich werde zunächst Hegels Versuch
einer gesellschaftlichen Vereinigung von der Frankfurter Zeit bis hin zur frühen Jenazeit
verfolgen: einerseits anhand des Lebens Jesu, anderseits durch die Uminterpretation der
antiken Ansätze im Rahmen der praktischen Philosophie. Daran anschließend soll die
wechselseitige Beziehung in der Jenaer Geistesphilosophie in Bezug auf die ontologische
Struktur der interpersonellen Erfahrung beleuchtet werden. Dazu werde ich zunächst auf die
Liebesbeziehung unter den Subjekten auf der gesellschaftlichen Ebene in Bezug auf Hegels
Denkentwicklung in der Gesellschaftstheorie eingehen.
21
Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1992, S. 283 – 285.
36
II. Das Prinzip der Anerkennung in der früher Zeit
Will man Hegels Denkentwicklung von der Frankfurter bis zur Jenaer Zeit hin untersuchen,
muss man zunächst von den Fragestellungen ausgehen, warum Hegel die Philosophie von
Kant und Fichte unter der veränderten Situation seiner Epoche kritisch akzeptiert hat und auf
welchem Weg er unter dem Einfluß seiner Freunde im Tübinger Stift, Schelling und Hölderlin,
zu seinem eigenen Standpunkt gelangte. In Bezug auf die beiden Philosophen Kant und Fichte
leistet Hegel, um es hier kurz zu erwähnen, zum einen Kritik an der isolierten Subjektivität
und zum anderen weist er auf die Grenzen des Reflexionsaktes hin, da die Reflexion seiner
Meinung nach zu einer dauerhaften Trennung führt 22 und trotzdem die Philosophie doch auf
„das ungeteilte Leben“, 23 nämlich die vollständige Vereinigung unter den Lebendigen
abzielen soll. In seiner kritischen Ausrichtung gegen die beiden Philosophen macht Hegel
hauptsächlich in seinen Jugendarbeiten, vor allem in den Fragmenten über „Religion und
Liebe“ und im „Geist des Christentums“ auf den Aufstieg von der endlichen Lebendigkeit
zum unendlichen Leben als der vollendeten Harmonie, d. h. die Erhebung von der
unauflösbaren Entgegensetzung unter den endlichen Lebendigen zur vollständigen
Vereinigung im Leben zugunsten der Liebe, aufmerksam. In seinem Streben nach der
absoluten Harmonie des Lebens sieht Hegel die ursprüngliche Fähigkeit, „das endliche Leben
in das unendliche Leben“ schließlich zu überführen, an dieser Stelle nicht in der Philosophie,
vor allem nicht in der Reflexionsphilosophie, sondern vielmehr versucht er, die absolute
Vereinigungskraft in der Religion zu finden. In diesem Kontext schreibt Hegel, dass „die
Philosophie eben darum mit der Religion aufhören muß.“ (Früh., S. 422 – 423)
Nachdem Hegel in seinen Jugendschriften die vollständige Vereinigung des Lebens
aus dem Erlebnis der Religion, dem religiösen Liebesgefühl, zu gewinnen versucht hatte,
wandte er noch in der Jenaerzeit seine frühe Jugendkonzeption der Philosophie auf die
politisch–gesellschaftstheoretische Philosophie an. „Das Bedürfnis der Philosophie“ habe, wie
es von K. Rosenkranz berichtigt wurde, die epochale Wirklichkeit, „ihren (=Philosophie,
KBL) Zusammenhang mit dem Leben und den politischen Wissenschaften“, anpassend
darzustellen. 24 Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass die politisch–gesellschaftliche
Philosophie, vor allem der Naturrechtsaufsatz und das „System der Sittlichkeit“, in der ersten
22
23
24
Vgl. zum Hegelschen Begriff der Reflexion in früher Zeit, Rüdiger Bubner, „Problemgeschichte und
systematischer Sinn einer Phänomenologie“, in: Hegel – Studien, hrsg. v. Friedhelm Nicolin und Otto
Pöggeler, Bd. 5, Bonn 1969, S. 134 – 135.
G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, in: Werke in 20 Bände, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel,
Bd. 1, Frankfurt a. M. 1986, S. 420, Im folgenden abgekürzt: Früh.
K. Rosenkranz, G. W. F. Hegels Leben, Darmstadt 1998, S. 179.
37
Jenaer Zeit in Hegels Denkentwicklung zur Phänomenologie des Geistes – zumindestens in
Bezug auf die interpersonelle Anerkennung im Rahmen der praktischen Philosophie – einen
wichtigen Stellenwert hat. Daran anschließend versucht Hegel in Jena sein System der
Philosophie aufzubauen, konkreter noch, seine eigene Konzeption der gesamten Philosophie
so zu gliedern wie sein späteres System. Der Äußerung von Rosenkranz zufolge, hat Hegel in
seiner Vorlesung in Jena sein System der Philosophie in die folgenden vier Teile aufgeteilt:
„1) die Logik oder die Wissenschaft der Idee als solcher(= Logik und Metaphysik), 2) die
Naturphilosophie oder die Realisation der Idee, die sich zunächst in der Natur ihren Leib
erschafft(= die physische Natur), 3) die sittliche Natur als der reale Geist(= Philosophie des
Geistes), 4) die Religion als die Resumption des Ganzen in Eins, als die Rückkehr zur ersten
Einfachheit der Idee(= Philosophie des absoluten Geistes).“ 25 Bezüglich dieser Aufteilung des
Hegelschen Systems der Philosophie, behauptet Heinz Kimmerle, dass die frühen Hegelschen
Systementwürfe auf dem Weg zur Phänomenologie des Geistes ursprünglich den Charakter
der „embryonalen Gestalt“ 26 hatten. So schrieb er in einem anderen Aufsatz, dass „diese(= die
spätere Auffassung, KBL) als das Telos jener(= der früheren Auffassung, KBL) erscheint.“ 27
Im Gegensatz dazu bemerkt Rolf P. Horstmann zu der Annahme von Kimmerle, dass Hegels
Naturbegriff in der Jenaer Zeit in dem Naturrechtsaufsatz und dem „System der Sittlichkeit“
eine Zweideutigkeit aufweisen: Hegel sei in beiden Arbeiten „von dem umfassenden
Naturbegriff, d. i. einerseits der physischen Natur, andererseits der sittlichen Natur,
ausgegangen.“ Aus diesem Grund merkt Horstmann auch an, dass es Hegel in der frühen
Jenazeit, vor allem im Rahmen der politisch-gesellschaftlichen Philosophie, für nötig hielt,
die Einführung in das Bewusstsein darzustellen, um die Sittlichkeit im gesellschaftlichen
Leben ausführlich zu vollziehen. 28
Nichts desto trotz wird deutlich, dass Hegel die vollendete Vereinigung im
gesellschaftlichen Zusammenleben, die interaktive Anerkennung unter den Mitgliedern der
25
26
27
28
Ebd.
Heinz Kimmerle, „Zur Entwicklung des Hegelschen Denkens in Jena“, in: Hegel – Studien Beiheft 4, hrsg. v.
Hans–Georg Gadamer, Bonn 1984 (2. Aufl.), S. 31. Er ging in diesem Aufsatz davon aus, dass „die Studien
zur Verfassung Deutschlands“ in den Jahren 1801 – 1804 in der Hegelschen Denkentwicklung zur späten
Bewusstseinsphilosophie eine entscheidende Rolle spielen. Seiner Ansicht nach scheinen uns diese Studien
im Prozess der Hegelschen Denkentwicklung zunächst einen Anknüpfungspunkt an die Ansätze der
Jugendzeit mit dem Philosophiesystem in der Jenaer Zeit anzubieten. Auch mag der Denkansatz der
systematischen Abgeschlossenheit in diesen Studien in der Konzeption des Philosophiesystems der späteren
Enzyklopädie konsequent widerspiegelt werden.
Ders., „Anfänge der Dialektik“, in: Der Weg zum System, hrsg. v. Christoph Jamme und Helmut Schneider,
Frankfurt a. M. 1990, S. 274. In diesem Zusammenhang hat er ein Fragment in den „Studien zur Verfassung
Deutschlands“ von Hegel in der Jenaer Zeit, das in die gesamten Arbeiten eingeordnet werden kann, präziser
interpretiert, um seinen Erwartungen im obigen Aufsatz gerecht zu werden.
Rolf Peter Horstmann, „Probleme der Wandlung in Hegels Jenaer Systemkonzeption“, in: Philosophie
Rundschau (19), hrsg. v. Hans–Georg Gadamer u. Helmut Kuhn, Tübingen 1972, S. 112 – 113.
38
Gesellschaft, nach wie vor als das Ziel der Philosophie, zumindestens der praktischen
Philosophie, sieht und dass der Naturrechtsaufsatz und das „System der Sittlichkeit“ dafür in
dieser Systementwicklung eine wichtige Rolle spielen, wobei damit jedoch die polemische
Auseinandersetzung über Hegels Konzeptumwandlung nach wie vor nicht gelöst ist. Mit dem
Ziel, die endliche Einzelheit des natürlichen Menschseins zu der unendlichen Ganzheit des
Lebens zu erheben, versucht Hegel im Naturrechtsaufsatz, der im kritischen Journal der
Philosophie (1802/03) erschien, die gesamten Phänomene des Sittlichen in einer kritischen
Auseinandersetzung mit Kants, Fichtes und Hobbes Naturrechtsauffassung detailliert zu
analysieren und aus dem Resultat der Interpretation seine politisch-gesellschaftliche
Philosophie zu entwickeln. Im „System der Sittlichkeit“, das nahezu zeitgleich mit dem
Manuskript des Naturrechtsaufsatz verfaßt worden sein soll, konzipiert Hegel anhand des
Schemas der Subsumtion von Anschauung und Begriff unter dem Einfluss von Schelling, die
konkrete Einheit zwischen der Einzelheit und der Allgemeinheit auf der Stufe der in der
Gestalt des Begriffs enthaltenen Anschauung. Hinsichtlich dieser Denkentwicklung Hegels
hoffe ich, im folgenden deutlich machen zu können, inwieweit die Liebesbeziehung für Hegel
beim Übergang von der Frankfurter zur Jenaer Zeit, zu der freiwilligen Integration des
einzelnen Subjekts in die Gesellschaft führen kann und wie das Liebesgefühl auch im
Verhältnis zu der interaktiven Anerkennung im Rechtsverhältnis entsprechend darzustellen
ist, d. h., wie das einzelne Subjekt im Falle eines Rechtskonflikts den Selbstverzicht und die
Selbsthingabe im Laufe der Vergesellschaftung bildungsgeschichtlich erlernen kann. Damit
möchte ich zeigen, inwieweit Hegel auch nach der so genannten Konzeptionsumwandlung zur
Bewusstseinsphilosophie hin, das unauflösbare Spannungsverhältnis von Ich und Du in der
anerkennenden Wechselbeziehung vor dem Horizont des gesellschaftlichen Zusammenlebens
beibehält.
39
II - 1. Der Begriff der Liebe in der Frankfurter Zeit: Das Streben nach der Befreiung vom
Leiden an der Zerrissenheit
In „Entwürfe über Religion und Liebe (1797/98)“ versucht Hegel, uns mit den beiden
Begriffen „Liebe und Leben“ den Übergang von der Entzweiung über die Entgegensetzung
bis hin zur Wiedervereinigung zu präsentieren. Jedoch darf die Liebe, die gegenüber der
Zerrissenheit im gesellschaftsgeschichtlichen Leben die Vereinigung wiederherstellt, hier
nicht als jene total vermittelte Einheit gefasst werden, wie dies im sich begreifenden Begriff
und dem sich denkenden Denken beim späten Hegel geschieht. Vielmehr handelt es sich bei
dem Begriff, wie ihn Hegel in seiner Frankfurter Zeit verstanden hat, um das alltägliche
Verhältnis z. B. zwischen den Liebenden im gesellschaftlichen Leben, hat er in diesen kurzen
Schriften die konkreten Gestalten der Liebe doch so dargestellt. Durch die Analyse der
Phänomene der Liebe führt er die Liebe als Vereinigungskraft der Realität und der
Wirklichkeit ein. Hegels Begriff der Liebe bezeichnet hier im eigentlichen Sinn die Fähigkeit,
die Mannigfaltigkeit im Leben in sich aufzunehmen und mit den anderen eins zu sein. Das
Leben überwindet die in ihm enthaltene Entzweiung, indem die Liebe im Leben jegliche
Unterschiede in ihre Vereinigung mit einbezieht. Mit dieser Konzeption konzentriert sich
Hegel in den frühen Fragmenten auf das Begriffspaar „Liebe“ und „Leben“, um die liebevolle
Gesellschaft als die wiederherzustellende Harmonie im Leben zu skizzieren. In diesem
Zusammenhang
spricht
sich
Hegel
unter
dem
Einfluss
der
Hölderlinschen
Vereinigungsphilosophie gegen die transzendentale Moralität Kants aus. Hölderlin hat einen
entscheidenden Einfluß auf den frühen Hegel „beim Übergang zu seinem eigenen, von Kant
und Fichte schon im ersten Schritt abgelösten Denken“, wie D. Henrich bemerkt. Hegel
entwickelt sich jedoch schließlich in eine andere Richtung als Hölderlin, um seine eigene
Denkfigur konstruieren zu können. 29
Mit dieser umfangreichen Konzeption kritisiert Hegel im Fragment über „Moralität,
Liebe, Religion“ das moralische Gebot, - der Imperativsatz, der der Soll-Logik folgt, wird in
der Kategorie von „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“ formuliert - das von dem Lebendigen
abstrahiert. Nach der Ansicht Hegels ist der Begriff der Moralität gemäß der
individualistischen Morallehre Kants unvollständig, da dieser Moralbegriff die lebendige
Tätigkeit entbehre: Die Morallehre Kants habe den Trieb und das Bedürfnis des Menschen
außer Acht gelassen. Der Mensch hat in der Tat die Sehnsucht nach dem Unendlichen oder
Absoluten. Gleichzeitig hat er jedoch auch unterschiedliche Bedürfnisse – so gesehen können
29
D. Henrich, „Hegel und Hölderlin“, in: ders., Hegel im Kontext, S. 11.
40
wir uns als ein Doppelwesen bezeichnen - und will diese Bedürfnisse befriedigt wissen.
Indem die Moralität von den konkreten Handlungen der Subjekte getrennt ist, erscheint sie
uns immer als ein „durch ein Achtung oder Furcht erweckendes Objekt“. (Früh., S. 240)
Zufolge der Maxime dieser Moralität, die stets in der abstrakten Form verharrt und deshalb
von der Wirklichkeit isoliert ist, finden wir uns selber als die Handelnden in der Gesellschaft
immer nur auf der Ebene einer idealisierten Subjektivität, nämlich der leeren Abstraktion, die
weder Trieb noch Sehnsucht, geschweige denn die Begierde kennt, wieder. Demzufolge
beinhaltet diese formale Moralität des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt, zwischen
Endlichem und Unendlichem bzw. zwischen Freiheit und Notwendigkeit für Hegel keine
lebendige Vereinigung. Dementsprechend richtet Hegel seine Aufmerksamkeit auf die
Fähigkeit der Liebe, um aus der Zerrissenheit im Leben die Harmonie wiederherzustellen.
Im Fragment über „Liebe und Religion“ weist Hegel uns zunächst auf „Schuld und
Schicksal“ als die beiden Ursachen für die Zerrissenheit im Leben hin. In Bezug auf die
Schuld kann man sich relativ leicht mithilfe des Strafgesetzes verständigen, da sich klar
definieren läßt, wem die Schuld zugeschrieben werden kann, wer für die Schuld
verantwortlich ist und warum man sich aufgrund verbrecherischer und unmoralischer
Handlungen anhand der Betrachtung vom konkret-zeitlichen Geschehen schuldig fühlen muß.
Darüber hinaus will man auf der Grundlage des Schuldbewusstseins durch die Strafe die
Vereinigung mit der „Gottheit“, sozusagen dem allgemeinen Moralbewusstsein, erreichen.
Beim Schicksal verhält es sich jedoch so, dass es als Ursache für die Trennung außerhalb des
Menschen liegt und für ihn nicht sichtbar ist. Das Schicksal sei, so Hegel, deshalb eine
„unbekannte Macht“. (Früh., S. 243) Hier wird gezeigt, dass diese Macht für das handelnde
Individuum im voraus nicht berechenbar ist, der Mensch ihrem Angesicht jedoch immer
schon gegenübersteht. Somit wird das Individuum bei jeder erneuten Handlung gezwungen,
sich dafür zu entscheiden, ob es die Versöhnung mit dem von ihm selbst nicht anerkannten
Gesetz annimmt oder im Festhalten an den eigenen Gesetzen zum Verbrecher wird, der vom
geltenden Gesetz verurteilt wird. Denn ein Verbrecher richtet sich z. B. gegen das Schicksal
als „die unbekannte Macht“ bzw. die gegenwärtigen Institutionen, wenn ihm diese Macht als
das Unakzeptable oder Abstrakte erscheint und er folglich eine neue Macht beansprucht, um
sein eigenes Selbst zu behaupten. Deswegen tritt der Gegensatz im Schicksal bei Hegel im
Grunde als die „ewige Trennung“ auf, die unüberbrückbar ist. (Früh., S. 244) In Hegels
Augen vermag es allein die Religion, die „eins mit der Liebe“ ist, als Religion der Liebe die
ewige Trennung in Harmonie zu überführen, indem Gott in der Religion „eins mit unserem
Wesen“ ist. (Ebd.) Aber hier gibt Hegel uns hinsichtlich des Liebesbegriffes nur sehr wenige
41
Hinweise; die Liebe wird er später noch als die wirkliche Gestalt der Versöhnung
beschreiben. Letztlich beendet Hegel das Fragment mit dem Ausdruck, Liebe sei „ein
Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen.“ (Ebd.) Trotz dieser Äußerung wollte Hegel in
diesem Fragment m. E. die Liebe in den Blick rücken, die allein es vermag, sämtliche
Gegensätze in der harmonischen Versöhnung aufzulösen und alle Unterschiede in sich zu
vereinen. Somit wird die Fähigkeit der Liebe im weiteren Fragment zu einer
Versöhnungskraft.
Im Fragment über „Die Liebe“ widmet Hegel zunächst sein Interesse noch mehr dem
gesellschaftlichen Bereich, indem er die Rechtsverhältnisse in der Gesellschaft thematisiert.
Was eigentlich eine Rechtsbeziehung im gesellschaftlichen Leben ist, zeigt Hegel anhand des
Beispiels, in dem ein Individuum sich in einer Konfliktsituation gegen die Anderen richtet:
Zunächst will es die Anderen von seinem Eigentum ausschließen, um seine Selbstheit zu
behaupten und zu erhalten, wenn beide z. B. hinsichtlich des Besitzes miteinander in Konflikt
geraten sind. In diesem Konfliktzustand ist eine völlige Verständigung, die aus der Liebe
resultieren soll, undenkbar. Dementsprechend sieht Hegel die Ursache einer solchen
Auseinandersetzung in der Gesellschaft allein in einem trieborientierten Standpunkt. Dasselbe
gilt nach Hegel auch für die „Reflexion“, da sie ebenso wie der Verstand und die Vernunft als
Ziel ihres Erkenntnisvermögens nur Gegensätze und Trennung zur Folge hätten – hier kann
man erkennen, dass Hegel dieses Erkenntnisvermögen lediglich als die Fähigkeit einer
Zuordnung und deshalb einer Rechnung ansieht. Denn genauso wie der Verstand und die
Vernunft verhaftet die Reflexion, dem Standpunkt Hegels zufolge, immer am Unterschied
zwischen dem Bestimmenden und dem Bestimmten, dem Einschränkenden und dem
Eingeschränkten. In Bezug auf die Kategorie der Kausalität könnte man, genau genommen,
die Ursache als das Bestimmende der Wirkung nennen, aber auch umgekehrt die Wirkung als
das Bestimmende der Ursache bezeichnen, da die Ursache, begrifflich gesehen, von der
Wirkung bestimmt ist. In diesem Sinn ist die Reflexion ebenso wie die Rechtsverhältnisse bei
Hegel noch immer ein Anlaß für Gegensätze. Um diese Gegensätze aufzulösen, wirft Hegel
seinen Blick auf das Potential des Lebens. Anders ausgedrückt, beinhaltet das Leben bereits,
so wie Hegel das gesamte Leben sah, sein eigenes Heilmittel in sich, auch wenn uns diese
Ausdrucksweise in der heutigen Zeit sehr metaphorisch erscheint. Das Leben wird deshalb bei
ihm als die „vollendete Einigkeit“ bezeichnet (Früh., S. 246): Das Leben stellt mit der Liebe
die Harmonie wieder her, sofern es die eigene Fremdheit und die ewig bei sich selbst
produzierte Mannigfaltigkeit in sich vereint. So können seine Verletzungen und Trennungen
in der Ewigkeit des fließenden Lebens wieder geheilt werden. Bei dem Weg des Lebens hin
42
zur Vereinigung bedeutet die Liebe hier auch die Fähigkeit, einen Konflikt in die Harmonie
mit einzubeziehen und alle Widersprüche in der Einheit des Lebens aufzuheben. Der
Äußerung Hegels zufolge ist es zunächst bezeichnend, dass die Liebe „dem Entgegengesetzen
allen Charakter eines Fremden raubt“, unter dem Namen der Liebe „das Leben sich selbst
ohne weiteren Mangel findet“, und schließlich „das Lebendige das Lebendige fühlt“. (Ebd.)
Der letzte Satz gibt bereits, wie Hegel erwähnt, einen Hinweis darauf, dass die Liebe einfach
ein Gefühl ist, in dem das Leben die völlige Identität der Unterschiede erlebt und sich selbst
rekonstruiert.
Der Weg des Lebens zur Selbstrekonstruktion durch die Liebe wird bei Hegel in der
Darstellung des Gefühls der „Scham“ noch sehr viel offensichtlicher. Das Schamgefühl zeigt
sich zunächst als eine moralische und sittliche Emotion: Man empfindet die Scham als die
natürliche Reaktion bei dem Verstoß gegen eine Sitte. In diesem Fall ist man in den „Zorn“
auf sich selbst geraten, der aus der Liebe entsteht. Die Scham versetzt mich mitunter in die
drastische Feindseligkeit mir selbst gegenüber, ohne bei der Liebe zu sein. Im alltäglichen
Leben schäme ich mich, wenn ich gegen die übliche Sitte und die gesellschaftliche Etikette, z.
B. die Gepflogenheit des Grüßens, verstoßen habe. Umgekehrt gerate ich dann aber in
wütenden Widerstreit gegen die Anderen, wenn ich mich durch die Anderen verachtet und
entwürdigt erlebe. So gesehen kann das Schamgefühl, wie oben erwähnt, nur mit der Liebe als
der absoluten Selbsthingabe die moralisch–sittliche Funktion leisten, da das Individuum im
Gefühl der Liebe oder beim Verlieben ineinander auf seine Selbstbehauptung verzichtet und
sich bereitwillig für das Geliebte opfert. Die Liebe allein ist es, die uns den Verzicht auf den
egoistischen Rechtsstandpunkt ermöglicht und dabei zugleich die Selbstaufopferung für den
Anderen lehrt. Die Liebe, aus der das Schamgefühl bei jedem Menschen entsteht, zeugt bei
Hegel von der emotionellen Tendenz zu dem Unendlichen und der Fähigkeit der Vereinigung
mit dem sittlich–institutionellen Leben. In Bezug auf die Selbsthingabe und den
Selbstverzicht zitiert Hegel aus Shakespeares „Romeo und Julia“: „je mehr ich gebe, desto
mehr habe ich usw.“ (Früh., S. 248) Die Liebe ist also die Versöhnung mit allen subjektiven
Lebensformen im ganzen Leben. Dass die Liebe, die sinnvolle Vereinigung im ganzen Leben
aus jeder Selbstbehauptung abzuleiten und die Trennung, die Entgegensetzung aufzuheben
fähig ist, drückt Hegel im „Geist des Christentum“ so aus: „Sein <ist> die Synthese des
Subjekts und Objekts.“ (Früh., S. 326) 30 In diesem Zusammenhang versucht Gadamer mit der
30
D. Henrich, „Hegel und Hölderlin“, S. 27ff., S. 38. Er weist darauf hin, dass Hegel zunächst seinen
Lebensbegriff unter dem Einfluss des „Seinsbegriff“ Hölderlins als die die Zerrissenheit überwindende
Versöhnungskraft und die innere Einheit bezeichnet und damit zugleich die Auffassung über das Leben im
späten Hegel durch die Selbstbewegung des Geistes ersetzt. Und dazu Friedrich Hölderlin, Frühe Aufsätze
und Übersetzung, in: Sämtliche Werke 17, >Frankfurter Ausgabe<, hrsg. v. Michael Franz, Gerhard Steimer
43
Erklärung über „Liebe und Leben“ in den Jugendschriften Hegels, die Geschichtlichkeit und
die Bewegung des Geistes in der Phänomenologie des Geistes zu erfassen, der immer weiter
zu sich selbst kommt und bei sich selbst noch reichhaltiger wird. Gadamers Ansicht zufolge
ist das Leben in der Liebe ein „geistig–geschichtlicher Vollzug“, in dem das Ich mit der
Fremdheit des Du versöhnt wird und sich selbst finden kann. Diese Fähigkeit des Lebens,
dessen Liebe eine menschliche Daseinsform ist, so wie er die Anschauung vom Du als die
Versöhnung mit dem Du bezeichnet, ist bei Gadamer eindeutig die Kraft des Geistes, der den
Widerspruch mit sich selbst auflöst und zu sich selbst zurückkehrt. (GW. 4, S. 390 ff. und S.
475) Hier könnte der Grund dafür liegen, warum Hegel bei der Darstellung über die Wir–
Perspektive in der Einleitung der Phänomenologie auf den absoluten Geist vorgreift und das
Selbstbewusstsein als das Vorbild der Selbstbewegung des Geistes in der Einleitung des
Selbstbewusstseins zu zeigen versucht. Aber ich will mich hier mit der Formulierung des
Problems oder seiner Vorahnung begnügen, weil ich auf diese Frage in Kapitel IV noch eine
präzisere Antwort zu geben versuchen werde. In diesem Kapitel werde ich hauptsächlich die
Frage
verfolgen,
inwiefern
die
Anerkennungsbeziehung
in
Hegels
Kapitel
„Selbstbewusstsein“ im Vergleich zur Liebe und zum Leben in seinen Jugendschriften
konsequent uminterpretiert werden kann.
Darüber hinaus können wir den Liebes– und Lebensbegriff Hegels auch in dem
Fragment über den „Geist des Christentum“ finden. Hegel kritisiert zunächst auf der
Grundlage der Liebesreligion Jesu die „positiven“ Gebote der Juden und damit zugleich auch
die „formelle Tugend“ Kants. Weil die jüdischen Gebote, die durch die Lehre von der
Liebesgemeinschaft Jesu überwunden werden, in der Tat der menschlichen Neigung und
Handlung widersprechen, sollte das jüdische Volk leeren Geboten unterworfen werden, die
unter Umständen dem Handeln nicht angemessen sind. Nach der Ansicht Hegels wollte Jesus
sein Volk mit dem Einwand gegen die Positivität der jüdischen Gebote dazu auffordern, nicht
die Herrschaft der Gebote über die menschliche Neigung und Begierde zu suchen, sondern
vielmehr die Versöhnung dieser Neigungen und Begierden mit dem Gesetz, also der
allgemeinen Sitte. Mit der Lehre Jesu, die sich gegen den Zwang der jüdischen Gebote
richtete, kritisiert Hegel zugleich die formelle Tugend Kants. Die Kantische Tugend kann für
Hegel die Entgegensetzung und die Trennung nicht aufheben, sondern führt den Gegensatz
und D. E. Sattler, Frankfurt a. M. 1991, S.156. Von Anbeginn dieses Aufsatzes mit dem Titel „Seyn Urtheil
Möglichkeit“ an, schreibt er: „Seyn -, drückt die Vereinigung des Subjeckts und Objects aus.“ In diesem
Kontext verwendet er den Begriff „Seyn“ zunächst im Zusammenhang mit der Kritik am Kantischen und
Fichteschen transzendentalen Ich. Mit seinem Begriff des „Seyn“ versucht er m. E., das Unendliche oder das
Absolute anzubieten, das der Ich–Identität, nämlich dem reinen Ich als der Identität des Ich mit dem Nicht–
Ich, zugrunde liegt.
44
zur Wirklichkeit in eine unüberbrückbare Kluft. In diesem Sinn bezeichnet Hegel die
kantische Tugend als „ein Sollen“ und sagt, dass „das eine zum Herrschenden, das andere
zum Beherrschten wird“. (Früh., S. 321 und S. 326) Deswegen geht Hegel im Fragment über
den „Geist des Christentums“ davon aus, dass der Geist der Liebe allein es vermag, im
politisch-gesellschaftlichen Leben die Versöhnung mit dem Schicksal und dem Fremden
herbeizuführen.
In diesem Zusammenhang befasst sich Hegel mit der Vereinigung des Lebens, die aus
dem der Liebe entgegengesetzten Konflikt unter den Menschen wiederherzustellen ist. Um
den Konflikt und den Streit in der Gesellschaft zu beschreiben, spricht Hegel auch von
„Schuld und Schicksal“ des Verbrechens. Mit diesem Terminus richtet Hegel im Lichte der
Erklärung über die griechische und shakespearsche „Tragödie im Sittlichen“ 31 den Blick auf
die Sünde, die Vergebung, die göttliche Verzeihung bzw. die Begnadigung als den
einheitlichen „Motor“ des Lebens. Hegel bezeichnet zunächst den Widerstand des
Verbrechens gegen die positiven Gebote oder die abstrakten Gesetze als ein tragisches
Schicksal. Diese Trennung des Lebens kann allein durch die Liebe aufgehoben werden, da der
dem eigenen Schicksal widerstehende Verbrecher sich nur „in der Wiederherstellung des
lebendigen Bandes, eines Geistes der Liebe“, der Scham, der Scheu und der Strafe bewusst
wird. (Früh., S. 357) Einem solchen wieder erlangten Bewusstsein von der ethischen
Verantwortung entsprechend wird der Rechtsstreit unter den Menschen auch im „Gefühl der
Harmonie“ des Lebens überwunden und die individuellen Rechtsstandpunkte stimmen in der
Harmonie des gesamten Lebens überein. (Früh., S. 363) Darüber hinaus leitet Hegel aus der
Lehre Jesu auch noch die Freundschaft, die Nachbarschaft und die Solidarität 32 unter den
Menschen ab, wenn er sagt:
„Liebe, fordert Jesus, soll die Seele seiner Freunde sein: Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr
euch untereinander liebt; daran wird man erkennen, daß ihr meine Freunde seid“.
und dazu noch weiter:
„Die Liebe zu dem Nächsten ist Liebe zu den Menschen“. (Früh., S. 362)
31
32
Vgl. Otto Pöggeler, „Hegel und die griechische Tragödie“, in: Hegel – Studien Beiheft 1, hrsg. v. Hans–Georg
Gadamer, Bonn 1984, Aufl., 2, S. 286 – 289.
Vgl. Andreas Wildt, „Hegels Kritik des Jakobinismus“, in: Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels,
hrsg. v. Oskar Negt, Frankfurt a. M. 1970, S. 284 – 285.
45
Von der christlichen Gemeinschaft aus will Hegel die altruistische Harmonie der Mitglieder
der Gesellschaft miteinander herstellen. Dabei kommt die christliche Gemeinschaft bei ihm
als eine der Liebe und eine Gestalt der freundschaftlich–solidarischen Beziehungen unter den
Menschen in Betracht, weil die Beteiligten in dieser Gemeinde miteinander selbstlos waren,
wie ein Club oder ein Verein in der modernen Gesellschaft, der durch dieselbe Zielsetzung
zusammengehalten wird. Beim Eingehen auf die Gesellschaftstheorie Hegels im folgenden
Kapitel, stellt sich nun die Frage, inwiefern die Liebe als Gefühl bei Hegel in der
Argumentation der politisch–gesellschaftstheoretischen Philosophie sukzessiv noch immer
verankert bleibt? Und mit welchem Stellenwert sie und das Leben im Naturrechtsaufsatz
„System der Sittlichkeit“ Hegels eine Rolle spielt?
46
II - 2. Die Perspektive der politisch–gesellschaftstheoretischen Philosophie in der frühen
Jenaer Zeit
2 – 1. Die Selbstnegation und die Selbstidentifizierung im Naturrechtsaufsatz
In seinem Aufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ 33
entwickelt Hegel sein Programm der politisch–gesellschaftlichen Philosophie – aus dem
Zusammenhang und der Konsequenz der Forschung in den Jugendschriften heraus – im
Rahmen der praktischen Philosophie. Damals war er „mit Schelling im wesentlichen
einverstanden“, 34 d. h. er lehnte sich an die Schellingsche Terminologie mindestens bis zum
„System der Sittlichkeit“ im Ablauf seiner Denkentwicklung an. In diesem Aufsatz versucht
Hegel die antike Gesellschaftstheorie, genauer, die platonisch–aristotelische Konzeption in
der praktischen Philosophie im Unterschied zu den Ansätzen des modernen Naturrechts zu
erklären. In Hegels Augen ist das neuzeitliche Verständnis des Naturrechts in der isolierten
Subjektivität verankert. In diesem Sinn haben sowohl Hobbes, als auch Kant und Fichte das
vereinzelte Individuum als das fundamentale Prinzip der Vergesellschaftung von Menschen,
der Äußerung Hegels zufolge, als „das Erste und Höchste“ angelegt. (Nat., S. 454) Beide
Konzeptionen sind im Grunde den atomistischen Gesichtspunkten verhaftet geblieben; die
abgeschlossene Einzelheit bzw. die idealisierte Subjektivität wird als die grundsätzliche
Quelle des gesellschaftlichen Aufbaus vorausgesetzt.
Hegel richtet daher seinen Blick auf die antike und traditionelle Gesellschaft, nämlich
die Polis, die freilich den modernen Sozialsituationen, die durch die politischgesellschaftlichen Ereignisse z. B. der französischen Revolution, stark verändert sind,
angemessen umformuliert werden soll. Dadurch, dass Hegel das Vorbild für das soziale
Zusammenleben unter den Menschen in der antiken Polis sah, beginnt er den Aufsatz
gleichermaßen mit der Kritik am Hobbesschen Naturzustand, an der Kantischen Morallehre
und der Fichteschen Sittenlehre. So stellt er beim Eintritt in die immanente
Auseinandersetzung mit Hobbes 35 fest, dass das eigentliche Gesellschaftsmodell Hobbes auf
der Basis der „Fiktion des Naturzustands“ aufgebaut sei. (Nat., S. 447) Darüber hinaus nennt
Hegel das Hobbessche Denkmodell „empirisch“ in dem Sinn, dass der Mensch bei Hobbes
33
34
35
G. W. F. Hegel, „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der
praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften“, in: Jenaer Schriften
1801 – 1807, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1986, im folgenden
wird diese Arbeit so abgekürzt: Nat.
K. Rosenkranz, Hegels Leben, S.162.
Vgl. Ludwig Siep, „Der Kampf um Anerkennung – zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer
Schriften“, in: Hegel – Studien, hrsg. v. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Bd. 9, Bonn 1974, S.155 - 161.
47
nur als die an den eigenen Bedürfnissen verhaftete Existenz bezeichnet wird, wenn Hobbes
den Kampf aller gegen alle als die Prämisse der menschlichen Gesellschaftsbildung nennt.
Aus dieser Vorstellung des Kampfes aller gegen alle im Naturzustand heraus, hat er
schließlich den Staatsvertrag begründet. Doch diese Gesellschaftskonzeption vom
Naturzustand enthielt für Hegel keine innere Notwendigkeit der Selbstaufhebung des
chaotischen Naturzustands,
36
weil Hobbes aus dem Kampf aller gegen alle die
Schlußfolgerung zog, dass das treibende Individuum im Konflikt nur durch die Furcht vor
dem Tod getrieben sei und infolge dieser Todesangst zur Knechtschaft bereit sei. Mit anderen
Worten: Das Individuum hat sich, dem Hobbesschen Begriff des Staatsvertrags zufolge, der
fremden Herrschaft unterworfen, da sich der Staat in einem permanenten Kriegszustand
befindet, in dem sich die Individuen im gegenseitigen Kampf um ihrer jeweiligen Ziele und
ihrer Selbstbehauptung willen befinden.
Demgegenüber arbeitet Hegel mit dem Begriff der Sittlichkeit 37 als die unverzichtbare
Hoffnung während des Konfliktzustandes auf das Leben und die Möglichkeit der
Verwirklichung der subjektiven Freiheit. Diesen Begriff führt er in diesem Aufsatz allerdings
unter dem Einfluss der antiken, praktischen Philosophie von Platon und Aristoteles ein. Auch
erinnert Hegel an die Morallehre Kants – freilich im Zusammenhang mit der Kritik an dessen
Tugendlehre in den Fragmenten über die „Liebe“ bzw. im „Geist des Christentums“ – und an
Fichtes Sittenlehre, die er „formell“ nennt. Im Rahmen der praktischen Philosophie seien
Kant und Fichte, Hegels Ansicht zufolge, notwendigerweise zur formellen Leerheit gelangt,
weil beide Philosophen das Gesetz auf die „absolute praktische Vernunft“ stellen wollten, die
von „aller Materie des Willens“, also dem konkreten Inhalt der Handlung, abstrahiere. (Nat.,
S.461) Hegel verweist in Bezug auf Fichtes Sittenlehre darauf, dass dieser den „Zwang“ als
einen unentbehrlichen Bestandteil in der prozessualen Einheit der einzelnen Willen mit dem
allgemeinen Wille gesehen hat, so dass das rechtliche System der Gesellschaft bei Fichte
durch einen von außen kommenden, transzendentalen Gewaltakt errichtet werden muss. (Nat.,
S.472) Beide Ansätze, sowohl der „empirische“ als auch der „formelle“, bleiben daher dem
Begriff der isolierten Subjektivität und dem ausschließlichen Handlungsvermögen des
Menschen verhaftet. Daraus ergibt sich für Hegel konsequenterweise, dass das
Zusammenleben von Menschen im neuzeitlichen Naturrecht nicht als einheitliche Sittlichkeit
gedacht wird, die erst nach einer organischen Entwicklung erreicht werden kann, sondern als
36
37
Vgl. Ebd., S.159.
K. Rosenkranz, Hegels Leben, S.173, wo er sagt, dass „zum ersten Male [...] Hegel nun öffentlich den
Ausdruck Sittlichkeit für diejenigen Formen des praktischen Geistes […]“ einführe.
48
die äußerliche Verkettung von Menschen. Deswegen muss „der fremde Herr“ oder „der
äußerliche Zwang“ in beiden Ansätzen notwendigerweise hinzufügt werden.
Diesen Einwand gegen den Atomismus im neuzeitlichen Naturrecht findet Hegel in
der „absoluten Sittlichkeit“ als der lebendigen Vereinigung der einzelnen mit dem
allgemeinen Willen, die die antiken Stadtstaaten als eine musterhaft harmonisierte
Sittengesellschaft darstellen. (Nat., S. 480) Dementsprechend drückt er die Vorraussetzung
für die sozialen Wechselbeziehungen unter den Subjekten folgendermaßen aus: „[D]ie
absolute sittliche Totalität ist nichts anderes als ein Volk.“ (Nat., S.481) Demzufolge geht er
davon aus, dass die Triebe und Bedürfnisse aller Subjekte zunächst in dem lebendigen
Spielraum des eigenen Volks, in dem die Sitte bereits vorhanden ist, ihre Erfüllung finden;
anders gesagt, dass das Volk ein einheitlicher Ort und ein lebendiges Netzwerk ist, in dem die
Bedürfnisse und Triebe der im egozentrischen Privatinteresse verhafteten Menschen
miteinander kollidieren. Dementsprechend zitiert Hegel einen berühmten Satz von
Aristoteles: „Das Volk ist eher der Natur nach als der Einzelne.“ (Nat., S. 505) Dessen
ungeachtet kann, anders als die antike Polis, die moderne Gesellschaftsform bei Hegel nicht in
der indifferenten Gestalt haften bleiben, in der die Subjekte die direkte Harmonie mit dem
eigenen Volk fühlen. Denn das Subjekt zeigt sich einerseits als Beteiligter der Gesellschaft im
Horizont der Versöhnung mit dem gesellschaftlichen System, andererseits als der handelnde
Einzelne zur Befriedigung des eigenen Bedürfnisses. Hier handelt es sich für Hegel um „das
Verhältnis der organischen zur unorganischen Natur.“ (Nat., S. 487) In Hegels Augen soll das
dem modernen Zeitgeist entsprechende Gesellschaftssystem dadurch anerkannt werden, dass
jedes Mitglied der Gesellschaft im Verlauf der gegenseitigen Wechselwirkung des Konflikts
im bereits vorhandenen Zusammenleben Schritt für Schritt zur intersubjektiven Anerkennung
und wertvollen Erkenntnis der sozialen Sitte kommt. Die Lebendigkeit der Sittlichkeit muss
bei Hegel deshalb auch eine der „Zonen des Sittlichen“ 38 aufweisen, die nichts anderes ist als
38
Vgl. Rolf-Peter Horstmann, „Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie“,
in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, hrsg. v. Manfred Riedel, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1975, S. 283. In
diesem Hegelschen Kontext könnte von der griechischen „Tragödie im Sittlichen“ die Rede sein. Hegels
Darstellung von der Tragödie im Sittlichen verweist freilich auf den Rechtsstreit in der gesellschaftlichen
Rechtsform, den Hegel bereits mit der Kritik am abstrakten Positivismus im Judentum behandelt hat. Am
Ende des Naturrechtsaufsatzes stellt Hegel in Bezug auf die Tragödie der „Orestie“ von Aischylos das
Problem der Rechtsform in Frage. In der Orestie spielen beide Parteien, die gleichermaßen den Anspruch auf
Gerechtigkeit und legitime Rechtsstandpunkte erheben können, eine zentrale Rolle: einerseits Agamemnon,
Orest und Apollo als der Gott vom ewigen Licht, die die Öffentlichkeit, das Staatsgesetz und die
gesellschaftliche Gerechtigkeit verteidigen. Andererseits Klytaimnestra und die Erinnyen als die Göttinnen
der Rache, bei denen das Recht der Familie, die emotionale Beziehung und das Privatrecht den
entscheidenden Wert haben. Dieser Konflikt zwischen dem Privatrecht bzw. der Mutterliebe und der
Allgemeingültigkeit, der Öffentlichkeit bzw. dem Staatsrecht, macht in dieser Trilogie die tragische
Geschichte und den unauflösbaren Widerstreit aus. Durch den tragischen Prozess führt die Göttin Athene den
Rechtsstreit endlich zur Versöhnung. Der Weg zur Wiederherstellung der Vereinigung scheint bei Aischylos
49
das Andere der Gesellschaft, d. h. das Bedürfnis und die zu seiner Befriedigung notwendige
Arbeit der Subjekte. (Nat., S. 499) Die Vergesellschaftung des Subjekts muss daher bei Hegel
die doppelte Richtung des Strebens ermöglichen, d. i. einerseits das Streben nach dem eigenen
Bedürfnis, andererseits das nach der Harmonie mit der Gesellschaft. Der Prozess der
Vergesellschaftung darf bei ihm nicht die individuelle Freiheit verletzen, sondern muss ein
emanzipatorisches Motiv aufweisen, aufgrund dessen die Mitglieder der Gesellschaft sich
selbst durch das dialogische Handeln mit den Anderen von der Negativität und der
Unendlichkeit der Bedürfnisse befreien können oder anders formuliert geht es darum, „im
Risiko, sein Leben aufs Spiel zu setzen, die Chance der Erlangung der eigenen Freiheit“ 39 zu
erreichen. Bezüglich des Übergangs von der Negativität und der Endlichkeit des
menschlichen Strebens hin zu den gesellschaftlichen Handlungsnormen, d. h. über die
Erfahrungsgeschichte
der
subjektiven
Ich-Identifizierung
im
Prozess
mit
den
Organisationsformen der Gesellschaft, zerbricht Hegel sich den Kopf und sagt das folgende:
„Das Lebendige unter dieser Form des Negativen ist das Werden der Sittlichkeit und die
Erziehung nach ihrer Bestimmtheit das erscheinende fortgehende Aufheben des Negativen
oder Subjektiven, […].“ (Nat., S. 507)
So gesehen stellt sich für das Subjekt zunächst die notwendige Aufgabe der Aufhebung des
eigenen Selbst, die es als den Samen der Reintegration in die Gesellschaft bereits in sich
enthält. Im sozialen Zusammenleben lernt das Subjekt nach und nach, dass seine
egozentrischen Bemühungen und sein Streben erfolglos und schließlich nicht durchführbar
sind. Aus dieser Erkenntnis heraus wendet das Subjekt seine Aufmerksamkeit den
„lebendigen vorhandenen Sitten“ zu. (Nat., S. 508) Für Hegel ist entscheidend, wie die
Indifferenz
39
und
die
Unendlichkeit
als
zwei
verschiedene
Phänomene
auf
der
eine Art religiöse Erlösung zu enthalten. In Bezug auf diese Aischyleische Tragödie geht es bei Hegel um
zwei Punkte: Hegel sieht erstens in der antiken Tragödie die tragischen und leidenden Elemente im Übergang
zur Sittlichkeit. Die Tapferkeit von Orestes als der Hauptfigur dieser Tragödie erlangt keine Gerechtigkeit,
Sittlichkeit, ohne das Leiden zu durchlaufen. Nur im Angesicht der Todesangst kann er sich der öffentlichen
Sitte öffnen. Mit der sittlichen Tapferkeit, der Bereitschaft, sich selbst für die staatliche Gerechtigkeit zu
opfern, kann diese Hauptperson des tragischen Schicksals die Versöhnung der „doppelte[n] Natur“ zur
Erscheinung bringen. (Nat., S. 495) Für Hegel gilt es an dieser Stelle zu sehen, dass die Natürlichkeit, das
Privatinteresse bzw. der Rechtsstandpunkt nur durch die Tapferkeit im Angesicht der Todesangst
überwunden werden kann, dass die Sittlichkeit des Gemeinwesens nur durch die Selbstaufopferung gestiftet
wird. Hegel kommt mit dieser dramatischen Szene zweitens zu der Einsicht, dass das Verbrechen eine
negative Handlung im Sittlichen ist. Orestes spielt, so wie das tragische Schicksal in Shakespeares Drama
Hamlet die Rolle des Verbrechers zuschreibt, den Muttermörder. Diese verbrecherische Handlung impliziert
im Sinn Hegels die Zerstörung der Ich–Identität. Die Zerstörung des Ich, die aus der Unterbrechung mit der
eigenen Herkunft entsteht, zwingt den Verbrecher, die Frage nach dem Leben selbst zu stellen. Aus dieser
zerstörenden Handlung ist die grundsätzliche Fragestellung der Ich–Identität entstanden.
W. Bonsiepen, Der Begriff der Negativität, S. 85.
50
Gesellschaftsebene notwendig und harmonisch zugleich zur Vereinigung gelangen können,
ohne dass die individuelle Freiheit in diesem Vereinigungsprozess verletzt wird. „Die
absolute Sittlichkeit“ erscheint daher bei Hegel als das in der bestehenden Organisationsform
lebendige Seiende, als die sich mit der Wirklichkeit bewegenden Sitten und das diesen
angemessene Subjekt.
Diese kritische Untersuchung über die neuzeitlichen Naturrechtslehren enthält noch
nicht den Schlüssel zur Problemlösung im Rahmen der praktischen Philosophie, obwohl
Hegel mit diesem Aufsatz ursprünglich das Ziel verfolgt hatte, die Harmonie der Individuen
mit der Gesellschaft mit Bezug auf das Vorbild der antiken Sittengesellschaft darzustellen.
Hier entwickelt er sein Programm der politisch–gesellschaftlichen Philosophie noch unter den
Einflüssen einerseits von Schellings Terminologie bzw. Einsicht in die Natur 40 und
andererseits von Hölderlins Resultaten der Interpretation der griechischen Literatur aus der
Perspektive einer Vereinigungsphilosophie. In diesem Sinn kann man im Anschluss an die
Behauptung von Axel Honneth sagen, dass Hegel „die angemessenen Mittel“ in seinem
System noch nicht angelegt hat. 41 Erst nach der Rezeption und der Auslegung von Fichtes
Anerkennungslehre 42 gewinnt der Begriff der intersubjektiven Anerkennung für Hegel seinen
Stellenwert. Er gewinnt ihn aus der Lebendigkeit der Sittlichkeit als der inneren Struktur des
Aufeinanderbezogenseins der Vergesellschaftung und der sich wiederholenden Negativität
der Subjekte.
40
41
42
Vgl. zur Schelling–Rezeption des Naturbegriffes im Zusammenhang der Darlegung von Hegels Naturrecht,
und zur Zweideutigkeit von Hegels Naturbegriff im Unterschied zu Schellings Auffassung, Rolf-Peter
Horstmann, „Probleme der Wandlung in Hegels Jenaer Systemkonzeption“, S.108 – 113.
Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 25 – 29 und dazu ders., „Moralische Entwicklung und
sozialer Kampf – Sozialphilosophische Lehren aus dem Frühwerk Hegels“, in: Zwischenbetrachtung, hrsg. v.
ders., Thomas McCarthy, Claus Offe u. Albrecht Wellmer, Frankfurt a. M. 1982 (Aufl. 2), S. 562, und dazu
L. Siep, Anerkennung als Prinzip, S.146.
Vgl. Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung – Hegels Moralität im Lichte seiner Fichte–Rezeption,
Stuttgart 1982, S. 312 ff.
51
2 – 2. Liebe und Anerkennung als das Prinzip der Sozialbeziehung zwischen den Subjekten
im „System der Sittlichkeit“
Nach der kritischen Uminterpretation und Rezeption Fichtes und Hobbes konzipiert Hegel das
„System der Sittlichkeit“, das von Rosenkranz so benannt wurde und damals als
unveröffentlichtes Manuskript vorlag, 43 das aber noch immer unter dem Einfluss der antiken
Ansätze im Bereich der politisch–gesellschaftlichen Philosophie so wie auch der
Naturrechtsaufsatz steht. Das Ziel dieses Manuskriptes ist nach Hegels Terminologie „die
absolute Sittlichkeit“, 44 die einerseits von der Einzelheit zur Allgemeinheit übergegangen ist,
andererseits aber auch die Allgemeinheit der Einzelheit zugänglich macht. Diesen Zweck
bezeichnet Hegel geradezu als „ein und nur ein Verhältnis“, 45 das in diesem Manuskript das
Einssein des Begriffs mit der „Anschauung“ – von da aus wäre es vorstellbar, dass Hegel sich
noch immer an Schelling orientiert – ist; anders formuliert, dass die soziale Integration des
natürlichen Individuums in das Volk durchaus in Erfüllung gegangen ist. Das Ziel dieses
Entwurfs, wie Hegel selbst geschrieben hat, „die Idee der absoluten Sittlichkeit zu erkennen“
(SdS., S. 3), ist die Einheit des Einzelnen mit dem Volk als die konkrete Gestalt des
allgemeinen Geistes, was bedeutet, dass die Binnenstruktur der Versöhnung des einzelnen
Subjekts mit dem „Gott des Volks“ (SdS., S. 49) in den Vordergrund gestellt wird. Um dies
zu veranschaulichen, stellt Hegel hier das Schema der wechselseitigen Subsumtion von Begriff
und
Anschauung
dar.
Noch
konkreter
formuliert,
können
die
wechselseitigen
Subsumtionsverhältnisse auf den folgenden Stufen erfasst werden: Zunächst ist das
Allgemeine als ein indifferentes Sein im Einzelnen verborgen, nämlich in der Gestalt des
Gefühls des Einzelnen nicht ganz zu erfassen; zweitens ist das Allgemeine vom Einzelnen
abgehoben, lässt sich von der Indifferenz zur Differenz hinführen; und schließlich wird diese
Differenz als die Selbstdifferenzierung auf der Seite des Allgemeinen vorgenommen, so dass
das Allgemeine zugleich zu sich selbst zurückgekehrt ist, womit die Integration des Einzelnen
43
K. Rosenkranz, Hegels Leben, S. 124.
Uns ist bereits bekannt, dass Hegel diese Sittlichkeit als „zweite Natur“ in seiner späten Rechtsphilosophie
bezeichnet hat. Damit können wir feststellen, dass der Einfluss Aristoteles’ praktischer Philosophie auf Hegels
Denkweg von dem „Naturrechtsaufsatz“ über das „System der Sittlichkeit“ hin zur Rechtsphilosophie
konsequent wirksam ist. In seiner Rechtsphilosophie sagt Hegel: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das
Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so dass die Freiheit seine
Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt
des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur ist.“ Nun kann hiermit bei Hegel gezeigt
werden, dass die Sittlichkeit als zweite Natur ein grundsätzliches Faktum des Menschseins, das wir deshalb
unbedingt annehmen müssen, ist, wie die erste Natur als ein animalischer Trieb, wenn wir so sagen würden,
die elementare Seite des menschlichen Lebens bildet. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,
hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1986, S. 46, § 4.
45
G. W. F. Hegel, System der Sittlichkeit. Critik des Fichteschen Naturrechts, hrsg. v. Horst D. Brandt, Hamburg
2002, S. 3, im folgenden abgekürzt: SdS.
44
52
ins Volk bzw. der Volksgeist hier zum Vorschein kommt. Bei der Darstellung des
stufenförmigen Übergangs von der Natürlichkeit des einzelnen Subjekts zum allgemeinen
Volk steht Hegel überdies unter dem Einfluss von Aristoteles’ politisch–gesellschaftlichen
Philosophie. 46 Bei ihm kommt es nicht darauf an, dass der Staat als die konkrete Gestalt der
absoluten Sittlichkeit der Not– und Verstandesstaat ist, sondern sich vielmehr in den
vielfältigen Lebensformen der Individuen konkretisiert und realisiert. Dementsprechend
konzentriert sich Hegel in Teil III „Sittlichkeit“ auf die allgegenwärtigen Systemformen des
Volkes, die Verfassung und die Regierungsform.
Hegel unterteilt das „System der Sittlichkeit“ in die drei folgenden Komponenten: Die
„natürliche“, „relative“ und „absolute“, Sittlichkeit. Auf der Stufe der natürlichen Sittlichkeit
bleibt das Individuum zunächst im lebhaften, aber abstrakt–allgemeinen Trieb verhaftet. Von
daher macht es nur mit der Befriedigung seiner Triebe in sich die Erfahrung, „daß der Begriff
und die Anschauung Eins ist.“ (SdS., S. 4) Im Prozess der Befriedigung der Triebe begegnet
es zwar dem Anderen, betrachtet diesen Anderen aber lediglich aus der Perspektive des
Geschlechterverhältnisses. In diesem Zusammenhang findet es den Anderen im Gefühl der
Liebe, aber trotzdem nur im indifferenten Naturzustand. Der Terminologie Hegels zufolge
wird diese Stufe als „die Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung“ ausgedrückt. (SdS.,
S. 5) In diesem Geschlechterverhältnis zeugt es seine Nachkommen, anders formuliert,
reproduziert es die Gattung. Diese Handlung ist eine instinktive und animalische der je
einzelnen Individuen. Der zweite Teil, der als „Das Negative, oder die Freiheit, oder das
Verbrechen“ benannt wird, (SdS., S. 33ff.) stellt bereits die interpersonelle Wechselbeziehung
dar, in der sich das Handeln aller Beteiligten auf deren egoistischen Eigensinn zurückführen
lässt. Somit befindet sich jeder im Widerspruch zum Anderen und verteidigt seine
Eigentümlichkeit gegen diesen. Hier scheitert die erste Sittlichkeit oder die menschliche
Natürlichkeit in der Sittlichkeit, wie der Titel bereits andeutet. Diese Stufe können wir mit
dem Ausdruck Hegels „die Subsumtion der Anschauung unter den Begriff“ nennen. (SdS., S.
23) Auf dieser Stufe bemüht sich das einzelne Subjekt nicht um die harmonische
Verständigung mit dem Anderen und den Respekt vor dem Anderen, sondern schließt
vielmehr den Anderen von seinem Privateigentum aus und verletzt dessen Persönlichkeit. Aus
dieser Gegensätzlichkeit oder gegenseitigen Vernichtung heraus entsteht die absolute
Sittlichkeit als das Allgemeine in Folge einer inneren Notwendigkeit. Zudem kommt, dass die
46
Vgl. L. Siep, Anerkennung als Prinzip, S. 162, und A. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 51. Der
Äußerung Sieps zufolge, verwendet Hegel die Aristoteles–Konzeption von der politisch–gesellschaftichen
Philosophie mehr im „System der Sittlichkeit“ als im Naturrechtsaufsatz.
53
Natürlichkeit des Menschen bereits das Potential zur Sittlichkeit enthält, wenn wir uns daran
erinnern, dass Hegel von der natürlichen Sittlichkeit ausging. Im Konflikt soll das Subjekt
sein ganzes Leben riskieren, weil der Andere auch sein Leben riskiert, um das Privatrecht und
sein Eigentum zu verteidigen. Deshalb haben alle am Konflikt Beteiligten Todesangst, wissen
also um die Möglichkeit des Todes, der jederzeit gleichermaßen vor ihnen liegt. Aus diesem
Bewusstsein von der möglichen Todesgefahr heraus, stellt das Subjekt auch den höchsten
Wert des allgemeinen Lebens oder zumindest die Bedeutung des eigenen Lebens in Frage. In
diesem Sinn schreibt Hegel, „so muß diese, (= die Negation, KBL) daß das Ganze auf dem
Spiel sei, zu einem Ganzen gesteigert werden.“ (SdS., S. 41) Daran anschließend wird der
Unterschied zwischen dem Begriff und der Anschauung zur „intellektuelle[n] Anschauung“
(SdS., S. 48), sozusagen zur begriffenen Anschauung erhoben. Vor dem Horizont der
erreichten Angemessenheit von Begriff und Anschauung kann „der Gott des Volks“, die
Volksreligion selbst konkretisieren und entwickeln. (SdS., S. 49)
Mit der obigen Übersicht über die Komposition des „Systems der Sittlichkeit“ müssen
wir die Familie, die Arbeit und die Negation des Verbrechens als die Momente des Übergangs
zur absoluten Sittlichkeit noch detaillierter erklären. Dabei wird die Rolle der Liebe in der
personellen Interaktion und die der affektiv-emotionalen Reaktion der Familienmitglieder auf
den verbrecherischen Akteur im Aufbau der Gesellschaft verdeutlicht. Für Hegel bildet,
entsprechend Schellings Idee der „intellektuellen Anschauung“, die natürliche Sittlichkeit, die
von Beginn an in der Natürlichkeit des Menschen verankert ist, die Grundlage für den
Übergang zur absoluten Sittlichkeit: Die „erste Potenz“, die die Momente der Sittlichkeit
impliziert, aber noch nicht ausführlich entwickelt, stellt sich zuerst als die Gestalt unseres
„Gefühls“ dar. Von hier aus ist das Gefühl nicht nur die Befriedigung des einzelnen
Privatinteresses, sondern liegt auch der gesellschaftlichen Handlung zugrunde. Das heißt, dass
das Gefühl bei Hegel beide Seiten in sich enthält: Erstens erscheint das Gefühl als die Ursache
des einzelnen Bedürfnisses, wie Hegel schreibt, „das Gefühl der Trennung“, das den Anderen
vom eigenen Interesse ausschließen will. Gemäß dem Gefühl der Begierde steht das einzelne
Subjekt von vornherein dem anderen Subjekt gegenüber. Zweitens ist die Sittlichkeit das
bereits im Gefühl Verborgene, nämlich das dem Gefühl innewohnende Vorhandensein.
Dementsprechend nimmt Hegel das Gefühl als „die praktische Potenz“ an, in deren Entfaltung
das einzelne Subjekt den Anderen findet und der wechselseitigen Beziehung auf den Anderen
bedarf. (SdS., S. 5)
Das Subjekt taucht zunächst als das Handelnde, nämlich das Arbeitende auf, um das
eigene Leben zu erhalten. Die Arbeit als die Handlung des Einzelnen zur Selbsterhaltung hat
54
hier auch eine doppelte Bedeutung: Sie zeigt sich einerseits als die einfachste und direkteste
Begegnung mit der Natur, in der das Subjekt lediglich den Gegenstand seines Bedürfnisses
verzehrt. Das ist der einfach vernichtende Akt des Subjektes gegenüber den Objekten.
Andererseits ist sie auch eine produktive Handlung, obwohl sie auf der Seite des Objekts
negiert wird. Mit dieser produktiven Handlung führt die ideelle Absicht das Subjekt vom
Objekt zum real gewordenen Produkt hin, womit sich das Subjekt damit zugleich als Besitzer
der Produkte behauptet. Im produzierenden Ablauf steht das einzelne Subjekt dem natürlichen
Objekt jedoch nicht nur für die Befriedigung seines Bedürfnisses gegenüber, sondern auch
anderen lebendigen Subjekten, die dieselbe Handlung wie es selbst vollziehen. Die
Blickrichtung hin zum Anderen lenkt nunmehr das einzelne Subjekt in die andere Richtung
einer distanzlosen Wechselbeziehung. In dieser Reaktion aufeinander erfährt das Subjekt
nicht nur den Umgang mit dem lebendigen Anderen, sondern vielmehr auch die Anerkennung
durch diesen. Die interpersonelle Reziprozität wird bei Hegel deshalb in dieser Stufe als „das
differenzlose Gefühl“, nämlich die Liebe im Gesellschaftsverhältnis bezeichnet. (SdS., S. 12)
Die Liebe in der Familie betreffend - durch die Konstruktion der Familie weicht das Subjekt
erst vom vorgesellschaftlichen Zustand ab – äußert sich Hegel folgendermaßen:
„Die Vernichtung der eigenen Form ist gegenseitig, aber nicht absolut gleich; es schaut sich
jedes in dem anderen an, als zugleich ein fremdes, und dieses ist die Liebe.“ (SdS., S. 12)
Durch die Selbsthingabe, wie der obige Satz uns zeigt, bewahrt das Subjekt die Fremdheit des
Anderen in der Liebesbeziehung, obwohl die Liebe im Geschlechterverhältnis die
antagonistische Entgegensetzung der Subjekte zur emotionalen Harmonie bzw. dem Vorbild
der
gesellschaftlichen
Verbindung
miteinander
erhebt.
Was
die
Liebe
im
Geschlechterverhältnis angeht, so setzt die Liebe die Verschiedenheit des Anderen voraus. In
diesem Fall kann die Liebe dauerhaft lebendig sein. Mit anderen Worten: Nur wenn das
Subjekt mit seinem Bedürfnis nach Liebe dem Anderen gegenüber Respekt vor der Fremdheit
und der Eigentümlichkeit des Anderen erweist, kann diese Liebe zu einer lebendigen und
tiefsinnigen werden. In diesem Zusammenhang bezeichnet Gadamer deshalb die Liebe als
„eine konkrete Allgemeinheit“. (GW. 4, S. 390)
Nach der Erfahrung der Liebe im Geschlechterverhältnis, nämlich der Eheschließung
zwischen Mann und Frau, ist das Subjekt der noch immer in der Fremdheit verharrenden
Liebe in die wahrhafte Liebe eingebettet, die durch die Zeugung des eigenen Kindes gelungen
ist. Im Verhältnis von „Eltern und Kindern“ sieht das Subjekt das wahre Resultat der Liebe
55
zueinander, da es erkennt, wohin die Möglichkeit der sinnvollen Beziehung zwischen den
Menschen führt und wie das Selbst aufeinander bezogen ist. Daran anschließend soll das
Subjekt in der Person eines Elternteils mit der Erziehung und dem Wachstum des Kindes auch
die Negation seiner selbst erfahren, da die subjektive Eigentümlichkeit des Kindes – denn das
Kind hat mit seiner Geburt zugleich auch eine eigene Individualität – von vornherein
anerkannt werden muss. Darüber hinaus eröffnet sich für die Eltern im Verlauf der Bildung
des Kindes die Möglichkeit, sich selbst zu finden. Folglich ist die Konstruktion der Familie,
in deren Organisation alle Glieder die absolute Hingabe an den anderen lernen und den
gemeinsamen Anteil an den Familiengütern fordern können, für Hegel „die allgemeine
Wechselwirkung und Bildung der Menschen.“ (SdS., S.13) Im Sinn Hegels verweist daher die
Liebe auf „das praktische Gefühl“. (SdS., S. 6) Indem die Erziehung in der Familie auf die
Selbständigkeit und die Persönlichkeit des Kindes abzielt, muss die naturwüchsige Einheit
von den Gliedern der Familie überwunden werden. Daher folgt auf die Überwindung dieser
„Vereinigung des Gefühls“ das „Anerkennen“ 47 im Sozialverhältnis. (SdS., S. 13) Dennoch
hat uns dieses Beispiel gezeigt, dass die Familie ihr Vorbild des unmittelbaren, aber auch
vereinigten
Anerkennungsverhältnisses
unter
den
Subjekten,
in
der
emotionellen
Intimbeziehung fand, da das Subjekt in der Familie durch das Liebesverhältnis bereits die
altruistische Selbsthingabe an den anderen und die Selbstaufopferung lernt.
Nach der Zeugung bzw. dem Erziehungsprozess des Kindes als dem Resultat des
natürlichen Gefühls der Liebe und der Aufhebung der emotional–natürlichen Verbindung
innerhalb der Familie, muss das Subjekt von der indifferenten Verbindung, der affektiv–
distanzlosen Vereinigung in der Familie, zum differenzierten Rechtsverhältnis übergehen. In
der „Mitte“ der Transformation ins Sozialverhältnis steht das Kind, dessen Übergang daher
den doppelten Sinn hat: Die gefühlvolle Liebe von Mann und Frau ist erstens durch die
Geburt des Kindes in die natürliche, aber allgemein unbedingte Liebe zwischen „Eltern und
47
56
In diesem Kontext hat Hegel erstmals den Begriff der Anerkennung im „System der Sittlichkeit“ verwendet.
Anschließend können wir darauf hinweisen, dass Hegel die Fichtesche Terminologie „Anerkennung“ nach
seiner Uminterpretation und Rezeption positiv aufgenommen hat. Fichte hat in seiner Schrift über die
„Grundlage des Naturrechts“ das wechselseitige Rechtsverhältnis unter den Personen in der Gesellschaft als
„Selbstbeschränkung“ verstanden, die aus dem Bewusstsein vom Anderen entsteht. Deswegen ist bei ihm die
Person im Sozialverhältnis „durch ihre (= Personen, KBL) wechselseitige Anerkennung“ definiert und
bedingt. Dementsprechend führt die wechselseitige Anerkennung unter den Menschen im Rechtsverhältnis
die Glieder der Gesellschaft auf die Allgemeinheit hin. Diese Einsicht Fichtes in die Rolle der Anerkennung
beim Übergang des einzelnen Bewusstseins zum allgemeinen Bewusstsein hat Hegel in Bezug auf die
Anerkennung im „System der Sittlichkeit“ übernommen. Darüber hinaus hat er auch gesehen, dass die
Sittlichkeit im Sozialverhältnis den interpersonellen Interaktionen, nämlich den wechselwirkenden
Handlungen, zugrunde liegt und das gegenüber dem Anderen entgegengesetzte Subjekt seine isolierte
Selbstheit im Angesicht der allgemeinen Institutionen durch die Bewegung der Anerkennung konstituiert.
Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: Fichte Werke,
hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. III, Berlin 1971, § 12, und dazu Vgl. A. Wildt, Autonomie und
Anerkennung, S. 321ff.
Kind“, wie Hegel erwähnt, in „die reale Vernünftigkeit der Natur“ eingebettet. (SdS., S. 14)
Die Liebe, die aus dem sexuellen Unterschied entsteht, ist in der indifferenten, nämlich der
natürlichen Anschauung, bereits enthalten. Zweitens ist die Familie als die distanzlose
Organisation der Liebe, in der die Subjekte emotional aufeinander bezogen sind und die
Dinge,
die
für
den
Lebensunterhalt
nötig
sind,
gemeinsam
besitzen,
ihrerseits
notwendigerweise ins Rechtsverhältnis eingebettet. Das Subjekt, das die gemeinsame
Produktion und den kollektiven Genuss in der Familie erfahren hat, begegnet im Verlauf der
Arbeit für das Leben der Familie anderen Gemeinschaften der Liebe. In der Selbsteinbettung
ins Rechtsverhältnis müssen alle Subjekte die implizite Negation des egoistischen
Privatinteresses erfahren, wie dies die Mitglieder der Familie zugunsten der Liebe zu den
aufeinander bezogenen Wesen tun. Nach der negativen Bedingtheit gelangen die Subjekte zur
wechselseitigen Anerkennung ihres „Personenseins“, die die Voraussetzung für die
Tauschbeziehung des Besitzes im Sozialverhältnis ist. (SdS., S. 28) Unter der Voraussetzung
der bloß „negativen Freiheit“ unter reziproken Bedingungen stimmt das Subjekt mit dem
„Tauschwert“ überein und schließt den „Vertrag“ ab. Bleiben die Subjekte in der aufeinander
beschränkten Symmetrie im Sozialverhältnis, so sind sie alle bei Hegel ein „freies Wesen“.
(SdS., S. 28) Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass die Subjekte in den
konventionellen Institutionen nur durch die begrenzende Selbstnegation zur Freiheit kommen
können. Im zweiten Teil macht Hegel auf „das Verbrechen“ aufmerksam, das die im
symmetrischen Verhältnis konstruierte Gemeinsamkeit bzw. das aus dem „Anerkennen des
Lebens“ selbst entstandene Zusammenleben zerstört. (SdS., S. 28) Die zerstörende Handlung
des Verbrechers verursacht nunmehr „den Kampf um Ehre“. In diesem Vorgang kommt es für
alle Beteiligten nicht auf die eigene Ehre, sondern vielmehr auf die der ganzen Familie oder
der Gruppe an. Somit sei die Behauptung gewagt, dass das Subjekt im familialen Intimbereich
als der natürlichen Sittlichkeit, die somit vorgesellschaftlich wäre, durch sämtliche
Kompositionen des „Systems der Sittlichkeit“ bereits die Anerkennung durch den Anderen,
gewissermaßen die anderen Mitglieder der Familie, gewonnen hat,48 obwohl das anerkannte
Zusammenleben stets von der verbrecherischen Handlung spannungsvoll bedroht wird.
Auf die Negation der „natürlichen Sittlichkeit“, quasi die Aufhebung der im Gefühl
verhafteten Vereinigung, folgt daher die Subsumtion der Anschauung unter den Begriff im
zweiten Teil. Die grenzenlose Begierde, d. h. die grenzenlose Behauptung der negativen
Freiheit der Individuen kommt auf dieser Stufe zum Vorschein. Hier handelt es sich erneut
um die negierende Handlung zwischen den atomisierten Subjekten des Rechtsverhältnisses, in
48
Vgl. L. Siep, Der Kampf um Anerkennung, S. 170.
57
dem sich das Subjekt als die Einzelheit gegen die durch das wechselseitige Anerkennen
etablierte Ganzheit richtet. Somit macht das einzelne Subjekt bei der Entstehung der
negierenden Handlung des Verbrechens zugleich die Erfahrung, dass die Anerkennung in der
„natürlichen Sittlichkeit“, vor allem in der Familie, eine unvollständige oder unmittelbare nur
unter den emotional verbundenen Mitgliedern ist. Hegel bezeichnet den ersten Typ der
destruktiven Handlung als „die natürliche Vernichtung“, sozusagen die „Verwüstung“.
Lediglich macht diese destruktive Handlung schließlich den Akt der „zwecklose[n]
Zerstörung“ aus, der sich aus dem bedingungslosen Gegenstoß gegen die gebildete Sittlichkeit
ergibt und den pathologisch verblendeten Hass gegen die „Gebildeten“ im Busen trägt. (SdS.,
S. 34-36) Solcher pathologischen Zerstörung mangelt es deshalb, Hegels Ansicht zufolge, an
dem Moment der wechselseitigen Anerkennung im Rechtsverhältnis, da auch die ontologische
Basis für das soziale Handlungsverhältnis unter den Menschen von diesem Akt der
uneingeschränkten Verwüstung zerstört werden kann.
Mit dieser Auffassung nennt Hegel den zweiten Typ der negativen Handlung, nämlich
„Beraubung“ und „Diebstahl“. (SdS., S. 315) Diese verbrecherische Handlung sei jedoch im
Sinn Hegels das notwendige Motiv auf dem Wege zur absoluten Sittlichkeit, das die an der
Gesellschaft beteiligten Subjekte, die im Rechtsverhältnis verankert sind, erfahren müssen.
Unter den Bedingungen der sich selbst negierenden Handlung in Verbindung mit dem
Anderen hat das Subjekt das Bewusstsein, dass sein Recht durch den Anderen anerkannt
werden muss, um die nur in der subjektiven Möglichkeit gebliebene Freiheit wirklich zu
realisieren. Diese Selbstnegation kann man als die „negative“ Freiheit bezeichnen. Abgesehen
davon hat die negative Handlung des Verbrechens, die Hegel hier ins Zentrum stellt,
zuallererst mit der Verletzung der Persönlichkeit, noch dazu mit der Verachtung des
Eigentumsrechts durch den sozialen Anderen zu tun, wie es bereits im Rechtsverhältnis der
Familie etabliert wurde. In der verbrecherischen Handlung verletzt der Verbrecher absichtlich
die Persönlichkeit des Anderen, da die Person bereits das Eigentumsrecht durch ihr
besitzergreifendes Handeln zum Ausdruck bringt. Folglich ist die Verletzung des Eigentums
nichts anderes als die Beleidigung der anerkannten „Person“, die sich auf die gegenseitige
Anerkennung im Rechtsverhältnis gründet. Die verletzte Person muss nunmehr die
Bereitschaft zeigen, das eigene Leben auf dem Konfliktfeld einzusetzen, um das eigene Recht
und das eigene Leben vor der Bedrohung durch den Anderen zu schützen: Das die
beleidigende Handlung erleidende Subjekt soll jetzt auf die rechtswidrige Handlung des
Anderen reagieren. Aus diesem wechselseitig aufeinander wirkenden Handlungsverhältnis
entsteht daher, Hegel zufolge, der Kampf der Person gegen die Person im Rechtsverhältnis.
58
Mit seinem Recht auf Widerstand kann das Subjekt im Verlauf der kämpferischen
Auseinandersetzung auch die Legitimität der Vergeltung, nämlich die rächende Gerechtigkeit,
fordern. Die Konfrontation, die aus der beraubenden Handlung des Verbrechens resultiert,
beruht bei Hegel ihrerseits auf der Wiedererlangung der Beteiligung am „Leben“ und der
„ganze[n] Persönlichkeit“, weil der Konflikt im Rechtsverhältnis, die Verletzung des
Eigentumsrechts, schließlich auf den Kampf um die Ich-Identität bzw. die Integrität der
eigenen Autonomie hinausläuft. (SdS., S. 41) Anschließend daran geht der Kampf um das
Eigentum im Rechtsverhältnis nunmehr in den Kampf um „Ehre“ über, weil die Beraubung
des Eigentums hier zuallererst als eine Verletzung der „ganzen Persönlichkeit“, der eigenen
Ehre, angesehen wird.
Durch die Verteidigung des verletzten Subjekts gegen die Beraubung gelangt das
Subjekt schließlich zu dem Bewusstsein, dass die verbrecherische Handlung die eigene Ehre
verletzt hat, welche durch die positive Identifizierung mit seinen Eigenschaften und seinem
persönlichen Charakter und durch die Art und Weise, wie es mit Situationen umgeht, gebildet
wird. Folglich „[wird] durch die Ehre“, wie Hegel geschrieben hat, „das Einzelne zu einem
Ganzen und Persönlichen.“ (SdS., S. 42) Die Ehre ist deshalb im Sinn Hegels nichts anderes
als die Ganzheit der Persönlichkeit, bei der das Subjekt mit sich selbst identifiziert ist, seine
Eigentümlichkeit ausbildet und zum Bewusstsein vom Anderen gelangt. Auf diese Weise
macht das Subjekt die Erfahrung, dass sich seine eigentümliche Besonderheit nicht mehr auf
seine isolierte Subjektivität gründet, sondern von der anerkannten Ganzheit abhängt: Jedes
einzelne Subjekt gelangt zu dem Bewusstsein, dass die eigene Besonderheit nur durch die
wechselseitige Anerkennung erhalten werden kann. Das Subjekt setzt sich gegen den
Angreifer zur Wehr, um die verletzte Ehre wiederherzustellen. Dabei versucht es, seine
wertvolle Menschenwürde durch den Anderen zu gewinnen. Der Äußerung Hegels zufolge
muss das Subjekt dafür sein „Leben auf das Spiel“ setzen und das Leben des Gegners
gleichermaßen gefährden. (SdS., S. 43) Aber diese Tapferkeit, die selbst die Todesangst
überwunden hat, bezieht sich nicht mehr auf das Privatinteresse, sondern vielmehr auf die
Ehre der Familie, die affirmative Möglichkeit, die eigene Freiheit in der Gemeinschaft zu
realisieren. Denn die Familie ist bereits die Ganzheit, die die wechselseitige Anerkennung in
der natürlichen Sittlichkeit erfüllt und in deren Liebesbeziehung die Mitglieder sich als
miteinander Gleiche anerkennen. In diesem Sinn spielt das Subjekt nicht als das isolierte,
sondern als „Glied eines Ganzen“ seine Rolle. (SdS., S. 45) In der tapferen Bereitschaft zum
Tod für die Ehre der Gemeinschaft, lernt das Individuum die Selbstaufopferung und den
Verzicht auf das egoistische Privatinteresse, so wie die großen Helden der griechischen
59
Stadtstaaten tapfer um die Ehre ihres Volkes kämpfen. 49 So ist bei Hegel die Voraussetzung
für die vollständige Integration in die Gesellschaft, in „die absolute Sittlichkeit“, dass das
Subjekt die Negation seiner eigenen Besonderheit vollzieht. Durch den geschichtlichen und
gesellschaftlichen Lernprozess der Selbstnegation hindurch, gelangt das Subjekt nun auch als
ein Glied des Volkes zum allgemeinen Bewusstsein, dem Geist der allgemeinen Sittlichkeit.
Im Hinblick auf den Erziehungsprozess des Subjekts zur absoluten Sittlichkeit, vor allem
angesichts der freiwilligen Integration ins Volk, könnte man davon sprechen, dass zunächst
die von der Familie vermittelte Liebe die erste musterhafte Kontur der Vergesellschaftung
skizziert. Daran anknüpfend wird für das Volk zweitens die emotionale Intimbeziehung, d. h.
die Solidarisierung mit dem sozialen Anderen, wie sie bereits beim Aufbau der Familie ihre
hervorragende Funktion geleistet hat, möglich. Schließlich wird auch die distanzlose
Vereinigung des Individuums im Rechtsverhältnis mit den gesellschaftlichen Institutionen
durch die „solidarisch-freundliche“ Beziehung möglich. 50
Nach
dem
„System
der
Sittlichkeit“
geht
Hegel
den
Schritt
zur
„Bewusstseinsphilosophie“ im Systementwurf von 1803/04, vor allem im Fragment über die
„Philosophie des Geistes“. In diesem Systementwurf zeigt er im Rahmen der
Gesellschaftstheorie auch, wie die gesellschaftliche Harmonie durch die Konflikte der
Individuen untereinander bzw. der Gemeinschaft oder der Gruppe mit einer anderen Gruppe
usw. hindurch erreicht werden kann, womit das einzelne Subjekt zugleich Zugang zum
sittlichen Allgemeinen findet, also den allgemeinen Geist erkennen und anzuerkennen
vermag. Wenn wir zugunsten unseres eigenen Lebens zusammenleben und das gemeinsame
Aufeinander-Bezogen-Sein im geteilten Lebensraum die ontologische Grundlage dafür bildet
und wir daher den wechselseitigen Respekts als eine anerkennende Handlungsnorm
benötigen, in der der Widerspruch, der das Leben zerstört, aufgehoben ist, dann sollten wir
zunächst dieses orientierungsleitende Handlungsmuster erkennen und akzeptieren können.
Indem
Hegel
den
intellektuellen
Bildungsprozess
des
Subjektes,
sozusagen
die
Erfahrungsgeschichte des stufenweisen Übergangs des Einzelnen zum Allgemeinen, in
diesem Systementwurf behandelt, versucht er die Fähigkeit der Erkenntnis des Allgemeinen
aus dem „Bewusstsein“ als der ontologischen Grundlage der Erfahrung zu entwickeln. In den
Augen Axel Honneths jedoch, vollzieht Hegel die Umwandlung ins Bewusstsein, das als
Charakter
der
homogenen
Individualisierung
oder
der
Monologisierung
der
Vergesellschaftung bezeichnet werden kann, „mit dem Preis des Verzichtens auf einen
49
50
Vgl. Anm. 38.
Vgl. A. Wildt, Hegels Kritik des Jakobinismus, S. 277 – 280, und dazu A. Honneth, Kampf um Anerkennung,
S.44 und S.46.
60
starken Intersubjektivismus“. 51 Die Subjektivität Hegels als „Prinzip der neuen Zeit“ wird
auch bei Habermas in der Selbstbeziehung aufgegriffen, die die in sich reflektierende
Bezugnahme des Subjektes auf sich ist, d. h. den Unterschied zu sich selbst und die Identität
mit sich selbst als die Gestalt der Rückkehr zu sich deutet. Anschließend daran unterstellt
Habermas, dass Hegel „nach dem Muster der Selbstbeziehung eines erkennenden Subjekts“,
nach dem Paradigma von der Subjekt-Objekt Beziehung, den absoluten Geist als die
egozentrische Subjektivität aufgefasst hat und damit sowohl den allgemeinen Geist als auch
die erkennende Struktur des Subjektes im Modell der sich auf sich selbst beziehenden Einheit
begriffen hat. Folglich wird das einzelne Subjekt bei Hegel mit dem allgemeinen Subjekt
gleichgesetzt. Der Äußerung von Habermas zufolge ist der absolute Geist Hegels daher nichts
anderes als die „höherstufige Subjektivität“. 52 Gleichwohl hält Hegel m. E. den Zwiespalt
zwischen den doppelsinnigen Denkansätzen, bei denen einer im Prinzip der Subjektivität
verankert ist und der andere nach dem intersubjektiven Handlungsmodell im Leben gründet,
nach der Denkentwicklung zum Bewusstsein im Systementwurf 1803/04 aufrecht. So gesehen
kann man davon ausgehen, dass Hegels Begriff des Bewusstseins im Systementwurf 1803/04
die ontologische Basis der Ich-Identifizierung im Rahmen der Gesellschaftstheorie darstellt;
diese wird durch das verwobene Netzwerk mit dem Anderen und der Gesellschaft zugleich
gebildet. Andererseits kann man Hegels Denkentwicklung zum Bewusstsein die präzisierte
Analyse der Erfahrungsphänomene, die er mit Blick auf den Bildungsprozess des
Bewusstseins durchgeführt hat, entnehmen, auch wenn das vermutlich bedeutet, dass das
intersubjektive Aggregat zwischen den isolierten Individuen nach dem Systementwurf
1803/04 seine zentrale Stellung verloren hat.
Hegel bezeichnet auch in der Geistesphilosophie 1803/04 noch deutlich die Sprache,
die Arbeit und die Liebe in der Familie als die „Potenzen“, „Mitte“ des Bewusstseins der
intersubjektiven Wechselbeziehung, obwohl er hier den Wechsel zur Konzeption der
Bewusstseinsphilosophie ansetzt. 53 In diesem Systementwurf betrachtet Hegel die absolute
Sittlichkeit als das allgemeine Bewusstsein, den so genannten „sittlichen Geist“, 54 den das
einzelne Bewusstsein im Anerkennungsverhältnis erreichen muss. In diesem Zusammenhang
entstehen die erscheinenden Gestalten der Sittlichkeit, d. i. des Geistes, die bei Hegel von
vornherein nicht als starres Insichbestehen, sondern als das sich entfaltende „Einssein“ gefasst
51
A. Honneth, Ebd., S. 53.
Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1986, (3. Aufl.), S. 27 und S. 53.
53
Vgl. Wolfdietrich Schmied–Kowarzik, „Die Bedeutung der ‚Mitten’ des Bewusstseins (Sprache, Arbeit,
Familie) in Hegels Systementwurf von 1803/04 und die spätere veränderte Konzeption“, in: Die
Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels, hrsg. v. Heinz Kimmerle, Berlin 2004, S. 135 – 147.
54
G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I – Das System der spekulativen Philosophie, hrsg. v. Klaus Düsing
und Heinz Kimmerle, Hamburg 1986, S. 225, im folgenden abgekürzt: JSE I.
52
61
werden (JSE I., S. 183) und somit den inneren Modifikationen der Medien des Bewusstseins
entstammen. Es ist der Schauplatz des Leidens, auf dem das Bewusstsein die dynamische
Bewegung der Beziehung auf sich selbst als das Andere und auf das Andere als sich selbst,
entwickelt.
Das Bewusstsein ist bei Hegel der „Begriff des Geistes“ (JSE I., S.183), der jedoch
nicht das unterschiedlose und in sich festhaltende Sein ist. Dieses tritt in den Unterschied an
sich selbst und in das Geschehen in der Lebenswelt dadurch ein, dass die prozessuale
Bewegung des Unterscheidens und der Rückbeziehung auf sich selbst stattfindet. Der Geist
im Sinn Hegels erscheint hier als das „Bewusstsein“, d. h., dass das Bewusstsein zumindest
am Anfang der „Philosophie des Geistes“ nicht als die abgesonderte Einzelheit, sondern als
das allgemeine Bewusstsein dargestellt wird. Diesbezüglich kann man sagen, dass dem Geist
bei Hegel die Bedeutung des die Ganzheit des Lebens umfassenden Sinnnetzwerks mit dem
daraus folgenden Gedanken, dass „das Wahre das Ganze ist“, zukommt. (PhdG., S. 24) Der
Geist als ein lebendiger Sinnganzheitshorizont erlebt die ontogenetische Geschichte des
Ganzen des Lebens. Gleichzeitig entfaltet sich die Verbundenheit mit dem Leben selbst auf
nachvollziehbare Weise auf dem Schauplatz des Lebens. Demzufolge kann man davon
ausgehen, dass Hegels Begriff des Bewusstseins in der „Philosophie des Geistes“ zunächst so
etwas wie ein Grundmodell des Geistes war. Darüber hinaus bezeichnet Hegel den Begriff des
Bewusstseins als die Einheit der Gegenteile; einerseits „das sich Bewusstseiende“,
andererseits „das, dessen es sich bewusst ist.“ (JSE I., S. 189) Aus dieser Dastellung gilt es
nun zu erkennen, dass Hegel diesen Begriff des Bewusstseins später als das Selbstbewusstsein
verstanden hat. Anders formuliert: Hegel ist davon überzeugt, dass das Bewusstsein nicht in
der unüberbrückbaren Entfernung vom Anderen oder dem Objekt bleibt, sondern dass es die
Faktizität seiner selbst darstellen und den negierenden Übergang zum Wahren in sich selbst
motivieren kann. Im Anschluß daran beschreibt Hegel das Bewusstsein als „die Identität in
dem Anderssein“. 55 Das subjektive Ich als das Selbstbewusstsein kann sich deshalb aus dem
Einlassen auf die negative geschichtliche Bewegung heraus selbst ausbilden und sich selbst
dabei in die Gesellschaft einbinden. Das mit dem Leben verbundene Selbstbewusstsein ist
immer mit sich selbst nur dadurch identifiziert, dass es sich in einer endlosen
Wechselbeziehung befindet, was bedeutet: Die Andersheit in sich selbst und das Selbst im
Anderen finden zu können. Das Selbstbewusstsein bildet sich, um es noch deutlicher zu
sagen, stets unter dem kontinuierlichen Einfluss von und der unaufhörlichen Wechselwirkung
55
62
Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in: Werke in 20 Bänden, hrsg. v. Eva
Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1986, S. 199, im folgenden abgekürzt: Enzy.
III.
mit den Anderen. Gadamer liefert für Hegels Begriff des Selbstbewusstseins den
entscheidenden Hinweis, indem er sagt, „dass es (= das Selbstbewusstsein, KBL) seine
Identität als >Lebendiges< nur in der beständigen Auflösung des Anderen und
Selbstauflösung in das Andere hat, also als Teilhaben an der Unendlichkeit, dem Kreislauf des
Lebens.“ (GW. 3, S. 52)
63
III. Das Anerkennungsverhältnis in der Geistesphilosophie 1803/04, 1805/06
Durch Hegels Texte Philosophie des Geistes 1803/04, 1805/06, die in diesem Kapitel
behandelt werden, werden wir noch deutlicher verstehen, was Hegel mit seinem Begriff der
„Anerkennung“ gemeint hat, wie „das ganze Bewusstsein“ als „Einheit der Einzelheit“ (JSE I,
S. 187) noch genauer begrifflich dargelegt werden kann, mit welchem Entwicklungsprozess
der Geist als das Allgemeine, das „das Besondere selbst enthält“, 56 sich selbst erweitert,
anders gesagt, wie der objektive Geist als „die Grundlage unseres menschlichen Lebens“ 57 in
den Formen der gesellschaftlich–konventionellen Institutionen und Organisationen realisiert
wird. Nach seiner Konzeption hat Hegel ebenso in den Jenaer Systementwürfe[n] III wie in
den Jenaer Systementwürfe[n] I, die er als die Fragmente vorgelegt hat, den systematischen
Entwicklungsweg von der Naturphilosophie zur Geistesphilosophie beschrieben. Was diesen
gesamten Entwicklungsprozess betrifft, gehört die Charakteristik der Selbstartikulierung und
–differenzierung zum Geist. Demnach lässt der Geist sich selbst auf die Natur als seine
fremde Andersheit, aber dennoch von vornherein auf sein Selbst hin verlegen, weil die Natur
bei Hegel als eine Gestalt der Selbstentäußerung des Geistes erfasst wird. Der Geist kehrt
dabei durch die Selbstartikulierung und –differenzierung als seinem Entwicklungsweg zu sich
selbst, zum „wissend[en] Wissen“, „Wissen des Geistes von sich“, zurück. (JSE III. S. 261) In
dieser dynamischen Bewegung der Selbstentäußerung und des Zurückkommens zu sich selbst
führt der Geist bei ihm einen ständigen Wiederholungsprozess durch, damit er sich selbst zum
„wirklich[en] Geist“ macht, „der sich selbst und den Gedanken von sich enthält“. (JSE III. S.
259) In diesem Sinn hat Hegel am Anfang dieser Arbeit mit seinem vorweggenommenen
Einblick in das Darstellungsziel formuliert: „Der Geist ist dieses mit sich Vermittelnde, er ist
nur als aufhebend das, was er unmittelbar ist, davon zurücktretend.“ (JSE III. S. 171) Im
Verlauf der Selbsthinführung zur wissenden Bewusstwerdung des Geistes kommt dem
Hegelschen Begriff des Geistes einerseits die Eigenschaft der Selbstbeziehung des Geistes auf
sich selbst – hier können wir bei Hegel den Charakter der Abgeschlossenheit des Geistes
finden 58 - jedoch andererseits die unvermeidbaren Stationen der Selbsteinbettung in das
Anderswerden zu. Deswegen hat Gadamer in der „Analyse des wirkungsgeschichtlichen
Bewusstseins“ in seinem Werk Wahrheit und Methode über den Hegelschen Begriff des
56
G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. – Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hrsg. v. Rolf–
Peter Horstmann, Hamburg 1987, S. 177. Im folgenden abgekürzt: JSE III.
57
Hans–Georg Gadamer, „Hegels Philosophie und ihre Nachwirkung bis heute“, in: ders., Vernunft im Zeitalter
der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 45.
58
Vgl. Gerhard Göhler, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Frühe politische Systeme, Frankfurt a. M./Berlin/Wien
1974, S. 419.
64
Geistes gesagt, dass „das Leben des Geistes [...] vielmehr darin [besteht], im Anderen sich
selbst zu erkennen.“ (GW. 1, S. 352, meine Hervorhebung) Hinsichtlich des Anderswerdens
des Geistes versteht Gadamer unter Hegels Begriff „Geist“ den der „geschichtlichen Arbeit“,
um sich mit sich selbst auf einer einheitlichen Dimension der lebendigen Sinnganzheit zu
versöhnen, dabei die „Erfahrung, die Wirklichkeit erfährt und selber wirklich ist.“ (Ebd.)
Aufgrund Gadamers Einsicht können wir den Begriff des Geistes in Hegels Philosophie des
Geistes als das stets anders gewordene Selbst, das auf dem notwendigen Weg zum gesamten
System durch die kontinuierlich sich entfaltende und sich auf sich selbst zurückführende
Wiedererkenntnis wandelt, erfassen.
Der Text, in dem Hegels Idee der Philosophie des Geistes entfaltet ist, ist für Hegels
praktische Philosophie entscheidend, 59 denn dort wird die Anerkennung, die den höchsten
Stellenwert hat, „zum grundlegenden Prinzip von Vergesellschaftung überhaupt“. 60 Was die
Überlieferungsgeschichte betrifft, ist diese Schrift von Hegel selber nicht veröffentlicht
worden, war sie seinerzeit von ihm doch lediglich als Manuskript für eine Vorlesung verfaßt
worden. Aufgrund dieser Überlieferungsgeschichte ist umstritten, ob die Überschrift im ersten
Teil der Philosophie des Geistes „Subjektiver Geist“, 61 die vom ersten Herausgeber, Johannes
Hoffmeister, vorgelegt wurde, oder „Der Geist nach seinem Begriff“ oder „Der Geist in
seinem Begriff“, 62 die vom neuen Herausgeber, Rolf–Peter Horstmann, vorgeschlagen wurde,
Hegels eigentlichen Entwürfen dieser Schrift entsprachen. Hegel selbst sorgte für den Anlaß
dieser Debatte, da seinem Manuskript die Überschrift gänzlich fehlt. Der erste Herausgeber,
Johannes Hoffmeister, hat die Überschrift „Subjektiver Geist“, die nicht zufällig an das späte
System der Enzyklopädie anknüpfte, schließlich gestrichen. In der Tat scheint es auch mir
zweifelhaft, dass Hegels Konzeption der Philosophie des Geistes unmittelbar in
systematischer Kongruenz zu der späten Enzyklopädie stehen soll, obwohl es, wie er oben in
Bezug auf seinen Begriff des Geistes schon gesagt hat, zum Teil Ähnlichkeiten mit dem
späten System zu geben scheint: Hegel hat die drei Fachbereiche „Anthropologie“,
„Phänomenologie“ und „Psychologie“ unter dem Titel „Subjektiver Geist“ in der
Enzyklopädie III umfangreich untersucht. Außerdem hat er hier auf „die Erkenntnis des
Geistes“ abgezielt (Enzy. III, S. 397), so wie das Ziel in der Philosophie des Geistes die
wissende Einheit von „Intelligenz“ und „Wille“, die Bewusstwerdung des Geistes ist. Trotz
59
Vgl. Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie – Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge
ihrer Entstehung, Darmstadt 2000, S. 117.
60
Ebd., S. 129.
61
G. W. F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, hrsg. v. Johnnes Hoffmeister, Hamburg 1969, S. 179.
62
Rolf–Peter Horstmann, „Einleitung“, in: G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und
Philosophie des Geistes, S. XVIII – XIX.
65
dieser Ähnlichkeit kommen, A. Wildt zufolge, die elementaren Medien, Sprache, Werkzeug,
Liebe und Familie im Diskussionsfeld der Anerkennung in der Enzyklopädie III nicht vor. 63
So gesehen, liegt es auf der Hand, dass Hegels fruchtbare Beiträge zur praktischen
Philosophie in der Philosophie des Geistes 1803/04, 1805/06, in der das Spannungsverhältnis
zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen im Konflikts– und Versöhnungsverlauf der
Anerkennung stattfindet, aus unserer Sicht übersehen wird, wenn wir Hegels Philosophie des
Geistes vor dem Horizont der systematischen Kongruenz mit der späten Enzyklopädie zu
behandeln trachten.
Im Anschluss an diese Debatte ist es für uns unerläßlich, dass wir zunächst die
gesamte Komposition von Hegels Texten unter dem Gesichtspunkt der Geistesphilosophie
betrachten, um Hegels Konzept in diesen beiden Texten herauszuarbeiten. Was hauptsächlich
die Philosophie des Geistes 1805/1806 betrifft, handelte Hegel zunächst „Intelligenz“ und
„Wille“ unter dem Titel „Der Geist nach seinem Begriff“ ab, um sich dann dem
„Anerkanntsein“, den Rechtsverhältnissen und den institutionellen Horizonten auf der
gesellschaftlichen Ebene unter dem Titel „Wirklicher Geist“ zuzuwenden. Im ersten Teil geht
es Hegel darum, die drei „Mitte[n]“ Sprache, Werkzeug und Familie deutlich zu machen,
durch die das Individuum nicht mehr an der individuellen Subjektivität, noch deutlicher
formuliert, an der isolierten Individualität festhält, sondern sich selbst auf die Anderen bezieht
und sich auf die höhere Stufe der Sittlichkeit im bildungsgeschichtlichen Entfaltungsprozess
seines Bewusstseins begibt. In diesen drei „Medien“ spielt das Anerkennungsverhältnis eine
wichtige Rolle: In seinem Verlauf gewinnt das Individuum nicht nur das Bewusstsein von
seinem selbständigen Selbst, sondern nimmt sich selbst auch als das beim Anderen Sein und
das mit dem Anderen verschränkten Selbst wahr. Diesbezüglich hat Habermas festgestellt,
dass „die Kategorien Sprache, Werkzeug und Familie drei gleichwertige Muster dialektischer
Beziehungen bezeichnen.“ Außerdem hat er geschrieben, dass „der dialektische
Zusammenhang von sprachlicher Symbolisierung, Arbeit und Interaktion den Begriff des
Geistes bestimmt“. 64 Habermas zufolge sind diese drei Kategorien bei Hegel mindestens in
der Jenaer Geistesphilosophie vom Begriff des Geistes unabhängig und deshalb haben sie
63
Vgl. zu diesen Debatten Klaus Roth, Die Institutionalisierung der Freiheit in den Jenaer Schriften Hegels,
Berlin 1991, S. 81–82, und A. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 344, Anm. 87, und auch J. Habermas,
Technik und Wissenschaft als >Ideologie<, Frankfurt a. M. 1969, S. 10, Anm. 3. Hier hat er „abstrakter
Geist“ als den inhaltsgemäßen Titel für diese Überschrift vorgeschlagen, weil man diese Jenaer
Systementwürfe seiner Ansicht nach dem späten System nicht aufrichtig unterwerfen kann. Grundsätzlich
werde ich in dieser Arbeit die Ausgabe von Horstmann verwenden, da es bei mir hauptsächlich um die
Problematik der Anerkennung geht und es mit Ausnahme des Problems der Überschrift im ersten Teil
inhaltlich fast keine Differenzen zwischen den beiden Ausgaben gibt.
64
J. Habermas, Ebd., S. 9 – 10. (Hervorhebung von mir).
66
ihre jeweilige Eigentümlichkeit als substanzielle Elemente. 65 Mit anderen Worten: Habermas
tendiert hypothetisch dazu, dass der Geist bei Hegel von den unreduzierbaren und
unhintergehbaren Elementen aus, – die sprachliche Symbolisierung, Werkzeug und
Interaktion - als den wesentlichen Grundlagen von vornherein konstruiert wird und diese
Elemente auch im Bildungsprozess des Geistes als die jeweilige Substantialität selbständig
bleiben können. Hinsichtlich Habermas’ hypothetischer Tendenz fragt sich auch A. Wildt,
„welcher Zusammenhang zwischen den drei Mitten des Geistes besteht“, 66 wenn die drei
Elemente ohne die Reduktion aufeinander parallel gleichgesetzt sind. Dementsprechend
müssen wir uns m. E. zuallererst mit den Fragen beschäftigen, wie oder inwiefern das
individuelle Subjekt im Verlauf der wechselseitigen Anerkennung die drei Medien anwendet,
sich selbst findet und erkennt, was es in diesem Prozess erfährt, verliert und gewinnt, wie es
sich selbst auf die anderen bezieht, um sich schließlich selbst auf der gesellschaftlichpolitischen Ebene zu erkennen. Bei diesen Fragestellungen wird deutlich, dass wir die drei
Medien als die zu verschränkenden Elemente im Anerkennungsverhältnis und in der
Selbstentfaltung des Geistes erfassen müssen, da dem Individuum im Verlauf dieses
Bildungsprozesses im Wesentlichen das sich selbst Wissen im Anderen verdeutlicht wird.
Somit kann man festhalten, dass der Geist auf diese drei Elemente angewiesen ist; sein
Vorhandensein bedeutet, dass er damit als das erscheinende Dabeisein und das teilhabende
Sein zugleich aufgefasst wird. In der Folge hat Hegel mit den obigen Medien auf das
holistische Wissen vom theoretischen und praktischen Bewusstsein abgezielt. Dieser
Anspruch auf die einheitliche Ganzheit wird bereits in Hegels früher Konzeption mit dem
Begriff „das ungeteilte Leben“ beschrieben. Dieses einheitliche Wissen betreffend, sagt Hegel:
„Jene erste gebundene Existenz des Bewußtseins als Mitte ist sein Sein als Sprache, als
Werkzeug und das Gut. Oder als einfaches Einssein: Gedächtnis, Arbeit und Familie.“ (JSE I,
S. 193)
65
Vgl. Zur Kritik dieser These Habermas’, H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, S. 156 – 157. Hier
begreift er die Medien, „Sprache“, „Werkzeug“ und „Interaktion“, als „Moment des Geistes“, um sich
„begrifflich und ihrem Wesen nach“ selbst zu entfalten. Seiner Ansicht nach kann man der „Konsequenz des
notwendigen Verzichts auf die Ambition, in der Gesellschaftstheorie in die Perspektive des Absoluten
einzutreten“ entgegenkommen, wenn die Medien als „die systematische Unabhängigkeit“ voneinander und die
einander gleichgesetzten Kompetenzen, die autonom den Geist konstruieren, verstanden werden.
66
A. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 327.
67
Dieser Äußerung zufolge muss das subjektive Bewusstsein zunächst alle Medien durchlaufen,
zum einen die ideellen, zum anderen die praktischen. 67 Im Verlauf dieses Erfahrungs– und
Bildungsprozesses kann es somit seiner selbst auf dem höheren Niveau des „sich in einer
andern solchen Totalität, Bewußtsein, sich als sich selbst Erkennens“ bewusst werden. (JSE I,
S. 217) Dabei scheint der Geist bei Hegel zusammen mit dem Bildungsvorgang des
subjektiven Bewusstseins sich selbst entwickeln zu können und auch an diesem Prozess des
Bewusstseins bereits teilgehabt zu haben. Durch diesen Entwicklungsprozess erscheint der
Geist bei ihm sich selbst als „Wirklicher Geist“, der „die erfüllte Freiheit“ und damit zugleich
„der seiner selbst gewisse Geist“ ist. (JSE III, SS. 252 – 253) Auf dieser Stufe des Geistes, die
den gesamten Vorgang der Bildung des individuellen Bewusstseins als die Voraussetzung in
sich enthält, hat Hegel den Übergang vom Rechtsverhältnis über das sich als Gewalt
auswirkende Gesetz zur staatlichen Verfassung als der verwirklichten Gestalt des Geistes
unter dem Titel „Wirklicher Geist“ behandelt.
Nach diesem zusammenfassenden Überblick stellt sich die Frage, welche
grundsätzliche Erfahrung das Subjekt im Prozess des wechselseitigen Sich–Versetzens
gemacht hat, welche Rolle die Liebe, die der emotionellen Beziehung als dem wesentlichen
Moment der Eheschließung zugrunde liegt und jedes individuelle Familienmitglied im
Binnenraum der familialen Intimität nicht nur zum Bewusstsein vom Selbst, sondern auch zu
dem des Anderen hinführt, im Anerkennungsverhältnis spielt. Was hat die daraus folgende
Kindererziehung der Eltern mit den gesellschaftlichen Institutionen und Normen zu tun? Wie
kann der Familienverband als die Gemeinschaft des Gefühls im gesellschaftlichen und
staatlichen System als der Sphäre der Sittlichkeit konstruktiv repräsentiert werden? Diese
Fragen im Hinterkopf behaltend, werde ich meine Aufmerksamkeit im folgenden Hegels
Problematik der interaktiven Intersubjektivität zuwenden.
67
Vgl. H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, S. 121. Hier hat er alle Medien im ersten Teil der
Philosophie des Geistes unter zwei Aspekten betrachtet: Formell gesehen: Sprache – Gedächtnis, Werkzeug –
Arbeit, Familiengut – Liebe und Familie. Die eine begriffliche Sichtweise gehört der ideellen Seite des
Bewusstseins an, die andere der realen Seite des Bewusstseins. Damit wird deutlich, dass Hegel in seiner
Philosophie mit der Aristotelischen Tradition der Philosophie den unaufgelösten Gegensatz von der Theorie
und der Praxis zu überwinden versucht hat.
68
III – 1. Die mediale Intimbeziehung zwischen Ich und Du
Bevor Hegel die Tätigkeit des wollenden Subjekts in der vorgesellschaftlichen Sphäre
betrachtet, geht er zunächst auf das Erkenntnisvermögen des subjektiven Bewusstseins unter
dem Namen der „Intelligenz“ ein. Daran anschließend beschäftigt er sich mit der einheitlichen
Beziehung von Sprache und Gedächtnis, die beide als „I. Potenz“ in der Geistesphilosophie
1803/04 bezeichnet werden. „Die Anschauung“ ist die erste Gestalt des subjektiven
Bewusstseins, die aufrichtig gegenüber dem äußeren Gegenstand in Raum und Zeit steht.
Deswegen gehorcht sie der herrschenden Einschränkung von Raum und Zeit, ist
gewissermaßen räumlich und zeitlich bestimmt. Dabei handelt sie sich um den unendlichen
Gegensatz von dem Anschauenden und dem Angeschauten. Die zweite Gestalt des
subjektiven Bewusstseins, die von diesem unendlich fließenden Gegensatz aus zu sich selbst
zurückkommt, ist „die Einbildungskraft“. Die Einbildungskraft, die Hegel selber
„vorstellende Einbildungskraft“ genannt hat, positioniert den äußeren Gegenstand bildhaft vor
sich selbst. (JSE III, S. 171) An diesem Punkt ist der äußere Gegenstand aus der
Unmittelbarkeit des Seienden, dem oberflächlichen Schein, in die Innerlichkeit des
Bewusstseins erhoben. Das Bewusstsein ist bei Hegel nunmehr verinnerlicht und zu sich
selbst zurückgekehrt. Hier hat sich die Gegenständlichkeit des Gegenstands in die
Innerlichkeit des subjektiven Bewusstseins verlagert.
Bei der Verinnerlichung des äußeren Gegenstandes mit Hilfe der Vorstellungskraft ins
Ideelle des subjektiven Bewusstseins wird die Außenwelt nunmehr zum Gegenstand des
Subjekts und vom tätigen Subjekt aus ideell, aber dennoch bildhaft, reproduziert. So gesehen
führt die objektive Außenwelt zuallererst zur Subjektivierung, weswegen der Gegensatz von
Subjekt und Objekt im Verlauf der ideellen Subjektivierung des Objekts überwunden wird,
obwohl diese Überwindung des Gegensatzes zunächst nur einseitig stattfindet. Diese erste
Gestalt der Übertragung der objektiven Außenwelt auf das Subjekt zeigt sich beim Erscheinen
des „Zeichen[s]“. (JSE III, S. 174) Die andeutende Handlung des Subjekts meint die
Verwandlungsaktion des äußeren Dinges ins ideelle Symbol, sozusagen die Entäußerung des
handelnden Subjekts durch die Namensgebung. Mit anderen Worten: Das Subjekt hat erstens
beim unmittelbaren, aber subjektiven Referenzverhältnis zur objektiven Außenwelt den
Gegenstand bildhaft und ideell aufgenommen und zugleich symbolisiert. Zweitens wird der
Gegenstand vom Innern des Subjekts aus repräsentativ dargestellt, von den subjektiven
Sprachakten, die den Dingen Namen geben, wiederhergestellt. Durch subjektive Sprachakte
als kategorisch ordnende Namensgeber wird der Gegenstand in Hegels Augen vom Subjekt
69
aus rekonstruiert, wird mit dem Sprechen phänomenal und kategorisch auseinanderdividiert.
Der Äußerung Hegels zufolge ist diese subjektive Symbolisierung der imaginierten
Außenwelt, nämlich die ideellsprachliche Auffassung des Subjekts über das Objekt, „die erste
Schöpferkraft“ des Geistes. (JSE III, S. 175) Durch diese schöpferische und repräsentative
Symbolisierung der Außenwelt bezieht sich der Geist nun nicht mehr auf die Unmittelbarkeit
des Gegenstandes, sondern „verhält sich zu sich selbst.“ (Ebd.) Dementsprechend zeigt sich
der Gegenstand in der Bedeutung, die er für das Ich als den Geist selbst hat. So wird der Geist
im „Reich der Namen“ zum erwachten. (Ebd.) Im flexiblen und variablen Reich der Namen
ordnet das Ich als der Geist selber mit dem „Gedächtnis“ die symbolisierten, vielfältigen
Dinge kategorisch an. Hierbei glaubte Hegel, dass das Ich sich selbst in diesem kategorisch
angeordneten Dinge, anders gesagt, in den bezeichneten Namen, anschauen könne. Aus
diesem Grund nennt Hegel das „sich selbst zum Dinge Machen“ des Ichs. Infolgedessen
können wir auch die zweite Gestalt der nach außen erscheinenden Überwindung des
Gegensatzes von Subjekt und Objekt erkennen. Dem Ich kommt nunmehr die
Selbstvergegenständlichung und –objektivierung zu.
Im Konsensprozess von Ich und Außenwelt, der zum einen in dem strukturellen
Modell des „das Ding zum Ich zu Machen[s]“, nämlich der ideellen Symbolisierung des
Gegenstands, zum anderen in dem des „das Ich zum Dinge zu Machen[s]“, sozusagen der sich
selbst entäußerten Vergegenständlichung stattfindet, kommt die allgemeine kategorische
Ordnung dem Ich zu, womit die Zufälligkeit zwischen dem Ich und dem Gegenstand, anders
gesagt, die willkürliche Ausprägung der Privat–Sprache überwunden ist. Denn das Ich kann
relativ leicht in die Lage versetzt werden, die Sprache in der unmittelbaren Gegenüberstellung
mit dem Gegenstand willkürlich und irreführend zu privatisieren, falls das Subjekt nur in der
privaten ideellen Sprachschicht verhaftet ist. Mit dieser Einsicht in die Gefährlichkeit der
Privatisierung der Sprache schreibt Hegel im folgenden über die Verallgemeinerung der
Sprache bzw. die allgemeine Überwindung der Willkürlichkeit der Sprache:
„Diese Richtung auf den Namen hat also die entgegengesetzte Bedeutung, daß nämlich die
Richtung auf Ich, Aufheben desselben als des fürsichseienden, d. h. willkürlichen, tätigen
gesetzt ist – es ist gesetzt die Allgemeinheit, mit gleichem Wert, gleichem Aufgehobensein
des tätigen Ichs und des Gegenstandes […]“ (JSE III, S. 181, meine Hervorhebung)
So
gesehen
wird
die
Sprache
bei
Hegel
zunächst
unter
den
gemeinsamen
Rahmenbedingungen für den allgemein übereinstimmenden Sprachkreis, an dem wir allesamt
70
gleichermaßen teilnehmen, zum Thema gemacht. Daran anschließend verweist Hegel darauf,
dass die Sprache im Volk, die die Sozialisierung jedes Betreffenden vor dem kulturellen und
konventionellen Hintergrund leistet, „als ideelles, allgemeines Bewusstsein vorhanden“ ist,
wenn die Rede vom Volksgeist als „wirklichem Geist“ ist. (JSE I, S. 226) Auf der
gesellschaftlichen Ebene, auf der wir mit der Sprache den anderen begegnen und unser
Denken mitteilen, ist die Sprache nicht nur der Vermittler unter den Subjekten, sondern der
Sinnträger des Denkens bzw. der Sachwahrheit. Deswegen ist die Sprache bei Hegel als „die
Mitte der Intelligenzen, Logos, das vernünftige Band derselben“ bestimmt. (SdS, S. 18) Die
Gestalten der Sprache, die die Wahrheit der Sache selbst im Herzen trägt und uns selbst
miteinander verbindet, erscheinen bei Hegel vielfältig. In Hegels Augen sprechen wir nicht
nur über die Sache selbst, wie er in „Stimme des Bewußtseins“ (JSE I, S. 202) oder „die
tönende Rede“ (SdS, S. 18) gezeigt hat, sondern wir wenden auch die Miene, Gebärde, Geste
usw. auf das Kommunizieren miteinander an. Demzufolge wird das kommunizierende
Handeln des Subjekts nun bei Hegel zum „beweglichen, ideellen Spiel“, sozusagen „Spiel in
einem anderen“. (SdS, S. 17) Im Anschluss an die Einsicht in die Sprache des jungen Hegels
können wir feststellen, dass die Sprache bei ihm zunächst ein Vehikel ist, das unser Denken,
die Stimme des menschlichen Inneren zum Ausdruck bringt und auch ein Vermittler, der das
Ich mit dem Anderen verbindet. Insofern die Wahrheit der Sache selbst nur durch die
sprachlichen Begriffe zum Ausdruck gebracht wird, sich die Sache selbst nur mit der Sprache
darstellt und zeigt, hat Gadamer Hegels Dialektik unter „dem spekulativen Geist der
Sprache“ verstanden, obwohl Hegel, Gadamers Ansicht zufolge, mit der begrifflichen Sprache
immer wieder„nur das Reflexionsspiel ihrer Gedankenbestimmungen“ widerspiegeln und
überprüfen will. (GW. 1, S. 472) Von diesem Gesichtspunkt Gadamers aus betrachtet wird
klar, dass die Sprache in Hegels Philosophie nicht nur den Begriff der reflexiven Einsichten
oder die logischen und beweisenden Reflektionen, die das Bewusstsein auf den Weg zur
vernünftigen Auffassung bringen, einschließt, sondern sie muss auch damit wesentlich
„Vollzug von Sinn, als Geschehen der Rede, der Verständigung, des Verstehens“ sein. (GW.
1, S. 473)
Von Hegels Einsicht in die Sprache können wir das kommunikative Handeln bzw. die
sprachlich dialogische Interaktion zwischen den Subjekten unter den gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen
ableiten.
Die
Sprache
ist
unter
den
Einschränkungen
der
Geschichtlichkeit und der Kultur an die nachfolgenden Generationen überliefert und deshalb
ist sie einem Volk in einem spezifischen Sprachraum überlassen. Innerhalb dieses
Sprachkreises begegnet das Ich seinem Anderen im Gesprächsverhältnis, versteht den
71
Anderen und erreicht mit dem Anderen die gemeinsame Verständigung. Die überlieferte
Sprache lässt uns ins lebendige Gesprächsfeld vor dem alles kalkulierenden Reflexionsakt
hinabgleiten. Durch die interaktiven Sprachakte hindurch erwarten wir damit die
menschlichen Verhaltensweisen in der alltäglichen Lebenswelt, die von vornherein den
ethischen Anspruch aller Beteiligter implizieren. An dieser Stelle kann man feststellen, dass
die Sprache, die aus der vorgegebenen Tradition, aber dennoch aus der gegenwärtigen
Auseinandersetzung
mit
den
überlieferten
Traditionen
entsteht,
uns
selbst
zum
interpersonellen Handlungsrahmen, zur bedeutsamen Verständigung zwischen den Menschen
führt. 68 Im Teil „Wirklicher Geist“, in dem der Volksgeist prinzipiell thematisiert wurde, sagt
Hegel über die Sprache:
„Die Sprache ist nur als Sprache eines Volks, ebenso Verstand und Vernunft. Nur als Werk
eines Volks ist die Sprache die ideale Existenz des Geistes, in welcher er sich ausspricht, was
er seinem Wesen [nach] und in seinem Sein ist; sie ist ein Allgemeines, an sich Anerkanntes,
im Bewußtsein aller auf dieselbe Weise Widerhallendes; jedes sprechende Bewußtsein wird
unmittelbar darin zu einem andern Bewusstsein. Sie wird ebenso ihrem Inhalt nach erst in
einem Volke zur wahren Sprache, zum Aussprechen, was jeder meint.“ (JSE I, S. 226, meine
Hervorhebung)
Diese Sätze Hegels geben uns m. E. auch den Anlass, unsere Aufmerksamkeit auf Gadamers
Einsicht in die „Sprache im Gespräch“ in der Hermeneutik zu richten. (GW. 1, S. 449) Aber
ich werde mich im folgenden damit zufrieden geben, kurz zusammenzufassen, wie oder
inwiefern Hegels Einsicht in die Sprache als „Sprache eines Volkes“ in Anknüpfung an den
Gesichtspunkt der philosophischen Hermeneutik aktuell diskutiert werden kann, da Gadamers
Sprachlichkeit in Bezug auf das Verstehen im dritten Teil dieser Arbeit noch thematisiert
werden wird. Bei Gadamer ist die Sprache zunächst „autonom“, deswegen drückt sie sich
selbst aus, bietet sie sich selbst dar. Die Sprache, in der wir sind und leben, ist aus ihrem
Innern selbständig heraus gewachsen, weswegen sie das Wort an uns richtet. Diesbezüglich
68
Vgl. J. Habermas, Technik und Wissenschaft als >Ideologie<, S. 30 – 37, und damit den Beitrag von Charles
Taylor, der in seiner Arbeit bei der Erklärung des Zusammenhangs von der Ich–Identifizierung und der
wechselseitigen Anerkennung des Subjekts „den dialogischen Charakter menschlicher Existenz“ als die
wichtigste Eigenschaft erfasst hat. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung,
Frankfurt a. M. 1997, S. 21ff. Dagegen hat Klaus Roth in seiner Arbeit darauf hingewiesen, dass sich der
Sprachgebrauch von Menschen immer auf die intellektuell–potenzielle Einzelheit zurück beziehen soll, die
kommunikative einheitliche Verständigung zwischen dem Sagenden und dem Zuhörenden deshalb nicht als
die intersubjektive Wechselbeziehung des kommunikativen Handelns gelten dürfe, sondern als „Einheit des
abstrakt–allgemeinen Geistes in sich“ erfasst werden müsse. Klaus Roth, Die Institutionalisierung der Freiheit
in den Jenaer Schriften Hegels, S. 93.
72
sagt Gadamer selbst, dass „die Sprache sich weigert, missbraucht zu werden“, dass sie von
vornherein das, „was sprachlicher Brauch ist, vorschreibt.“ (GW. 2, S. 192, S. 196) Aus
diesem Grund kann man davon ausgehen, dass wir uns die Sprache grammatisch gar nicht
aneignen können und sie somit nicht beherrschen können, sondern wir vielmehr zu der
Sprache gehören und die Sprache dabei jenseits der Grammatik und der Sprachregeln bleibt.
In Bezug auf diese „Universalität der Sprachlichkeit“ spricht Gadamer davon, so wie Hegels
Äußerung, „in welcher er sich ausspricht“ über „das Zur-Sprache-Kommen der Sache selbst“,
(GW. 1, S. 384) dass wir nur in der Sprache angeben können, was wir denken, was die Sache
selbst ist und wie sie ist. Dadurch wird die Sache selbst in der Sprache als einem Vermittler
nachvollzogen, indem die Sache selbst ihre Wahrheit mit der Sprache ausgesagt hat und
aussagt.
Was Hegels Bezeichnung „Widerhallendes“ betrifft, das als die gemeinsamen und
überlieferten Stimmen der interaktiven Personen im gesellschaftlichen Sprachkreis als der
verwirklichten Gestalt des Volksgeistes gelten muss, können wir auf Gadamers wechselseitige
Beziehung unter den Mitgliedern, die zwangsläufig „einer Sprachgemeinschaft angehören“,
im Gesprächsverhältnis anwenden. (GW. 1, S. 447) Bei Gadamer steht außer Frage, dass die
Sprache unsere Kommunikationsform in der Gesellschaft darstellt und wir durch sie zur
gemeinsamen Verständigung über die vor uns stehenden Dinge und über uns selbst kommen
können. Wir sprechen in unserem gesamten Leben über die latenten Situationen, d. h. die
Sachverhalte, die uns selbst um– und einschließen, die bei uns selbst sind. In diesem endlosen
Dialogprozess begreifen wir sowohl uns selbst als auch die vor uns liegenden Umstände.
Dementsprechend sind wir selbst an diesem Sachverhalt beteiligt und legen ihn aus, obwohl
wir die Sache selbst nicht völlig erhellen und zum Ende führen können. Deswegen können wir
die Wahrheit der Sache selbst nur im ständigen Übergangsprozess, „der das Leben der
Menschen von der Familie, der kleinen Wohn – und Lebensgruppe, bis zu der schließlichen
Entfaltung einer Wortsprache in größeren sprachlichen Gemeinschaften führt“, suchen. (GW.
8, S. 354) Im unendlichen Prozess der Suche nach der Wahrheit, dem angemessenen Wort,
kann ich zur Übereinstimmung mit dem Du gelangen und auf der Basis eines solchen
übereinstimmenden Zusammenseins stellt sich eine überindividuelle Gemeinsamkeit her,
„soziale Solidarität“. (GW. 2, S. 188) In diesem unendlichen Gesprächsverkehr zwischen Ich
und Du, d. h. diesem „widerhallenden“ dialogischen Abspielen, bei dem ich dich frage und dir
zuhöre, fühlen wir uns zu einer bestimmten Sprachgemeinschaft zugehörig, finden wir daraus
folgend unsere Gemeinsamkeit. Daran anschließend können wir sehen, dass das dialogische
Sinnnetzwerk, mit dem wir bereits verbunden sind, aus dem sich unsere Gemeinsamkeit
73
konstituiert, in Hegels Worten ein Spielplatz, auf dem sich der Volksgeist als der
erscheinende Geist bewegt und das dialogische Sprachspiel unter den Mitgliedern die geistige
Gemeinsamkeit bildet, uns zum gemeinsamen Einverständnis führt.
Wenn man aus dieser Interpretation im Zusammenhang mit Gadamers philosophischer
Hermeneutik, die ich oben kurz dargestellt habe, schließen kann, dass sich die Sprache bei
Hegel im Prinzip auch auf den Dialog der intersubjektiven Personen im gesellschaftlichen
Rahmen bezieht, dann können wir an dieser Stelle feststellen, dass Hegels Denkansatz zur
Sprache selber bereits in der kommunikativen Praxis in einer kulturellen Sprachgemeinschaft
fundamental, zumindest keimhaft verwurzelt ist, obwohl er die „Intelligenz“, in der das
Verhältnis von Gedächtnis und Sprache problematisiert wird, in die „theoretische“, d. h. die
inhaltlose Form eingeordnet hat. Es ist auch eine Tatsache, dass er den Inhalt dieser Form nur
im dialogischen Handlungsraum des praktischen Bewusstseins füllen zu können glaubte. In
diesem Gedankengang soll sich das theoretische zum praktischen Bewusstsein erheben und
erst danach kann „das Bewusstsein als Bewusstsein des Einzelnen“, in Hegels Worten, „[dem]
anderer einzelner“ begegnen und gegenüberstehen. (JSE I, S. 208) Hegels Idee der Einheit
von dem theoretischen und dem praktischen Bewusstsein durch die Hinführung der
„Intelligenz“ zum „Willen“ wird einerseits von Spinozas „Voluntärphilosophie“ und
andererseits von Fichtes „Theorie des Naturrechts“, wie die Interpreten A. Wildt und Klaus
Roth in ihren Arbeiten erwähnen, inspiriert. Mit der einheitlichen Hinwendung des
theoretischen Bewusstseins zum praktischen Bewusstsein lässt sich das in sich festgehaltene
tätige Subjekt als die inhaltlose Form, deswegen das leere Unbestimmte, das nur bei sich
selbst gebliebene Sein, zu der praktischen Handlungsdimension, in der es seinem Anderen
begegnen und seinen Mangel erfüllen kann, leiten. Dementsprechend hat Hegel den
Übergangsprozess des theoretischen zum praktischen Bewusstsein als solchen als die
Selbstkonkretisierung und –verwirklichung der inhaltslosen „Intelligenz“ angesehen. Damit
glaubte er, die unüberbrückbare Kluft zwischen dem theoretischen und dem praktischen
Bewusstsein, die insbesondere bei Fichte nicht überwunden wird, überbrücken zu können. 69
Das scheint Hegel in den folgenden Sätzen ausdrücken zu wollen:
„Das Wollende will, d. h. es will sich setzen, sich als sich zum Gegenstande machen. (meine
Hervorhebung) Es ist frei, aber diese Freiheit ist das Leere, Formale, Schlechte. … α) ist es
das Allgemeine, Zweck; β) ist [es] das Einzelne, Selbst, Tätigkeit, Wirklichkeit, γ) ist es die
Mitte dieser beiden, der Trieb.“ (JSE III, S. 186)
69
Vgl. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 344 ff. Klaus Roth, Ebd., S. 95 ff.
74
Von dieser ersten Beschreibung Hegels ausgehend, die von Anbeginn an unter dem Titel
„Wille“ auftaucht, können wir aus dem Ausdruck „Das Wollende will“ schlußfolgern, dass
das lebendige Subjekt aus dem Gefühl des Mangels entsteht. Aus diesem Gefühl des Mangels
heraus will das Subjekt „sich setzen“, d. h. ein Ziel setzen, um den Mangel auszugleichen. Mit
anderen Worten: Es tendiert und neigt zum Gegenstand seines Mangels, es strebt um seiner
Selbsterhaltung willen dem natürlichen Gegenstand entgegen. Beim Versuch des Ausgleichs
seines Mangels setzt es sich sein Ziel im Hinblick darauf, was es im Moment will. In Bezug
auf dieses Ziel der Anfüllung der Leerheit des Selbst, wird das wollende Subjekt bei Hegel als
das sich-selbst-entscheidende aufgefasst. Infolgedessen lässt sich mit Hegel sagen, dass das
Subjekt ein Handelndes ist, das seinen inneren Zweck nach außen entfalten und verwirklichen
will, aus diesem Grund selbständig wird. In dieser Zuneigung zur Selbstverwirklichung
erfährt das Subjekt, Hegels Ansicht zufolge, das „sich als sich zum Gegenstand Machen“. Das
bedeutet, dass das Subjekt, das aus der Motivation seiner Selbsterhaltung heraus und mit
seinen eigenen Zielen vor Augen handelt, bei Hegel das Bewusstsein seiner selbst dadurch
erhält, dass es in jeder neuen Situation, die eine Entscheidung von ihm fordert, immer wieder
aufs neue durch den Vorgang der Selbstverwirklichung, die stets durch die Triebbefriedigung
zustande kommt und einen Prozess des Lernens und Bildens durchschreitet, hindurchgeht.70
Aus diesem Grund bildet der Trieb bei Hegel das Fundament der subjektiven Handlung.
70
Vgl. A. Wildt, Ebd., S. 347, Klaus Roth, Ebd., S. 100 – 103. Beide Interpreten haben dieselbe Behauptung in
ihren Arbeiten aufgestellt, die besagt, dass Hegels Begriff des „Triebs“ in der Geistesphilosophie 1805/06 von
dem Begriff der „Begierde“ oder dem „Bedürfnis“ unterschieden werden muss. Nach ihnen hat Hegel den
Begriff „Trieb“ vom „Neospinozismus“, der im Rahmen der Subjektivitätstheorie prinzipiell hervorgehoben
ist, übernommen. Vor allem der Ansicht von K. Roth zufolge, entspricht der Wille bei Hegel gerade dem Geist
an sich als dem allgemeinen Substanzsubjekt. Damit bezieht sich der Begriff „Trieb“ auf die einheitliche
Verbindung der „Seele“ mit dem „Körper“, als die zwei Elemente des Menschen, daher ein „bewußtes
Streben“. Diese Interpretation beider Autoren wird m. E. richtig klar, wenn wir den Zusammenhang dieses
Begriffsfelds „Trieb“, „Begierde“ und „Bedürfnis“ innerhalb der Geistesphilosophie 1803/04, 1805/06
betrachten, weil Hegel selber in diesen beiden Texten die Begierde als „animalisch“ oder „tierisch“ bezeichnet,
der Trieb in diesem Zusammenhang bei ihm als ein wesentliches Element gefasst wird, das die Einheit von
dem Ich und dem äußeren Gegenstand vollzieht. (JSE I, S. 210, JSE III, S. 187) Für mich stellt sich jedoch die
Frage, warum Hegel die Begierde im Kapitel „Selbstbewußtsein“ in der Phänomenologie des Geistes noch
einmal als das Selbstbewusstsein, nämlich „selbständiges Leben“, anders gesagt, als ein Fundament der
Handlung des Selbstbewusstseins hervorgehoben hat. (PhdG, S. 143) Kann man in Bezug auf die obigen
Interpretationen sagen, dass Hegel den Rahmen der „Subjektivitätsphilosophie“ nur im Hinblick auf die
veränderte Verwendung des Begriffsfelds „Trieb“, „Begierde“ und „Bedürfnis“ verlassen hat, obwohl es auch
in der Phänomenologie noch immer um den Bildungsprozess und die Selbsterfahrung des Ich geht. Zur
Bedeutung der „Begierde“ in der Phänomenologie, vgl., Werner Marx, Das Selbstbewusstsein in Hegels
Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1986, S. 26 – 35. Hier hat er die Begierde in der
Phänomenologie als ein Element der moralischen und sittlichen Handlungsfähigkeit von Menschen aufgefasst,
weil „die menschliche Begierde eigentlich nicht auf den Gegenstand, sondern auf sich selbst, auf ein
„Selbst“ geht“. Seiner Ansicht nach bezieht sich die Begierde deshalb zumindest in der Phänomenologie
immer auf die subjektive Handlung, um den Lebensvollzug zu erlangen und das Selbstgefühl zu gewinnen.
75
Aus dieser nachdenklichen Skizzierung über die individuelle Handlung der
Triebbefriedigung versucht Hegel den Bildungsprozess des Subjekts vom zweiten Medium
Werkzeug-Arbeit, nämlich der instrumentellen Erfahrung des Subjekts, abzuleiten. In diesem
Bildungsprozess lässt sich das Subjekt als das arbeitende, kurz gesagt, als das auf die
Selbsterkenntnis durch die produktiv operierende Beziehung auf den natürlichen Gegenstand
hin gerichtete bezeichnen. Das wollende Subjekt, dem schon bewusst ist, was es selber für die
Selbsterhaltung tun muss, wonach es gelegentlich strebt, steht dem natürlichen Gegenstand
gegenüber und verzehrt ihn. Hier findet es die Erfüllung seines Triebs und sein Selbstgefühl.
In diesem Verlauf der subjektiven Neigung zum Gegenstand des Triebs hin, hat es den
Gegenstand nicht nur unmittelbar verzehrt, sondern ihn auch seinem Handlungszweck gemäß
erarbeitet und ausgearbeitet. Bei der Aus– und Erarbeitung des Dinges schafft es sein Produkt,
nämlich sein „Werk“, das den leeren Trieb mit seinem Gegenstand zu einer Einheit verbindet.
(JSE III, S. 188) Das Subjekt findet nunmehr sich selbst in seinem Werk wieder. Daran
anschließend wird das triebhafte Subjekt gezwungen, sich selbst im wiederkehrenden Verlauf
der Produktion und Reproduktion weiter zu bilden, um über die unmittelbare
Triebbefriedigung hinaus Vorräte für das künftige Leben anzulegen. Aus dieser
Notwendigkeit und diesem Selbstanspruch heraus, entsteht das „Werkzeug“, in Hegels
Worten, als die Mitte von „Einzelheit“ und „Allgemeinheit“. Mit Werkzeug meint er die
einheitliche Vermittlung beider Seiten, einerseits die tätige Komponente als das arbeitende
Subjekt, andererseits die passive Komponente als der natürliche Gegenstand. (Ebd.) In diesem
Sinn wird das Werkzeug nicht nur zu einem Teil des vom triebhaften Subjekt geschaffenen
Werkes im Arbeitsprozess, sondern auch zu einem Mittel, das die individuellen Arbeitskräfte
schont. Aus diesem Grund muss das arbeitende Subjekt den Gebrauch des Werkzeugs
erlernen, nicht nur um seine Arbeitskraft durch den Gebrauch des Werkzeugs zu schonen,
sondern auch um zur Bewusstwerdung seiner Selbst durch sein Werk zu gelangen. Denn das
Werkzeug ist aus der Sicht des arbeitenden Subjekts sein Werk und das Subjekt betrachtet
damit zugleich auch das Resultat seiner Arbeitshandlung, nämlich die erfolgreiche
Durchführung seiner Tätigkeit im Werk und im Werkzeug, das vom Subjekt geschaffen wird.
Infolgedessen erfährt das Subjekt bei Hegel durch den produzierenden Arbeitsprozess
hindurch das „sich zum Dinge Machen“, anders gesagt, spiegelt das Subjekt sich selbst in
seinem Produkt wider, erkennt seine Fähigkeit und sich selbst. (JSE III. S. 189)
In diesem Übergangsprozess vom Trieb über die Binnenstruktur von Arbeit–
Werkzeug hin zur sich selbst erkennenden Selbsterfahrung, die sich selbst in ihrem Werk
anschaut, gelangt das Subjekt nicht nur zur Subjekt–Objekt–Beziehung, sondern auch zur
76
interaktiven Intersubjektivitätsbeziehung. Denn das Subjekt hat die unmittelbare Beziehung
von Subjekt und Objekt in seiner Produktion überschritten und gelangt über diese Grenze der
einfachen Arbeit hinweg zu der Fähigkeit, das Naturgesetz zu erfassen und die Naturkräfte
rational zweckmäßig zu benutzen. Im Anschluss an diese ideelle Fähigkeit erlangt das
arbeitende Subjekt bei Hegel zugleich die reelle Fähigkeit, eine komplizierte und auf
Koordination basierende Produktion zu erarbeiten und zu erfinden. Deswegen spricht er vom
mechanischen Maschinenaufbau des Subjekts, um „es (= das Werkzeug, KBL) zu einem
selbsttätigen zu machen“. (JSE III, S. 190) Hegel betrachtet die subjektive Einsicht in das
Naturgesetz und die subjektive Anwendung der Naturkräfte auf die Maschine auch unter der
Voraussetzung der Intersubjektivität, d. h. der wechselseitigen Anerkennung der Subjekte, da
er das subjektive Bewusstsein, das das Naturgesetz erkennt und die Naturkräfte benutzt, als
„List“ bezeichnet und damit zugleich die List als den „weibliche Charakter“ bestimmt.
Darüber hinaus ist die List als der weibliche Charakter, die das „theoretische Zusehen“,
deshalb das „in sich zurücktretende Ich“ ist, bei Hegel vom Willen getrennt, da der Wille die
innere List nach außen gebracht hat. Aus diesem Grund stellt Hegel auf der intersubjektiven
Ebene „zwei Charaktere“, nämlich zum einen den männlichen und zum anderen den
weiblichen dar. 71 (JSE III. S. 190 – 191) In diesem Zusammenhang können wir den
intersubjektiven Charakter in Hegels Begriff von Werkzeug-Arbeit in folgendem Zitat näher
beleuchten:
„Es (= das Werkzeug, KBL) ist das, worin das Arbeiten sein Bleiben hat, was von den
Arbeitenden und Bearbeiteten allein übrig bleibt und worin ihre Zufälligkeit sich verewigt; es
pflanzt sich in Traditionen fort, indem sowohl das Begehrende als das Begehrte nur als
Individuen bestehen und untergehen.“ (JES I. S. 211, meine Hervorhebung)
Aus dieser obigen Auffassung Hegels geht hervor, dass das individuelle Erlernen des
Gebrauchs des Werkzeugs, die individuelle Arbeitshandlung für die Selbsterhaltung, nicht die
einseitige Beziehung zwischen der tätigen Komponente und der passiven Komponente, d. h.
die beherrschbare Kontrollierbarkeit des einzelnen Subjekts gegen den Gegenstand, sondern
bereits die „existierende Allgemeinheit des praktischen Prozesses“, anders formuliert, die
Abhängigkeit des arbeitenden Subjekts vom interpersonellen Wechselverhältnis, meint.
Demzufolge bettet diese Abhängigkeit von der Interaktion das arbeitende Subjekt in das
traditionelle Überlieferungsverhältnis ein. Das Werkzeug wird folglich nicht einfach zum
71
Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 61 – 63.
77
Produkt des Individuums, sondern zur gemeinsamen Erbschaft eines Volkes, ähnlich wie die
Sprache „Sprache eines Volks“ war. Das Werkzeug, das „sich in die Traditionen fortpflanzt“,
wird als das geschichtliche Erzeugnis des Volksgeistes durch die Weitergabe von Generation
zu Generation, in deren Verlauf sich der Volksgeist vor dem geschichtlichen Horizont seines
kulturellen Spielraums hin– und herbewegt, wiederholt und erneuert. An dieser Stelle hat die
Selbsterfahrung ebenso sehr auf der Seite des Ichs, als auch auf der Seite des Geistes bei
Hegel mit der jeweils eigenen Geschichtlichkeit zu tun, obwohl es sich hier um die
instrumentelle Selbsterfahrung, gewissermaßen die einbahnige Subjekt–Objekt–Beziehung im
Bildungsprozess
des
triebhaften
Subjekts,
handelt.
Zu
beachten
ist,
dass
die
Erfahrungsgrundlage unseres geschichtlichen Lebensprozesses, also die instrumentelle
Erfahrung, sich aus unserer Tradition und Herkunft, aus der Geschichtlichkeit, mit der wir alle
bereits verbunden sind, zusammensetzt. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer vom
„Kind seiner Zeit“ und „Sohn seiner Heimat“, wie beim späten Hegel in der
Geschichtsphilosophie von „Sohn des Zeitgeistes“ die Rede ist, wenn Gadamer die
wechselseitige Wirkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. die Abhängigkeit
unseres heutigen Bewusstseins von der Vergangenheit als die ontologische Grundlage unserer
Erfahrung vor Auge hat. (GW. 2, S. 21) Gadamers Perspektive zufolge steht das
geschichtliche Leben des Hegelschen Geistes damit zunächst im dialogischen Umgang mit
dem überlieferten Vergangenen und gleichzeitig in der gegensätzlichen Auseinandersetzung
mit seiner herkömmlichen Spur. Durch die Aneignung dieser Spur hindurch kann der
geschichtliche Geist seinen Blick auch für seine Zukunft öffnen. Davon abgesehen mag
Hegels Philosophie beinhalten, dass sie uns, „die im geschichtlichen Leben des Einzelnen wie
des
Gesamt
jeweils
neu
sich
stellende
Aufgabe,
sich
mit
seiner
Geschichte
zusammenzuschließen“ überträgt, indem Gadamer Hegels Einsicht in die Geschichtlichkeit
des Geistes als den großartigen Beitrag zur Philosophie bezeichnet hat. (GW. 4, S. 394)
Nach den bisherigen Auffassungen vom Subjekt, auf der einen Seite vom
intellektuellen Subjekt, auf der anderen Seite vom handeln wollenden Subjekt, d. h. nach dem
Trieb strebenden Subjekt, richtet Hegel seine Aufmerksamkeit auf die Liebe, Familie und das
Familiengut, die „III. Potenz“. Die Entwicklung der Maschine aufgrund des Einblicks in die
Naturgesetze
und
die
rational
zweckmäßige
Benutzung
der
Naturkräfte
zum
Geschlechtsverhältnis zwischen Mann und Frau, haben bei Hegel „eine einfache genetische
oder logische Konsequenz“. 72 In Bezug auf diesen Übergangsprozess können wir vor allem
zwei Aspekte Hegels betonen: Das Bewusstsein des wollenden Subjekts hat sich selbst erstens
72
A. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 353.
78
in Hegels Argumentationsgang in zwei Extreme aufgeteilt, zum einen den weiblichen
Charakter als das zuschauende Wissen, zum anderen den männlichen Charakter als die
operierende Macht gegen die Natur. Das Bewusstsein des wollenden Subjekts hat sich
zweitens im Bildungsprozess der instrumentellen Selbsterfahrung naturwüchsig darauf
besonnen, dass seine Arbeitshandlung im Prinzip auch von der interpersonellen Interaktion
abhängig ist. Mit anderen Worten: Das Erlernen des Werkzeuggebrauchs enthält bereits die
wechselseitige Beziehung zwischen dem Ich und dem Du als einen horizontalen und
vertikalen Lernprozess der interaktiven Disziplin. Das arbeitende Subjekt lernt so im
Produktionsprozess, dass der Andere ebenso sehr der Gegenstand meines Triebes ist, als ich
auch der Gegenstand seines Triebes bin.
Im Anschluss an diese systematische Entwicklung ist die Liebe als die sexuelle
Interaktionsform, mit Hegels Worten geradezu das „sich im Anderen Wissen“, d. h. die Liebe
als die menschliche Verbindlichkeit zwischen Ich und Du meint die Rückkehr von der Arbeit
als der Begierde nach dem äußeren Gegenstand zu sich selbst und damit zugleich die
Begierde nach dem mit sich selbst gleichzusetzenden Subjekt. (JSE III. S.209) Die Liebe bzw.
die Familie befindet sich in Hegels System der Jenaer Geistesphilosophie nicht bloß auf der
vorgesellschaftlichen Ebene, weil sie systematisch vor dem „Anerkanntsein“ steht. Vielmehr
dürfen wir daraus den Hinweis entnehmen, dass Hegel durch den Liebesbegriff, nämlich die
Familie als die Gemeinschaft der Liebe, nicht nur die einheitliche Dimension von
„Intelligenz“ und „Wille“ 73 erkannt hat, sondern diese Gemeinschaft als ein Vorbild des
Staates, d. h. als eine exemplarische Verkehrsform der absoluten Sittlichkeit vor dem
staatlichen Horizont sah. 74 Darüber hinaus kann man sagen, dass die Liebe und die Familie im
Bildungsprozess
des
Subjekts
durch
das
Anerkennungsverhältnis
bzw.
in
der
Vergesellschaftung des Individuums nicht nur die einzigen Elemente sind, sondern zudem den
wichtigsten Stellenwert innehaben. 75
73
Vgl. G. Göhler, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Frühe politische Systeme, S. 436.
Vgl. J. Habermas, Technik und Wissenschaft >Ideologie<, S. 10 – 19. und ders., Wahrheit und Rechtfertigung,
S. 187 – 189. Er hat die Liebesbeziehung in dieser Arbeit als ein musterhaftes Exemplar des einheitlichen und
konkreten Verhältnisses der Allgemeinheit zu der Einzelheit und der Besonderheit, damit zugleich in jener
Arbeit noch deutlicher als das „sittliche Verhältnis“ bezeichnet. Mit diesen beiden Arbeiten auch Siegfried
Blasche, „Natürliche Sittlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Hegels Konstruktion der Familie als sittliche
Intimität im entsittlichen Leben“, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, hrsg. v. Manfred Riedel, Bd. 2,
Frankfurt a. M. 1975, S. 312ff. Hier hat er den Vorrang der Kleinfamilie in der „bürgerlichen Gesellschaft“ im
sittlichen System und das Primat der Familie und des Staats für den sittlichen Lebensvollzug grundsätzlich in
Beziehung zu Hegels Rechtsphilosophie untersucht. Obwohl er das sittliche Modell in der Familie nur in
Hegels Rechtsphilosophie gesehen hat, könnte sein Beitrag m. E. zu einer Interpretation vom sittlichen
Leitfaden der „Familie“ in der Geistesphilosophie 1803/04, 1805/06 beitragen.
75
Vgl. Hegels Diagnose von der Vergesellschaftung des Individuums durch die Selbsterfahrung im
Anerkennungsprozess unterschied sich bei ihm auf zwei Weisen: Die erste Form ist die Liebe als die
naturwüchsige und gegensatzlose Versöhnung, die zweite ist der Kampf um Anerkennung als die wieder
74
79
Nun stellt sich die Frage, was genau eigentlich bei Hegel die Liebe ist, enthält sein
Liebesbegriff doch eine Anleitung zum Ethisch-Sittlichen. Die Liebe ist bei Hegel, wie bereits
erwähnt, die anerkennungsbedürftige Begierde nach dem mit sich selbst identischen Subjekt,
deshalb die Überwindung des einseitigen Strebens nach der Außenwelt und die Hinwendung
von außen zum Inneren, d. h. vom äußeren Ding zum interpersonellen Gegenüber. In dieser
Liebesbeziehung findet das Ich zunächst den mit sich selbst gleichzusetzenden Anderen und
weiß damit zugleich von sich selbst im Anderssein. Daran im Anschluß lernt das Individuum,
dass sein existenzielles Dasein unausweichlich von dem Anderssein abhängt, d. h. dass das
Individuum durch das Andere anerkannt werden soll. Dass das Individuum das Sich–Wissen
im Anderen und den Selbstverzicht im Anerkennungsverhältnis zwischen dem Liebenden und
dem Geliebten erlebt hat, bedeutet bei Hegel, dass der existenzielle Hintergrund des
Individuums auf der Anerkennung durch das Andere beruht. Mit anderen Worten: Der erste,
ja einzige Anspruch an eine solche Liebesbeziehung ist die, dass ich für dich sein soll und
umgekehrt du für mich sein sollst, um jedes Selbst im Anderen zu wissen. Im Anschluss an
diese freiwillige Bereitschaft zur Selbsthingabe wird die Liebesbeziehung zwischen Mann
und Frau nicht mehr zum Genussverhältnis, sondern zum Selbstverzicht bzw. zur Sorge
füreinander. Beide Subjekte empfinden daher in der wechselseitigen Liebesbeziehung, in der
das Gefühl vom einen die Zuneigung zum Anderen empfindet und durch die Reaktion vom
Anderen anerkannt ist, bereits das Anerkanntsein. Dementsprechend sieht Gadamer die
wechselseitige Liebesbeziehung bei Hegel so: „Das unmittelbare Verhältnis von Mann und
Frau ist das natürliche Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseins“. (GW. 1, S. 349) Indem
das Subjekt sein Wesen außer sich selbst anschaut, ist es daher ein sich selbst im Anderen
„Erkennen“, 76 auf dessen Ebene das Subjekt sein wahrhaftes Wesen in der intersubjektiven
Wechselbeziehung erfasst. Das Subjekt erkennt dabei die überindividuelle Dimension im
bildungsgeschichtlichen Verlauf der Selbsterfahrung des subjektiven Bewusstseins, in der das
Subjekt auf seinen egozentrischen Trieb verzichtet und mit dieser Überwindung der isolierten
Ichheit sein Wesen in der gesamten Verschränkung mit dem zuneigenden Anderen
anzuschauen lernt. Das Erlebnis der emotionalen Intimbeziehung der Liebe führt das liebende
und geliebte Subjekt zu dem Bewusstsein hin, dass das Subjekt von vornherein beim Anderen
ist, im Anderen selbständig ist und damit in dieser Beziehung zugleich den Anderen auch als
erkennende Rückkehr zum selbständigen Selbst durch den kämpferischen und feindseligen Gegensatz gegen
den Anderen. G. Göhler, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Frühe politische Systeme, S. 436ff., u. L. Siep,
Anerkennung als Prinzip, S. 54 – 55.
76
Vgl. H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, S.131. Seiner Äußerung zufolge hat Hegel hier den
Begriff „Erkennen“ in seiner biblischen Nebenbedeutung verwandt. Deswegen gilt Hegel diese Bedeutung des
Erkennens als die Vollständigkeit der Liebe zwischen Mann und Frau, schließlich als die Eheschließung, eine
vollzogene Ausgestaltung der Liebe im Gesellschaftsverhältnis.
80
das Selbständige annimmt. Den Übergang vom egozentrischen Trieb zur höheren Stufe der
Sittlichkeit in der Liebesbeziehung beschreibt Hegel folgendermaßen:
„Dies Erkennen ist die Liebe. Es ist die Bewegung des Schlusses, so daß jedes Extrem vom
Ich erfüllt; unmittelbar so im Anderen ist, und nur dies Sein im Anderen vom Ich sich
abtrennt und ihm Gegenstand wird. Es ist das Element der Sittlichkeit, noch nicht sie selbst,
es ist nur die Ahndung(= Ahnung) 77 derselben. Jedes nur als bestimmter Willen, Charakter
oder natürliches Individuum, sein ungebildetes natürliches Selbst ist anerkannt.“ (JSE III.
S.193)
Dieser Äußerung Hegels zufolge prägt das Subjekt seine Ich-Identifizierung in der
willentlichen Zuneigung zum Anderen aus, in deren Verlauf das Sich-Versetzen in den
Anderen stattgefunden hat und das Sichwissen durch den Selbstverzicht ausgebildet wird. Das
Subjekt lässt sich dabei auf die überindividuelle Dimension der sittlichen Institutionen mit
seiner Erfahrung der Liebe ein. Für uns liegt es zudem auf der Hand, dass die IchIdentifizierung bereits mit der Wechselbeziehung mit dem Anderen stattgefunden hat, da das
Subjekt in der Liebe, in der Anerkennung durch den Anderen prinzipiell von sich selbst weiß,
so wie es zugleich seine Selbständigkeit als die Selbständigkeit des Anderen vorfindet. So
gesehen resultiert die Ich-Identifizierung und die Selbsteinbettung in das überindividuelle
Zusammenleben der Sittlichkeit, Hegels Ansicht nach, direkt aus der intersubjektiven
Anerkennung der Liebe, die mit dem natürlichen Gefühl verbunden ist. So kann man sagen,
dass die Familie im Grunde die sittliche Organisation ist, die sich auf dem natürlichen Gefühl
gründet, so wie Hegel später in seiner Rechtsphilosophie die Familie zusammen mit der
bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat als einen der drei Bestandteile der Sittlichkeit
beschrieben hat. Die emotional miteinander verbundenen Beteiligten lassen sich selbst bereits
mit der Eheschließung auf das gesetzliche Sinnnetzwerk der Gesellschaft ein, da die Familie
nicht nur auf der Liebe, dem natürlichen Gefühl, sondern auch auf der Eheschließung, den
institutionellen Normen der Gesellschaft, gegründet ist. Hegel spricht demzufolge von der
Ehe als „Vermischung der Persönlichkeit und Unpersönlichkeit des Natürlichen.“ (JSE III.
S.219) Denn die Familie als die Gemeinschaft der Liebe ist nicht nur das Zusammenleben
zwischen Mann und Frau, das durch die emotionale Zuneigung und das Liebesgefühl
gegenüber dem Anderen aufgebaut wird, aus diesem Grund natürlich anerkannt ist, sondern
sie ist mit ihrem natürlichen Potential bzw. der emotionalen Zuneigung von vornherein auch
77
G. W. F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1969, S. 202.
81
auf die Institutionen der Gesellschaft bezogen. In diesem Sinn sieht Hegel die Familie als den
einheitlichen Horizont von dem natürlichen Gefühl und der Sittlichkeit der Gesellschaft. Von
diesem Gesichtspunkt aus kann man behaupten, dass Hegel die Familie in der modernen
Gesellschaft als „Gefühlsmodell“ verstanden hat, wenn er den Einwand gegen das Kantische
Modell der Familie erhebt. Denn die Familie bei Kant besteht im Prinzip als Rechtsverhältnis
zwischen Mann und Frau. Dagegen ist die Familie bei Hegel „nicht Verbindung durch einen
Kontrakt“. (Ebd.) 78 Darüber hinaus können wir davon ausgehen, dass die Liebe bzw. die
Familie
das
Subjekt,
die
Familienmitglieder
bereits
in
das
überindividuelle
Anerkennungsverhältnis und den vorgegebenen Horizont der Sittlichkeit mit einbeziehen.
Damit prägt das Subjekt zugleich seine Ich-Identifizierung aus und erkennt ebenso sein
selbständiges Selbst wie die Selbständigkeit des anderen Beteiligten.
Aus diesem Grund ist Hegel davon überzeugt, dass die Sittlichkeit der Gesellschaft
von der menschlichen Natürlichkeit abgeleitet werden kann, weil er hier zuerst die
Liebesbeziehung als das „Element der Sittlichkeit“ vorgefunden hat. Aus Hegels Sicht enthält
die Liebesbeziehung zwei Elemente: Erstens lernt das Individuum, dass sein Selbst mit dem
Anderen im Bildungsprozess des Bewusstseins, im Verlauf der Ich-Identifizierung, bereits
verknüpft ist und dass seine Selbständigkeit auch nur durch das Anerkanntwerden durch den
Anderen und zugleich durch die anerkennende Annahme des Anderen als seinem Partner
unter der Voraussetzung des Selbstverzichts gewonnen wird. Zweitens bezieht sich der
Aufbau der Familie, die Eheschließung selbst, bereits auf die sittliche Sphäre der Gesellschaft,
weil die Liebe von Mann und Frau automatisch mit der Eheschließung als der Anerkennung
von der Gesellschaft besiegelt wird. So gesehen ist m. E. hierin der Hinweis enthalten, dass
Hegels zwei Anerkennungsformen in der Liebesbeziehung bereits beides sein können:
Einerseits das emotionale Anerkennungsverhältnis, andererseits das gesetzliche und sittliche
Anerkennungsverhältnis. So ist das Sittlichsein im Familienverband bei Hegel „das Element
der Sittlichkeit“, jedoch „nicht sie selbst“, weil das Sittliche in der Familie nur die
unmittelbare Form der Sittlichkeit darstellt, die absolute Sittlichkeit im Staat jedoch durch das
Konfliktfeld des Rechtsverhältnisses wiederhergestellt werden kann, mit Hegels Worten,
vermittelt werden muss. Dennoch verhält es sich bei Hegel de facto zweifelsohne so, dass die
Sittlichkeit im Grunde in der Liebesbeziehung, anders gesagt, in der menschlichen
Natürlichkeit verankert ist, noch deutlicher, die Sittlichkeit eine menschliche Natürlichkeit
78
Vgl. Zu Hegels Auffassung über die Kleinfamilie in der modernen Gesellschaft als Gefühlsmodell in
Verbindung mit der Kantischen Einsicht in die Familie im Rechtsverhältnis, Axel Honneth, „Zwischen
Gerechtigkeit und affektiver Bindung. Die Familie im Brennpunkt moralischer Kontroversen“, in: ders., Das
Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 193 – 215.
82
darstellt, da Hegel selbst, wie bereits erwähnt, von der Sittlichkeit als „eine gedoppelte
Natur“ im Naturrechtsaufsatz oder als die „unorganische Natur“ spricht. 79 (JSE I. S. 214) Aus
den bisherigen Überlegungen, die ich entwickelt habe, geht hervor, dass das Individuum
zunächst
seine
Ich-Identifizierung
in
der
Liebesbeziehung
als
dem
emotionalen
Anerkennungsverhältnis ausbildet, dass die gesellschaftlichen Verkehrsformen in der
sittlichen Sphäre im Prinzip mit der emotionalen Intimbeziehung in der familialen
Binnenstruktur, mit der Wechselwirkung der Anerkennung zu tun haben. Schließlich wird
deutlich, dass die Sittlichkeit in der anerkennenden Intimbeziehung unter den Mitgliedern der
Familie nicht nur dem embryonalen Ansatzpunkt der absoluten Sittlichkeit zugeordnet ist,
sondern auch als die zugrunde liegende Eigenschaft der Menschlichkeit, d. h. als die
menschliche Natürlichkeit bezeichnet werden kann. Gleichzeitig können wir zu dem Resultat
gelangen, dass die Liebesbeziehung und die emotionale Intimbeziehung in der
Familienverwandtschaft das Muster bzw. ein Motor des Übergangs zur allgemeinen
Sittlichkeit auf der gesellschaftlichen Ebene, ein Vorreiter zur normativen Wechselbeziehung
in der bürgerlichen Gesellschaft und die antizipierte Vorstruktur der absoluten Sittlichkeit im
Staat ist.
Wir haben in Bezug auf die Liebesbeziehung zwischen den Menschen bereits gesehen,
dass die Ich-Identifizierung, einerseits das selbständige Selbst im Anderen zu sehen und
andererseits das Sich-Wissen durch den Selbstverzicht zu erlangen, bei Hegel unter der
prinzipiellen Voraussetzung möglich ist, dass das Ich den Anderen als den Dialogpartner und
das Anerkanntsein annimmt. Aus dieser Anerkennung des Anderen als einem Dialogpartner
entsteht die Familie, die ein Interaktionsfeld bildet, in das die Individuen eingebunden sind
und in dem sie ihre Individualität zunehmend herstellen. Dieses ideale und institutionelle
Verhältnis der Liebe soll sich bei Hegel nunmehr nach der Realität, die durch „unmittelbare
Dingheit“ vermittelt ist, richten. Die Liebe bzw. die Familie soll hier zur „erfüllte[n]
Liebe“ werden. (JSE III. S. 194) Dies berücksichtigend, unternimmt Hegel den Versuch, über
das „Familiengut“ im familialen Intimbereich nachzudenken. Nach der Eheschließung fordern
die Familienmitglieder „die gegenseitige Dienstleistung“ und alle machen um ihrer selbst
willen vielmehr für alle den eigenen Dienst. (Ebd.) Hierbei wird der Familienkreis durch
dieses vergegenständlichte Resultat der Dienstleistung garantiert und geschützt. Ihnen allen
gelten diese Dinge auch als „Mitte der Liebe“ und als gemeinsamer Besitz, d. h.
„Familienbesitz“. (Ebd.) In diesem Sinn löst sich der Gegensatz der Triebe in diesem
Familienbesitz auf. Mit anderen Worten: Der Trieb zwischen den Menschen, der zu seiner
79
Zudem auch in Hegels Rechtsphilosophie, vgl. Anm. 44 in dieser Arbeit.
83
Selbsterhaltung noch immer nach dem äußeren Gegenstand strebt, ist erst hier im
Familienbesitz miteinander verbunden, d. h. er hat die einheitliche Trieberfüllung unter den
Mitgliedern der Familie gefunden. Deswegen wird dieser Familienbesitz dann zum
allgemeinen und gemeinsamen Gut, weil er durch die gemeinsame Arbeit aller Mitglieder
geschaffen wird. Hegel drückt dies mit den Worten aus:
„Es (= dies dritte, d. h. das Familiengut, KBL) ist wie das Werkzeug die allgemeine
Möglichkeit des Genusses, und auch die allgemeine Wirklichkeit desselben; es ist ein
unmittelbar geistiger Besitz.“ (JSE III. S. 195, meine Hervorhebung)
Dadurch, dass der Familienkreis mit jeder Dienstleistung den gemeinsamen Besitz erhalten
kann, erkennen alle Mitglieder zunächst „das Sein für Andere“, die Selbstaufopferung für das
gegenseitige Subjekt im Anerkennungsverhältnis, mit dem das reale Ding, die
vergegenständlichte Liebe vermittelt wird. Dementsprechend wird der gemeinsam
vergegenständlichte Besitz vom triebhaften Subjekt nicht mehr verzehrt und zerstört, sondern
wird ständig aufrecht erhalten und ist nach wie vor allgemein, so wie das Werkzeug über die
Besonderheit des Erfinders hinaus durch das Erlernen des Nachfolgers als Erbschaft an ein
Volk übergeben wird. An dieser Stelle wird das Familiengut auch durch die „Erbschaft“ der
Familienverwandtschaft dem Nachfolger übergeben. Mit dieser Erbschaft der Familie ist die
Natürlichkeit der Mitglieder der Familie auch überwunden, die schicksalhaft und
zwangsläufig sterben. (JSE III. S. 221) Hinsichtlich dieses Aspekts fällt auf, dass das
Familiengut bei Hegel nicht nur der Gegenstand des Genusses der gegenwärtigen Generation,
sondern auch der Vorrat und die Vorbereitung für die künftige Generation, den künftigen
Nachfolger ist und auch als die Erbschaft der Familienverwandtschaft, die nicht nur das
Eigentum, sondern auch den „geistigen Besitz“ der Familie, z. B. die Gebräuche, die
Familientradition, die Sprache, das sittliche Benehmen, die Verhaltensweise usw. einschließt,
von Generation zu Generation ununterbrochen weitergegeben wird.
Im Verlauf der Besitzergreifung und der Erbschaft zwischen den Mitgliedern der
Familie wird der Andere im Grunde ausgeschlossen, wie Hegel die Familie „als Ganzes
einem anderen in sich geschlossenen Ganzen“ gegenüber stellt. Jeder Familienverband zeigt
sich zumindest in Verbindung mit dem Familienbesitz als die ausschließende und deshalb
selbständige „Individualität“. (JSE III. S. 196) Deswegen steht ein Familienverband dem
anderen gegenüber und hat ein Verhältnis des Gegensatzes zu ihm. An diesem Punkt können
wir uns an Hegels Formulierung über den „Kampf um Ehre“ im „System der
84
Sittlichkeit“ erinnern. Von diesem nahe liegenden negativen Gegensatz unter Familien
abgesehen, müssen wir zunächst der Geburt des Nachfolgers als der Einheit der Liebe unsere
Aufmerksamkeit zuwenden, weil die Ausstrahlung der Elternliebe die direkte Rückkehr und
die Verinnerlichung der Liebe meint. Nach der Geburt des Kindes gelangt die Liebe von
Mann und Frau zum „erkennenden Erkennen“ zu ihrer realen Vergegenständlichung, durch
deren Erlebnis beide das einheitliche Bewusstwerden von ihrer Liebe selbst erfahren. Hegels
Ansicht zufolge schauen die Eltern das Erzeugnis ihrer Liebe und die wesentliche
Vollständigkeit der Liebe in ihren Kindern an. Dieser Vorgang enthält ebenso den
biologischen Reproduktionsvorgang, die erneute Zeugung der Familienmitglieder, wie die
Kindererziehung, in deren Verlauf das Kind auch als ein neues Mitglied der Gesellschaft die
Bereitschaft zeigt, sich auf die Vergesellschaftung einzulassen. Erst nach der Geburt ihres
Nachfolgers finden die Eltern deshalb ihre Liebe, mit Hegels Worten, als „selbstbewußte
Einheit“. (JSE III, S. 195) Mit anderen Worten: Die Liebe kann aus Hegels Sicht mit der
Zeugung des Kindes die vollständige Einheit von der Selbstheit und der Gegenständlichkeit
erlangen. Diesbezüglich können zwei Aspekte besonders betont werden: Durch die Geburt
des Kindes als der vollständigen Einheit wird die Liebe von Mann und Frau zunächst
widergespiegelt und gelangt zum Bewusstsein.80 Damit wird zugleich auch das einheitliche
80
Vgl. Dieter Henrich, „Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“, in: Hermeneutik und Dialektik,
Bd. I, hrsg. v. Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl, Tübingen 1970, S. 280–284 und ders., „Fichtes
>Ich<“, in: ders., Selbstverhältnis, Stuttgart 1993, S. 71 und S. 76–77. Um die ontologische Voraussetzung in
der Bewusstseinstheorie zu verdeutlichen, kann man m. E. auf die Bewusstseinstheorie von Dieter Henrich
zurückgreifen, der die Reflexionsaktivität dem Gedankengang Fichtes folgend behandelt hat. Aus seiner Sicht
handelt es sich nicht um eine Isoliertheit des Bewusstseins, sozusagen die egoistische Identität des
Bewusstseins mit sich selbst, sondern entscheidend ist, woher das Selbstwerden des Bewusstseins kommt, wie
das Bewusstsein gleichzeitig das Selbst überwinden und zu einer höheren, bewussten Synthese gelangen kann.
In Bezug auf die Herkunft des Ichs, hat er das Sein des Ichs als den ontologischen Hintergrund vorausgesetzt.
Wir können deshalb unser Sein als wir selbst gar nicht verleugnen, selbst wenn wir uns nach der
unhintergehbaren Grundlage des Ich-Seins fragen. An dieser Stelle wird der Satz „wir sind >Ich<“ bei ihm zur
ersten unhinterfragbaren Voraussetzung. Vor dem Hintergrund des Bewusstseins vom Ich und des Selbstseins
des Bewusstseins wird die Reflexionsaktivität ausgebildet. Damit spiegelt sich zugleich das Bewusstsein im
Reflexionsprozess zum Selbst wider. Im Rahmen der gesellschaftlichen Handlung hat der reflektierende
Vorgang des Bewusstseins auch die beiden Tendenzen, „seine organisierende Funktion zu ergreifen und sich
zu interpretieren als das Wesen, das der Reflexion und eines durch Reflexion kontrollierten Handelns fähig
ist.“ Dabei hat es der reflexive Vorgang des handelnden Subjekts mit der Aktivität des Subjekts selbst und mit
der reflexiven Suche nach der legitimen Angemessenheit zu tun. In diesem Vorgang hat sich das Bewusstsein
selbst zum Grund der Handlung gemacht und die reflexive Selbstüberwindung in der Widerspiegelung des
Selbst durch das Andere erreicht, um „die Selbsterkenntnis“, „sich selbst zu gewinnen“. Um dabei die
reflexive Selbstüberwindung und die reflexive Rückkehr des Bewusstseins zu sich selbst noch präziser
darzulegen, durch deren Bewegung das Bewusstsein über seine Leerheit „der bloßen Bewusstheit“ hinaus
gegangen ist, beruft sich Dieter Henrich auf Fichtes „Auge-Metapher“. Das Auge gibt seiner Ansicht nach
dem Menschen als dem Selbstbewusstsein „die Orientierungsfähigkeit“, die menschliche „Aktivität als solche“,
abzuleiten und anzuweisen. In diesem Sinn drückt er die reflexive Handlung des Bewusstseins auf zwei
Weisen aus: Einerseits das „Auge der Aktivität“, d. h. „seiner Sicht“, andererseits die „Aktivität als solche“.
Wenn das Auge sich als das Sehvermögen nicht mehr an seinem Inneren, sondern an seinem Äußeren
orientiert, werden wir uns für das entscheiden, was uns in den Blick gekommen ist, streben wir nach dem
Entschiedenen. Daher wird die Handlung des bewussten Subjekts zunächst durch die Sicht des Auges
wegweisend gelenkt. Zugleich ist seine Handlung damit auch durch die Sicht des Auges, die Widerspiegelung
85
Bewusstwerden von „Intelligenz“ und „Wille“ in der Liebesgemeinschaft, die mit der Geburt
des Kindes vollständig wird, erreicht.
An dieser Stelle können wir Hegels Idee der Bildung, im eigentlichen Sinn
Selbstausbildung, die sich m. E. musterhaft in der Kindererziehung zeigt, unsere
Aufmerksamkeit zuwenden. Ich möchte mich hier auf Gadamers hermeneutische Aspekte 81
berufen und möchte die Kindererziehung als den Bildungsprozess des Kindes bei Hegel im
Zusammenhang mit dem Spracherwerb des Kinds in Gadamers Hermeneutik darstellen. Das
Kind hat beim Heranwachsen im Binnenraum der familialen Intimität das Material seines
Bewusstseins offensichtlich von seinen Eltern übernommen. Eine wichtige unter den
übernommenen Sachen ist beim Kind die Sprache. Mit Hilfe der Mutter lernt das Kind im
Prinzip die eigene Sprache. In dieser Beziehung wird das Kind von vornherein zum
Dialogpartner der Mutter, obwohl „das Kind das volle Sprachvermögen noch nicht hat“. Aber
dennoch fragt die Mutter das Kind, was es ihr sagen will und das Kind zeigt seiner Mutter mit
dem unartikulierten Laut, Fingerzeichen, Gebärden usw., was es meint. Diese Hin– und
Herbewegung zwischen Mutter und Kind hat im Wesentlichen dialogischen Charakter, der
prinzipiell die wechselseitige Anerkennung und Respekt voraussetzt. In diesem Gespräch, das
grundsätzlich aus der Dialektik von Frage und Antwort besteht, gelangen die Mutter und das
Kind zur einheitlichen Verständigung, das Kind lernt von seiner Mutter die Sprache und hört
seiner Mutter zu. Umgekehrt erfährt die Mutter in diesem dialogischen Prozess, dass das Kind
so etwas, was sie selber gar nicht bemerkt hat, „besser als sich selbst erkennt“. 82 (GW. 8, S.
354 – 357) Im Anschluss an das Sprechenlernen des Kindes im Gespräch zwischen der Mutter
und dem Kind ist es notwendig, dass wir uns daran erinnern, dass Hegel im obigen Zitat das
Familiengut als den „geistigen Besitz“ bezeichnet hat. Das Kind lernt in dieser Erziehung im
familialen Interaktionsfeld, im Vorbereitungskurs für das neue Mitglied der Gesellschaft nicht
nur
die
Muttersprache,
sondern
auch
die
sittliche
Verhaltensweise
und
den
des Selbst im Anderen, reflexiv auf sich selbst zurückbezogen. Wenn die Darstellung des Bewusstseins von
Dieter Henrich in Bezug auf die Liebesbeziehung von Mann und Frau und die Eltern–Kind–Beziehung
bezogen wäre, wäre diese Selbsterfahrung des Bewusstseins m. E. im familialen Interaktionsfeld die gleiche,
in dem Mann und Frau, die sich beide im Anerkennungsverhältnis befinden, unter den wechselseitigen
Einwirkungen aufeinander, die darin bestehen, das sich das Selbst durch die Reaktion des Gegenübers selbst
anschaut. Dementsprechend geschieht die prozessuale Selbstentfaltung des Bewusstseins in der
Kindererziehung als der Eltern–Kind–Beziehung mit derselben Struktur, in deren Verlauf die Eltern ihre
Selbstheit durch die Reaktionsweise des Kindes widerspiegeln und umgekehrt das Kind seine Selbstheit in
seinen Eltern, im Widerhall der Eltern auf sich selbst findet und herstellt. Zum kritischen Einspruch gegen den
Aspekt von Henrich, Axel Honneth, „Liebe und Moral. Zum moralischen Gehalt affektiver Bindung“, in: ders.,
Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 232 – 234.
81
Vgl. Zum hermeneutischen Aspekt über die Kindererziehung und die sittliche Vergesellschaftung des Kindes
im familialen Intimbereich, Paul Redding, Hegel’s Hermeneutics, Ithaca/London 1996, S. 191ff und Axel
Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, S. 88 – 90.
82
Zum spekulativen Wechselverhältnis zwischen dem Zuhören und dem Ungesagten in Gadamers
Dialoghermeneutik, vgl. Kap. I – 2 vom III. Teil in dieser Arbeit.
86
Handlungswegweiser, der seine Neigungen, Bedürfnisse und Begierden anleitet. In diesem
pädagogischen Gesprächsverhältnis 83 hat das Kind nicht nur die materielle Erbschaft, sondern
auch die geistige Erbschaft übernommen, die für die Vergesellschaftung die Voraussetzung ist
und als ein handlungsorientierter Wegweiser im sozialen Lebensfeld fungieren wird. Durch
diesen Bildungsprozess hindurch wird die Familie zunächst durch den biologischen Zuwachs
des Nachfolgers naturhaft aufgelöst, da die Eltern schicksalhaft sterben werden. Damit wird
sie Hegels System zufolge durch die Vergesellschaftung des Nachfolgers und durch die
Übertragung des familialen Intimbereichs auf die soziale Lebenswelt unweigerlich abgebaut.
Von dieser Selbstwerdung des Kindes und der Auflösung der Familie hat Hegel das
Anerkennungsverhältnis im Rechtsverhältnis abgeleitet, da die Familie noch immer in der
„unmittelbaren Einheit“ ohne den Gegensatz des extremen Willens verbleibt und diese Einheit
durch den Anerkennungsprozess im Rechtsverhältnis, in dem das Subjekt als das Selbständige,
das freie Recht, bestimmt ist, wiederhergestellt und vermittelt werden soll. Aus diesem
Übergangsprozess vom vernetzten Sittenfeld der familialen Intimität zum Kampf um
Anerkennung, in dessen Konfliktverlauf das Subjekt als die Rechtsperson, das selbständige
Wesen durch den Anderen anerkannt werden kann, entsteht bei Hegel zunächst der „wissende
Wille“, d. h. der ganzheitliche Horizont des Bewusstwerdens von „Intelligenz“ und „Wille“.
(JSE III. S. 203) Dieser Horizont verweist bei Hegel auf den „wirkliche[n] Geist“, nämlich
den erscheinenden Geist als die vermittelte Sittlichkeit, auf dessen Schauplatz das Ich dem
Anderen den sittlichen Anspruch zum Gebot macht und die sittliche Handlungssphäre den
handelnden Subjekten. (JSE III, S. 204)
Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so sind „Sprache“, „Arbeit“ und
„Liebe und Familie“ die elementaren Medien, die die sittliche Lebensganzheit ausprägen
können. Damit ist die Familie zugleich auch die Gemeinschaft der Liebe, die durch die
ontologische Erfahrung der Anerkennung aufgebaut wird, ein realer Ort, an dem die beiden
anderen Medien, Sprache und Arbeit, durch die Liebesbeziehung, die Kindererziehung und
die Erbschaft konkretisiert und konstruiert werden, da die Beteiligten nicht nur die Arbeit für
die Anderen leisten, sondern auch ihren Dialogpartner in der Gemeinschaft der Liebe finden.
Die Gemeinschaft der Liebe, die das Gespräch miteinander und die Arbeit für die Anderen
beinhaltet, basiert auf der Anerkennung durch die unmittelbare Begegnung, die durch das
83
Zur pädagogischen Funktion des Gesprächs, die Beteiligte zum Ethischen hinführen, vgl. Hans–Georg
Flickinger, „Pädagogik und Hermeneutik – Eine Revision der aufklärerischen Vernunft“, in: Praktische
Philosophie und Pädagogik, Kasseler philosophische Schriften 37, hrsg. v. Heinz Eidam u. Frank Hermenau,
Kassel 2003, S. 120 – 131.
87
Liebesgefühl das Gegenüber anschaut und damit alle Beteiligten zu dem überindividuellen
Sinnhorizont, auf dem im Prinzip die egozentrische Subjektivität überwunden ist, führt.
88
III – 2. Die freiwillige Reintegration des Ichs ins Wir–Bewusstsein
Hegel nimmt nun die systematische Hinwendung von der gegensatzlosen Liebesbeziehung
zum distanzierten und kontroversen Anerkennungsverhältnis im Rechtsverhältnis in dem Teil
„Wirklicher Geist“ vor. Aus der Sicht Hegels sollen die zwei Seiten im Anerkennungsmodell
gleichwertig betont werden: Das Subjekt wird einerseits im Verlauf des Bildungsprozesses
seines Bewusstseins durch die emotionale Vereinigung, die unmittelbare Anerkennung ohne
Gegensatz im familialen Interaktionsfeld von vornherein anerkannt. Obwohl der
Familienkreis bereits die Anerkennung im familialen Intimbereich bietet, ist es für Hegel
unerlässlich, dass das Subjekt seine Selbständigkeit im sozialen Umfeld durch die
Distanzierung vom Anderen bestätigt, um die höhere Dimension der Einheit vom einzelnen
Willen und dem allgemeinen Willen zu erreichen. Aus diesem Grund stellt sich das Subjekt
von sich aus auf den Kampf um Anerkennung ein, obwohl es bereits die anerkannte
Selbständigkeit und das Anerkennungsverhältnis erfahren hat. In diesem distanzierten
Anerkennungsverhältnis soll das Subjekt seine Identität durch die Anerkennung durch den
fremden Anderen in den gesellschaftlichen Verkehrsformen ausprägen. So ist die IchIdentifizierung des Subjekts im lebenslangen Bildungsprozess ebenso in der familialen
Liebesbeziehung wie im gesellschaftlichen Bezugssystem bei Hegel „die fundamentale
Voraussetzung der Theorie der Anerkennung“. 84 Um ein Moment der Anerkennungsmodi zu
erschließen, geht Hegel zunächst auf das ökonomische Verhältnis von „Tausch“, „Wert“ und
„Geld“ auf dem Markt ein.
Der Kampf um Anerkennung findet bei Hegel unter der Voraussetzung statt, dass das
Subjekt immer schon als freie Selbständigkeit anerkannt ist, da das Subjekt als ein frei
wollendes Selbst bereits im Bildungsprozess zum wissenden Geist, in dem die Intelligenz mit
dem Willen, das theoretische Bewusstsein mit dem praktischen Bewusstsein, einheitlich
verbunden ist, im Binnenraum der familialen Intimbeziehung anerkannt ist. Unter diesen
Rahmenbedingungen kann es sich im sozialen Lebensraum bezogen auf die Anerkennung des
Anderen als Rechtsperson lediglich auf die ökonomischen und rechtlichen Verkehrsformen
beziehen. Für die Erlangung der Anerkennung des Anderen muss es sich im Verlauf des
Konflikts durch die interaktive Wechselbeziehung durchsetzen. Deswegen kann man geltend
machen, dass der Kampf um Anerkennung „nur ein Moment“ 85 im gesamten und kompletten
Bildungsprozess des menschlichen Subjekts darstellt. An diesem Punkt ist die Rede vom
Anerkennungsverhältnis im gesellschaftlichen Binnenraum als „Arbeit Aller und für Alle, und
84
85
L. Siep, Anerkennung als Prinzip, S. 64.
A. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 359.
89
Genuss Aller“. (JSE III, S. 205) Dieser Äußerung zufolge ist es selbstverständlich, dass sich
das Subjekt im ökonomischen und rechtlichen Bezugssystem nicht unmittelbar an der
Konfliktsituation orientiert, sondern eher die Solidarität und die Freundschaft der Gesellschaft
vorausgesetzt,
um
überhaupt
mit
dem
Anderen
innerhalb
des
gesellschaftlichen
Interaktionsfelds Geschäfte machen zu können und sich zu verständigen. Daran anschließend
hat das triebhafte und darum arbeitende Subjekt die Einzigartigkeit seines eigenen
Bedürfnisses überwunden und damit nicht nur der eigenen Triebbefriedigung, sondern auch
dem Bedürfnis des Anderen im ökonomischen Verkehr den Blick zugewandt. Das Subjekt
weiß darum, dass sein Bedürfnis nur durch die Arbeit des Anderen befriedigt werden kann,
weil seine Begierde von vornherein mannigfaltig und immer neugierig ist.
In dem Teil „Wirklicher Geist“ geht es bei Hegel auch um die einheitliche
Übereinstimmung des einzelnen Willens mit dem allgemeinen Willen. Der Grund dafür ist
hier zunächst die gegenseitig anerkannte Interaktion unter den Personen, die bereits als
Rechtspersonen, als Eigentumsbesitzer, insbesondere im Wirtschaftsverkehr, vom Anderen
bestätigt sind. Auf der gesellschaftlich-ökonomischen Ebene, in der alle Beteiligten
gegenseitig als Rechtspersonen anerkannt sind, begegnet das Subjekt dem Anderen mit
seinem überflüssigen Produkt am Markt. Unter dieser Bedingung findet die institutionell
normierte Gemeinsamkeit im Rechtsverhältnis, z. B. „Tausch“, „Wert“, „Geld“, statt. Im
Bereich des ökonomischen Güteraustauschs erwartet das Subjekt vom Handelspartner, dass
das Produkt seiner Arbeit von diesem Partner anerkannt wird und beide durch die geltend
machende Schätzung des Wertes der Waren zu einem allgemeingültigen Einverständnis
gelangen. In diesen verschränkten Handelsbeziehungen gibt es nur die Ich-Identität des
Subjekts. Die gesellschaftliche Wirklichkeit des Subjekts, auf dessen Status die
wechselseitige Anerkennung als Besitzer des Erzeugnisses durch die eigene Arbeit beruht, hat
das Vertrauen zueinander und die gegenseitige Freundlichkeit bereits hinter sich gelassen.
Das Subjekt erfährt in diesem Verlauf der übereinstimmenden Schätzung des Tauschwertes
und der gegenseitigen Anerkennung als Rechtspersonen, dass die Befriedigung seines
Bedürfnisses von dem durch die Arbeit des Anderen erzeugten Produkt abhängt und seine
Arbeit das Bedürfnis des Anderen befriedigt, mit Hegels Worten, dass „Jeder also die
Bedürfnisse vieler befriedigt, und die Befriedigung seiner vielen besonderen Bedürfnisse die
Arbeit vieler anderer ist.“ (JSE III, S. 206) So erlangt das Subjekt seine Ich-Identifizierung als
das freie Selbst, die Selbsterkenntnis im Anderen im Prozess dieses Güteraustauschs. Indem
das Subjekt zum allgemein-gemeinsamen Einverständnis mit dem Handelspartner bei der
Schätzung des Wertes in den Handelsbeziehungen gelangt und lernt, die Selbstverwirklichung
90
nur im anderen Selbst zu erreichen, verinnerlicht es nun auf der Seite des materiellen Dinges
denselben einheitlichen Wert und damit auch die internalisierten Gesellschaftsnormen. Dieser
vereinbarte materielle Wert ist bei Hegel das Geld als der „materielle, existierende Begriff“.
(JSE I, S. 230) Mit dem Geld wird der ideell abstrakte Wert von Seiten aller Subjekte
übereinstimmend und allgemein hergestellt und damit gelangen alle Betroffenen zugleich zu
den ideell normierten Verkehrsformen, die sich von der materiellen und gegenständlichen
Unmittelbarkeit entfernen. Im Hinblick auf die einheitliche Idealisierung der vereinbarten
Einschätzung des Wertes und die Internalisierung der Gesellschaftsnormen hat Hegel auch
das Vertragsverhältnis vor Augen. Mit diesem Vertragsverhältnis finden wir m. E. den
Kulminationspunkt der Vertrautheit und der gesellschaftlichen Solidarität, die die erste
Voraussetzung für die Selbsterhaltung und –verwirklichung der Gesellschaftsnormen sind, in
Hegels Anerkennungstheorie, da der Vertragsabschluss erst dann möglich ist, wenn die
Vertragspartner einander vertraut sind. Mit einem beliebigen Vertragspartner einen Vertrag
abzuschließen meint, noch keine konkreten Gegenstände miteinander auszutauschen, sondern
vielmehr dem Wort des Vertragspartners und dem Versprechen von den künftigen Leistungen
zu vertrauen. Dementsprechend bezieht sich diese verinnerlichte Anerkennung des
Vertragspartners im Vertragsabschluss geradezu auf die Vertrautheit, die Verlässlichkeit, die
Freundschaft, die das menschliche Zusammenleben möglich macht. Eine solche
gesellschaftliche Solidarität lieg diesem unentbehrlichen Vertrauen zugrunde, worauf der
Vertragspartner sein Wort halten wird. In diesem Sinn nennt Hegel den Vertrag den „ideellen
Tausch“ oder „einen Tausch des Erklärens“, der durch den kommunikativen Austausch der
Worte zustande kommt. (JSE III, S. 209 - 210)
Darüber hinaus benennt Hegel die in dem Vertragsverhältniss enthaltene Gefahr, die
sich aus der unmittelbaren Distanz vom gegebenen Wort und der konkreten Leistung des
Vertragspartners ergibt, da der Vertrag mit Hegels Worten noch immer nur „Sollen als
Sollen“ ist (JSE III, S. 210), nämlich nur ein wörtliches Versprechen zur künftigen Leitung ist,
wobei immer sein kann, dass das Wort konkret erfüllt wird oder nicht, obwohl der Betroffene
die höhere Stufe der Selbstverwirklichung und der Ich–Identifizierung vor dem
gesellschaftlichen Horizont durch die obige Vertrautheit des Anderen erreichen zu können
glaubt. Das Subjekt kehrt mit seiner negativen Verhaltensweise, nämlich dem Vertragsbruch,
zum egozentrischen und ausgeschlossenen Selbst zurück, wie die Familie bei der
Besitzergreifung die andere familiale Gemeinschaft von sich selbst ausschließt und sich ihr
gegenüberstellt. Der Vertragsbruch, der sich der egozentrischen Selbstheit entzogen hat, meint
die einseitige Zerstörung des im Vertrag zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Willens, der
91
notwendigerweise durch die konkrete Leistung realisiert werden muss. Mit diesem
Vertragsbruch tritt deshalb auch der Widerspruch zwischen dem Willen des Einzelnen und
dem allgemeinen Willen zutage. Dennoch sollte dieser Widerspruch zum allgemeinen Willen
auf die Weise des Imperativs überwunden werden und die versäumten Pflichten sollten erfüllt
werden, da die Allgemeinheit durch den Vertragsabschluss bereits geprägt ist. Deswegen lässt
sich der allgemeine Wille durch den „Zwang“ der Vertragserfüllung gegenüber dem einzelnen
Willen zum Ausdruck bringen. Mit anderen Worten: Der vertragsbrüchige Einzelne wird vom
allgemeinen Willen gezwungen, sein gegebenes Wort durch seine Leistung zu erfüllen,
umgekehrt zeigt sich der allgemeine Wille in diesem Zwangsprozess als der reale,
erscheinende, latente Wille. Der allgemeine Wille, d. h. der erscheinende Geist realisiert sich
selbst, wie bereits erwähnt, zunächst durch die negierende Handlung des einzelnen Willens im
sozialen Umfeld, d. h. das Verbrechen des Einzelnen im bereits etablierten Zusammenleben
der Gesellschaft und gibt sich damit selbst zu erkennen. Hier wird ersichtlich, dass Hegel
erstens durch die negative Verfügung der Zwangsgewalt den Zugang des einzelnen Willen
zum allgemeinen Willen zu finden versucht. Zweitens stellt er durch die negative Tätigkeit
des vertragsbrüchigen Einzelnen die Selbstverwirklichung des allgemeinen Willens als die
höhere Dimension der Verbürgung der subjektiven Freiheit und der gesellschaftlichen
Solidarität dar.
Aus dieser Überlegung heraus stellt Hegel seine Einschätzung des Vertragsbruchs dar,
nämlich nicht nur, dass der Gegensatz von dem einzelnen Willen und dem allgemeinen
Willen zum Vorschein kommt, sondern dass die Vertragspartner mit dem Auftauchen des
Widerspruchs ihre Aufgabe darin sehen, die Konfrontation miteinander, also den Kampf
gegen den Verbrecher auszutragen. Durch den Vertragsbruch befindet sich ein
Vertragspartner im Gefühl des Leidens, nämlich durch den anderen Vertragspartner verachtet
und beleidigt worden zu sein. Ein Vertragspartner erfährt damit durch den Vertragsbruch,
dass seine Persönlichkeit vom anderen Interaktionspartner verletzt wird. Sein Eigentum war
zunächst von den ökonomischen und rechtlichen Verkehrsformen durch die anderen
Interaktionspartner
anerkannt
worden,
weshalb
er
als
Person
im institutionellen
Rechtsverhältnis durch die anerkannte Zustimmung als Eigentümer bestimmt worden war.
Demzufolge fordert ein Vertragspartner dem vertragsbrüchigen Partner die Erfüllung des
Vertrags aggressiv ab. Damit stellt er sich diesem Partner zugleich kontrovers gegenüber. Mit
dieser aggressiven Forderung und der im Konflikt enthaltenen Konfrontation geraten beide
Interaktionspartner in „den Kampf um Anerkennung“, in dessen Verlauf die Partner durch die
wechselseitige Anerkennung ihre eigene Persönlichkeit, nämlich die eigene Ich-Identität
92
wiederherstellen müssen und gleichzeitig im vom Anderen Anerkanntsein das eigene
Selbstgefühl wiedergewinnen. Betrachtet man die Phänomene des Kampfs um Anerkennung
noch genauer, stellt sich das Subjekt dem Interaktionspartner in einer Geste der aggressiven
Selbstbehauptung gegenüber, reagiert auf das Verbrechen mit dem Empfinden, dass seine
Persönlichkeit und sein eigener Sinn des Lebens von diesem Interaktionspartner verletzt und
beleidigt worden sind. Dieses Gefühl der Persönlichkeitsverletzung und des Leidens führt die
beiden Interaktionspersonen in die unbehagliche Situation, in der das eigene Leben bedroht
und die Todesgefahr in Kauf genommen wird. Jedoch muss die wechselseitige Anerkennung
der Rechtspersonen aus der bereits ausgebildeten Wechselbeziehung der Intersubjektivität im
Binnenraum der familialen Intimbeziehung und im Vertrauen miteinander am Markt
wiederhergestellt werden, da die beiden Akteure nicht nur die Zerstörung des eigenen
Besitzes erleiden könnten, sondern auch die Zerstörung der eigenen physischen Existenz, den
eigenen Tod in dieser unbehaglichen Situation der gegenseitigen Todesbedrohung über sich
ergehen lassen zu müssen. Diese gegenseitige Verletzung und Beleidigung betreffend, drückt
sich Hegel wie folgt aus: „[…] die Verletzung meiner Ehre und Lebens [erscheint] als etwas
Zufälliges. – Aber diese Verletzung ist notwendig […]“ (JSE III, S. 213) Diesbezüglich wird
klar, dass die Verletzung und die Beleidigung im Rechtsverhältnis zunächst unvermeidbar
sind, um die wechselseitige Anerkennung überhaupt erst möglich zu machen. Das Subjekt
kommt nicht umhin, dabei im Übergangs- und Lernprozess zur Sittlichkeit die Verletzung und
die Verachtung durch den Anderen im Anerkennungsverhältnis zu erleiden. Infolgedessen
kann man m. E. die Behauptung wagen, dass dieses subjektive Leiden an der Verachtung und
der Persönlichkeitsverletzung uns selbst zur höheren Dimension des Gesetzes, der
Institutionen leitet, auch wenn diese Hinführung des Einzelnen zur ethisch–sittlichen Wir–
Dimension hier nur in negativer Weise zustande kommt.
Das
handelnde
Subjekt
begegnet
völlig
zufällig
dem
Anderen
auf
der
gesellschaftlichen Ebene und kann in diesem Spielraum durch den anonymen Anderen
anerkannt werden oder durch ihn verachtet und beleidigt werden. Mit dieser Zufälligkeit als
einer Rahmenbedingung dafür, dass die interaktiven Personen im sozialen Umfeld, auf dessen
Spielfeld sowohl die wechselseitige Anerkennung als auch die Verachtung stattfinden kann,
betroffen werden, ist es möglich, den Freiraum für die freiwilligen Handlungssubjekte offen
zu halten. In der gegebenen Situation, die durch die Selbstentscheidung der freien Subjekte
bestimmt ist, entdeckt das Subjekt den Sinn des Lebens und das sittliche Leben. Anders
formuliert, mit der autonomen Zufälligkeit seiner freiwilligen Selbstentscheidung besitzt das
Subjekt die Fähigkeit, „in einer von ihm(= Zufall, KBL) mitbestimmten Situation die
93
Notwendigkeit des sittlichen Lebens zu vollziehen“. 86 Die miteinander kämpfenden Subjekte
erfahren, wie bereits erwähnt, deshalb in der gleichen Besinnung auf die potenzielle
Zerstörung des eigenen Besitzes und auf die existenzielle Todesbedrohung, dass ihre eigenen
Rechte bereits in den ökonomischen und rechtlichen Verkehrsformen anerkannt sind, sie
durch den Bildungsprozess der Selbstnegation und der Selbstüberwindung ihre eigene Freiheit
nur vor dem gesellschaftlich-sittlichen Horizont gewährleisten können, der prinzipiell auf der
intersubjektiven Verbindung der rechtlichen Subjekte zueinander beruht. An dieser Stelle
wird de facto klar, dass Hegel zunächst den sich selbst negierenden Weg der frei
entscheidenden Subjekte zur Selbstüberwindung und zum Selbstverzicht im Kampf um
Anerkennung darstellt und von der vollständigen Garantie der Freiheit der einzelnen Subjekte
die harmonische Einheit mit dem sittlichen Ganzen, die sich der menschlichen Existenz
versichert, abzuleiten versucht.
Im
Hinblick
auf
die
Wiederherstellung
des
gegenseitigen
Respekts,
die
Gewährleistung der Autonomie der Selbstentscheidung, bei der sich die Subjekte zufällig
gegenseitig miteinander konfrontieren oder wechselseitig anerkennen, im Hinblick auf die
von dieser Zufälligkeit bestimmte Situation, in der das sittliche Zusammenleben zwangsläufig
auftaucht, kommt uns der Begriff des „Zwanges“ erneut in den Sinn. Dieser Zwang entsteht
bei Hegel m. E. zunächst aus der emotionalen Innerlichkeit des vertragsbrüchigen Subjekts,
das aufgrund seines Versäumnisses der zu leistenden Pflichten Schuldgefühle hat und
aufgrund dieses Verstoßes gegen die versprochenen Pflichten Scham empfindet. Der Zwang
resultiert zweitens aus der affektiven Anforderung an die durch den Vertragsbruch verletzte
und zerstörte Partnerschaft, da beide Vertragspartner durch den Vertragsabschluss als den
ideellen Tausch ihre Absicht zur Gemeinsamkeit zum Ausdruck gebracht hatten. Aus diesem
Grund können wir m. E. davon ausgehen, dass Hegel nicht so sehr den Zwang der äußeren,
„abstrakten“ Gesetze, sondern vielmehr den inneren emotionellen Druck als Zwang
angesehen hat, wenn er den Zwang als ein unentbehrliches Moment der Erscheinung des
allgemeinen Willens betrachtet. Diesbezüglich kann uns Hegels Idee der „Auflösung“ der
Familie auf der gesetzlichen Ebene wiederum behilflich sein. Aus Hegels Sicht sollte die
Familie nach der Eheschließung vor dem Horizont des „leeren Gesetzes“ und des „steifen
Gesetzes“ auf jeden Fall „unauflöslich“ sein. (JSE III, S. 220) Die moderne Familie gründet
jedoch, Hegels Ansicht zufolge, auf der freiwillig fixierten Liebe der Partner, die als
autonome Personen grundsätzlich über das Recht der freien Selbstentscheidung verfügen.
86
Vgl. Zum Begriffsfeld von Zufälligkeit und Notwendigkeit in Hegels Logik und damit auch zum Stellenwert
dieser Begriffe im Rahmen Hegels praktischer Philosophie, Dieter Henrich, „Hegels Theorie über den Zufall“,
in: Hegel im Kontext, S. 157-186, besonders S. 171-176.
94
Indem die moderne Familie im wesentlichen von der aus der Liebe resultierenden
Selbstentscheidung der beiden Personen abhängt, ist sie als eine vereinzelte Einheit bei Hegel
von vornherein auflösbar und enthält nach Hegel bereits das wesentliche Moment der
Auflösung in sich.
In diesem Konflikt mit dem sich verändernden gegenwärtigen Zeitgeist, der auf dem
weltgeschichtlichen Schauplatz des Weltgeistes als „Fortschritt im Bewusstsein der
Freiheit“ 87 , wie Hegel in seiner Geschichtsphilosophie formulierte, aufbricht, erscheinen die
institutionellen Normen und Sitten eines Volkes bei ihm mit ihrer eigenen Geschichtlichkeit 88 .
Aus Hegels Sicht geraten die institutionellen Normen und Sitten zwangsläufig dann in eine
Konfliktsituation, wenn der Volksgeist in diesen alten Institutionen nicht mehr enthalten ist.
Aus diesem Grund müssen die Normen und Sitten bei Hegel in der geschichtlichen Entfaltung
des Zeitgeistes permanent den sich ständig verändernden Umständen angepasst und
konstruktiv erneuert werden. Diesbezüglich schreibt Hegel:
„Diese freie Lebendigkeit und das reine Gesetz sind in Wechselspiel miteinander; das reine
Wollen ist das Resultat der lebendigen Bewegung“. (JSE III, S. 219)
Darüber hinaus erhalten wir auch darauf einen Hinweis, dass der welthistorische Held, der in
Hegels Geschichtsphilosophie aus der tragischen Auseinandersetzung mit dem alten Weltgeist
den neuen Zeitgeist ableitet, mit dem Verbrecher an dem Punkt übereinstimmt, dass beide
Charaktere gleichsam dem allgemeinen Willen gegenüberstehen. 89 In der Folge verdankt das
Gesetz seine Existenz als die verwirklichte Gestalt des allgemeinen Willens dieser Negativität
des Verbrechers, in deren Verlauf er lernt, sich selbst dem allgemeinen Willen aufzuopfern
und die Selbstnegation zu ertragen, um seine willentliche Freiheit und Selbständigkeit zu
verwirklichen. Aus diesem Grund drückt sich Hegel in Bezug auf die konstruktive
Wiederherstellung und die konkretisierte Wiedererkenntnis durch die negative Handlung des
Verbrechers wie folgt aus:
„Aber dies Verbrechen ist die Belebung, die Betätigung - Erregung zur Tätigkeit des
allgemeinen Willens. Der allgemeine Willen ist tätig; die anerkannte Tätigkeit ist allgemein,
87
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus
Michel, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1986, S. 32.
88
Vgl. Exkurs dieser Arbeit in Bezug auf die Normengeschichtlichkeit.
89
Vgl. Ludwig Siep, „Zum Freiheitsbegriff der praktischen Philosophie Hegels in Jena“, in: Hegel in Jena,
Hegel – Studien Beiheft 20, hrsg. v. Dieter Henrich und Klaus Düsing, Bonn 1980, S. 220 – 223.
95
nicht einzelne, d. h. sie ist ein Aufheben des einzelnen. Strafe ist dieses Umschlagen.“ (JSE
III, S. 215)
Hegel leitet, wie aus den obigen Sätzen hervorgeht, den Motor der Entwicklung 90 zum
staatlich verfassten Gesetz hin vom Verbrechen ab, da sich der Verbrecher nun nicht mehr
gegen den einzelnen Willen des Anderen, z. B. einen Vertragspartner, richtet, sondern durch
seine egozentrische Handlung gegen den allgemeinen Willen verstößt, der bereits auf der
gesellschaftlichen Normenebene existiert. Der Verbrecher will durch die verbrecherische
Handlung wie „Gewalttätigkeit“, „Raub“, „Diebstahl“, „Injurie“ usw. seinen eigenen Trieb
befriedigen, dennoch ist diese Begierde von vornherein nicht realisierbar, da das Verbrechen
direkt gegen den allgemeinen Willen verstößt. Aus diesem Grund bezeichnet Hegel das
Verbrechen als „die Belebung“, „die Betätigung“ des institutionellen Gesetzes. Diese
„Belebung“ und „Betätigung“ des Gesetzes konkretisiert sich in der Gestalt der Bestrafung
des Verbrechers. Damit werden gleichzeitig der durch das Verbrechen verletzte allgemeine
Wille und die gesellschaftliche Solidarität mit der gerechtfertigten Bestrafung des
Verbrechers wiederhergestellt. In diesem Sinn ist die Strafe, so Hegel, „Wiedergeltung als des
allgemeinen Willen“. Darüber hinaus ist der Verbrecher bei Hegel auch „Intelligenz“. (Ebd.)
Aufgrund der instrumentellen Nutzung seiner Intelligenz kann der Verbrecher überhaupt erst
seinen eigenen Willen „zum Trotz dem allgemeinen Willen“ nutzen wollen. Dennoch erkennt
er zugleich seine verbrecherische Handlung, nämlich was er getan hat, weil er selber ein
Intelligenter ist. Affirmativ gesehen bringt der Verbrecher den allgemeinen Willen, der jedoch
noch immer in der Form des Zwangs oder der Gewalt verharrt, zur Erscheinung. Doch der
Verbrecher lässt sich selbst zugleich im negativen Sinn durch die von der Gesellschaft
gerechtfertigte Bestrafung auf seine Selbstverfeinerung und die negierende Selbstvereinigung
ein: Der allgemeine Wille wird nur durch das negative Moment des Verbrechens verkörpert;
zugleich erlangt der Verbrecher jedoch durch den Bildungsprozess der Selbstnegation
gleichsam seine positive Selbstheit.
Die dialektische Relevanz der Begriffe Positivität und Negativität, Verbrechen und
Strafe betreffend, sagt Hegel:
„[…] als Macht des Gesetzes, das ich anerkenne; d. h. die negative Bedeutung meiner hat
ebenso sehr positive; ich bin ebenso darin erhalten – Es kommt mir ebenso zu gute - ich bin
90
Vgl. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 363.
96
nicht nur in meinem Gedanken erhalten, - Ehre - sondern auch in meinem Sein.“ (JSE III, S.
226)
An dieser Stelle handelt es sich bei Hegel zunächst noch immer um den „Zwang des
Gesetzes“, das jedoch von allen Beteiligten anerkannt ist. Dieser Zwang des Gesetzes meint
bereits den institutionalisierten Zwang des Gesetzes, dem sich das Individuum freiwillig
unterwirft und bei dem es sich aus diesem Grund vom Gesetz nicht verletzt oder von ihm als
einer äußeren Macht unterworfen fühlt. Hegels Ansicht zufolge gelangt das Individuum von
hier aus auf eine höhere Stufe, nämlich „sich im Allgemeinen anzuschauen“. (JSE III, S. 226,
Am Rande 2) Auf dieser Stufe ist das Individuum zur Einheit mit der überindividuellen
Allgemeinheit gelangt und die wesentliche Freiheit in seinem verborgenen Inneren erwacht,
die durch das Prinzip der negativen Beziehung der Bestimmtheit bzw. Entgegensetzung
erlangt werden kann. Offensichtlich bedeutet diese Freiheit, dass das Individuum im
interpersonellen Anerkennungsverhältnis, einerseits in der Wechselbeziehung mit dem
gesellschaftlichen Handlungspartner, andererseits im vergesellschafteten Zusammenhang mit
den institutionellen Organisationen, negierend definiert ist, in dieser dialektischen Bewegung
der negativen Bewusstheit sich selbst freigibt und damit zugleich den anderen
Handlungspartner wieder freilässt. Auf diesem Selbstverwirklichungsweg zur Freiheit
vollzieht das Individuum einerseits die interaktive Anspielung auf den Gesellschaftspartner,
andererseits die versöhnende Teilnahme am institutionellen Gesetz und an den
Organisationsordnungen. So gesehen kann man m. E. davon ausgehen, dass die sich selbst
negierende und ausbildende Freiheit des Subjekts, nämlich das sittliche Verhältnis unter den
Gesellschaftspartnern, in dessen Sinnnetzwerk sich die subjektive Freiheit selbst verwirklicht,
nur unter der Voraussetzung des vollständigen Anerkennungsverhältnisses und der
freiwilligen Teilnahme an den geschichtlich vorhandenen Institutionen und Organisationen
stattfinden kann. Mit der Errungenschaft dieses wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses
können sich alle Beteiligten an dieser sittlichen Sphäre nach Hegel als das Subjekt der
voneinander abhängigen Befreiung verstehen und sich innerhalb dieser Rahmenbedingung
untereinander versöhnt wissen.
Im Hinblick auf die negative Positivität, 91 die im Verlauf des Bildungsprozesses des
Ichs zum Ausdruck kommt, ist bei Hegel von entscheidender Bedeutung, dass die Positivität
der Negation im konkreten Verwirklichungsprozess des Gesetzes als des sittlichen Geistes ein
Motor der Selbstentfaltung des Geistes ist und diese Selbstentwicklung des Geistes auch unter
91
Vgl. Zur Bedeutung der Bestimmtheit und der Negation in Hegels Logik, Anm. 12.
97
den geschichtlichen Rahmenbedingungen des Volksgeistes, der in den institutionellen Formen
des Gesetzes und den konventionellen Sitten realisiert wird, von statten geht. Der Geist in der
Gestalt des Gesetzes als die sittliche Sphäre kommt bei Hegel in den konkret geschichtlich
bedingten Situationen zum Vorschein und zeigt sich anläßlich konkreter Zufälle. In dieser
Selbstentfaltung ist der Geist, mit Hegels Worten, deshalb „das reine Leben“. (JSE III, S. 228)
Demzufolge steht der Geist auch im Prozess dieser lebendigen Selbstdifferenzierung und
Rückkehr zu sich selbst dem anders gewordenen Selbst gegenüber. Mit anderen Worten: Der
Geist behält aus dem Gegensatz von dem Selbst und seinem Anderen einen Unterschied in
seinem Selbst zurück und kehrt durch die Selbstüberwindung dieses Gegensatzes zu der sich
das Andere angeeigneten Selbstheit zurück. Aus der Perspektive der konkreten Entfaltung der
Geschichte heraus betrachtet, entsteht die Zerstörung der lebendigen Harmonie der
Gesellschaft aus den Institutionen oder den bereits institutionalisierten Gesetzen selbst heraus,
falls der Volksgeist die alten Modi der Institution für ungültig erklärt und insofern alle
Beteiligten an diesem Volksgeist nach dem neuen Zeitgeist und nach dem neuen Aufbau der
dem Zeitgeist entsprechenden Institution suchen und streben. In diesem geschichtlichen
Entwicklungsprozess stellt der Geist durch diese negative Auseinandersetzung mit dem
anders werdenden Selbst, nämlich die sich selbst negierende Selbstgestaltung, seine Wahrheit
wieder her und erkennt auch die in seinem Inneren verborgene Harmonie von dem Selbst und
dem Anderen, nämlich die subjektive Substantialität, wieder. In diesem Sinn findet Hegel die
negative Selbstentäußerung und die damit im Zusammenhang stehende Selbstverwirklichung
des Geistes in der „Rechtspflege“ und dem „Prozeßgang“ wieder, da diese zu sich selbst
kommende Bewegung des Geistes immer mit der konkreten Geschichte und der zufälligen
Situation, in der der Staat als die sittliche Sphäre tätig und lebhaft ist, zu tun hat. Nach der
Darstellung des Übergangs zur „peinlichen Rechtspflege“ formuliert Hegel das folgende:
„Diese Macht über alles Dasein, Eigentum und Leben, und ebenso den Gedanken, das Recht
und das Gute und Böse, ist das Gemeinwesen, das lebendige Volk. Das Gesetz ist lebendig,
vollkommenes, lebendiges, selbstbewußtes Leben; als der allgemeine Willen, der Substanz
aller Wirklichkeit ist, Wissen von sich als allgemeiner Macht alles Lebendigen und aller
Bestimmung des Begriffs alles Wesens.“ (JSE III, S. 229)
Hegels Auffassung beruht, wie bereits erwähnt, auf dem „Prozeßgang“ in der „peinlichen
Rechtspflege“, der sich auf die konkrete Anwendung der allgemeinen Normen in der
98
sittlichen Sphäre, auf die zufälligen, jedoch konkreten Tatsachen bezieht. 92 In dieser
Anwendungsprozedur darf das Gesetz deshalb keine „absolute Bestimmung“ sein. (JSE III, S.
228) Aus der Perspektive dieser Art der Anwendung betrachtet, soll das Gesetz Hegels
Ansicht zufolge, unter allen Umständen zeitlich begrenzt sein, weswegen es passieren kann,
dass das Gesetz sämtliche richterlichen Ansprüche der Juristen und Betroffenen nicht erfüllt.
Das Gesetz muss seinem Geltungsanspruch lediglich durch die reale Anwendung auf die
vielfältigen Tatbestände nachkommen und es muss sich selbst an den lebendigen Maßstab der
Gegenwart im Verlauf dieses Anwendungsprozesses anpassen. So gesehen finden wir hier
einen Hinweis darauf, dass „im Verstehen so etwas wie“, mit Gadamers Worten, „eine
Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten
stattfindet“. (GW. 1, S. 313) So gesehen ist das Gesetz, so wie die Anwendung des Textes im
Verstehen, durch seine Anwendungsleistung auf den gegenwärtigen Fall lebendig geworden
und es ist im engen Zusammenhang mit der sich bewegenden Lebenswelt auch zu einem
lebendigen bestimmt. Aus diesem Grund wird die Aufgabe „der Konkretisierung des
Gesetzes“ und „die Aufgabe der Applikation“ bei Gadamer direkt zur „Aufgabe des
Auslegers“. (GW. 1, S. 335) Das Gesetz und die institutionalisierten Normen müssen in der
prozessualen Auseinandersetzung mit den vergangenen und gegenwärtigen Zufällen
anwendbar sein und sie müssen auch durch die Anwendung auf alle besonderen Fälle zum
Ausdruck gebracht werden können: Das Gesetz liegt immer schon im Zwischenraum von
Vergangenem und Gegenwärtigem; es darf keinesfalls eine abstrakte Formalität, nämlich
„eine absolute Bestimmung“ als der letztbegründete Imperativ sein. Das Gesetz muss sich
deshalb im Umgang mit der konkreten Gegenwart selbst übertragen und auslegen können.
Auf diese Weise macht sich das Gesetz selbst lebendig.
Im Anschluss an die Anwendungsfunktion des Geistes auf die gegenwärtig konkrete
Situation stellen wir fest, dass sich der Geist als ein ontologischer Sinnganzheitshorizont, in
den wir immer schon eingebunden sind und in dem wir uns selbst ausbilden, darstellt. Da der
Geist, der in der sittlichen Form des Gesetzes und in einem Volk, das sich in einer Gegenwart
befindet, die seine Herkunft mit einschließt, ebenso wie das subjektive Bewusstsein und der
Volksgeist sich selbst in einem Selbstausbildungsprozess von seinem Innern differenziert und
sich zugleich mit sich selbst identifiziert, zeigt der Geist sich bei Hegel als „das lebendige
Volk“, das Leben des Geistes. Dieser lebendige Volksgeist findet seine Entfaltung in den
staatlich verfassten Institutionen und Organisationen und seine konkrete Ausgestaltung im
Staat. Deswegen ist das Leben des Geistes in seiner eigenen Zeitlichkeit bzw.
92
Zum Anwendungsproblem der juristischen Hermeneutik in Gadamers Dialoghermeneutik, vgl. Kap. II – 2 von
III. Teil in dieser Arbeit.
99
Geschichtlichkeit entfaltet und erreicht die höchste Ebene der einheitlichen Versöhnung der
Einzelheit mit der Allgemeinheit, auf der die Einzelheit durch die Selbstnegation mit der
Allgemeinheit eins wird und die Allgemeinheit durch die negative Selbstäußerung an der
Einzelheit teilhat, selbst in der Notwendigkeit der Einzelheit erscheint. 93 Dieses lebendige
Leben des Geistes lässt sich im kontinuierlichen Übergangsprozess auf das konkrete
Handlungsnetzwerk ein, an dem alle Gesellschaftsmitglieder teilgenommen haben und auf das
sie sich freiwillig eingelassen haben. Aus der Perspektive eines solchen miteinander
verwobenen Teilnehmens am Allgemeinen betrachtet, kann das Leben des Geistes wie auch
das natürliche Leben des Menschseins in jeder Generation, den besonderen und
geschichtlichen Situationen entsprechend angepasst, immer wieder aufs neue ausgebildet und
regeneriert werden. Alle Gesellschaftsmitglieder können sich unter der Bedingung des
Respekts für das Rechtssystem und die Handlungsnormen freiwillig in die Gesellschaft
integrieren
und
mit
dieser
bewußten
Integration
in
die
gegenwärtigen
Handlungsrahmenbedingungen ihr eigenes Bezugssystem angesichts der geschichtlich
bestimmten Situation errichten. Aus diesem Grund ist es „eines der großen Verdienste
Hegels“, Gadamers Ansicht zufolge, dass er die Dialektik der Selbstüberwindung und der
Selbstnegation des Subjekts mit dem eigenen Streben nach dem allgemeinen Geist und
umgekehrt die der negativen Selbstdifferenzierung und der Selbstverwirklichung des Geistes
im Subjekt in seiner Philosophie deutlich gemacht hat. 94 Aus Gadamers Sicht hat der
objektive Geist, z. B. das Gesetz, die Institution, Bräuche und selbst Bestattungsrituale oder
95
die
Spannungsverhältnis
der
Grußsitten usw. bei Hegel nur in der „Solidarität“, „Liebe“, „Freundschaft“,
grundsätzlich
mit
dem
nicht
endgültig
auslöschbaren
wechselseitigen Anerkennung von Ich und Du konfroniert sind, die Fähigkeit, sich selbst in
den gesellschaftlichen Verkehrsformen zu verwirklichen und sich selbst auf die
Gesellschaftsmitglieder zu übertragen. Anders formuliert, bringen alle Gesellschaftsmitglieder
„in der Gestalt staatsbürgerlicher Solidarität zugleich den >>Geist eines Volkes<<“ 96 zur
Erscheinung. Indem sich das Leben des Geistes, wie bereits erwähnt, bei Hegel immer auf die
Herauslösung aus seinen ursprünglichen Vorgaben und auf die gegenwärtigte Anwendbarkeit
in der flexiblen und variablen Geschichtsschwelle bezieht, schreibt Gadamer, dass „Hegel
93
Die notwendige Dynamik zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen auf dem Weg zur
Selbstverwirklichung betreffend, schreibt Hegel auch in seiner Rechtsphilosophie: „Die Individuen sind als
Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zweck haben. Da dieser durch
das Allgemeine vermittelt ist, das ihnen somit als Mittel erscheint, so kann er von ihnen nur erreicht werden,
insofern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der
Kette dieses Zusammenhangs machen.“ G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, S. 343, § 187.
94
H.–G. Gadamer, „Hegels Philosophie und ihre Nachwirkung bis heute“, S. 48.
95
Ebd., S. 47.
96
J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a. M. 1999, S. 206.
100
damit eine entscheidende Wahrheit ausspricht, sofern das Wesen des geschichtlichen Geistes
nicht in der Restitution des Vergangenen, sondern in der denkenden Vermittlung mit dem
gegenwärtigen Leben besteht“. (GW. 1, S. 174)
Während der vorliegende Absatz den Geist aus der Perspektive seiner Zeitlichkeit und
Geschichtlichkeit auffasst, muss der Geist nunmehr auch aus der Perspektive seiner
Räumlichkeit, also der Regierung als der entäußerten Gestalt des Volksgeistes, ins Blickfeld
gerückt werden, da der Geist seinen höchstentfalteten Horizont durch die konkrete
Ausgestaltung des Staates erreicht, der das kollektive Bewusstsein, das von jedem einzelnen
Bewusstsein, aber dennoch von dem der Gemeinsamkeit zugrunde liegenden Bewusstsein
abgeleitet ist, bildet und die Rolle eines vernetzten und handlungsorientierten Spielraums der
Sittlichkeit spielt. Diesbezüglich sagt Hegel: „Dem Geist ist der Staat überhaupt Gegenstand
seines Tun und Bemühung, und Zweck“. (JSE III, S. 246) Der Geist erreicht seine
Lebendigkeit, indem er die Gesellschaftsmitglieder in Bezug auf seine konkreten Phänomene
wie z. B. Gesetz, Institution, Organisation usw. sorgfältig respektiert. Durch diese lebendige
Konkretisierung ermöglicht der Geist seinen Mitgliedern, in die sittliche Sphäre, nämlich in
die institutionalisierten Normen als Handlungswegweiser, einzusteigen, die die jeweilige
Besonderheit der Einzelnen stets berücksichtigen. Somit zeigt sich der Geist als ein Vermittler
zwischen der sittlichen Dimension und dem Einzelnen und prägt dabei die ontologische
Grundlage für das menschliche Zusammenleben. Als das sittlich Gemeinsame ermöglicht er
allen Gesellschaftsmitgliedern die Teilhabe, weshalb er sich den Einzelnen zu erkennen gibt.
Für uns zeigt sich hier, dass der Geist in den Formen des Gesetzes, der Institutionen und der
Organisationsordnungen nicht nur die verfügbare Macht über alle Mitglieder innehat, sondern
auch die verschiedenen, individuellen Charaktere umfasst. Alle Beteiligten können ihn als den
Beschützer des Rechts ansehen, da sich alle Beteiligten einzig unter diesen Bedingungen auf
den Geist als die staatlich verfasste Form verlassen können. Darüber hinaus steht der Geist als
der staatliche Verwalter des Gesetzes für Gnade und Verzeihung. Der Geist äußert sich bei
Hegel nicht so sehr durch die übermäßige und steife Formalität als vielmehr durch den
Verzicht auf die Ausübung des Strafrechts bei den Betroffenen. Mit anderen Worten: Der
Geist erscheint den Gesellschaftsmitgliedern durch die Begnadigung und die Verzeihung des
Verbrechens. Durch diese begnadigende Ausstrahlung wird der Geist von allen Beteiligten
wiederhergestellt und wieder erkannt. 97 Durch den dynamischen Bewegungsprozess zur
synthetischen Harmonie hin, in dessen Verlauf sich der Geist auf seine Bestimmtheit
beschränkt und zugleich diese eingeschränkte Grenze aufhebend überschreitet, erreicht der
97
Vgl. L. Siep, Anerkennung als Prinzip, S. 94 – 96. und G. Göhler, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Frühe
politische Systeme, S. 451.
101
Geist die wissende Einheit vom Einzelnen und Allgemeinen, die Selbstbewusstwerdung der
Freiheit. In diesem Sinn formuliert Hegel: „Der Geist ist so die erfüllte Freiheit. […] der
seiner unmittelbar bewußte Geist“. (JSE III, S. 252) Das Individuum erkennt auch, wie der
Geist sich auf dieser höchstentfalteten Stufe selbst als Freiheit gezeigt hat, die immer beim
Allgemeinen bleibt und vom Allgemeinen abhängt.
An dieser Stelle wird es notwendig, dass wir uns auf die bisherigen Überlegungen
Hegels Idee der Anerkennung im Bildungsprozess des Subjekts betreffend beziehen. Das
grundsätzliche Strukturelement der Selbstentwicklung des Geistes ist bei Hegel einerseits das
Sich–anders-Werden, nämlich die negative Selbstentäußerung und andererseits die
gleichzeitige Rückkehr zu sich selbst, d. h. die positive Selbstbestimmung. In diesem Prozess
einer von sich selbst nach außen gerichteten Bewegung und einer von außen zu sich selbst
kommenden Bewegung, einer sich selbst immer wiederherstellenden und erfrischenden
Bewegung, gelangt der Geist zu der Erkenntnis der Notwendigkeit, sich mit seinesgleichen
bewusst zu werden. Dieses lebendige Leben des Geistes zeigt sich zum einen auf der Seite der
gesamten Bildungsstationen in der Liebesbeziehung und kommt auf der anderen Seite im
Anerkennungsverhältnis
im
Rechtsverhältnis
zum
Vorschein.
Doch
auf
dieses
Anerkennungsverhältnis wird m. E. bei Hegel nur unter der Voraussetzung, dass die
Anerkennung bereits im familialen Interaktionsfeld stattgefunden hat, verwiesen. Das
handlungsfähige Subjekt hat im Binnenraum der familialen Intimbeziehung die Aufgabe
verwirklicht, sich selbst im Anderen anzuschauen und sich selbst beim Anderen auszubilden
und widerzuspiegeln, ebenso wie die sprachliche und die instrumentelle Fähigkeit. Das
einzelne Subjekt strebt nach dem mit sich selbst gleichgesetzten Selbstbewusstsein in der
Liebesbeziehung. Von diesem natürlichen Streben aus nimmt es seinen Anderen als
Dialogpartner wahr und seine Handlung vollzieht sich in dieser sprachlich vernetzten
Kommunikationsdimension. Vor diesem existenziell ontologischen Hintergrund, dass das
Subjekt nicht mehr bei sich selbst allein sein darf, sondern von vornherein mit dem Anderen
zusammen ist, lernt das Subjekt, dass seine Ich-Identifizierung nur durch die unendliche
Anerkennung durch den Anderen stattfinden kann. Vor dem Hintergrund dieses eigenen
Anspruchs auf Anerkennung erkennt das Subjekt seinen Anderen gleichsam auch an. Für uns
wird hier deutlich, dass sich die Familie auf diese wechselseitige Anerkennung, die der
Liebesbeziehung von Mann und Frau zugrunde liegt, gründet. An dieser Stelle bildet sich das
Subjekt mit dem liebenden Partner in der kommunikativen Handlung selbst aus und leistet
damit nach der Eheschließung zugleich den wechselseitigen Dienst der Sorge für die
Triebbefriedigung und das gegenseitige Wohlergehen, um das Selbst zu erhalten. In dieser
102
vorgesellschaftlichen Gemeinschaft des Gefühls zeugen die Ehepartner ihren eigenen
Nachfolger, das Kind. Mit der Geburt des Kindes finden die Eltern die reale Vollendung ihrer
Liebe durch das Kind. In diesem familialen Interaktionsfeld sorgen die Eltern zunächst
elementar für die natürliche Erhaltung des Kindes und sie vermitteln ihrem Nachfolger durch
die Erziehung die Sprache, die gesellschaftlichen Verhaltensweisen, das instrumentelle und
wirtschaftliche Eigentum usw. An dieser Stelle besteht die Kindererziehung darin, dem Kind
die Sprache und die Mittel der biologischen Erhaltung zu vermachen, insbesondere in dieser
familiären Atmosphäre für seine Sozialisation zu sorgen, damit das Kind lernt, sich an sein
soziales Umfeld und den gesellschaftlichen Lebenskontext anzupassen. Entscheidend ist, dass
die Familie als der reale Ort der emotionalen Intimbeziehung die wechselseitige Anerkennung
überhaupt erst möglich macht. Diese vorgesellschaftliche Gemeinschaft des Gefühls steht für
jedes Mitglied innerhalb des Sozialisierungsprozesses an erster Stelle, da dieser emotionale
Intimbereich die Mitglieder mit Solidarität, Liebe und Freundschaft vertraut macht. Ohne
diese emotionalen Elemente könnte die menschliche Gesellschaft nicht existieren.
Unter
dieser
Rahmenbedingung
der
wechselseitig
aufeinander
bezogenen
Anerkennung im familialen Intimbereich ist das Subjekt bei Hegel als Person und als
Eigentümer im Rechtsverhältnis anerkannt. Im Rechtsverhältnis taucht es mit seinem
schrankenlosen Trieb, seiner grenzenlosen Begierde nach Triebbefriedigung auf. Aus dieser
egozentrischen und nicht enden wollenden Selbstbehauptung heraus bricht der Konflikt
hervor. Um seinen eigenen Trieb zu befriedigen, richtet sich das Subjekt zunächst aggressiv
gegen seinen Gesellschaftspartner. In dieser kontroversen Situation erfahren die Subjekte
gleichsam eine Todesbedrohung. Aus einer solchen unbehaglichen Situation der
wechselseitigen Todesbedrohung heraus treiben die Subjekte sich selbst zwangsläufig in die
wechselseitige Anerkennung im Rechtsverhältnis, in die anerkannte Dimension der
Gesellschaft. Diese leidvolle und unbestimmte Situation, in der das Subjekt der ständigen
Todesangst ausgesetzt ist und von der Gefahr des zufällig chaotischen Umfeldes bedroht wird,
führt
alle
Betroffenen
Handlungsmuster hin.
98
schließlich
zum
handlungsorientierten
Wegweiser,
zum
Im Anschluß daran errichten die Subjekte ein kollektives
Bewusstsein, mit dem sie sich alle einverstanden erklären. Auf diesem Baustein gründen sie
spontan die Gesellschaft, die den höchstentfalteten Horizont der Sittlichkeit erreicht, ohne ihre
Individualität zu verletzen. Umgekehrt erlebt das Subjekt, dass die egozentrische und isolierte
Subjektivität überwunden werden muss, um das Selbst zu erhalten, sich mit sich selbst zu
identifizieren und insbesondere die bedrohlichen Umstände hinter sich zu lassen. In diesem
98
Vgl. A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S. 73 – 80.
103
Bildungsprozess der Selbstnegation und der Selbstüberwindung lernt das Subjekt, dass die
Freiheit immer mit der Erkenntnis der verborgenen Harmonie von Ich und Du und Ich und
Wir zu tun hat. Vor diesem Hintergrund der Erkenntnis der Freiheit integriert sich das Subjekt
in das sittlich verbundene Netzwerk, das solidarische und freundschaftliche Zusammenleben,
das auch das Subjekt konstituiert.
Aus diesem Grund können wir unseren Blick nun auf das Anerkennungsverhältnis von
Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes richten. Ich möchte mich hierbei auf
Hegels Konzeption der Anerkennung zwischen den Subjekten als Selbstbewusstseinsträger in
Anknüpfung
an
Gadamers
Auslegung
von
Hegels
Anerkennungstheorie
in
der
Phänomenologie des Geistes berufen und werde damit auch versuchen, die Intersubjektivität
der hermeneutischen Erfahrung in Bezug auf Hegels Anerkennungstheorie darzustellen.
Dahingehend möchte ich auch die Fragen aufwerfen, ob die emotionale Liebesbeziehung im
Anerkennungsverhältnis der Phänomenologie ihren Stellenwert verliert und ob man
infolgedessen behaupten kann, dass es nur die Charakteristik des Kampfes in der
Anerkennung der Phänomenologie gibt. Bevor ich auf die Problematik der Anerkennung in
der Phänomenologie eingehe, möchte ich den Diskussionsrahmen der Probleme von Hegels
Konzeptionsumwandlung, die zwischen dem der Phänomenologie vorliegenden Denkansatz
zum zwischenmenschlichen Anerkennungsverhältnis und der Anerkennungstheorie in der
Phänomenologie liegt, zusammenfassend darstellen. Habermas beschäftigt sich zunächst mit
„der Dialektik von Herr und Knecht“, die die intersubjektive Struktur der wechselseitigen
Anerkennung erschließt. Damit sagt er zugleich, dass die Phänomenologie des Geistes den
Jenaer Programmen, insbesondere in Bezug auf Hegels einzige Einsicht in den Begriff des
Geistes, entstammt, 99 während er zu Beginn seines Aufsatzes von 1967 mit der These beginnt,
dass „Hegel in den beiden Jenenser Vorlesungen für den Bildungsprozess des Geistes eine
eigentümliche, später preisgegebene Systematik zugrunde gelegt hat“. 100 Der Kampf um
Anerkennung bezieht sich A. Honneth’ Ansicht zufolge, auf die Entwicklung der Moral und
der Sittlichkeit, die sich Schritt für Schritt in der Selbstentwicklung des Geistes vollzieht und
auf „die einzige Funktion der Bildung des Selbstbewusstseins“, weshalb Hegel, aus A.
Honneth‘ Sicht, sich hauptsächlich im Kapitel „Selbstbewusstsein“ der Phänomenologie um
die Erhellung der Selbsterfahrung des Bewusstseins bemüht und damit im Großen und
Ganzen auf den Charakter der Intersubjektivität in seinen frühen politisch-philosophischen
Schriften verzichtet. 101 Davon abgesehen hat Herbert Schnädelbach in seiner Arbeit behauptet,
99
J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, S. 188, S. 201 und S. 209ff.
Ders., Technik und Wissenschaft als >Ideologie<, S. 9.
101
A. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 104.
100
104
dass „dies(= die Dialektik der Anerkennung, KBL) erst im >>Herrschaft/Knechtschaft<< Kapitel der Phänomenologie des Geistes wirklich ausgeführt ist“. 102 Außerdem beschäftigen
sich L. Siep und A. Wildt selbst mit diesem systematischen Knotenpunkt der Jenaer
Geistesphilosophie mit der Phänomenologie unter dieser bestimmten Bedingung. 103 Aber
ungeachtet der verschiedenen und komplizierten Diskussionen zwischen den Autoren kann
man
m.
E.
andeutungsweise
Anerkennungsverhältnisses
davon
in
Anknüpfung
ausgehen,
dass
an
Hegel
Gadamers
die
wichtige
Idee
des
Rolle
der
intersubjektiven Anerkennung im Bildungsprozess des Geistes noch immer in der
Phänomenologie klargestellt und damit zugleich nicht nur den Kampf um Anerkennung,
sondern auch die Liebesbeziehung im Anerkennungsverhältnis umfassend erfasst hat. Wenn
wir überdies über diese systematische Problematik in Hegels Gesamtsystem nachdenken,
dann wird in der Tat deutlich, dass Hegel die Liebesbeziehung im Kapitel „Familie“ der
Rechtsphilosophie beschrieben hat. Gleichwohl lässt er die dynamische Bewegung der
interpersonellen Anerkennung außer Acht. 104 Umgekehrt wird ebenso deutlich, dass er auch
den „Zweikampf“ in der Enzyklopädie beschrieben hat (Enzy. III. S. 222), aber dennoch dabei
die Motivation der Liebesbeziehung übersehen hat. Davon abgesehen werde ich im nächsten
Kapitel auf die obige Frage in Anknüpfung an Gadamers Aspekte eingehen, da es sich hier
nicht so sehr um Hegels Anerkennungskonzeption im Gesamtsystem oder die Debatte über
Hegels Konzeptumwandlung der Anerkennung, sondern vielmehr um die interaktive
Intersubjektivitätsstruktur in der Phänomenologie aus der hermeneutischen Perspektive heraus
handelt.
102
H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, S. 132.
Vgl. L. Siep, Anerkennung als Prinzip, S. 68ff. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 365ff, daran
anschließend zum sukzessiven Zusammenhang der Phänomenologie mit der Geistesphilosophie 1805/06,
Henning Ottmann, „Herr und Knecht bei Hegel“, S. 380 – 382.
104
Für uns ist es umstritten und fraglich, ob Hegel die reale, ja soziale Anerkennungsbeziehung seit der
Phänomenologie tatsächlich zur Seite geschoben hat. Denn wir können das Anerkennungsverhältnis als
Grundlage für die Sozialbeziehung selbst aus Hegels Rechtsphilosophie herauslesen. In seiner
Rechtsphilosophie drückt sich Hegel folgendermaßen aus: Die Rechtsperson, so Hegel, „sei eine Person und
respektiere die anderen als Personen.“ G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, S. 95, § 36. Auch zur sozialen
Anerkennungsbeziehung in Hegels Rechtsphilosophie, vgl. Michael Theunissen, „Die verdrängte
Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts“, in: Hegels Philosophie des Rechts – Theorie der
Rechtsformen und ihre Logik, hrsg. v. Dieter Henrich u. Rolf–Peter Horstmann, Stuttgart 1982, S. 317 – 381.
103
105
IV. Die Anerkennungsbewegung zum Lebensganzheitshorizont als ontologischer Grundlage
für die Lebendigen in der Phänomenologie des Geistes
IV – 1. Das Anerkennungsverhältnis des Selbstbewusstseins in der ungestillten Sehnsucht
nach dem Lebensganzen
Das Kapitel „Selbstbewußtsein“ hat einen herausragenden Stellenwert in Hegels
Phänomenologie, da es „die basale Intersubjektivität“ als den Grundzug der menschlichen
Handlung darstellt, wie Hegel selbst den Übergang zum Selbstbewusstsein als
„Wendungspunkt“ bezeichnet hat. (PhdG., S. 145) Daran anschließend gibt Gadamer mit
Recht in seinen Hegel–Auslegungen diesem Kapitel „Selbstbewusstsein“ den maßgeblichen
Charakter, der als der das ganze System der Phänomenologie führende Leitfaden bezeichnet
werden kann. Dieses Kapitel „Selbstbewußtsein“ nimmt für Gadamer deshalb „eine zentrale
Stellung im Ganzen des phänomenologischen Weges“ ein. (GW. 3, S. 47) 105 Es wird auch
deutlich, dass die vielfältigen Untersuchungen und Interpretationen über dieses Kapitel
„Selbstbewußtsein“ in Abhängigkeit von dem je spezifischen Eigeninteresse der
verschiedenen
Forschungsrichtungen
unterschiedlich
ausfallen,
genauso
wie
die
entscheidende Rolle dieses Kapitels im ganzen Werk mit ganz unterschiedlichen Attributen
versehen wird: marxistisch, existenzialanalytisch, phänomenologisch, ontotheologisch. 106
105
Vgl. Werner Marx, Das Selbstbewußtsein in Hegels Phänomenologie des Geistes, S. 18 – 22. Er bezeichnet
das Kapitel „Selbstbewußtsein“ als „Prinzip des ganzen Werkes“, wie Gadamer gesagt hat, weil das
Selbstbewusstsein den Bezugspunkt der faktischen Erfahrungen des Bewusstseins ausmacht und damit dem
Selbstbewusstsein zugleich das begreifende Wissen um sich selbst zukommt, wenn das Ziel dieses Werkes
die bestimmende Bewusstwerdung des Geistes ist, die Endstation „das absolute Wissen“ durch die ständige
Selbstüberprüfung und die sich innerlich wiederholende Selbstkorrektur, kurzum, wenn der Zweck der
Darstellung der Phänomenologie das Wissen des Geistes um sich selbst ist.
106
Vgl. Zur marxistisch–geschichtsphilosophischen Interpretation, A. Kojève, Hegel, S. 48 – 89. Demgegenüber
gelten Hennig Ottmann in seinem Aufsatz die marxistischen Auslegungen über das Kapitel
„Selbstbewußtsein“ als eine Art und Weise der missverstandenen Leseart, obwohl er auch die überwiegende
Rolle des Anerkennungskampfes im geschichtlichen Verlauf der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft
und des Staates vor dem Hintergrund des politisch–philosophischen Standpunktes aufzuklären versucht.
Hennig Ottmann, „Herr und Knecht bei Hegel. Bemerkungen zu einer missverstandenen Dialektik“, S. 365
– 384. Zur existenziellen Interpretation, Wolfgang Janke, „Herrschaft und Knechtschaft und der absolute
Herr“, in: Philosophische Perspektiven, Bd. 4, hrsg. v. Rudolph Berlinger, Eugen Fink, Frankfurt a. M. 1972,
S. 211 – 231, vor allem S. 217 - 229. In seiner eigenen Interpretation stellt er interessanterweise den
„absoluten Herr“ bzw. die Todesfurcht und –bedrohung als die zentrale Stellung der Erfahrung der
Anerkennung zwischen beiden Extremen fest. So gesehen ist die Angst begrifflich von der Furcht zu
unterscheiden. Nach ihm ist die Angst zufällig und temporär. Im Gegensatz dazu hat es die Furcht mit dem
„ganzen Wesen“ zu tun, weil sie das Erschrecken vor der Todesbedrohung weckt, d. h. die Bedrohung, die
von der Tatsache ausgeht, dass die menschliche Existenz dazu bestimmt ist, von Anfang an im Angesicht
des Todes zu leben. Deswegen wird die innerliche Überwindung der Furcht vor dem Tode als einer
absoluten Vernichtung zum Moment der Emanzipation der Menschen, seiner Äußerung zufolge, der
„Freiheit zum Tode“. Zu den Perspektiven der Subjektivität bzw. der einzelnen Ichhaftigkeit, Werner
Becker, „Hegels Dialektik von ‚Herr und Knecht’“ in: ders., Selbstbewußtsein und Spekulation, Freiburg
1972, S. 110 – 123, und damit auch Walter Schulz, „Das Problem des Selbstbewußtseins in Hegels System“,
106
Davon abgesehen bemüht sich Gadamer um eine hermeneutische Auslegung von
„Selbstbewußtsein“, die nur unter Berücksichtigung der historisch bestimmten Bedingungen,
die für die jeweilige Interpretation und Verstehensweise relevant sind, zustande kommen kann.
Dies ist nicht nur von Bedeutung, um die unmittelbare Anwendung auf die sozialgeschichtlichen Phänomene herzustellen, sondern um zu einer Darstellung des idealisierten
Denkmodells von Hegel in der Anerkennungsbewegung zwischen den Menschen zu gelangen.
Deshalb ist fraglich, ob das Herrschaft–Knechtschaft–Verhältnis der wirklichen Historie der
Menschheit entspricht und inwiefern sich die geschichtsphilosophische Sicht auf die
materialistische Geschichtsauffassung anwenden lässt. Mit anderen Worten: Von der
Intersubjektivität unter den Subjekten ausgehend, nimmt Gadamer zunächst das Herrschafts–
Knechtschafts–Verhältnis bei Hegel als „eine ideale Genealogie“ an. Gleichzeitig betrachtet
er das wechselseitige Anerkennungsverhältnis als die Anschauung zu dem sozialen
Gegenüber durch die unmittelbare Begegnung. Daran anschließend stützt er den gesamten
gelebten Sinnhorizont des „erscheinenden Geistes“ auf die gesellschaftliche, gemeinsame
Solidarität und Freundschaft in der Liebe, die Vertrautheit.
Außerdem können wir nicht darauf verzichten, uns den ontogenetischen Prozess vom
Bewusstsein zum Selbstbewusstsein in Erinnerung zu rufen, der hauptsächlich im I. Kapitel in
dieser Arbeit behandelt wurde, bevor wir auf das Anerkennungsverhältnis zwischen den
Subjekten
als
Selbstbewusststräger
eingehen.
Den
Weg
vom
Bewusstsein
zum
Selbstbewusstsein hat das Bewusstsein durch die drei Hauptstufen, „die sinnliche
Gewissheit“, „Wahrnehmung“ und „Verstand und Kraft“ hindurch, auf denen es mit jedem
Gegenstand auf passende Weise zu tun hat und bei der Entlarvung des innerlichen
Widerspruchs zum nächsten Gegenstand übergeht, geführt. Gleichwohl ist das Bewusstsein
bei Hegel, Gadamers Ansicht zufolge, jedoch von vornherein nicht mehr von der
Äußerlichkeit des Gegenstandes abhängig, d. h. es hat zu seinem Gegenstand nicht bloß einen
Gegenstand, also einen außer ihm sich befindlichen Gegenstand, sondern ist von Anbeginn
in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 39, hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Otfried Höffe,
Meisenheim/Glan 1985, S. 1 – 15. Zu den ontotheologischen Perspektiven, Karen Gloy, „Bemerkungen zum
Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ in Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: Philosophisches
Jahrbuch (91.), hrsg. v. Hermann Krings, Ludger Oeing–Hauhoff, Heinrich Rombach, Arno Baruzzi, Alois
Halder, Freiburg/München 1984, S. 187 – 213. Sie versucht das Kapitel „Selbstbewußtsein“ unter einem
ontotheologischen Aspekt auszulegen, denn hier handelt es sich ihr zufolge um die Lebensganzheit,
gewissermaßen die Totalität der gesamten Lebenszusammenhänge, in der sich das Menschsein nicht nur
aufeinander bezieht, voneinander abhängig ist, sondern auch die Einheit mit der Gottheit erreichen kann.
Deswegen spielen Furcht, Zittern und Erschütterung auch eine wichtige Rolle im Zugang des Menschen zur
allgemeinen Lebensganzheit im menschlichen Dasein. Dennoch ist bereits bekannt, dass Heidegger das
Selbstbewusstsein in Hegels Phänomenologie mit dem onto–ego–theo–logischen Begriff des Seins
aufgefasst hat, obwohl er seine eigene Erhellung des Seins vom teleologisch–eschatologischen Grundzug
des Hegelschen Seinsbegriffs abzusetzen versucht. M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA.
32, hrsg. v. Ingtraud Görland, Frankfurt a. M. 1980, S. 203 – 213.
107
bei Hegel „Selbstbewußtsein“. (GW. 3, S. 30) Denn das Bewusstsein ist ein Knotenpunkt der
faktischen Erfahrung und kann damit zugleich, Gadamers Ansicht zufolge, vor allem in
Bezug auf die Verkehrtheit der Verstandesgesetze als „das Leben“ bezeichnet werden. (GW.
3, S. 37) Diese Umkehrung des Bewusstseins zum Leben hin, bezieht der Verstand, der eine
Station der Erfahrung des Bewusstseins war, in sich selbst mit ein, indem er schon jenseits der
erscheinenden Welt seine Wahrheit sucht und auch aus der Relation zwischen der
Anziehungskraft und Abstoßungskraft die innere Gesetzlichkeit der Welt zum Vorschein zu
bringen versucht. Kurz gesagt, versucht der Verstand die Wahrheit in der „verkehrten Welt“,
die jenseits der erscheinenden Welt und das Gegenteil der seienden Welt ist, zu finden. Doch
diese Verkehrtheit, sozusagen die erste, die vom Verstand als die wahre Welt wahrgenommen
wird, muss die erscheinende Welt unbedingt zurückrufen, um die wahre Welt zu erklären, da
das Verstandesgesetz nur im Verhältnis zu den erscheinenden Kräften erläutert und
festgehalten werden kann. In diesem Zusammenhang erfährt das Bewusstsein die
Überwindung des unüberbrückbaren Gegensatzes, der zwischen der sinnlichen und der
übersinnlichen Welt liegt. So lange die gegensätzliche Spaltung zwischen beiden Welten im
Bewusstsein selbst nicht aufgelöst wird, das Bewusstsein nur in eine von beiden Welten
versunken ist, handelt es sich um den unauflösbaren Kreislauf der Verkehrung. Mit diesem
Widerspruch wird für uns deutlich, dass die wahre Welt eine einheitliche ist, die den
Gegensatz zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt überwunden hat. Daran
anschließend sieht Gadamer selbst die wahre Welt als „die als Ideal entworfene Wahrheit und
die eigene Verkehrtheit“, anders gesagt, wird die wahre Welt zur Einheit der vom denkenden
Subjekt aufgefassten Welt mit der seienden Realität. (GW. 3, S. 42) Diese einheitliche Welt,
die „die Verkehrtheit der Verkehrung“ durchgesetzt hat, hat nunmehr das auf sich selbst
bezogene Sein als ihr wahres vor Augen. Wenn die Verkehrtheit begrifflich betrachtet wird,
enthält sie de facto bereits die Selbstbezogenheit, insofern die erste Verkehrung die
Möglichkeit der Umkehrung nur in Beziehung auf das Verkehrte hat und umgekehrt. Dieser
Gegensatz in sich selbst und deshalb das Sich–Verhalten meint prinzipiell das lebendige
Selbst, sozusagen das Leben. Gadamer zufolge ist der ganze Lebenszusammenhang der
„Einheit von Denken und Sein“ bei Hegel die wahre Welt, in der das lebendige Selbst sich
nicht nur auf sich selbst bezieht, sondern auch den Anderen findet. (GW. 3, S. 48) Hegels
Konzeption dieser wahren Welt als die Lebensganzheit betreffend, spricht Gadamer davon,
„dass in ihr (= die richtige Welt, KBL) Leben ist und sich im unendlichen Wechsel, in der
beständigen Unterscheidung seiner von sich selbst die Einheit des Selbstseins erhält“. (GW. 3,
108
S. 45) Mit dieser Wiederherstellung der Lebensganzheit stellt Gadamer auch fest, dass Hegels
Hauptthese „Bewußtsein ist Selbstbewußtsein“ bewiesen ist.
Wenn wir den wahrheitssuchenden Übergangsprozess vom Bewusstsein zum
Selbstbewusstsein in Hegels Phänomenologie verkürzt zusammenfassen, ist das Bewusstsein
von Anbeginn an nicht vom Gegenstand, vom Außer-Sich-Seienden abhängig, sondern hat
mit sich selbst, d. h. seinem Selbstbewusstsein, zu tun, da das Bewusstsein sich auf das
Bewusstsein vom Bewussten bezieht, d. h. das Selbstbewusstsein, das wir als das Bewusstsein
über das Gewusste bezeichnen können, hat sich implizit zu seinem Gegenstand. Daraus
resultiert, dass das Verhältnis des Bewusstseins zum Anderssein direkt das auf sich selbst
Bezogensein ist. Vom bisherigen Entwicklungsprozess aus, kommt dem Bewusstsein das
Wissen um sich selbst bzw. das Bewusstsein vom Selbst zu, so dass die Unterschiedenen
unmittelbar ihren Unterschied zu sich selbst enthalten und daher mit sich selbst identisch sind.
Obgleich das Bewusstsein zum Selbst wird und in sich selbst zurück kehrt, meint das zum
Selbst gewordene Bewusstsein jedoch bei Hegel keine Ichhaftigkeit, die der solipsistisch–
isolierten Subjektivität anhaftet. Im Gegenteil ist das selbst mit einbezogene Bewusstsein
schon immer mit dem Anderen verbunden. Daher schreibt Hegel:
„es (= Ich, KBL) ist es selbst gegen ein Anderes, und greift zugleich über dies Andere über,
das für es ebenso nur es selbst ist.“ (PhdG. S. 138, meine Hervorhebung)
Hegels Ansicht zufolge ist das nur mit der eigenen Ichheit verknüpfte Ich, d. h. das Ich, das
lediglich im in sich verschlossenen Verhältnis zum atomisierten Ich hängen geblieben ist,
„nicht Selbstbewußtsein.“ (Ebd.) Das Selbstbewusstsein wird deshalb bei ihm als „das Wissen
von sich selbst, im Verhältnisse zu dem Vorhergehenden, dem Wissen von einem
Anderen“ verstanden. Es richtet sich daher auf sich selbst und umgekehrt auf den Anderen,
anders gesagt, das Selbstbewusstsein ist das gewisse Bewusstsein von sich selbst in der
unverzichtbaren Verbindung zu dem Anderen. Das Selbstbewusstsein, das nur der Selbigkeit
verhaftet ist, kann bei Hegel keinesfalls um sich selbst wissen, weil es von vornherein
ontologisch nicht nur im Verhältnis zum Anderen steht, sondern auch sich selbst nur im
verflochtenen Zusammenhang mit dem Anderen finden kann. Diesen ontologischen Grundzug
des Selbstbewusstseins betreffend, sagt Gadamer, „[i]n der Punktualität des seiner selbst
gewissen Selbst ist noch nicht das wahre Wesen, als Geist und Vernunft, erkannt.“ (GW. 3, S.
49) Daran anschließend gibt Hegel dem Selbstbewusstsein die Charakteristik der
Lebendigkeit, da es sich von sich selbst entzweit und erst durch diese „Abstoßung von sich
109
selbst“ zu sich selbst zurückkehrt. (PhdG. S. 139) Diese Lebendigkeit des Selbstbewusstseins
zeigt sich bei Hegel ursprünglich als die Lebensganzheit, der jedes einzelne Selbst zugehörig
ist, in der es seinen eigenen Charakter erhält. Für uns bedeutet eine solche dynamische
Bewegtheit der Lebendigkeit des Lebendigen, dass das Lebensganze sich um sich selbst dreht,
d. h. den Unterschied in sich macht, sein Anderssein, das im Grunde das Selbst ist, in sich
selbst wieder hineinbettet. Nun liegt es auf der Hand, dass Hegel ebenso das Leben wie das
Selbstbewusstsein als das eine Sein derselben Bewegung bezeichnet, die sich zur Differenz
gleich hinführt, zugleich zu sich selbst zurückkehrt, d. h. seine Identität wiederherstellt.
Kurzum machen die beiden Momente, sowohl das Leben als auch das Selbst, so wie wir das
Lebensganze als die lebendige Allgemeinheit und das Selbst als die lebendige Einzelheit
bezeichnen können, grundsätzlich dieselbe Bewegung der Selbstentzweiung und der
Rückkehr zu sich selbst im Kreislauf des ganzen Lebenszusammenhangs aus. Die Gleichheit
von beiden Elementen betreffend drückt Gadamer sich daher so aus, dass „die
Strukturgleichheit der Lebensbewegung des Lebendigen mit dem Selbstbewußtsein lehrt, daß
das Selbstbewußtsein in Wahrheit gar nicht die Punktualität des >Ich gleich Ich< ist, sondern,
wie Hegel sagt, >>Ich das Wir und Wir das Ich ist<<, das heißt Geist“. (GW. 3, S. 51) In
diesem
Zusammenhang
kann
man
betonen,
dass
Hegels
Grundeinsicht
in
das
Selbstbewusstsein sich auf die Auffassung des intersubjektiven Anerkennungsverhältnisses
stützt, anders formuliert, Hegels Kapitel „Selbstbewußtsein“ von Anbeginn an von der
zwischenmenschlicher Intersubjektivität ausgeht, d. h., dass alle Subjekte zuallererst
voneinander abhängig sind, gewissermaßen in zwischenmenschliche Ketten gelegt sind.
Das Selbstbewusstsein, das bereits in den kompletten Lebenszusammenhang als die
ontologische Basis für sein eigenes Leben eingebettet ist, ist bei Hegel auch „das
Selbstbewußtsein der Begierde“. (GW. 3, S. 53) Das Selbstbewusstsein als ein lebendiges
Leben braucht den Gegenstand als etwas anderes Seiendes für die Selbsterhaltung und daher
tritt das Selbstbewusstsein der Begierde nach dem Anderssein unmittelbar als „das
Bewußtsein des Mangels“ 107 auf. Mit anderen Worten: Das Selbstbewusstsein bezieht sich
zwar auf sich selbst, aber es ist auch geradezu auf das außer sich seiende Andere gelenkt, weil
es um das Nichtsein und das Nötigsein weiß. Dieses Selbstbewusstsein der Begierde taucht in
zwei Formen auf: Einerseits das Selbstbewusstsein der Begierde nach dem Gegenstand um
der biologische Selbsterhaltung willen, andererseits die nach dem anderen Selbstbewusstsein,
das mit sich selbst gleichberechtigt ist. Die Struktur der Selbstbewegung der Begierde stellt
sich daher im Selbstbewusstsein auf den Mangelzustand hin, doppelseitig dar. Im Bewusstsein
107
W. Marx, Das Selbstbewußtsein in Hegels Phänomenologie des Geistes, S. 27.
110
des Bedürfnisses, des Mangelzustandes richtet sich das Selbstbewusstsein der Begierde auf
etwas Anderes als sich selbst, d. h. dass das Selbstbewusstsein weiß, was ihm fehlt, was ihm
nötig ist. Dies veranlasst es, seinen Blick auf das andere zu werfen. An dieser Stelle kann man
davon ausgehen, dass die Begierde bei Hegel das Selbstbewusstsein zur praktischen Handlung,
zur gegenseitigen Reaktion auf die vollständige Verwirklichung hinführt, davon weit entfernt,
die Begierde als eine Motivation der subjektiven Handlung fungiert, durch die das handelnde
Selbst die Übereinstimmung mit dem Anderen und dem Allgemeinen auf der praktischen
Ebene der verflochtenen Reaktion erreichen kann.
Die erste Begierde bei Hegel ist dasjenige Selbstbewusstsein, das sich dem
Gegenstand seines Bedürfnisses unmittelbar gegenüber befindet. Das begehrende Selbst
konzentriert sich in diesem Augenblick auf die zu befriedigende Begierde und richtet sich
dabei auf die bestimmten Dinge. Um seines Überlebens willen ist das Selbst die von dem
Ding abhängige Existenz, die die Dinge verzehrt, ißt und vernichtet. Auf dieser Stufe hat das
Selbst bei Hegel lediglich den „Charakter des Negativen“ (PhdG. S. 139), da die menschliche
Existenz als ein Selbstbewusstsein durch die Ernährung, die Vernichtung des Gegenstandes
bzw. die Befriedigung der Begierde ihr erstes Gefühl von einem Selbst erlangt. Mit anderen
Worten: Das Selbst der Begierde erreicht zunächst mit der Befriedigung der Begierde die
erste Station des Selbstgefühls, d. h., hier fühlt sich das Selbst trotz seiner Abhängigkeit vom
Anderssein lebendig. So kann sich das Selbst lediglich aufgrund dieser biologischen
Begierdebefriedigung als ein Lebendiges bestätigen: Indem die menschliche Lebensweise
unmittelbar in die biologische Begierde einbezogen ist, ist das Selbst zunächst seiner selbst in
dieser Befriedigung bewusst und hat sich selbst in diesem Augenblick lediglich durch den
negativen Akt gefunden. Gleichwohl stellt sich die Begierde jedoch – auch wenn es um die
biologische Selbsterhaltung für das Überleben der menschlichen Existenz geht – dem Selbst
in verschiedenen Situationen immer wieder anders dar, da sich die Befriedigung der Begierde
als ein Grund für das Selbstgefühl in unendlich vielfältiger Manier auf das Anderssein beruft,
gewissermaßen in die unauflösbare Kette der Phänomene der Begierde versunken ist. Darüber
hinaus gelangen die Phänomene der Begierde bei Hegel auf die zweite, noch wesentlichere
Stufe im gesamten Übergangsweg, auf der das Selbstbewusstsein „die Gleichheit seiner selbst
mit sich“ erblickt und sich auf ein „Lebendiges“ bezieht. (PhdG. S. 139) Das bedeutet: Das
Selbstbewusstsein der Begierde findet die Möglichkeit der wirklichen und wahrhaften
Begierdebefriedigung nur in der gemeinsamen Handlungssphäre, in der das Selbst sich mit
seiner Handlung verursachenden Begierde in das Verhältnis zu einem anderen lebendigen,
gleich sich selbst durch die Begierdebefriedigung erhaltenden und sich selbst behauptenden
111
Selbst, hineinversetzt. Das Selbst macht mithin die Erfahrung, dass die eigene Begierde nur
mit dem gleichberechtigten Anderen zusammen verwirklicht werden kann, da die Begierde
sich bereits auf das andere Selbstbewusstsein der Begierde gerichtet hat. Angesichts der
Intensität, die dem Wesen der Begierde zugrunde liegt, erblickt das Selbst den ihm
gleichgestellten, gegenüberstehenden Anderen. Diesbezüglich sagt Gadamer: „Auch die
Begierde, die wirkliches Selbstbewußtsein sucht, kennt zwar – als Begierde – nur sich selbst
und sucht nichts als sich selbst im Anderen, aber sie vermag nur sich selbst in ihm zu finden,
wenn dies Andere selbständig ist und ihm das gewährt, seinerseits nicht auf sich zu bestehen,
sondern von sich absehend >>für das Andere zu sein<<“. (GW. 3, S. 53) Aus Gadamers Sicht
liegt es auf der Hand, dass das begehrende Selbst bei Hegel zunächst im die Begierde
befriedigenden Handlungsverlauf sein Selbstgefühl, d. h. seine auf sich selbst bezogene
Selbstheit erreicht. Zweitens findet sich das Selbst nur im mit sich gleichgesetzten Anderen
wieder, in dem es sich zu erkennen lernt. Drittens nähert sich das Selbst schließlich diesem
Anderen als dem mit sich gleichberechtigten Selbst an. An dieser Stelle kann man
formulieren, dass die Begierde das Selbst zum Wissen um sich selbst und zugleich um das
Andere motiviert.
Nach der Darstellung über die Zuneigung des Selbst zum Anderen, motiviert durch die
Begierde in der Einleitung zum Kapitel „Selbstbewußtsein“, beginnt Hegel nunmehr das
Kapitel, das die Überschrift „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins;
Herrschaft und Knechtschaft“ trägt, mit dem folgenden Satz:
„Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, dass es für ein Anderes an und
für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ (PhdG. S. 145)
Der oben zitierte Satz deutet in erster Linie darauf hin, dass das Selbst, das von vornherein die
dem Anderen entgegenkommende Begierde innehat, seine existenzielle Grundlage im
Verhältnis zum Anderen, noch präziser, in dem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis
findet. Anders formuliert, bezieht sich das Selbst stets auf seinen Anderen, damit es seine
Selbständigkeit gewinnt, so lange es sie noch nicht hat. Die existenzielle Seinsweise des
Selbst stellt sich nunmehr, mit Hegels Worten, einerseits als „Für sich sein“, sozusagen
Selbständigsein und andererseits als „Sein für Anderes“, nämlich Zugehörigkeit zum Anderen,
noch präziser gesagt, Abhängigkeit vom Anderen dar. Hegels Äußerung zufolge ist die latente
Wechselbeziehung zwischen den selbständigen Subjekten bereits als eine ontologische
Grundlage für den Handlungsvollzug, in dem wir uns immer schon befinden, vorausgesetzt,
112
da das Selbst, das seiner selbst bewusst ist, die eigene Selbständigkeit nur vor dem Horizont
der wechselseitigen Anerkennung erhalten kann. Das Selbst bildet deshalb seine Identität,
nämlich sein Für-Sich-Sein nur durch die basale Intersubjektivität als eine grundsätzliche
Seinsweise des lebendigen Selbst aus. Insofern erreicht das Selbst „die vollkommene
Freiheit“ im handlungsorientierten Spielraum und ist als sein wahres Wesen, als „Freies
Sein“ realisiert. In diesem Sinn ist das Selbst bei Hegel „An und für sich Sein“, d. h., dass die
ontologische Grundlage für seine Existenz bereits mit dem Anderen verbunden ist. Es nimmt
das Selbst als sein absolutes Wesen wahr. Von hier aus gelangt das Selbst zu dem
Bewusstsein, dass das wahre Wesen und die wahrhaften Phänomene in der Tat auf der
vorhandenen Verknüpfung mit dem Anderen basieren. Die Phänomene der „Bewegung des
Anerkennens“ haben bei Hegel daher mit dem wahren Wissen um sich selbst und zugleich mit
dem Bewusstsein vom Anderen zu tun. (PhdG. S. 146) Indem das Selbst im Grunde seiner
Selbständigkeit bedarf und um seine Selbständigkeit zu behaupten, auch die Anerkennung
durch das Andere benötigt, wird die Existenz des Anderen unbedingt vorausgesetzt. Somit ist
die
Anerkennungsbewegung
Unterschiedenen“
ausgerichtet.
bei
(PhdG.
Hegel
S.
auf
145)
„die
Durch
Doppelsinnigkeit
diese
Verdoppelung
des
des
Selbstbewusstseins, die die Andersheit des Anderen von sich selbst differenziert, nämlich den
Unterschied in sich selbst ausmacht, schafft das Selbst in der Bewegung des Anerkennens den
interagierenden Handlungsspielraum, in dem die Erwartungen an die künftigen Handlungen,
die handlungsorientierten Anstöße usw. möglich sind. Diese ontologische Grundlage für die
Anerkennungsbewegung und das Selbstsein als ein immer schon mit dem Anderen VerknüpftSein berücksichtigend, sagt Gadamer von der gegenseitigen Angewiesenheit des Selbst auf
die unaufhebbare Andersheit: „Sein eigenes Selbstbewußtsein hängt von dem Anderen ab,
nicht wie der aufzuhebende Gegenstand der Begierde, sondern es hängt in einem geistigeren
Sinne von ihm als Selbst ab.“ Und damit setzt er fort, „ist [es] nicht nur die Bestätigung des
eigenen Selbst, sondern auch die des Anderen.“ (GW. 3, S. 55) Daher kann man davon
ausgehen, dass Gadamer die ontologische Grundlage als ein vorreflexives Verhältnis, das bei
Hegel in der Anerkennungsbewegung verborgen ist, akzentuiert.
Die Verdoppelung des Selbstbewusstseins ist nunmehr bei Hegel auf die Bewegung
des Anerkennens des gedoppelten Selbst übertragen, nämlich zum gegenseitig verflochtenen
Anerkennungsverhältnis übergegangen. Im Verlauf dieses Übergangs zum Bewusstsein vom
Anderen
kann
man
m.
E.
zwei
Elemente
ausmachen,
die
Hegel
in
der
Anerkennungsbewegung enthalten sieht: Einerseits die Liebesbeziehung, zumindest die
affektive und emotionale Beziehung zwischen den Menschen und andererseits die Erfahrung
113
des Kampfes zwischen den Personen in den Konfliktsituationen, die eigene Selbstbehauptung,
die
den
Anderen
ausschließt.
Dem
ersten
unter
den
zwei
Phänomenen
der
Anerkennungsbewegung entspricht die gegensatzlose Liebesbeziehung im familialen
Intimbereich, mit der sich der frühe Hegel, wie wir schon in dem obigen Kapitel gesehen
haben, ausführlich beschäftigt. Aus diesem Grund stellt sich auch die Frage, ob Hegel die
Liebe als das wesentliche Moment der wechselseitigen Anerkennung in der Phänomenologie
außer Acht lässt, da der Kampf in der Anerkennungsbewegung in diesem Kapitel vorgelegt
wird. Gleichwohl gibt Hegel der Anerkennung hier die Struktur, nicht ohne den Modus der
Liebe als die Selbsthingabe für die Anderen und das Wissen um sich selbst im Anderen. Das
erste Phänomen der Anerkennungsbewegung beruht, Hegel zufolge, deshalb darauf, dass das
Selbstbewusstsein „sich selbst verloren“ und dabei „sich selbst im Anderen“ angeschaut hat.
(PhdG. S. 146) In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass Hegel den Selbstverlust in
der Selbsthingabe für die Anderen, die Selbstvergessenheit in dieser Selbstaufopferung als ein
Phänomen der Anerkennung darstellt, bedeutet, dass die Selbsthingabe und die
Selbstvergessenheit geradezu der Liebesbeziehung beim frühen Hegel entsprechen. Darüber
hinaus handelt es sich hier nach Hegel freilich um das Sich–Anschauen im Anderen, auf
dessen Horizont das Selbst sich selbst im Gefühl des geliebten Anderen finden will, den
geliebten Anderen auch mit sich selbst grundsätzlich gleichsetzt. Dies bedeutet allerdings die
wechselseitige Anerkennung. 108
Das zweite Phänomen der Anerkennungsbewegung taucht im sich gegenseitig
ausschließenden Kampf zwischen den Selbständigen im Verlauf des Konfliktes auf. Dieser
Kampf um Anerkennung jedoch, bei dem es grundsätzlich um die Begierde nach der
Ausschließung des Anderen aus sich selbst geht, nämlich den begehrenden Versuch, „das
andere selbständige Wesen aufzuheben“, bezieht sich, wie bereits bekannt, dennoch in der
Phänomenologie weder auf den Kampf um Ehre noch auf den gegensätzlichen Konflikt unter
den Subjekten für die Besitzergreifung im Rechtsverhältnis. Der Kampf um Anerkennung,
den Hegel hier eingeführt hat, fängt zwar mit der unauflösbaren Begierde nach der
grenzenlosen Vernichtung, der Aufhebung der Selbständigkeit des anderen Selbst an, dennoch
ist bei Hegel zusätzlich von entscheidender Bedeutung, dass ein Selbst sich selbst in seinem
Anderen innerhalb des reziproken Handlungsrahmens wiederfinden kann. Um sich selbst im
Anderen wiederfinden zu können, müssen beide Selbstsubjekte ihrerseits miteinander gleich
108
Vgl. zu diesem Interpretationsvorschlag, L. Siep, Die Bewegung des Anerkennens, S. 111 ff. und ders., Der
Kampf um Anerkennung, S. 194, Anm. 57, und damit auch zum Hegelschen Begriff der Liebe im
Anerkennungsverhältnis zwischen den Subjekten in der Phänomenologie, Alfred Elsigan, Sittlichkeit und
Liebe. Ein Beitrag zur Problematik des Begriffs des Menschen bei Hegel, Wien/München 1972, S. 132 ff.
114
gesetzt sein, anders gesagt, muss der Andere ebenso sich selbst wie ein Selbst sich selbst
erkannen. In diesem Falle kann das eine Selbst beim anderen gleichermaßen frei und
selbständig bleiben. Aus diesem Grund „entläßt“ das Selbst mit Hegels Worten, „also das
Andere wieder frei“. (PhdG. S. 146) Durch den Anerkennungsprozess hindurch wird vor
allem deutlich, dass das eine Selbst durch den Anderen als freies und selbständiges Sein
erkannt und damit zugleich anerkannt wird, also daher, dass beide sich selbst anerkennen,
gelangen sie zum wechselseitig anerkannten Freisein.
Damit überträgt Hegel die wechselseitig freie Anerkennung auf das gegenseitig
verschränkte Tun zwischen den interaktiven Subjekten. An dieser Stelle wird deutlich, dass
alle sich gegenüberstehenden handelnden Subjekte von vornherein mit dem handelnden
Anderen verbunden sind und die Handlungsmotivation, die sich ein handelndes Selbst gibt,
durch die Handlungspartner wieder erkennbar und interpretierbar ist, kurzum, die beiden
Extreme unausweichlich voneinander abhängig sind. Diesbezüglich schreibt Hegel:
„Jedes sieht das Andere dasselbe tun, was es tut; jedes tut selbst, was es an das Andere fordert,
und darum, was es tut, auch nur insofern, als das Andere dasselbe tut; das einseitige Tun wäre
unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zustande kommen kann.“ (PhdG. S. 147)
„Das Tun des Einen“ spiegelt sich in dem „Tun des Anderen“ innerhalb des
Handlungsspielraums, in dem beide Handlungspartner sich selbst gleichermaßen als
selbständig und frei bestimmt haben. Dabei fordern beide eine übereinstimmende
Verhaltensweise von sich. Hierfür können wir das folgende Beispiel anführen: Wenn das
Verhalten eines Handlungspartners gegen die vereinbarte Handlungsweise in den
Handlungsräumen verstößt und deswegen den Anderen beleidigt und in der Folge ein
Handlungspartner als Reaktion auf den Anderen gegen seine Beleidigung ihm den Blick
zuwendet, erkennt er sich selbst in dieser Reaktion des Anderen und versucht, seine
Verhaltensweise schließlich zu verbessern. Im Hinblick auf das Alltagserlebnis bietet uns
Gadamer in Bezug auf die wechselseitig anerkennende Handlung in diesem Satz Hegels eine
merkwürdige Auslegung: „Man denke an das Gefühl der Demütigung, wenn jemand einen
nicht wiedergrüßt, sei es, daß er einen nicht kennen will – eine schreckliche Niederlage des
eigenen Selbstbewußtseins -, sei es, daß er einen wirklich nicht kennt, sondern daß man ihn
verwechselt und verkannt hat – auch kein schönes Gefühl.“ (GW. 3, S. 56)
Davon abgesehen führt Hegel die Anerkennungsbewegung in „den Kampf auf Leben
und Tod“, in den ein Selbst den Anderen hineintreibt und aus dem sich die
115
„Ungleichheit“ zwischen beiden Selbsten ergibt, hinein. (PhdG. S. 147 u. S. 149) Im Kampf
auf Leben und Tod, in den das eine Selbst den Anderen hineinzwingt, muss sich ein
bezwungenes Selbst durch die Bereitschaft zum „Daransetzen des eigenen Lebens“ bestätigen,
nämlich sein Leben aufs Spiel setzen, da es ihm in diesem Augenblick nur um die
Selbstbestätigung vor dem Gegenüberstehenden geht. (PhdG. S. 148) Gadamers Ansicht nach
spielt der Tod bei Hegel „die systematische entscheidende Rolle“. (GW. 3, S. 56) Denn die
Anerkennungsbewegung führt nunmehr zum übermäßigen Widerstand gegeneinander in den
lebensgefährlichen Konfliktsituationen. Beide Betroffenen, die vor Todesfurcht zittern, sind
voneinander getrennt. In diesem Fall kann das eine Selbst die Selbstbestätigung, die
Anerkennung durch den Anderen. nur dann gewinnen, wenn der Andere aufgehoben, beseitigt
wird. Aber diese Beseitigung bzw. die brutale Vernichtung des Lebens des interaktiven
Partners ist unmöglich, da eine Anerkennung ohne das Leben des Handlungspartners
unmöglich ist. Deswegen spricht Hegel von der „Selbständigkeit ohne die absolute
Negativität“. (PhdG. S. 149) Um von dem Anderen anerkannt zu werden, macht das eine
Selbst im Anerkennungsprozess die deutliche Erfahrung, dass das Leben des Anderen nicht
vernichtet werden darf, obwohl es zunächst sein eigenes Leben in den Kampf, in dem seine
biologische Existenz negativ aufgehoben werden könnte, einbringt. Kurzum bedarf die
Anerkennung des Selbst als das selbständige Freie unabdingbar der Existenz des Anderen.
Mit anderen Worten: Die erste Bedingung für die Anerkennung ist das Leben, das
unvermeidbar das Erzittern vor der Todesfurcht enthält, da die geforderte Anerkennung ohne
das Leben nicht erreichbar wäre. In diesem Moment von Leben und Tod stabilisiert sich die
Anerkennungsbewegung bei Hegel im Herr–Knecht–Verhältnis.
Hegels Darstellung des Herr–Knecht–Verhältnisses im Anerkennungsprozess zeigt m.
E. die Ungleichheit zwischen beiden Handlungsextremen, wie die Überschrift dieses Kapitels
bereits angedeutet hat. Die Überschrift des vorliegenden Kapitels trägt bekanntlich das
Verhältnis von „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins“. Aus diesem
Grund kann man davon ausgehen, dass sich Hegels Grundgedanke weder an der Entstehung
der Herrschaft in der vorgeschichtlichen Gesellschaft, noch an der geschichtsphilosophischen
Anwendung auf die geschichtlichen Entwicklungsphasen der Menschheit orientiert. Vielmehr
beruht Hegels Denkansatz sowohl im vorliegenden Kapitel als auch in diesem gesamten Werk
auf „einem exemplarischen Lernen oder Erfahrung“ des Selbstbewusstseins. 109 So gesehen
besteht der Kernpunkt des Herrschaft–Knechtschaft–Verhältnisses darin, wie das knechtische
Bewusstsein im Erfahrungsprozess bzw. in der Erfahrung der Anerkennung zwischen den
109
Otto Pöggeler, Hegels Idee, S. 259.
116
Gegenüberstehenden über die Unselbständigkeit hinaus zur Selbständigkeit gelangt, da die
wahre Anerkennung, wie der erste Satz dieses Kapitels bereits angedeutet hat, auf der Seite
der Knechtschaft vollendet ist. Das bedeutet, dass das knechtische Bewusstsein grundsätzlich
den gangbaren Weg von dem „Sein für Anderes“ zu dem „Für-sich-selbst-sein“ durchschreitet,
nämlich die Einheit von dem „Sein für Anderes“ und dem „Für-sich-selbst-sein“ in der
Erfahrung des Bewusstseins erlangt, während die Herrschaft, die nur das Moment des „Fürsich-seins“ kennt, in ihrem ganzen Entfaltungsprozess in der Unselbständigkeit versunken ist.
So gilt Gadamer Hegels Grundkonzeption über das Herrschaft–Knechtschaft–Verhältnis als
„eine >idealtypische< Konstruktion“. 110 (GW. 3, S. 57)
Dementsprechend ist der Ursprung der Ungleichheit in der Anerkennungsbewegung
des Selbstbewusstseins bei Hegel zunächst das Wechselspiel zwischen Leben und Tod. Die
eine Seite meistert im Konfliktverlauf ihr „An–das–Leben–Geknüpftsein“, d. h. ist bereit, ihr
Leben unter riskanten Kampfsituationen aufs Spiel zu setzen. Dabei zwingt sie die Anderen
auch ins Schlachtfeld hinein, wobei beide Betroffenen die Lebensgefahr ertragen müssen. Der
andere Pol, der vom attackierenden Handlungspartner in die unbehagliche Situation
hineingetrieben wird, zittert vor Todesangst und ist damit zugleich auf das eigene Überleben
zurück geworfen. Daraus folgt, dass die eine Seite sich selbst als den Herrn bezeichnet,
während die andere als der Knecht auftritt, d. h. der Herr mit seinem Selbständigsein den
Knecht als seinen einzigen Handlungspartner überwältigt, wohingegen der Knecht dem Herrn
unterworfen, seinem Unselbständigsein verfallen ist. Der Herr zwingt den Knecht als einen
Diener, für sein eigenes Überleben zu dienen und für die Erhaltung seines natürlichen Lebens
bzw. für die Beschaffung der Lebensmittel Sorge zu tragen. So „bezieht sich der Herr
mittelbar durch den Knecht auf das Ding“, weil der Herr auf der ersten Stufe der Erfahrung
der Anerkennung „die Macht über dies Sein“ hat. (PhdG. S. 151) „Die Macht über dies Sein“,
die der Herr mit der Selbstbestätigung über seine Selbständigkeit innehat, meint in diesem
Kontext geradezu die Macht über das Leben. Der Herr beherrscht deshalb nicht nur das Leben
des Knechtes, sondern auch das Sein des Dinges, indem er die Überwindung der
Abhängigkeit von seiner Begierde nach dem Leben im Kampf erwiesen und dadurch die
Unabhängigkeit von den Gegenständen der Befriedigung der Begierde präsentiert hat,
während der Knecht von seiner Begierde nach dem Überleben im Kampf abhängig ist und
dabei auch die Abhängigkeit von den Gegenständen der Befriedigung der Begierde zum
Ausdruck bringt. Der Ansicht des Herrn zufolge muss der Knecht nunmehr die Dinge allein
erarbeiten, um beide Begierden befriedigen zu können, umgekehrt bezieht sich der Herr nur
110
Vgl. Ebd. S. 264.
117
auf den vom Knecht bearbeiteten Gegenstand. Kurz gesagt, ist der Herr geradezu die Macht
über die Gegenständlichkeit, demgegenüber ist der Knecht die Unterwerfung unter diese
Gegenständlichkeit. In diesem Fall sind der Herr und der Knecht durch den bearbeiteten
Gegenstand miteinander verbunden. An dieser Stelle hat der Herr nunmehr nur „die reine
Negation“, den „Genuß“, weil er nicht mehr dem Ding als dem „selbständige[n] Sein“,
sondern dem Ding als dem unselbständigen Sein, nämlich dem ausgearbeiteten Gegenstand
der Begierde gegenübertritt und lediglich durch die Vernichtung dieses bearbeiteten
Gegenstandes zu seinem Selbstgefühl kommt und sich selbst bestätigt. (Ebd.) Für diesen
reinen, vernichtenden Genuss hat der Herr daher „den Knecht zwischen es (= Ding, KBL) und
sich eingeschoben“. (Ebd.) Daraus folgend können wir die Wechselbeziehung des Herrn
angesichts eines doppelseitigen Verhältnisses verstehen: Einerseits die Beziehung auf den
Knecht durch das Sein, nämlich das Leben, andererseits die auf das Sein, also das Leben
durch den Knecht.
Darüber hinaus führt das Verhältnis von Herr und Knecht bei Hegel auch zu einem
Resultat eines „einseitige[n] und ungleiche[n] Anerkennen[s]“, d. h. der Asymmetrie
zwischen beiden Extremen im Anerkennungsverhältnis. (PhdG. S. 152) Für uns kommt es vor
allen Dingen auf „ein verkehrtes Selbstbewußtsein“, nämlich auf die Verkehrung in der
Erfahrung der Anerkennung des Selbst an. (GW. 3, S. 58) In Bezug auf die Verkehrung der
Erfahrung des Selbst von Herr und Knecht sind hier zwei Aspekte zu betonen: Um als Herr
anerkannt sein zu werden, braucht er zum einen notwendigerweise den anerkennenden
Anderen. Doch dieser Andere ist von dem Herrn selbst in die Unselbständigkeit getrieben
worden, da der Herr dem Anderen im Konfliktverlauf dessen Selbständigkeit genommen und
ihn verknechtet hat. Nun zeigt sich, dass dieser Herr als das selbständige Sein nur durch den
unterworfenen Anderen, den Knecht als das unselbständige Sein, anerkannt wird. In diesem
Fall kann der Herr sein Bedürfnis nach Anerkennung durch die andere Selbständigkeit
niemals erfüllen, da der Knecht, der andere Handlungspartner, über keinerlei Selbständigkeit
verfügt. Um überleben zu können, bedarf der Herr andererseits der Arbeit des Knechtes, noch
präziser gesagt, benötigt er den ausgearbeiteten Gegenstand für die Befriedigung seiner
Begierde, da dieser nicht direkt auf dem natürlichen Ding beruht und er deshalb nur durch die
Bearbeitung des Knechtes sein natürliches Leben weiter leben kann. Hier kann man „die
Bedürfnisgemeinschaft“ 111 von Herrschaft und Knechtschaft erkennen, da der Knecht sich
einerseits für das Leben durch die Unterwerfung unter die Herrschaft verbürgt hat, um für die
Befriedigung der Begierde des Herrn zu sorgen und sich andererseits um sein eigenes
111
W. Marx, Selbstbewußtsein in Hegels Phänomenologie des Geistes, S. 80.
118
Weiterleben kümmert. Weit davon entfernt, ist der Herr in die Abhängigkeit vom Knecht, die
Unterwerfung unter den Genuss und die Befriedigung der Begierde geraten, schließlich der
Unselbständigkeit verfallen, indem er sich, wie bereits erwähnt, auf sein eigenes Sein, d. h.
sein eigenes Leben nur durch den Knecht bezieht, den Gegenstand für seinen Genuss nur
durch die Bearbeitung durch den Knecht gewinnt und verzehrt, das Streben nach dem Genuss
damit zunehmend verstärkt und er in einen unauflösbaren Kreislauf verstrickt wird.
Infolgedessen ist der Herr nicht nur in die Abhängigkeit vom Knecht versunken, sondern auch
an das Ding selbst, nämlich den Gegenstand für seinen Genuss gefesselt. In diesem Moment
ist
die
Knechtschaft
deshalb
zur
„Wahrheit
des
selbständigen
Selbstbewußtsein[s]“ gekommen, da sie ein „in sich zurückgedrängtes Bewußtsein“, ein „aus
seinem Außersichsein auf sich selbst zurückgekommenes Bewußtsein“ ist. (PhdG. S. 152 u.
GW. 3, S. 59)
In Bezug auf diese Rückkehr des wahren Selbstbewusstseins zu sich selbst oder seiner
Innerlichkeit kann man m. E. weiter schlußfolgern, dass die Abhängigkeit vom Ding als
solchem, die Unterwerfung unter den Gegenstand für den Genuss nicht nur beim Herrn zu
finden ist, sondern auch die fundamentale Problematik der modernen Menschheit in der
technischen Welt ist, da wir gegenwärtig in einem Übermaß von Verbrauchsgütern leben und
dieser Konsum, der infolge der Zunahme unseres unendlichen Strebens nach Genuss und
Wohlstand überflüssigerweise produziert wird, uns unterjocht. Daraus folgt, dass wir uns
selbst an die von uns produzierten Dinge ketten. Diesbezüglich sagt Gadamer, dass „die Kette
der Dinge zerbrochen werden muß, wenn Freiheit sein soll.“ (GW. 3, S. 64)
Angesichts dieser Abhängigkeit vom Ding als solchem ist der Herr nunmehr vom
interaktiven Schauplatz der Erfahrung der Anerkennung des Selbst ausgeschlossen, da er
nicht den selbständigen Anderen, sondern nur den unselbständigen, ihm unterworfenen
Anderen gesehen hat, obwohl er sich selbst als ein „Für-sich-selbst-sein“ bestimmt hat. Das
wahre Anerkennungsverhältnis ist bei Hegel, wie wir schon erwähnt haben, das gegenseitige
Wechselspiel unter den gleichberechtigten Subjekten, d. h., was der Herr gegen den Knecht
tut, das soll der Knecht gegen den Herrn in seiner Handlungsweise ebenso tun können und
umgekehrt. Aber in diesem Herr-Knecht-Verhältnis gibt es kein gegenseitiges Wechselspiel
und keinen wechselseitigen Einfluss aufeinander. Um ein Anerkanntes sein zu können, soll
das Selbst nicht nur das „Für-sich-selbst-sein“, sondern auch das „Sein für Anderes“ sein. Mit
anderen Worten: Das Selbst muss sich selbst als ein selbständiges Wesen in der
intersubjektiven Beziehung durch das andere selbständige Selbst bestätigen und sich selbst in
diesem Anderen anschauen können. Demzufolge müssen beide Beteiligten an dieser
119
symmetrischen Beziehung die Erfahrung machen, dass meine Selbstbestätigung nur von der
Anerkennung durch meinen Anderen, nämlich dem Du meiner selbst, unumgänglich abhängt
und umgekehrt. Insofern wird das knechtische Bewusstsein nunmehr durch den
Bildungsprozess hindurch diese wahre Anerkennung erreichen, weil es sich aus dem „Sein für
Anderes“ zu dem „Für-sich-selbst-sein“ im Verlauf dieses Anerkennungsprozesses
entwickelt. Die wahre Anerkennung des Selbst, die Einheit zwischen beiden Momenten wird
nicht vom Herrn, sondern vom knechtischen Bewusstsein vollständig vollzogen.
Nun beginnt die Selbstwerdung des knechtischen Bewusstseins, die Repräsentation der
latenten Selbständigkeit bei Hegel mit dem „absoluten Herr“, d. h. mit der „Furcht des Todes“.
(PhdG. S. 153) Dieser Herr ist der endgültige, der jedem Selbst einmal schicksalhaft
widerfahren wird. Die absolute Furcht vor dem Tod vermag nach wie vor das „ganze
Wesen“ des Selbst aufzulösen. Aus diesem Grund des unentrinnbaren Schicksals zittert jeder
vor dem absoluten Herrn. Aus dieser Angst vor der absoluten Macht über das Leben, nämlich
der Negationsmöglichkeit alles Daseins, haben alle Selbständigen vor diesem Herrn
niedergekniet. Doch diese Angst hat von Anbeginn an nur das knechtische Bewusstsein
erfahren, nicht das herrische, da diese negierende Macht das knechtische Bewusstsein in die
Unterwerfung unter das herrische hineingetrieben hat. Mit der leidenden Erfahrung wird das
knechtische Bewusstsein gezwungen, an der unmittelbaren Dinghaftigkeit festzuhalten.
Dennoch, durch die Beziehung mit diesem fremden Ding weiß es über „das absolute
Flüssigwerden alles Bestehens“, während das herrische immer noch an die natürliche
Dinghaftigkeit gefesselt ist. Dadurch, dass das knechtische Bewusstsein erfährt, dass diese
negierende Macht des absoluten Herrn alle Daseienden bis in die menschliche Existenz zu
vernichten vermag, hat es die Fähigkeit, dem erzwungenen Festhalten an den Dingen zu
entgehen und gleichzeitig zu sich selbst zurückzukommen, nämlich „sich selbst zum
Gegenstand
zu
machen“.
Mit
dieser
Rückkehr
zu
sich
selbst
bzw.
der
Selbstvergegenständlichung wird das knechtische Bewusstsein zu allererst zum Selbst. Daran
anknüpfend wirft es nicht mehr dem vorübergehenden, verschwindenden Zufall, sondern der
permanenten Ewigkeit seinen Blick zu.
Das knechtische Bewusstsein ist von nun an durch die Rückkehr zu sich selbst in „das
arbeitende Bewußtsein“ versetzt, d. h., dieses Bewusstsein wird zum „Bewußtsein des
Könnens“, indem es sich zunächst seiner selbst in seiner Selbständigkeit bewusst wird und
alsbald von der Unmittelbarkeit der natürlichen Gegenständlichkeit befreit wird. (PhdG. S.
154 u. GW. 3, S. 61) Auf dieser Stufe präsentiert es von vornherein eine zweifache Fähigkeit:
Das arbeitende bzw. knechtische Bewusstsein ist zum einen das formende, das dem
120
natürlichen und deshalb unmittelbaren Gegenstand die Form geben kann und sich selbst in
diesem geformten Gegenstand erblickt. Mit anderen Worten: Das arbeitende Bewusstsein hat
die primäre Fähigkeit, das natürliche Ding, den augenblicklichen Zufall in das beständige
Fortbestehen umzuwandeln, sich selbst in diesem von sich selbst konstruierten Gegenstand,
nämlich in seinem Werk, wieder zu finden. In Bezug auf die unmittelbare Begierde ist der
Gegenstand nur entleert, hat vor der unmittelbaren Negation der Begierde kein Fortbestehen,
während das arbeitende Bewusstsein in das Wissen um sein „Können“ eintritt, dass seine
Begierde zunächst eingeschränkt werden muss, dass es durch diese Einschränkung der
Begierde den Gegenstand bearbeiten kann und ihm so seine dauerhafte Form gibt und sich
schließlich selbst in der gegenständlich ausgearbeiteten Gestalt wieder erkennen kann. Bei
Hegel ist das arbeitende Bewusstsein deshalb „gehemmte Begierde“, die eigentlich auf die
reflexive Internalisierung des Bewusstseins verweist. (PhdG. S. 153) Mit anderen Worten:
Die Überwindung der äußerlichen Unmittelbarkeit wird nunmehr zu „einer Befreiung des
eigenen Selbstbewußtseins“. (GW. 3, S. 62) Das Bewusstsein erlangt damit zum anderen die
Fähigkeit, den Weg von der bearbeitenden Beziehung mit dem fremden Gegenstand zum
sich–selbst–Bilden zu gehen, sich selbst in diesem Bildungsprozess auf ein lebendiges Selbst
zu verlagern. In diesem sich selbst konstruierenden Bildungsprozess erlangt das Bewusstsein
die Selbständigkeit bzw. das Bewusstsein vom freien Selbst und gleichzeitig das vom
Anderen: Aufgrund der bestimmten Einschränkung der Begierde erlangt das Bewusstsein
nicht nur die Rückkehr zu sich selbst, sondern auch zum Anderen, kurzum, die Einheit von
dem „Für-sich-selbst-sein“ und dem „Sein für Anderes“. Anders gesagt hat das Selbst in
diesem zu vollbringenden Prozess nicht nur das Wissen um „Das kann ich“, das
Selbständigsein des freien Willens, sondern es bezieht sich auch als ein Lebendiges auf den
Anderen, d. h. findet ebenso wohl das außer sich Seiende, ja das Fremde wie das mit sich
selbst identisch seiende Wesen. (GW. 3, S. 62) In diesem Sinne bleibt das Selbst, so Gadamer,
„in der Freiheit des Könnens“, in der nicht nur die Fremdheit, sondern bald schon die
Eigenheit aufgehoben wird, so dass beide den höheren einheitlichen Horizont der
Lebensganzheit gemeinsam vor Augen behalten können. 112 Vor diesem harmonischen
112
Hier kann man vor allen Dingen sagen, dass die „Freiheit des Könnens“ in Gadamers Dialoghermeneutik
von vornherein das praktische Können, das im Grunde darum weiß, dass die Freiheit begrenzt ist, darstellt.
Aus dieser Sicht geht es nicht um die grenzlose Freiheit, sondern um das Halten des Gleichgewichts in der
begrenzten Freiheit. Zum praktischen Können in Gadamers Denken, vgl. Hans–Georg Gadamer, „Theorie,
Technik, Praxis, in: ders., Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a. M. 1993, S. 7–49. Das
Bewusstsein des Könnens, das aus hermeneutischer Sicht mit dem wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein zu
tun hat, trifft immer schon auf seinen bestimmten Handlungszusammenhang, in dem der existenzielle
Entwurf in seiner Seinsmöglichkeit realisierbar ist und es findet deshalb seine Freiheit nur unter der
geschichtlich und gesellschaftlich bedingten Situation. Somit hat das praktische Können von vornherein eine
ethische Konnotation. Nun sagt Gadamer: „Sich theoretisch verhalten zu können gehört also selbst zur
121
Horizont des Lebensganzen weiß das Selbst, mit Gadamers Worten, dass „ich und du dasselbe
sind“, wie „Tun des Einen“ und „Tun des Anderen“ bei Hegel gleich sind, d. h. was das eine
tut, das tut das Andere gleich und umgekehrt. (Ebd.)
Um sich selbst als das freie Selbständige anschauen zu können, muss das Selbst
nunmehr durch die Selbstprüfung und die Selbstkorrektur den Weg des Leidens zum
„Bewusstsein der Freiheit“ beschreiten. Auf diesem Weg leitet es aus der innerlichen
Enthaltsamkeit, wie es Hegel mit seinem Wort „gehemmte Begierde“ ausgedrückt hat, die
allgemeine Gemeinsamkeit ab, in der alle Beteiligten, die als das selbständige Selbst
aufeinander bezogen sind, sich selbst gleich bestimmen und verwirklichen können. Da jeder
Beteiligte hieraus gelernt hat, dass seine Freiheit immer schon auf seinen Anderen angewiesen
ist, geht es bei allen Beteiligten nicht nur um die eigene Selbständigkeit und die eigene
Freiheit, sondern es kommt auch auf die gemeinsame Freiheit in der gesellschaftlichen Sphäre
an. In diesem Sinn hat die allgemeingültige Verständigung zwischen allen Beteiligten mit der
„Gemeinsamkeit der Freiheit“ 113 zu tun, in der jeder Einzelne, sich selbst erhaltend, sich auf
den Anderen bezieht, ohne einen Selbstverlust zu erleiden, und die gemeinsame
Allgemeinheit in sich aufnimmt.
113
Praxis des Menschen. Es ist ohne weiteres klar, daß es die >theoretische< Gabe des Menschen war, die es
ihm möglich machte, von den unmittelbaren Zielen seiner Wünsche Abstand zu gewinnen, seine Begierde
zu hemmen, wie es Hegel genannt hat, und damit ein >gegenständliches Verhalten< zu begründen, das sich
sowohl in der Herstellung von Werkzeugen wie in der menschlichen Sprache ausbildet. In ihm entspringt als
eine weitere Abstandnahme die Möglichkeit, all sein Tun und Lassen, als ein gesellschaftliches, auf die
Zwecke der Gesellschaft hinzuordnen.“ (S. 30)
W. Marx, Ebd., S. 99.
122
IV – 2. Die anerkennende Gewissensdialektik von dem „Schönen“ und dem „Bösen“
Da das wechselseitige Anerkennungsverhältnis zwischen Herr und Knecht im Kapitel
„Selbstbewußtsein“, wie wir oben gesehen haben, nur vom knechtischen Bewusstsein
einseitig vollendet wird und das durch diesen sich selbst negierenden Weg erreichte
Bewusstsein damit auch nur auf das unerreichbare Unendliche ohne die lebendige
Wirklichkeit fixiert ist, wird hier vor allem deutlich, dass die hier gelungene Anerkennung ein
defizitäres Verhältnis ist. Um Hegels gesamten Denkansatz zum wechselseitigen
Anerkennungsverhältnis in der Phänomenologie des Geistes in Anknüpfung an Gadamers
Hermeneutik komplett und supplementär zu skizzieren, müssen wir nunmehr Hegels
Gewissensdialektik
114
unsere Aufmerksamkeit zuwenden, wobei er die „gegenseitige
Anerkennung“ als die konstruktive Gestalt des absoluten Geistes unter dem Titel „c. Das
Gewissen, Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“, das vor dem letzten Teil der
Phänomenologie, dem VII. Teil „Die Religion“, eingeordnet ist, thematisiert. 115 Vor der
Darstellung über das Anerkennungsverhältnis in der Gewissensdialektik, gewissermaßen „das
böse Gewissen und seine Verzeihung“, sollte der weitere Verlauf der Bewegung des
Selbstbewusstseins, der auf die Erfahrung des Selbstbewusstseins im Herrschaft–
Knechtschaft–Verhältnis folgt, zusammengefasst werden, da „das religiöse Bewusstsein“, mit
dem „das unglückliche Bewusstsein“ zusammenhängt, sich aus dieser Entfaltung ergibt. 116
Nachdem das Bewusstsein die eigene Freiheit in der Bewegung des Anerkennens zwischen
114
115
116
Vgl. Dietmar Köhler, „Hegels Gewissensdialektik“, in: G. W. F. Hegel Phänomenologie des Geistes, hrsg. v.
ders. und Otfried Höffe, Berlin 1998, S. 209 – 225 und dazu, Hermann Lübbe, „Zur Dialektik des
Gewissens nach Hegel“, in: Hegel–Studien Beiheft 1, hrsg. v. Hans–Georg Gadamer, Bonn 1984 (2. Aufl.),
S. 241 – 261. H. Lübbe versucht besonders, Hegels sozialphilosophischen Ansatz in Bezug auf die
Gewissensdialektik in der Rechtsphilosophie auf die liberalistische Perspektive hin auszulegen. Seiner
Ansicht zufolge geht es bei Hegels Auffassung über die Gewissensproblematik in der Theorie der Moralität
um die Frage, wie die individuelle Gewissensfreiheit als ein unaufhebbares Grundrecht im institutionellen
Gesellschaftssystem bestimmt werden kann. Hegels Begriff des Gewissens hat daher nach H. Lübbe die
Funktion als die letzte Instanz für die autonome Handlung des moralisch sich selbst entscheidenden Subjekts.
Bei dieser subjektiven Selbstentscheidung handelt es sich auch um die Angemessenheit der subjektiven
Handlungsnormen, der eigenen Gewissenhaftigkeit am geltenden Maßstab der Regeln und Gesetze, dem
normativen Guten.
Auf die gesamten Stufen der Erfahrung des Bewusstseins rückblickend, schreibt Hegel selbst über dieses
Kapitel im letzen Teil der Phänomenologie, „das absolute Wissen“: „Dieser (= Begriff, KBL) ist an der
Seite des Selbstbewußtseins selbst auch schon vorhanden; […] Er ist also derjenige Teil der Gestalt des
seiner selbst gewissen Geistes, der in seinem Begriff stehen bleibt und die schöne Seele genannt
wurde.“ (PhdG. S. 580) Dieser Selbstankündigung Hegels zufolge, können wir andeutungsweise die These
aufstellen, dass das Kapitel „Das Gewissen“ als die Endstation der gesamten Entfaltung der
Phänomenologie betrachtet werden kann. Von einem Gesichtspunkt der Interpretation von Hegels
Phänomenologie aus betrachtet, kann daher gesagt werden, dass der Teil „(BB) Der Geist“, der m. E. der
praktische Geist genannt werden sollte, vor dem Übergang zum absoluten Wissen als der wissenschaftlichen
Erkenntnis der Endzweck der Phänomenologie ist.
Vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, S. 110 – 118.
123
dem Herrn und dem Knecht erfahren hat, begibt es sich selbst in den Prozess vom
„Stoizismus“ über den „Skeptizismus“ hin zum „unglücklichen Bewußtsein“.
Im Stoizismus zeigt das Bewusstsein seine eigene Freiheit nur in der abstrakten
Denkform. Infolgedessen sieht dieses reine „denkende Wesen“ von der Wirklichkeit als
seinem konkreten Inhalt ab und hält deshalb nur an der „einfachen Wesenheit des
Gedankens“ fest, ohne lebendig zu sein und die sich selbst negierende und deshalb
entwickelnde Bewegung, die Selbstdifferenzierung, zu durchlaufen. (PhdG. S. 157) Dennoch
ist der Stoizismus in erster Linie ein Freiheitsdenken, d. h. dass er, so Hegel, „die Freiheit im
Denken“ als „den reinen Gedanken“, der deshalb nur die inhaltlose Form ist, in den
Vordergrund stellt. (PhdG., S. 158) Nach der Erfahrung der Inhaltslosigkeit im stoischen
Denken errichtet das skeptische Bewusstsein den Widerspruch zwischen Denken und Tun,
Hegels
Äußerung
zufolge,
„das
gedoppelte
widersprechende
Bewußtsein
der
Unwandelbarkeit und Gleichheit und der völligen Zufälligkeit und Ungleichheit mit sich“.
(PhdG. S. 162) Bei der Entlarvung des in sich verborgenen Widerspruchs kreist dieses
Bewusstsein um die verwirrende Selbstnegation, die im unhaltbaren Zweifel an der Wesenheit
und der Wahrheit, im unauflösbaren Gegensatz zwischen dem Realen und dem Idealen, den
Dingen und dem Denken liegt. In dieser Erfahrung seines unauflösbaren Gegensatzes, anders
gesagt, vor allem mit der Kenntnis von seiner Endlichkeit und seiner Beschränktheit, führt das
Bewusstsein sich selbst bei Hegel zum religiösen Bewusstsein hin, das, wie wir schon im
Moment des Todes als dem absoluten Herrn im Herr–Knecht–Verhältnis gesehen haben, nach
dem ewigen Unwandelbaren strebt. Die negative, substanzlose Bewegung des Bewusstseins
bzw. die unendliche Hin– und Herbewegung der unruhigen Negation führt das Bewusstsein
nunmehr zu der Sehnsucht nach dem substanziellen „Unwandelbaren“. Gleichwohl ist dieses
Bewusstsein lediglich durch die Sehnsucht nach dem unerreichbaren Jenseits im religiösen
Glauben erfüllt und deshalb befindet es sich noch immer im Widerspruch zwischen dem
„Wandelbaren“ und „Unwandelbaren“. Mit anderen Worten: Dieses gläubige Bewusstsein als
das religiöse wendet seinen sehnsüchtigen Blick in Richtung auf die göttliche Ewigkeit hin,
denn dort will sich das endliche Selbst mit der unendlichen Göttlichkeit vereinen. Doch trotz
dieser unermüdlichen Sehnsucht nach der göttlichen Ewigkeit ist seine Wirklichkeit von der
Unendlichkeit, Göttlichkeit immer noch weit entfernt, eher an das Leiden an der Sünde
gefesselt. Aufgrund dieses unauflösbaren Selbstwiderspruchs nennt Hegel dieses Bewusstsein
hier „das unglückliche“. Das unglückliche Bewusstsein leidet nach Hegels Vorstellung
permanent unter dem unentrinnbaren „Schmerz über dieses Dasein und Tun“ in seinem
ganzen Leben. (PhdG. S. 164) Das unglückliche Bewusstsein spürt zunächst jenen Schmerz,
124
der sich einerseits aus dem ontologischen Zwiespalt zwischen der ewigen Göttlichkeit und
seiner irdischen Existenz und sich andererseits aus dem völlig zufällig stattfindenden Wandel
der Wirklichkeit ergibt und glaubt, diesen Zustand nur durch die „Andacht“ oder das
Andenken an das reine Sein, das von der wirklichen Lebendigkeit weit entfernt ist,
überwinden zu können. Diese Möglichkeit, seine Endlichkeit mit der Göttlichkeit zu vereinen,
findet das unglückliche Bewusstsein deshalb in der asketischen Selbstnegation, auf deren
Weg seine Begierde, Triebe und die Tatsache der erscheinenden Welt usw. vertilgt werden
sollen. Durch die Askese, also die „Verzichtleistung“, die sich auf sich selbst bezieht, alleine,
glaubt dieses religiöse Bewusstsein nunmehr die Vereinigung mit der Göttlichkeit erlangen zu
können. Überdies wird „Sein Genuß“, wie Hegel schreibt, unabdingbar zum „Gefühl seines
Unglücks“, obwohl das Unglück grundsätzlich in der grenzenlosen Vertilgung aller Naturen
steht. (PhdG. S. 174) Durch diese absolute Selbstvernichtung geht dieses Bewusstsein zur
selbstlosen Substanzialität über. Doch trotz der Selbstlosigkeit in Gestalt des Bewusstseins
bildet die „wirklich vollbrachte Aufopferung“, sozusagen die Selbstopferung des
Bewusstseins, die Basis für das gewissenhafte Handeln, da die Besinnung auf die innere
Moralität durch diese Selbstverzichtsleistung zustande kommt. (PhdG. S. 176)
Vor der Darstellung über das böse Gewissen und seine Verzeihung im VI. Teil der
Phänomenologie, hat Hegel Einspruch gegen die zeitgenössischen Perspektiven, 117 vor allem
gegen die Kantische Moralität erhoben, die sich auf das Postulat der Unsterblichkeit der
erhabenen Seele des Menschen und der als das höchste Gute geltenden Substanz stützt. Nach
seiner Kritik an der abstrakten Allgemeinheit, dem unerfüllbaren Anspruch auf die allgemeine
Egalität in der französischen Revolution, 118 fordert Hegel selber den Übergang der absoluten
Freiheit
„in
ein
anderes
Land
des
selbstbewußten
Geistes“,
nämlich
zu
der
Auseinandersetzung mit dem moralischen Bewusstsein seiner Zeit. Diese Forderung Hegels
kommt zustande, da der abstrakte Anspruch auf die unbedingte Berücksichtigung der
individuellen Rechte und die darauf gestützte Egalität in der französischen Revolution, Hegels
Ansicht zufolge, automatisch die negative Zerstörung, nämlich die sich permanent
verändernden Institutionen und Gesetze unterstützt. (PhdG. S. 441) Daran anschließend weist
117
118
Vgl. Zu Hegels Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Intellektuellen, insbesondere den Romantikern,
D. Köhler, Ebd., S. 213 – 216 und dazu L. Siep, Ebd., S. 211 – 214, auch zu Hegels Konzeption vom
Gewissen, dem moralischen Bewusstsein in der kritischen Auseinandersetzung mit der Fichteschen
Gewissensethik und der religiös begründeten Gewissensethik Schellings, Christian Iber, „Religiös
begründete Moral in Hegels >>Phänomenologie<< und Schellings >>Freiheitsschrift<<“, in: Hegel –
Jahrbuch 2001, Phänomenologie des Geistes, Erster Teil, hrsg. v. Andreas Arndt, Karol Bal und Henning
Ottmann, Berlin 2002, S. 225 – 231.
In seiner Rechtsphilosophie hält Hegel die allgemeine Egalität in der französischen Revolution für „die
Furie des Zerstörens“. Er schreibt, dass „das Volk in der Revolution die Institutionen, die es selbst gemacht
hatte, wieder zerstört hat, weil jede Institution dem abstrakten Selbstbewußtsein der Gleichheit zuwider
ist.“ G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, § 5.
125
Hegel unter dem Titel „die moralische Weltanschauung“ darauf hin, dass das Postulat der
„Harmonie der Moralität und der Natur“, sozusagen der Anspruch auf die Einheit der
menschlichen Existenz mit der alle Wesen erschaffenden Gottheit, die sehnsüchtige
Erwartung des Bewusstseins an die reine Pflicht und das reine Denken, wie das stoische
Bewusstsein versucht hat, in sich enthält. (PhdG. S. 445) Gleichwohl soll dieses höchste
Postulat auch dem Bewusstsein als die eigene „Glückseligkeit“ gelten. Aus diesem Grund
stellt sich hier in Bezug auf die Kantische Moralität die Frage, wie der Mensch als die
endliche Existenz der reinen Pflicht als dem höchsten Gut, die ihm damit zugleich die
Glückseligkeit bringt, begegnen kann. Mit dieser Frage an Kant geht Hegel auf „die
Verstellung“ des moralischen Bewusstseins ein, wobei das moralische Bewusstsein, so
ähnlich wie das skeptische Bewusstsein die Erfahrung gemacht hat, sich in die verwirrenden
Widersprüche zwischen der reinen Pflicht als dem Zweck der individuellen Handlung und der
Realität als dem Inhalt der Handlung zu verstricken. An dieser Stelle erfährt das moralische
Bewusstsein im Verlauf der pflichtgemäßen Handlung einerseits den Gegensatz zur
wirklichen Handlungssituation, nämlich die konkreten Handlungsrahmenbedingungen und
andererseits bei der unter den flexiblen Handlungsumständen ausgeübten Tat den Gegensatz
zur reinen Pflicht. In diesem Zusammenhang schreibt Hegel über das moralische Bewusstsein:
„Das moralische Bewußtsein ist als das einfache Wissen und Wollen der reinen Pflicht im
Handeln auf den seiner Einfachheit entgegengesetzten Gegenstand, auf die Wirklichkeit des
mannigfaltigen Falles bezogen und hat dadurch ein mannigfaltiges moralisches Verhältnis. Es
entstehen hier dem Inhalt nach die vielen Gesetze überhaupt und der Form nach die
widersprechenden Mächte des wissenden Bewußtseins und des Bewußtlosen.“ (PhdG. S. 448)
Hier tritt das Gewissen bei Hegel zunächst als das moralische Bewusstsein auf. Hingegen
weiß das menschliche Gewissen um seine Pflicht, seine eigene Handlung mit der
Allgemeinheit in Übereinstimmung zu bringen. Diese Pflicht gründet daher auf dem
religiösen Gehalt des Gewissens ebenso wie des unglücklichen Bewusstseins, das als das
religiöse Bewusstsein bezeichnet werden kann.
Da es im Grunde keinen Bezugspunkt auf die konkrete Handlungssituation gibt, tritt
das Gewissen mit Hegels Worten als „das negative Eins“ auf, das das Selbst durch die
negative Vertilgung der hin– und hertreibenden Verlegung wiederherstellt und deshalb
„einfaches pflichtmäßiges Handeln“ ist, das der Gestalt des moralischen Bewusstseins
zugrunde liegt. (PhdG. S. 467) Doch wenn das Gewissen von vornherein mit dem
126
menschlichen Handeln verknüpft ist, handelt es sich hier keinesfalls um die in sich
verborgene reine Pflicht, sondern die tatsächliche Pflichterfüllung durch den Handelnden
selbst, da jeder Handelnde immer schon das Handlungskriterium, das als Handlungszweck
und –pflicht verfolgt werden soll, nicht nur in sich selbst hat, sondern auch von sich selbst die
Erfüllung dieses Kriteriums als Handlungszweck im realen Handlungsverfahren erwartet. Der
Handelnde, der seinem Gewissen gemäß danach sucht, was er in einem konkreten Fall tun soll,
nimmt die reine, aber nur formale Pflicht, aus Hegels Sicht, als „das wesentliche Moment“ zur
Handlung an. Dennoch handelt es sich bei seiner Annahme lediglich um die eigene
Überzeugung von dieser Gewissenhaftigkeit, da die von seinem Gewissen gesuchte Pflicht in
diesem Moment inhaltslos ist, d. h. den Handlungsbezug zur Realität verloren hat. Aus diesem
Grund muss der Handelnde sich selbst notwendigerweise in die reale Handlungssphäre
integrieren, um seine Pflicht zu erfüllen, „sich zu anderen zu verhalten“. (PhdG. S. 470) Seine
eigene „Überzeugung des Gewissens von ihr“ (= der reinen Pflicht, KBL), soll der Handelnde
von nun an in den Handlungsräumen der wechselseitigen Anerkennung den Anderen mitteilen
können, die ebenso wie er ihre eigene Überzeugung vom Gewissen haben. (Ebd.) Denn diese
Überzeugung ist im wesentlichen bei jedem Handelnden als Maxime für seine ethischmoralische Handlung verantwortlich. In diesem Fall muss das pflichterfüllte Gewissen durch
die von der eigenen Überzeugung realisierten Handlung von den Anderen als
Handlungspartner anerkannt werden. Da die menschliche Handlung auf der eigenen
Überzeugung von der gewissenhaften Pflicht im realen Handlungsspielraum basiert, gründet
sie sich zugleich auf die freie Willensentscheidung, die der Gewissensfreiheit zugrunde liegt.
Mit Hilfe der Verwirklichungs– und Konkretisierungsfunktion der Handlung überträgt
das Gewissen seine verpflichtende Maxime für die ethisch-moralische Haltung in die
Wirklichkeit, bringt seine private Überzeugung von der reinen Pflicht im gemeinsamen
Gespräch mit Anderen zur Sprache. Die in Sprache übersetzte Handlung wird geradezu zu
einem Verstehensgegenstand und regt zugleich die verständliche Einschätzung der Anderen
an, die sich auf die eigene Gewissheit über die reine Pflicht bezieht. In diesem
Handlungsnetzwerk, das die wechselseitige Verständigung über sämtliche existierende
Handlungsweisen ermöglicht, konfrontiert das handelnde Gewissen sich nunmehr mit der
allgemeingültigen Pflicht, weil seine Gewissheit über die ethisch-moralische Handlung
zunächst von der gemeinschaftlichen Moralvorstellung als dem Stützpunkt jeder einzelnen
Gewissheit abhängt: Wenn ein nach seinem Gewissen handelndes Individuum z. B. seine
eigene
Überzeugung
von
den
gültigen
Handlungsnormen
auf
den
Raum
der
Handlungsgemeinschaft ohne den Widerspruch gegen die allgemeine Pflicht übertragen will,
127
kann ein solcher Handlungsanspruch nur dann erfüllt werden, wenn die eigene Überzeugung
entweder mit den vorgegebenen Handlungsnormen der Gemeinschaft von vornherein
übereinstimmt oder die Gemeinschaft die Freiheit des Handlungsindividuums auf der Basis
ihrer institutionalisierten Freiheitsidee bedingungslos anerkennt und akzeptiert. Aber ein
solcher Handlungsanspruch enthält immer auch die Gefahr zum unauflösbaren Konflikt
zwischen den beiden Handlungsparteien, nämlich zwischen Ich und Du bzw. zwischen Ich
und Wir: Die private Gewissheit über die ethisch–moralische Handlungsweise wäre einerseits
beim anderen Handlungspartner im anerkennungsbedürftigen Spielraum unakzeptabel.
Darüber hinaus könnte die durch die private Gewissheit angestoßene Handlung andererseits
immer gegen das allgemein öffentliche Moralbewusstsein verstoßen. Denn die Gewissheit
über das Ethische und das Moralische ist hier im Grunde privatisiert, obwohl sich die ethisch–
moralische Handlung immer schon in der tradierten Gemeinschaft befindet.
Im Angesicht dieser permanent existierenden Gefahr ist das Gewissen unweigerlich in
die Partikularität, die verschiedenen Standpunkte verstrickt. An dieser Stelle erkennt das
Handlungsgewissen seine Besonderheit im Gegensatz zu den Anderen. Durch diese
Besonderheit ist es sich sowohl seiner selbst als auch eines Anderen bewusst. Das Gewissen
läßt
sich
auf
das
gegenseitige
Wechselspiel
über.
diesem
Anerkennungsverhältnis
In
ein,
geht
Wechselspiel
in
ein
treten
wechselseitiges
die
einander
gegenüberstehenden Extreme, „das handelnde Bewußtsein“ und „das beurteilende
Bewußtsein“ bei Hegel auf. (PhdG. S. 488) Wenn auch ein gewissenhaft handelndes
Individuum, mit Hegels Worten das handelnde Bewusstsein, die Tatsache als das Resultat
seiner Handlung für ethisch, moralisch pflichtgemäß hält, kann der die Handlungstatsache
beurteilende Andere, der seinerseits auch seine eigene Handlungsmaxime hat, einer solchen
Selbsteinschätzung widersprechen. Was das handelnde und das beurteilende Gewissen betrifft,
verkündet das beurteilende Gewissen ungeachtet der Tatsache, dass es keinen legitimen
Maßstab für sein Urteil vorlegen kann, dass das handelnde Gewissen böse und heuchlerisch
sei. Das handelnde Gewissen hingegen argumentiert, dass seine Handlungstatsache im Prinzip
der allgemeingültigen Pflicht angemessen sei. Dieses widersprüchliche Phänomen betreffend
sagt Hegel:
„Diesem Festhalten an der Pflicht gilt das erste Bewußtsein als das Böse, weil es die
Ungleichheit seines Insichseins mit dem Allgemeinen ist, und, indem dieses zugleich sein Tun
als Gleichheit mit sich selbst, als Pflicht und Gewissenhaftigkeit ausspricht, als
Heuchelei.“ (PhdG. S. 485)
128
Von Seiten des handelnden Gewissens hingegen ist das beurteilende Gewissen böse und
heuchlerisch, da das handelnde Gewissen nach seiner eigenen Überzeugung von der reinen
Pflicht das Beurteilende verurteilt, so wie das beurteilende Gewissen die Tat des handelnden
Gewissens beurteilt hat. An dieser Stelle wirft das handelnde Gewissen dem beurteilenden
vor, seine Tat zu verurteilen, obwohl dem beurteilenden Gewissen selbst „die Kraft der
Entäußerung“, gewissermaßen die Kraft der Verwirklichung der Pflicht fehlt. Außerdem ist
das beurteilende Gewissen in die peinliche Situation geraten, „die Herrlichkeit seines Inneren
durch Handlung und Dasein zu beflecken.“ (PhdG. S. 483) Nach einem solchen Ereignis der
extremen Polarität zwischen beiden Parteien begeben sich sowohl das handelnde wie auch das
beurteilende Gewissen auf den Weg von der steifen Unmittelbarkeit hin zur sittlichen Bildung
bzw. der miteinander versöhnenden Anerkennung.
Sobald die Einseitigkeit, zu der die beiden Extreme verdammt waren, zu Tage kommt,
wird das gewisse Wissen, das jedem der Pole fehlt, die beiden zwingen, sich selbst ins
anerkennende Wechselverhältnis bzw. in die aufeinander bezogene Selbstverzichtsleistung zu
begeben. Hier wird sich das wechselseitige Anerkennungsverhältnis wie folgt darstellen:
Zunächst schlägt das beurteilende Gewissen als „schöne Seele“ bei seiner Beurteilung über
das handelnde Gewissen auf zwei Arten ins Böse um: Indem das beurteilende Gewissen
einerseits hartnäckig auf seiner Gewissheit besteht, mit Hegels Worten „das harte Herz“ nicht
aufgibt, verliert es von selbst seine Potenz der praktischen Applikation, obwohl das handelnde
Gewissen es so formuliert, dass die jetzige Tat vom allgemeingültigen Moralbewusstsein
getrennt ist. (PhdG. S. 484 u. S. 490) Andererseits will das beurteilende Gewissen seine
Handlungslähmung und seine Scheu nicht zugeben, die vom handelnden Gewissen verurteilt
wird. Hinsichtlich dieser Ablehnung des Eingeständnisses seiner Handlungslosigkeit und
seiner Schüchternheit verfällt das beurteilende Gewissen ebenso wie das handelnde in „das
böse Bewußtsein“, weil es sich selbst seiner Einseitigkeit noch nicht bewusst ist. (PhdG. S.
485) Von daher steht sich das beurteilende Gewissen selbst im Weg, gelangt zwangsläufig in
die
zwiespältige
Situation,
entweder
seine
versteinerte
Gewissheit,
„das
harte
Herz“ aufzugeben oder von dem handelnden Gewissen anerkannt zu werden. Die
Anerkennung und die Aufgabe, die in diesem Moment ausgeführt werden muss, kann bei
Hegel nur dadurch zustande kommen, dass beide Gewissen bereit sind, Verzicht zu üben.
Anders gesagt, muss das beurteilende Bewusstsein mit dem Eingeständnis seiner Unfähigkeit,
die zu erledigenden Dinge nicht erledigen zu können, seine Schuld zugeben, die durch sein
hartnäckiges Bestehen auf seiner Haltung zustande gekommen war. Gleichzeitig mit diesem
129
Akt muss er dem handelnden Bewusstsein verzeihen. Umgekehrt muss das handelnde
Bewusstsein seine Bosheit, die sich aus der Trennung von dem allgemeingültigen
Moralbewusstsein ergibt, bekennen und das beurteilende Bewusstsein als „schöne Seele“, die
Hegels Äußerung zufolge die „göttliche Stimme“ in der religiösen Gemeinde ist, anerkennen.
(PhdG. S. 481) In Bezug auf diese Vergebung und die versöhnende Anerkennung sagt Hegel
in den folgenden Sätzen:
„Die Verzeihung, die es dem ersten widerfahren läßt, ist die Verzichtleistung auf sich, auf
sein unwirkliches Wesen, dem es jenes Andere, das wirkliche Handeln war, gleichsetzt und es,
[…] Böses genannt wurde, als gut anerkannt oder […], wie das Andere das fürsichseiende
Bestimmen der Handlung.“ (PhdG. S. 492)
Weiter setzt er fort:
„Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, […] - ein gegenseitiges Anerkennen,
welches der absolute Geist ist.“ (PhdG. S. 493)
Wenn wir diese Sätze Hegels wörtlich nehmen, nämlich dass „das Wort der Versöhnung der
daseiende Geist“ ist und „ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“, in
der Selbsthingabe und der Selbstaufopferung zu finden ist, dann können wir m. E. feststellen,
dass das Gewissen zunächst, wie bereits erwähnt, seine überzeugte Gewissheit der reinen
Pflicht durch die Sprache zum Ausdruck bringt, nämlich die eigene Überzeugung der
Pflichtmäßigkeit durch die Sprache zu rechtfertigen sucht. Im Gesprächsverhältnis hat die
schöne Seele das Bekenntnis des handelnden Gewissens „vernommen“ und zugleich durch
diesen Akt des Zuhörens die Handlungstatsache verstanden, dem Bösen verziehen und wieder
für gut befunden. Darüber hinaus erfährt das handelnde Gewissen, dass das beurteilende
Gewissen als die schöne Seele im Verlauf des gegenseitigen Wechselspiels zugrunde geht, so
lange es lediglich an seiner inhaltslosen reinen Pflichtmäßigkeit festhält und es nur durch
seine Anerkennung bzw. durch sein Ja–Sagen Eingang in die konkrete Wirklichkeit findet. 119
Man kann sagen, dass die beiden Extreme, die zu Beginn ohne eine gemeinsame
Wechselbeziehung ausschließlich mit ihrem gegenseitigen Widerstand beschäftigt waren, sich
durch die sprachliche Übereinstimmung gegenseitig verzeihen, ihre Bekenntnisse vernehmen
119
Vgl. Heidrun Hesse, „Institution und Anerkennung – Zur Aktualität eines Hegelischen Begriffs“, in:
Metaphysik und Hermeneutik – Festschrift für Hans–Georg Flickinger zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Heinz
Eidam u. a., Kassel 2004, S. 351 – 363.
130
sowie ihre wechselseitige Anerkennung, „deren Echo“, wie Hegel sagt, zu sich selbst
verhallend „zurückkommt.“ (PhdG. S. 483) Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass die
Sprache selbst als Vermittler zwischen beiden Polen und zwischen dem einzelnen
Selbstbewusstsein und dem allgemeinen Selbstbewusstsein in Hegels Gewissensdialektik eine
entscheidende Rolle spielt, 120 da sie, wie bereits erwähnt, ihre ethische Versöhnungsfunktion
und ihre gemeinschaftliche Bindungskraft im gegenseitigen Gespräch, das wir insbesondere
im III. Teil dieser Arbeit unter Gadamers dialoghermeneutischer Perspektive noch näher
betrachten werden, entfaltet. Diesbezüglich schreibt Hegel selbst: Die Sprache ist „das Dasein
des Geistes“, und „[sie] tritt nur als die Mitte selbständiger und anerkannter
Selbstbewußtsein[e]“ auf. (PhdG. S. 478 u. S. 479) Ausgehend von den bisherigen
Überlegungen können wir m. E. behaupten, dass die intersubjektive Versöhnung von
vornherein immer auf die sprachliche Bejahung ausgerichtet ist, dass die wechselseitige
Anerkennung selbst ein Ausdruck des absoluten Geistes ist und dass der absolute Geist
umgekehrt selbst ein Sinnganzheitshorizont der wechselseitigen Anerkennungsbeziehung ist.
Die moralische Gemeinsamkeit zwischen den beiden, die wir nun als den absoluten
Geist bezeichnen können, wird bei Hegel durch das Hören auf das Schuldbekenntnis und den
Akt der Verzeihung, durch die intersubjektive Anerkennung, wiederhergestellt. Diesbezüglich
schreibt Hegel am Schluss dieses Kapitels:
„Das versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das
Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das darin sich gleich bleibt und in seiner
vollkommenen Entäußerung und Gegenteile die Gewißheit seiner selbst hat; - es ist der
erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen.“ (PhdG. S. 494)
In diesem Zusammenhang geht die Stufe der Selbstentwicklung des Geistes in der
Phänomenologie mit der Verzeihung des Bösen und der Aussprache über das Bekenntnis der
Einseitigkeit zur Religion über. „Der erscheinende Gott“, nämlich die Offenbarungsreligion,
taucht von nun an bei Hegel als ein Vermittler zwischen dem einzelnen Moralbewusstsein und
dem
allgemeingültigen
Moralbewusstsein
bzw.
der
allgemeinen
und
öffentlichen
Moralvorstellung auf. Auf der Basis dieser göttlichen Vermittlung wird die Entzweiung
zwischen den beiden Extremen durch die Gottesliebe und die göttliche Verzeihung des Bösen
überwunden und kommt zurück zur einheitlichen Versöhnung in der Liebesgemeinde, wie
Hegels berühmtes Diktum besagt: „Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben
120
Vgl. L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 129 – 131.
131
bleiben.“ (PhdG. S. 492) Nach ihrem Eintritt in die Gemeinschaft der Liebe setzen die beiden
ihren reflexiven Weg der Selbstkorrektur fort und haben dabei die gesamten Lebensbezüge
der Lebendigen permanent vor Augen. Die vollständige Anerkennung als die reziproke
Selbstbeziehung des Geistes in der Gewissensdialektik liegt deshalb der „ewigen
Liebe“ Gottes zugrunde. Mit anderen Worten: Die harmonische Übereinstimmung der
individuellen Gewissensfreiheit mit der gesellschaftlichen Lebensordnung kommt, nach
Hegels Ansicht, in der Gemeinschaft der Liebe, die die ideelle Gottesverzeihung und
Gottesliebe als die konstruktive Vollständigkeit der Wechselbeziehung des Geistes auf sich
selbst verwirklicht, zustande. (PhdG. S. 574) In diesem Zusammenhang wird klar, dass das
selbständige Selbst, das von vornherein über die Freiheit seines Gewissens verfügt, sich in der
harmonischen
Übereinstimmung
mit
dem
sittlichen
Gewissen
seinen
freien
Handlungsspielraum schafft, in dem es einerseits seine freie Willensentscheidung gegen die
totalitäre Herrschaftsgesellschaft verteidigen und andererseits die freiwillige Integration ins
öffentliche Normenordnungssystem ausüben kann.
Vor diesem überindividuellen Sinnhorizont ist das Allgemeine dem Einzelnen nicht
mehr fremd, sondern vielmehr ist das Allgemeine geradezu das Einzelne, mit Hegels Worten:
„Ich im Wir“ und „Wir im Ich“. Ein solcher lebendiger Sinnganzheitshorizont, in dem das
Wir mit dem Ich und das Ich mit dem Wir wechselseitig verbunden ist, in dem wir immer
schon leben, mit dem wir immer schon vertraut sind, wird zunächst zum Netzwerk der
Realisierbarkeit der Freiheit. Es wird deutlich gezeigt, dass alle Beteiligten an dieser
Handlungssphäre bereits in „die Solidarität des sittlichen Geistes“, „die Gemeinsamkeit der
Sitte“, die das menschliche Zusammenleben ermöglicht, eingetreten sind. (GW. 3, S. 63) 121
Denn wenn die gemeinschaftliche Solidarität und die menschliche Verbindlichkeit bedroht
oder zerstört sind, dann muss der freie Handlungsspielraum, den alle Handlungssubjekte
verteidigen und erhalten wollen, notwendigerweise verschwinden. Um unseren freien
Handlungsspielraum
weiter
zu
erhalten,
sind
wir
deshalb
aufgefordert,
unsere
zwischenmenschliche Solidarität unter Beweis zu stellen und zu bewahren. Denn das Wir
wird durch das Ich in diesem solidarischen Gemeinschaftsraum nicht nur errichtet, sondern
auch konkretisiert und umgekehrt hat das Ich das Wir nur auf dieser ontologischen Grundlage
für das menschliche Zusammenleben erkannt und anerkannt.
Bisher haben wir insbesondere in Anknüpfung an Gadamers Denkansatz gesehen, wie
das Selbstbewusstsein seine Selbständigkeit und seine Freiheit im gegenseitigen
Anerkennungsverhältnis zum allgemeinen Willen erkennt, inwiefern der ontogenetische
121
Vgl. damit auch Otto Pöggeler, Hegels Idee, S. 289.
132
Selbstausbildungsprozess des Selbst auf den Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit
angewiesen ist; womit die Bewegung der Anerkennung ausgeführt wird und von welcher
Bedeutung das Lebensganze der Lebendigen für die Verwirklichung der Anerkennung ist.
Nun werden wir uns Gadamers Rezeption der Hegelschen Anerkennungstheorie zuwenden,
aufgrund derer Gadamer unter besonderer Berücksichtigung des Hegelschen Begriffs vom
„Leben“ seine Hermeneutik konzipiert hat. Den vereinigten Sinnganzheitshorizont vom sich
selbst ausbildenden Selbst und dem Wir, dem allgemeinen Willen, entnimmt Gadamer jedoch
weder dem Endstadium der Phänomenologie, noch dem späten Hegel, sondern dem frühen
Hegel, insbesondere Hegels Jugendschriften der Frankfurter Zeit. (GW. 3, S. 50) 122 Mit
anderen Worten: Gadamers Einsicht in Hegels Begriff des Lebens richtet sich nicht auf „das
absolute Wissen“ als einen Endzweck der total vermittelten „Reflexion in sich“, die von
vornherein die in sich verschlossene Selbstgewissheitsstruktur innehat, - das können wir als
„die abgeschlossene Absolutheit der Reflexivität in Hegels Systemphilosophie“ bezeichnen -,
sondern auf die Lebensganzheit als die vollständige Vereinigung zugunsten der Liebe, wie sie
Hegel in seiner Frankfurter Zeit formuliert hat.
Trotz seiner teleologischen Züge scheint sich der Begriff des Lebens auch für Hegel
als eine unendliche Bewegung, die nicht zum Ende kommt, darzustellen. Aus diesem Grund
hat Hegel in seiner Phänomenologie das Lebensganze als „die Entzweiung in die
selbständigen Gestalten“ und „das sich entwickelnde und seine Entwicklung auflösende und
in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze“ beschrieben. (PhdG. S. 140 u. S. 142) So
zeigt Hegel, dass das Leben seinen inneren Urquell, der das Leben immer wieder lebendig
macht, hat. Im Hinblick auf diese Bestimmung des Lebens bei Hegel weist Gadamer darauf
hin, dass das Leben als ein endlos aufeinander bezogenes Ganzes als „die Weise des
Fortbestands der Gattung“ verstanden werden muss und dass das einzelne Selbst als das
Lebendige zugleich auch „die Strukturidentität“ des Lebensganzen aufweist. (GW. 3, S. 50 –
51) 123 Anders formuliert, entfaltet das Selbst dieselbe zirkuläre Bewegung zwischen der
Selbstdifferenzierung und der Rückkehr zu sich selbst, die das Lebensganze ausmacht. So
beschreibt Gadamer die Wechselbeziehung zwischen dem Ich und dem Wir so, dass „es (=
das Selbstbewusstsein, KBL) seine Identität als >Lebendiges< nur in der beständigen
Auflösung des Anderen und Selbstauflösung in das Andere hat, als Teilhabe an der
Unendlichkeit, dem Kreislauf des Lebens.“ (GW. 3, S. 52) In diesem Lebensvollzug versöhnt
122
123
Vgl. ders., „Selbstbewußtsein und Identität“, in: Hegel – Studien, Bd. 16, hrsg. v. Friedhelm Nicolin und
ders., Bonn 1981, S. 194. Hier weist er auf das Verhältnis der Jugendschriften Hegels zum Kapitel
„Selbstbewusstsein“ in der Phänomenologie im eigenen Interpretationsvorgang hin.
Vgl. H. Marcuse, Hegels Ontologie, S. 270.
133
sich das gebildete Selbst nunmehr mit der Fremdheit des Anderen und entwickelt seine Ich–
Identität aus der Begegnung mit dem fremden Anderen heraus weiter. An dieser Stelle können
wir feststellen, dass der Lebensvollzug, der nur durch die Verwirklichung und
Konkretisierung des eigenen Lebenssinns erreicht werden kann, immer im Zusammenhang
mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben steht und dass jeder Handlungsvollzug in der
Folge durch die interaktive Anerkennungsbeziehung innerhalb der gesamten Lebensbezüge
stattfindet. Vor diesem Hintergrund des ganzen Lebenszusammenhangs fasst Hegel in seiner
Frankfurter Zeit, in der die Liebe als Versöhnungsfunktion und Verbindlichkeitskraft
zwischen den Getrennten verstanden wurde, den Begriff des Lebens aus einer ontologischen
Perspektive ins Auge. Hier schreibt Hegel über das Leben:
„[…] in der Liebe ist dies Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter
enthalten; in ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdopplung seiner selbst, und Einigkeit
desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Kreis
zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen; […]“ (Früh., S. 246, Meine Hervorhebung)
Hier fungiert die Liebe, wie der zitierte Satz zeigt, in Form eines grenzenlosen
Assimilationsprozesses, der das eine Selbst an das andere und das Einzelnen an das
Allgemeine angleicht, so dass schließlich ein vereinigter Lebensganzheitshorizont entsteht.
Die Liebe verfügt über die Fähigkeit, auf dem Weg zum Lebensganzen, Grenzen zu
überschreiten und den Liebenden und den Geliebten zur gegensatzlosen Versöhnung zu
führen, da sie beide Liebenden in ein vereinigtes Gefühl ohne die negative Aufhebung der
differenten Individualität hineinführt. Kurzum, in der Liebesbeziehung sind die Betroffenen
zwar selbständig, also individuell verschieden, doch sind sie durch das Liebesgefühl zugleich
eins: Deshalb fühlt das Lebendige in der Liebe das andere Lebendige und findet sich selbst in
diesem geliebten Lebendigen wieder. So ist die Liebe das miteinander verbundene Gefühl, in
dem die gesamte Lebendigkeit des Liebenden widerhallt und wiederhergestellt wird. Von
daher verfügt das eine Selbst über die intime Verbindlichkeit mit dem anderen in seinen
ganzen Lebensbezügen.
Mit Hilfe der Versöhnung und der bindenden Kraft der Liebe, erlangt das Leben die
„vollendete Einigkeit“, durch deren Licht es die eigene Fremdheit und die in sich selbst
bestehende Verschiedenheit in sich selbst wieder einbettet. Auf dem Weg von einem
einzelnen Lebendigen zum Lebensganzen ist die Liebe deshalb mit ihrer außerordentlichen
Orientierungskraft, Gadamers Ansicht zufolge, „nicht eine abstrakte, sondern eine konkrete
134
Allgemeinheit.“ (GW. 4, S. 390) Vor diesem gemeinsamen Horizont des „ungeteilten Lebens“,
vor dem die Getrennten eins sind, haben das Ich und das Du grundsätzlich verschiedene
Eigenschaften und Eigentümlichkeiten. Ohne ihre jeweilige Selbständigkeit zu verletzen,
üben sie in der unmittelbaren Begegnung einen wechselseitigen Einfluss aufeinander aus und
gestehen sich die vollständige gegenseitige Anerkennung zu. So wird verständlich, dass das
Lebensganze im Grunde von einer ursprünglichen Urquelle, die längst vor allen Reflexionen
besteht, aus der alle Lebendigen entstehen und in die sie alle immer schon integriert sind,
ausgeht. Vor diesem existenziell ontologischen Hintergrund versetzen sie alle das eigene
Leben auf die Ebene des Lebensganzen, sowohl in der vertikalen als auch in der horizontalen
Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Lebensganzen, d. h. sie nehmen in Form dieser
Auseinandersetzung am gemeinsamen Sinnhorizont der Lebensganzheit teil. Nun zeigt sich
das Lebensganze auch als die vollendete Gemeinsamkeit, zu der alle Getrennten zurückkehren,
mit der sie permanent eins werden. Mit Gadamers Rekurs auf den frühen Hegel betrachtet,
läßt sich hiermit sagen, dass Gadamer besonders aus seiner ontologischen Perspektive die
symmetrische Struktur in Hegels Anerkennungstheorie entdeckt. Denn ich schaue mich selber
in der unmittelbaren Begegnung mit dem Du an, d. h. finde in diesem Liebesgefühl
gleichermaßen mich wie Dich. Und dann finde ich in der unmittelbaren Begegnung mit
meinem Anderen außerdem das Wir als die ontologische Grundlage für meine Existenz vor.
Insofern kommt der allgemeine Wille zur Selbstentäußerung in der tätigen Teilnahme der
Einzelnen und in der gewissen Teilhabe an den Einzelnen zum Vorschein. Das ontologische
Zusammenleben, das sich im wechselseitigen Anerkennungsverhältnis etabliert, ist deshalb
ein ausgezeichneter Ort, an dem wir uns, ohne sich die unaufhebbare Andersheit des Anderen
zu eigen zu machen, miteinander verbinden und zueinander verhalten können.
Gadamers
Grundkonzeption
innerhalb
des
Diskussionsrahmens
der
gesellschaftstheoretischen Philosophie nochmal zusammengefasst, ist das ontologische
Lebensganze als der gesamte Sinnhorizont der gemeinschaftlichen Solidarität und
Freundschaft, die sich auf die zwischenmenschliche Vertrautheit und Verlässlichkeit,
gewissermaßen
die
Liebesbeziehung
stützt,
die
Bedingung
für
das
menschliche
Zusammenleben. Doch ist es auch eine Tatsache, dass sich die Herkunft selbst mit ihrer je
individuellen geschichtlichen Lebensweise permanent auf die gegenwärtige Lebenslage
überträgt. Da die geschichtlich überlieferten Sitten den Anspruch auf praktische Anwendung
im konkreten Handlungsraum erheben, leisten sie damit die grundsätzliche Funktion, jeder
Handlungsweise einen Orientierungsrahmen zu liefern, d. h. jedem Handelnden einen
bestimmten Wegweiser zu geben. Aufgrund dieser Anwendungsleistung sind sie aber auch in
135
einer flexiblen und variablen Handlungssituation eingebunden. Die herkömmlichen Sitten
selbst erfüllen deshalb im angemessenen Umgang mit dem konkreten Fall ihren
Geltungsanspruch. In demselben Sinn wird das Lebensganze von allen Lebendigen als den
Teilen konstituiert. Gleichwohl finden die Teile nur in ihrem Ganzen ihre ontologische
Grundlage: Sie haben nur mit ihm zusammen ihre existenzielle Seinsmöglichkeit. Das Ganze
ist mithin nicht ein bloßes Aggregat der Teile, sondern wird zur ontologischen Basis für das
Sein der Teile, hat auch die Teile zu seiner konkreten Wirklichkeit. Gadamers Einsicht in den
Lebensganzheitshorizont für alle Lebendigen, die an Hegels früher Auffassung vom Leben
angeknüpft, weist schließlich darauf hin, dass die Handlungssubjekte die allgemeine
Gemeinsamkeit durch die eigene Tätigkeit aufbauen, dass die Gemeinde, der Verband, der
Club usw. als die allgemeingemeinsame Handlungssphäre nur durch die Teilnahme der
einzelnen Teile, nämlich durch die Anerkennung der Mitglieder bzw. den Respekt der Teile
auf das Ganze erhalten werden kann. Das führt auch zu der Konsequenz, dass ich um meiner
selbst willen Dich als meinen Partner annehme und damit das Wir auch als ein mich und Dich
schützendes Netzwerk erkenne.
136
Exkurs zur Ethos–Ethik: Die Sittlichkeit als eine Lebensform (Rüdiger Bubner)
Wenn die Verwirklichung unseres freien Willens von der Gesellschaft, der gesellschaftlichen
Institution abhängig ist, in der wir bereits leben, muss die Frage formuliert werden, wie die
gesellschaftlichen Normen oder die normativen Institutionen begründet werden können und
ob die Möglichkeit der Normenbegründung mit der „transzendentalen Formalität“ oder mit
der „vorgegebenen und zu entwerfenden Geschichtlichkeit“ zu tun hat. Jene Tendenz liegt
nahe an der idealen, ahistorischen Konstruktion der gesellschaftlichen Normativität jenseits
der Geschichte des menschlichen Zusammenlebens, an dem wir schon immer beteiligt sind.
Diese hingegen richtet sich auf die geschichtlichen Zusammenhänge als eine ontologische
Bedingung für den Aufbau und die Verbesserung der Normen, die unsere Handlungen stets
anleiten. Bei der Darstellung der strittigen Kontroverse zwischen „Moralität und Sittlichkeit“,
möchte ich in diesem Exkurs insbesondere Bubners Argumentationsgang bzg. des
Zusammenhangs zwischen Normen und Geschichte nachzeichnen. Im Ablauf dieser Debatte
tendiert Habermas dazu, seine Diskursethik auf den Kantischen Formalismus zu stützen,
während R. Bubner m. E. den „Bildungsanspruch,“ „die Normengeschichtlichkeit“ und „die
Übersetzbarkeit der Normen“ im Zusammenhang mit der klassischen Philosophie, vor allem
Hegels Sittlichkeit und der Idee der praktischen Philosophie in der philosophischen
Hermeneutik, darstellt. 124 Ich möchte in diesem Exkurs allerdings versuchen, Bubners
Konzept der historisch geprägten Sittlichkeit nachzuvollziehen, das den Hegelschen Einwand
gegen Kants formalistische, gewissermaßen „deontologische“ Moralität wieder aktuell
werden läßt. Mit dieser Aktualisierung der Hegelschen Sittlichkeit erhebt Bubner auch den
Einspruch gegen die moralische Formalität in Habermas’ Diskursethik. Diesbezüglich
versucht er die handlungsorientierten Gesellschaftsnormen auf die Geschichtlichkeit und die
Gewohnheit zu stützen. Um Bubners Argumentationsgang noch präziser zu veranschaulichen,
124
Vgl. Herbert Schnädelbach, „Was ist Neoaristotelismus?“, in: Moralität und Sittlichkeit – Das Problem
Hegels und die Diskursethik, hrsg. v. Wolfgang Kuhlmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 38 - 63, und dazu,
Jürgen Habermas, „Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform >rational<?“, in:
Rationalität, hrsg. v. Herbert Schnädelbach, Frankfurt a. M. 1984, S. 218 - 235, insbesondere S. 227. H.
Schnädelbach hat zunächst die gegenwärtigen Vertreter und Anwälte der Hegelschen Sittlichkeit gegen
Kants transzendentale Moralphilosophie unter dem Namen des „Neoaristotelismus“ zusammengefaßt, weil
sie, seiner Ansicht zufolge, im engeren Denkzusammenhang mit den Aristotelischen Ansätzen zur
praktischen Philosophie die Hegelsche Konzeption der Sittlichkeit wiederherzustellen versuchen. Davon
abgesehen erhebt Jürgen Habermas in seinem Aufsatz gegen Bubners Konzeption von Sittlichkeit einen
scharfen Einwand. Seiner Auffassung zufolge stelle Bubner weder „die Sittlichkeit, die den Horizont einer
jeweils gegebenen Lebenswelt“ übertritt, noch „den hermeneutischen Traditionalismus“ dar, sondern
vielmehr habe Bubner nur die neoaristotelische Konzeption von der vernünftig konstruierbaren Ethos–Ethik
mit der Grundprämisse entwickelt, dass das Gute bereits in der Welt sei.
137
werde ich zunächst die „kognitivistische und formalistische Ethik“ 125 von Habermas
pointieren.
Im
Anschluss
an
diese
zusammenfassende
Darstellung
der
transzendentalpragmatischen Diskursethik, werde ich Bubners Einsicht in die subjektive
Handlungsfähigkeit, den Gesellschaftsnormen angemessen zu handeln, nach folgenden
begrifflichen Kriterien Schritt für Schritt abhandeln: Den Rückgriff auf die vom Ethos
hergeleitete Ethik, den sittlichen Anspruch auf den ineinander übergehenden geschichtlichen
Bildungsprozess, die Geschichtlichkeit von Normen und schließlich die Übersetzbarkeit der
Maximen in die historisch geprägten Normen.
Um seine Diskursethik gegen Bubners Einspruch zu verteidigen, geht Habermas von
der schlichten Bezugnahme auf Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie in den folgenden
vier Punkten aus: 1. Die inhaltliche Leere des Formalismus der Kantischen Ethik. 2. Ihr
abstrakter Universalismus, aus dem Anwendungsprobleme hinsichtlich des kategorischen
Imperativs folgen, da diese Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs stets über die
einzelnen, konkreten Realitäten hinausgeht. 3. In diesem Kontext liegt auch die Ohnmacht des
bloßen Sollens. Denn das moralische Sollen entfernt immer vom Sein, das als eine wirkliche
Lebensform des menschlichen Daseins in der Welt bezeichnet werden kann und die
fragwürdige Trennung zwischen Sollen und Sein besteht damit notwendigerweise in der Frage,
ob das Sollen das wirkliche Sein tatsächlich hin– und herbewegen kann oder ob das Sein dem
fremden Sollen unbedingt unterworfen werden muss. 4. Aus dieser Trennung resultiert
schließlich die Gefahr des Terrorismus der reinen Gesinnung. 126 Unter diesem Gesichtspunkt,
der einerseits Hegels Einwand gegen Kants praktische Philosophie aufnimmt und sich
andererseits teilweise der Geschichtlichkeit der Sittlichkeit in Hegels praktischer Philosophie
versichert, richtet Habermas’ Versuch sich in Bezug auf Kants Transzendentalphilosophie auf
die Ausformulierung seiner transzendentalpragmatischen Diskursethik. In diesem Umgang
mit Kants Moralphilosophie glaubt er auf die Probleme der Letztbegründung der Moralität
erneut konstruktiv antworten zu können. Um die Kognitivität und die universelle Formalität
der Diskursethik darzustellen, stellt Habermas die bedingte Voraussetzung für die
Normbegründung wie folgt dar:
125
Vgl. J. Habermas, „Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik
zu?“, in: Moralität und Sittlichkeit – Das Problem Hegels und die Diskursethik, hrsg. v. Wolfgang Kuhlmann,
Frankfurt a. M. 1986, S. 17-18.
126
Vgl. Ebd., S. 16.
138
„Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die
sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen
voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden kann.“
Aus dieser allgemeingültigen Voraussetzung glaubt er auch die folgende Hypothese der
Diskursethik ableiten zu können:
„Jede gültige Norm müßte die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem
praktischen Diskurs teilnehmen würden, finden können.“ 127
In Bezug auf die beiden Grundsätze, die Geltungsansprüche erhoben haben, sollen die
Gesellschaftsnormen, die den Institutionen innewohnen, nach Habermas überprüft werden.
Mit anderen Worten: Wir könnten so verstehen, dass die handlungsorientierten Normen
innerhalb der Lebenswelt nur durch den postulierten Aufruf zum theoretischen Sollen wieder
moralisch gerechtfertigt werden können. In diesem Zusammenhang spricht Habermas analog
zur erkenntnistheoretischen Wahrheit von der „kognitiven Ethik“, 128 ohne jedoch auf die
Frage
einzugehen,
wie
dieses
erkennende
Subjekt
die
mit
den
gesamten
Handlungszusammenhängen verflochtenen Normen beurteilen und rekonstruieren kann. Diese
Urteilsform des erkennenden Subjekts muss sich deshalb ausschließlich auf die
unhintergehbare Subjektivität gründen, wenn die Normen lediglich gemäß einem
transzendentalen Moralprinzip vom Subjekt gedacht und verstanden werden. Dadurch, dass
Habermas von einer Gleichsetzung der moralischen Handlungsfähigkeit des Subjekts und
seinem Erkenntnisvermögen ausgeht, erstreckt sich seine Diskursethik schließlich auf den
nicht tragbaren Anspruch ans Subjekt.
Anhand
der
obigen
Hauptthesen
will
Habermas
die
„Formalität
und
Universalität“ seiner Diskursethik beweisen. Die Formalität entspricht der menschlichen
Vernunft, da alle Beteiligten an den Kommunikationsprozessen, die dem moralischen Sollen
gemäße Normen erfüllen können müssen. Umgekehrt sollen alle Menschen die Normen
begründen können müssen, wenn sie „ein vernünftiges Wesen“ sind. In diesem Kontext
betrachtet Habermas alle Subjekte, die an den Kommunikationen beteiligt sind, so, dass ihre
Tendenz auf die Verbesserung der Argumentationssituation und die kooperative Suche nach
der Wahrheit abzielt, da sie bereits die vernünftig Urteilenden sind. Mit der Einsicht in die
kommunikativ handelnden Subjekte spricht Habermas die Universalität der Diskursethik an.
127
128
Ders., „Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform >rational< ?“, S. 219.
Ders., „Moralität und Sittlichkeit“, S. 17.
139
Seiner Ansicht nach muss die Ethik, die gemäß einem begründeten Moralprinzip aufgebaut ist,
über jede historische Epoche, jede gewöhnliche Kultur und jede besondere Situation hinaus
allgemeingültig begründet werden. 129 Die Diskursethik, die durch die kontrafaktischen
Relationen mit der Kognitivität, der Formalität und der Universalität rekonstruiert ist, kann,
wie Habermas zugegeben hat, nur unter den Bedingungen der „idealisierenden
Unterstellungen“
130
erfolgreich realisiert werden, die alle Beteiligten im Idealfall
vernünftigerweise erfüllen wollen.
Unter diesen Bedingungen kann die ideale Sprachgemeinschaft aufgebaut werden, in
der sich alle Subjekte, die in erster Linie die vernünftige Erkenntnisfähigkeit und moralische
Handlungsfähigkeit in sich enthalten, auf die rationale Kommunikationsform wechselseitig
beziehen, die ein Moralprinzip in sich vereint.
131
Im Hinblick auf Habermas’
transzendentalpragmatische Diskursethik kann man sagen, dass der kognitive Anspruch unter
den drei Ansprüchen annulliert werden kann, da die übrigen Ansprüche, die Formalität und
die Universalität nur bei einer strengen Trennung von den erkennenden Subjekten
„transzendental und formalpragmatisch“ definiert werden können. 132 Diesbezüglich besteht
bei ihm der unauflösbare Gegensatz zwischen der Kognitivität und der universellen Formalität:
Entweder soll das Subjekt sich selbst nach der Durchsetzung aller Handlungsmodi,
Motivationen,
Folgen,
Wechselwirkungen
und
Nebenwirkungen
usw.
auf
den
transzendentalen Horizont der idealen Kommunikationsgemeinschaft einstellen können, wenn
man es auf die Kognitivität aufmerksam macht. Wenn das Subjekt damit auch durch den
Erfahrungsprozess hindurch den transzendentalen Horizont erkennt, dann könnte die
Kommunikationsgemeinschaft nicht mehr transzendental und formal sein. Oder wenn man die
ideale Kommunikationsgemeinschaft auf Seiten der transzendentalen Formalität ansiedelt,
dann kann der Charakter der Kognitivität aus der argumentativen Ebene der Diskursethik
ausgeschlossen sein, da die formale Universalität der idealen Sprachgemeinschaft zunächst
die kognitiven Dimensionen überschreitet, die jenseits der Geschichtlichkeit der menschlichen
Erfahrung liegen.
133
So gesehen ist noch immer fraglich, wie man dieser idealen
Kommunikationsgemeinschaft entgegengehen kann oder inwiefern sie zustande kommen
könnte. In Bezug auf die ahistorische Letztbegründung von Habermas sagt Bubner, dass
Habermas um den Preis des konkreten historischen Geschehens oder mit der willkürlichen
129
Vgl. Ebd., S. 18.
Ders., Ebd., S. 19.
131
Vgl. Ebd., S. 19 und S. 23.
132
Vgl. H. Schnädelbach, „Was ist Neoaristotelismus?“, S. 59.
133
Zur Kritik an der konsenstheoretischen Stellungnahme von Habermas’ Diskursethik im Verhältnis zu Kants
Denkansatz zur deontologischen Ethik, vgl. Albrecht Wellmer, Ethik und Dialog – Elemente des moralischen
Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 51 ff.
130
140
Ausgrenzung des Realen die Möglichkeit der idealen Sprachgemeinschaft beweist. Bubners
Äußerung zufolge will Habermas auf die transzendentale Autonomie der Vernunft nicht
verzichten, selbst wenn er sich auf die Realität der Normbegründung bezieht. Daraus resultiert
die Versteinerung der Vernunft. 134
Im Anschluss an die kritische Auseinandersetzung mit der ahistorischen, nämlich
transzendental–pragmatischen Diskursethik von Habermas, beginnt Bubner nun mit der
Begriffsgeschichte der Ethos–Ethik. Durch diese geschichtliche Beobachtung will er die
Ähnlichkeit der Aristotelischen Konzeptionen der praktisch–politischen Philosophie mit der
Hegelschen Sittlichkeit noch präziser darstellen. Aristoteles’ Äußerung zufolge ist der Begriff
der Ethik geradezu aus dem Ethos abgeleitet: So schreibt er in Die Nikomachische Ethik:
„Die Tugend ist also von doppelter Art, verstandesmäßig und ethisch. Die verstandesmäßige
Tugend entsteht und wächst zum größeren Teil durch Belehrung; darum bedarf sie der
Erfahrung und der Zeit. Die ethische dagegen ergibt sich aus der Gewohnheit; daher hat sie
auch, mit einer nur geringen Veränderung, ihren Namen erhalten.“ 135
Nach dieser Aristotelischen Definition der Ethik, stützt die Ethik sich im wesentlichen auf das
Ethos (nämlich die Gewohnheit, die Gewöhnung), das daher unsere Verhaltensweise und
Haltung im Alltagsleben bestimmt. Man kann sagen, dass die Handelnden innerhalb der
ethischen Entscheidungssituationen in ihren Handlungsmodi und Verhaltensweisen stets auf
das latente Gute bzw. die lebendige Natürlichkeit des Guten zurückgreifen. Das handelnde
Subjekt kann daher durch die ethische Erfahrung, die sittliche Reife und die reflexive
Internalisierung der sozialen Gewohnheit gebildet werden. Dieses Verständnis des Begriffs
von Ethos–Ethik wird, der Untersuchung von Karl–Heinz Ilting zufolge, dem deutschen
Sprachraum übergeben, ohne daß der Begriff irgendeinen Bedeutungswandel erfährt: Das
Ethos zeigt sich als „Sitte“ mit derselben begrifflichen Herkunftswurzel. 136
Im Hinblick auf die menschliche Handlung wird das Ethos zu einer Institution und
bildet damit die geschichtlich–ontologische Grundlage, auf der die subjektive Handlung ihre
Ergebnisse voraussehen und das Ziel erreichen kann. Das handelnde Subjekt setzt sich bei der
Konkretisierung der Handlung immer ein Ziel und verfolgt konsequenterweise das gesetzte
Ziel. Aufgrund des Bedürfnisses danach, dass sich die Handlung tatsächlich auch vollzieht,
134
135
136
Vgl. Rüdiger Bubner, „Rationalität als Lebensform“ (Anhang), in: ders., Handlung, Sprache und Vernunft,
Frankfurt a. M. 1982, S. 315.
Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, 4. Aufl., München 2000, Kap. I, II. Buch, 1103 a
14 – 19.
Vgl. Karl–Heinz Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit, Stuttgart 1983, S. 115 – 124.
141
verlangt das handelnde Subjekt die Bestätigung seines Handlungsumfeldes und geht davon
aus, dass es auf die Reaktion der Anderen zählen kann, da der lebendige Handlungsspielraum,
in dem sich unsere Handlung hin– und herbewegt und kompliziert ineinander verwoben ist,
auf der ständigen Verwechslung und deshalb auch auf dem unbestimmt–unruhigen Zustand
beruht. Aus dieser unruhigen Unsicherheit und unbestimmten Wandlung im Feld der
Handlung entsteht auch das Bedürfnis jedes handelnden Subjekts nach der „Normfestlegung“.
Anders formuliert, streben alle handelnden Subjekte nach den handlungsorientierenden
Normen und Ordnungen unter den wechselnden, hin und herschwankenden Handlungsräumen,
die als die Schauplätze die gesamten Handlungszusammenhänge in sich enthalten, damit die
Subjekte sich unter den bestimmten Bedingungen der Handlung ihrer Zielerfüllung versichern
können.
Somit
kann
man
sagen,
dass
die
„Regelungsbedürftigkeit“
und
die
„Regelungsfähigkeit“ 137 außerhalb des historischen Kontextes der Handlung uns auf der
lebensweltlichen Ebene nicht gegeben werden, sondern vielmehr von vornherein innerhalb
der lebensweltlichen Handlungsrahmenbedingungen entstehen, wenn man auf die Frage nach
der Entstehungsgeschichte der ethischen Norm und Institution antworten will. Bubner
bemerkt deshalb, dass „die Ordnung des existenten Rahmens, innerhalb dessen wir uns
praktisch bewegen, ist.“ 138 Die Normen und die sozialen Ordnungen, die als die angestrebte
Basis der kollektiven Handlungen und des Gesellschaftslebens eine wichtige Rolle spielen,
sind nicht auf der isoliert–idealen Subjektivität und der transzendentalen Formalität begründet,
sondern resultieren vielmehr aus der intersubjektiven Übereinstimmung, den lebendigen
Strukturen des Zusammenlebens. In diesem Zusammenhang schlägt Bubner vor, die Normen
als „die gewollte Übereinstimmung zwischen den subjektiven Handlungsmaximen vieler
Einzelner“ zu verstehen,139 da die Handlungsmaximen der Praxis der handelnden Subjekte die
Handlungsrichtung zeigen. Um den Handlungsvollzug zu erreichen, ist es somit notwendig,
zwischen den Maximen übereinzustimmen und die Normen zu schaffen, mit denen die
Handlung der Subjekte verbunden ist. Wenn die Handlungsverhältnisse und –weisen von
Hause aus als die Ermöglichung des kollektiven Handelns und der Normbegründung
betrachtet werden, zeigt sich das Ethos als die gewohnten Institutionen, die historisch geprägt
sind und den geschichtlich–veränderten Situationen gemäß jeweils wieder neu errichtet
werden. Die Ethos–Ethik beschäftigt sich daher mit den konkreten Lebensformen und den
Institutionen, die sich aus der Gewohnheit historisch ergeben und entwickeln. Anders gesagt,
137
138
139
R. Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, Frankfurt a. M. 1984, S. 174.
Ders., Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft ?, Frankfurt a. M. 1996, S.171.
Ders., „Norm und Geschichte“, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 17, hrsg. v. ders., Konrad Cramer,
Reiner Wiehl, Göttingen 1979, S.111 – 112.
142
verwandelt das Ethos ein „vorfindliches Faktum“ 140 in einen Gegenstand der Ethik. Die Ethik
muss nun an den Ethos anknüpfen, das von jedem handelnden Subjekt für seine
Handlungssicherheit angestrebt wird, das die Aufgabe der Ermöglichung des Soziallebens
übernommen und konstruktiv ausgebildet hat.
Es wird nun von dem geschichtlich ineinander übergehenden Bildungsprozess des
Subjektes die Rede sein, da die Institution, Bubners Ansicht zufolge, im Grunde sowohl das
Vorgegebene als auch die Gewohnheit ist. Durch den Bildungsprozess hat sich das sittlich
handelnde Subjekt in den normativen Horizont, der bereits durch das geschichtliche,
gemeinsame Zusammenleben zustande gekommen ist, hineinbegeben. Im Einbezogensein in
die gemeinschaftlichen Institutionen hat das Subjekt die Fähigkeit zum wissenden Umgang
mit der traditionellen Dimension der Sitten und gilt den Anderen als Seinesgleichen. Das
Subjekt muss damit im Verlauf der sozialen Handlungen zugleich lernen, seine nackte
Subjektivität durch die gesellschaftlichen Normen in das eigene Sozialleben hinein zu
verlagern. Anders formuliert, lernt das handelnde Subjekt durch die Vergesellschaftung die
egozentrische Begierde aufzuheben und die Handlung der Anderen bzw. die gesellschaftliche
Sitte rücksichtvoll zu respektieren. In diesem Bildungsprozess ist das Subjekt zu der
Auffassung gelangt, dass das soziale Lebensfeld allein, in dem die intersubjektive
Wechselbeziehung entfaltet wird, seine Freiheit garantieren kann. Wenn das handelnde
Subjekt - die Handlung entsteht allerdings nur aus seinem inneren Willen – durch den
Handlungsvollzug bzw. die Erfüllung seines entworfenen Handlungsziels zum Wohlgefühl
oder Bewusstsein von Freiheit gekommen sein sollte, dann wird die normative Festlegung für
die Befriedigung aller Handelnden gefordert, da das Subjekt selbst alle Handlungsweisen
verlangt, mit denen die Subjekte mehr oder weniger übereinstimmen können. In diesem
Zusammenhang kann also behauptet werden, dass die institutionelle Organisation, z. B. der
Staat einen freien Spielraum in sich enthält, 141 in dem die Subjekte sich selbst einerseits ins
140
141
Ders., Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, S.181.
Vgl. Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S. 7-16. Hier versucht er ergänzend, Hegels Idee der
Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie in Bezug auf die Diagnose der sozialen Pathologie zu reaktualisieren.
Mit diesem Ziel verkündet er zunächst den Zweifel an Hegels sozial–politischer Philosophie, vor allem das
Vorurteil gegenüber Hegels Staatsbegriff, von dem das heutige Diskussionsmilieu schwer überschattet wird.
Seiner Ansicht zufolge scheint Hegels Staatsbegriff die individuelle Freiheit in der Diskussion über die
sozial–politische Philosophie beschränken zu wollen, noch radikaler formuliert, zu opfern, um die Autorität
des Staates zu verbürgen. Aus der Sicht der Kritiker an Hegels sozial–politischer Philosophie, liegt
schließlich auf der Hand, dass Hegels Rechtsphilosophie eine antidemokratisch–konservative Konzeption
entfaltet. Im Hinblick auf die allgemeinen Einwände gegen Hegels Staatsbegriff, stützt sich jedoch der Staat
bei Hegel, Bubners Ansicht zufolge, weder auf die autonome, deshalb isolierte Subjektivität, noch auf die
Beschränkung der individuellen Freiheit, sondern vielmehr fungiert er als ein grundlegender Spielraum, in
dem alle Subjekte die eigene Besonderheit verwirklichen und miteinander ausspielen. Somit benötigen die
Subjekte unbedingt den Staat als existentielle Grundlage, wenn sie die Freiheit, die Autonomie und die
Besonderheit überprüfen wollen. Diesbezüglich, R. Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?,
143
Konfliktfeld der Begierden versetzen und gleichzeitig andererseits die Selbstverwirklichung
bzw. die gemeinsame Lebensform in der Gesellschaft finden. Das handelnde Subjekt beteiligt
sich an dem kollektiven Spielraum der intersubjektiven Handlungen, sofern die Ich–Identität
im Verlauf der Sozialisierung nicht zerstört worden ist. Und umgekehrt kann man sagen, dass
alle Beteiligten am sozialen Handlungsfeld durch alle Lebenszusammenhänge hindurch ihre
Ich–Identifizierung progressiv und permanent herstellen, da das Subjekt mit der Erwartung
der Reaktion von den gleichberechtigten Anderen, die Realisierbarkeit des inneren Willens
und das freie Selbst erkennen kann. Jeder Handelnde verlangt deshalb die institutionelle Basis,
die sich unter den gesellschaftlich–konkreten Situationen verändern kann. Auf dieser Basis
kann das Subjekt die Handlungsweise der Anderen voraussehen und seine künftige Reaktion
entwerfen. Diese ontologische Grundlage der sozialen Praxis verankert sich im menschlichen
Zusammenleben mit der intersubjektiven Vertrautheit, Verlässlichkeit und mit dem Verstehen
des wandelnden Laufes der Wirklichkeit. Darüber hinaus kann die Freiheit der
Gesellschaftsmitglieder aus Bubners Sicht unter der „Autonomie des sittlichen Staates“ 142 real
verwirklicht werden.
Alle Subjekte haben auch verschiedene soziale Rollen in der Gesellschaft inne, bei
denen sie die Chance der Selbstverwirklichung auf der gesellschaftlichen Handlungsebene
sehen: In Bezug auf die sozialen Handlungen üben alle Subjekte auf den verschiedenen
Gesellschaftsebenen entweder als Vater, Mutter, Lehrer, Student usw. die eigene, aber auch
gleichzeitig verschiedene Sozialrollen aus. Gleichwohl ist es eine Tatsache, dass sich jedes
handelnde Subjekt schließlich selbst im gelungenen Handlungsvollzug, der mit der Erfüllung
der jeweiligen Sozialrolle einhergeht, verwirklicht. Für uns läßt sich daher schwer sagen, ob
jede Sozialrolle auf einem einzigen Handlungsmuster gegründet werden kann. Aber wenn wir
die Handlungsphänomene in der alltäglichen Lebenswelt betrachten, liegt es auf der Hand,
dass alle handelnden Subjekte auf der Gesellschaftsebene agieren und auf die Anderen
reagieren. Damit bilden sie ihre eigenen Lebensformen, die bei ihnen zur Grundlage der
Handlung werden. Durch die so ausgebildete Lebensform hindurch, die den Subjekten als
handlungsorientierender Wegweiser vorgegeben wird, identifiziert sich das Subjekt auch mit
sich selbst. Das heißt, dass das Subjekt in der Erfüllung der Sozialrolle im gesamten
S. 156 und ders., Polis und Staat, Frankfurt a. M. 2002, S. 153 – 173. Hier versucht er insbesondere, den
Staatsbegriff des späten Hegel in Verbindung mit dem frühen Hegelschen Begriff des Lebens darzustellen. In
diesem Interpretationsvorgang sollte man, Bubner zufolge, die Institutionen bzw. die staatlichen
Einrichtungen als die ontologische Bedingung für die subjektive Selbstverwirklichung und die Sozialisation
gelten lassen, weil wir immer schon in diesen staatlichen Institutionen als unserer vertrauten Lebenswelt
leben.
142
Ders., Polis und Staat, S. 171.
144
Lebensraum nicht nur seine Lebensform ausbildet, sondern auch die ausgebildete Lebensform
als einen Wegweiser der Handlung verfolgt.
Im Anschluss an die Identifizierung und die Selbstverwirklichung des handelnden
Subjekts vor dem soliden Hintergrund der Institutionen, die die verschiedenen
Handlungsmodi präsentieren, müssen wir auch darüber nachdenken, inwiefern die
„Willensentscheidung“ 143 (Prohairesis) und die „Klugheit“ (Phronesis) bei Aristoteles beim
Aufbau der Normen, die jeweils von den geschichtlichen Handlungsrahmenbedingungen
abhängen, eine zentrale Rolle spielen. Das handelnde Subjekt hat im Grunde die Fähigkeit,
bei seiner Handlung frei nach seinem Willen zu entscheiden und sich die von der Situation
geforderten Maßstäbe anzueignen. In diesem Sinn schreibt Aristoteles:
„Prinzip des Handelns als Ursprung der Bewegung (nicht als Zweck) ist der Wille; Prinzip der
Willensentscheidung ist das Streben und der Begriff des Zweckes. Darum ist eine
Willensentscheidung weder ohne Vernunft und Denken noch ohne ethisches Verhalten
möglich. Denn ein rechtes Verhalten und das Gegenteil davon existiert nicht ohne Denken
und Charakter.“ 144
Die Handlung wird immer durch den Willen realisiert. Der Wille zeigt sich demnach als die
Quelle der Handlung. Der strebende Wille enthält überdies beim Handeln bereits den
„Zweck“ in sich, der auf die Befriedigung und auf die Selbstverwirklichung des handelnden
Subjekts verweist. Im Verlauf der Realisierung des inneren Willens hat es die Handlung auch
mit „der Klugheit“ zu tun, die als Anleitungskraft der rationalen Handlung eine Rolle spielt.
Das handelnde Subjekt verfolgt kein animalisches Streben, sondern Rationalität und
143
Diesbezüglich müssen wir Gadamers Stellungnahme zur hermeneutischen Praxis bedenken. Gadamer
unterstellt zunächst, dass Hermeneutik im Grunde genommen „ein praktisches Bestandstück“ der Tätigkeit
des Verstehens ist. Dementsprechend legt er den Zusammenhang der Begriffe Prohairesis, Phronesis und
Praxis in Aristoteles’ Ethik aus. Nach ihm bedeutet Prohairesis die freie Wahl des tätigen Menschen. Der
Mensch hat von vornherein die Freiheit der wollenden Entscheidung beim Handeln, die grundsätzlich nicht
als notwendiges Naturgesetz bestimmt werden kann. Er ist also fähig, bewusst eine von den Möglichkeiten
zu wählen und willentlich die Selbstentscheidung auf die Handlung hinzuführen. Aber die menschliche
Praxis wird nicht nur von der Prohairesis gebildet, sondern die Praxis bezieht sich auch auf „den
Lebensvollzug (Energeia) des Lebendigen überhaupt“. Dementsprechend beinhaltet die Praxis im Ganzen die
Lebensformen, die Handlungsweise und die Verhaltensweise der handelnden Menschen im
Gesellschaftsleben. Deswegen ist die Praxis das gesellschaftliche Zusammenleben in der überindividuellen
Dimension, der alle Lebendigen und die Verhaltensweise aller entsprechen sollen. Aufgrund dieser
Beziehung zwischen Prohairesis und Praxis geht es beim handelnden Menschen um das „praktische Wissen“,
die Klugheitsüberlegung als Phronesis. Phronesis weist also auf das Wissen und das Vermögen hin, alles
Handeln in den latenten Situationen angemessen zu leiten und Rat zu erteilen. Mit Phronesis erreicht der
Mensch sein Handlungsziel, ohne im Widerspruch zur Praxis zu sein. Vgl. Hans–Georg Gadamer,
„Hermeneutik als praktische Philosophie“, in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. I, hrsg. v.
Manfred Riedel, Freiburg 1972, S. 327 – 329.
144
Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, 1139a 31-35.
145
überdenkt die Angemessenheit seiner Wahl in einer gegebenen Situation. Deswegen kann
man sagen, dass die Handlung nur im Verhältnis zur Leistung der Klugheit besteht.
Diesbezüglich kann der Ablauf einer Handlung z. B. auf der Basis einer Schlussfolgerung
betrachtet werden. Wenn man über den allgemeinen Gegenstand des inneren Willens – wir
können dies den Obersatz nennen – vor seinem Handeln verfügt, muss man dabei die
angemessenen Mittel unter den gegebenen Umständen wählen: Wenn man an das allgemeine
‚Süß’ als einen Obersatz denkt, dann tendiert man beim Handeln notwendigerweise zum
Mittelsatz ‚Kuchen ist süß’, als das beste rationale Mittel, dessen sich das Subjekt bewusst
ist. 145 Nach der bestimmten Wahl realisiert das Subjekt den inneren Willen als das zu
Befriedigende mit der Handlung. So erreicht jede Handlung ihr Ziel durch die rationale
Applikation hindurch in der allgemeingültigen Lebensganzheit und erfüllt so den Anspruch
auf Legitimation.
Dementsprechend handelt es sich für Bubner um das „Wiedererkennen“, das auf die
Situation der Selbsterfahrung des handelnden Subjekts im praktischen Leben verweist, in der
das handelnde Subjekt, das mit seinem eigenen Willen während des Handelns verbunden ist,
das Gleichgewicht zwischen dem egozentrisch–verschlossenen Trieb und der rationalen
Entscheidung hält und es ihm gelingt, seine Klugheit in der Auseinandersetzung mit den
vorgegebenen Handlungssituationen anzuwenden. In Bubners Augen bezieht sich das
Wiedererkennen auf den geschichtlichen Bildungsprozess des Subjekts, in dem sich das sich
selbst wieder erkennende und rekonstruierende Subjekt vom nackten Bewusstsein über das
egoistische Selbstinteresse im Rechtsverhältnis zu den überindividuellen Handlungsnormen in
der Gesellschaft, anders gesagt, zum Horizont der gesamten Sinnganzheit emporgehoben hat.
In diesem Bildungsprozess oder dem sich selbst wieder erkennenden Prozess des Selbst,
erscheinen die Institutionen als das Gebiet des objektiven Geistes im subjektiven Bewusstsein.
Eine solch einheitliche Verschmelzung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Geist
meint m. E. die einheitliche Übereinstimmung des Subjekts mit den gesellschaftlichen
Normen und Sitten in der praktischen Lebenswelt. In diesem Sinn deutet das Wiedererkennen
bei Bubner auf die Einsicht hin, „daß die Institutionen Geist vom Geist des Subjekts sind.“ 146
Darüber hinaus bringt das Wiedererkennen, das nahezu als eine Geschichte der Erfahrung des
Bewusstseins verstanden werden kann, bei Bubner nicht nur das einzelne Subjekt zur Einsicht
in das Allgemeine, sondern erscheint auch als die Wiederherstellung der Selbstheit des
Subjekts. Anders formuliert bedeutet das Wiedererkennen des Subjekts, was die Übertragung
145
Vgl. zur Orientierungsrolle im konkreten Handeln der formell–logischen Schlussfolgerung, R. Bubner,
Handlung, Sprache und Vernunft, S. 261.
146
Ders., Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, S.160.
146
der Einzelheit auf die Allgemeinheit betrifft, keine Vernichtung der Besonderheit des
Einzelnen, sondern vielmehr die zu sich selbst kommende Rückkehr, nämlich die Ausprägung
der Ich–Identität in der praktischen Lebenswelt. Das Wiedererkennen weist daher von
vornherein auf die sich selbst umwälzende und dennoch sich selbst ausbildende Sinnganzheit
des subjektiven Bewusstseins hin. In diesem Prozess wird dem Einzelnen seine Besonderheit
gewährt, ohne dass die Freiheit der subjektiven Willensentscheidung von außen beschränkt
wird.
Wir müssen unsere Aufmerksamkeit nun der „Normgeschichtlichkeit“ Bubners
zuwenden, da sowohl die Institutionen als auch die Normen wie die begriffliche Bewegung
der „Sache selbst“ 147 in der Hegelschen Logik den Charakter der subjektiven Selbstbewegung
haben. Die Normen weisen dieselbe Bewegungsstruktur auf wie der geschichtlich ineinander
übergehende Bildungsprozess des Subjekts in Auseinandersetzung mit den vorhandenen
Strukturen. Somit kann man sagen, dass die Normen sich in Abhängigkeit des Verlaufs der
Geschichte und der Veränderung der Situationen Schritt für Schritt selbst entfalten und
bewegen. Die Normen werden als Voraussetzung und Bedingung für den Handlungsvollzug
auch vom handelnden Subjekt in der bestimmten Situation produziert und bewahrt: Wenn das
handelnde Subjekt die eigene Handlung vollziehen will, spielen die Normen bzw. die
Institutionen zunächst als Bedingung für die subjektive Handlungsermöglichung eine Rolle
und umgekehrt, sie entstehen auch dann aus dem Bedürfnis des Subjekts nach dem
Handlungsvollzug. Daher muss die Normfestlegung vor dem geschichtlichen Horizont der
subjektiven Handlungsmaximen verstanden werden. Wenn die Frage danach gestellt wird, ob
das Subjekt der vorhandenen Handlungssituation gemäß angemessen, richtig handelt und
diese Frage im Rahmen der gesellschaftlichen Norm und der praktischen Philosophie
beantwortet wird, bezieht sich die menschliche Praxis auf die ethische Einsicht in die gesamte
Verflechtung unter den Subjekten in allen Handlungszusammenhängen. In diesem Sinn sagt
Bubner m. E.: „praktische Vernunft ist Vernunft in der Geschichte.“ 148 Bubners Ansicht
zufolge bietet die praktische Vernunft Orientierung für die Handlung des Subjekts im
praktischen Leben für das „Gute Leben.“ Diesbezüglich sind die Handlungsnormen auch der
zugrunde liegende Wegweiser, der das einzelne Subjekt zum menschlichen Zusammenleben
und zum gesellschaftlich Guten führt. Daher kann die Behauptung gewagt werden, dass sich
die Handlungsnormen aus dem Handeln selbst ergeben, welches die überindividuelle Ordnung
147
Vgl. zur Interpretation der Sache selbst als die Bewegung der Begriffe in Hegels Logik, ders., „Die „Sache
selbst“ in Hegels System“, in: ders., Zur Sache der Dialektik, Stuttgart 1980, S. 54 - 60.
148
Ders., „Rationalität, Lebensform und Geschichte“, in: Rationalität, hrsg. v. Herbert Schnädelbach, Frankfurt a.
M. 1984, S. 207 und auch ders., „Norm und Geschichte“, S. 119.
147
der jeweiligen Gesellschaftsebene gemäß der traditionellen Überlieferung mit der
gegenwärtigen Situation verbindet und dabei die Regeln für die intersubjektiven
Verhaltensweisen im Gesellschaftsleben allmählich zu rekonstruieren in der Lage ist.
Dementsprechend erweisen sich die Normen für das handelnde Subjekt als Basis der
Möglichkeit des praktischen Erlebens mit den Anderen, während dem das subjektive
Bewusstsein Schritt für Schritt reichhaltiger wird.
Geht man im Hinblick auf die Normengeschichtlichkeit noch weiter, sind die Normen
immer vom „Geltungsanspruch“ 149 abhängig, da die Normen nur im Verhältnis zu den jeweils
bestehenden Fakten angewendet werden können. Betrachtet man die geschichtliche Erfahrung
der Menschen noch genauer, trifft man auf den bestehenden Widerspruch zwischen den
Normen und dem Anspruch der Geltung. Dieser Widerspruch wiederum führt uns zu dem
Anspruch, dass die Normen in Bezug auf die geschichtliche Wirklichkeit angemessen sein
sollten. Darüber hinaus überprüft das handelnde Subjekt innerhalb der gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen die Anwendbarkeit der Normen und den Zusammenhang der Normen
mit der bestimmten Zeit. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Norm nicht in der Lage ist,
die jeweilige Vielfältigkeit der unterschiedlichen Handlungsebenen und der verschiedenen
Kulturen vollends zu berücksichtigen, obwohl die Norm in Bezug auf die jeweilige Situation
Geltungsanspruch besitzt. Da sich die Lebensbedingungen in Abhängigkeit vom
geschichtlichen Verlauf ändern und das handelnde Subjekt unter den veränderten
Lebensbedingungen ein neues Handlungsmuster benötigt, unterliegt jede Norm dem Einfluss
der Geschichte. Auch wenn sich das handelnde Subjekt unter den veränderten
Lebensbedingungen die neue Norm aneignet und es ihm deshalb möglich wird, aus dem
Vergangenen auszubrechen, kann das Neue nur in sukzessiver Auseinandersetzung mit dem
vergangenen gebildet werden. Mit anderen Worten: Die neue Lebensbedingung bringt das
angemessene Handlungsmuster hervor und konstruiert die neue Norm. Dennoch ergibt sich
die neue Norm nur aus dem engen Zusammenhang mit den vergangenen Lebensformen.
Somit wird deutlich, dass die Entstehung der Norm nicht die Elimination des Vergangenen,
sondern das konstruktive Verständnis des Vergangenen bedeutet. Wenn auch die Legitimität
jeder Norm nur im Zusammenhang mit dem Anspruch der lebendigen Gegenwart bewiesen
werden kann, steht die neue Norm immer noch unter dem fortwirkenden Einfluss der
Vergangenheit, so wie die lebendige Gegenwart mit dem überlieferten Vergangenen
verbunden ist.
149
Ders., Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, S. 265.
148
Nun können wir bei Bubner im Anschluss an den „Geltungsanspruch“ die
„Rationalitätsleistungen“
und
die
„Gesichtspunkte“
150
der
Beteiligten
aus
den
Handlungszusammenhängen ableiten. Was zunächst die Rationalitätsleistungen betrifft,
bezieht sich die sittliche Welt bei ihm auf die Verbesserung und die Verfeinerung der
Rationalität, aus der die Normen unter Berücksichtigung der geschichtlichen Situation
abgeleitet und verwirklicht werden. Die Normen sind in verschiedene Einzelteile zerlegt,
insofern sie die Sinnganzheit aller Handlungszusammenhänge in sich selbst noch nicht
vereinen und unter den verschiedenen Bedingungen der vorgegebenen Situationen
rekonstruiert werden müssen. Trotz dieser Einzelteile sieht das handelnde Subjekt nur in
Bezug auf die Normen die Möglichkeit der allgemeinen Praxis und des Handlungsvollzugs,
da die Normen allein es vermögen, zunächst die vielfältigen Handlungen aller Subjekte
musterhaft in den einheitlichen Horizont des Lebensganzen einzubeziehen und das Subjekt
mit der Verfolgung des handlungsorientierten Anleiters die eigene Handlung nachvollziehen
zu können glaubt. In diesem Zusammenhang verlieren die relativen und partikulären Normen
ihre handlungsweisende Rolle, da sie für die Verwirklichung der allgemeinen Praxis offen
bleiben. Infolgedessen müssen die Normen im Zusammenhang mit dem Lebensganzen und
dem Gesellschaftsleben aller handelnden Subjekte als Handlungswegweiser die führende
Rolle übernehmen. Wenn die Normen, die auf die verschiedenen Handlungsebenen einwirken,
damit in das gesamte System integriert werden, anders gesagt, in das Gesellschaftssystem
übergegangen sind, kann die systematisierte Norm dem handelnden Subjekt auch wieder
Freiräume schaffen. Diesbezüglich handelt es sich für Bubner um die „Gesichtspunkte“ aller
Beteiligten am Gesellschaftsleben, die hier als die Interpreten der Normen auftreten. Die
Normen müssen vom handelnden Subjekt, das die Normen von vornherein als das eigene
Handlungsmuster annimmt, auf den unterschiedlichen Gesellschaftsebenen konkretisiert
werden können. Auch wenn die Normen in Form von institutionellen Systemen auftauchen
und das Subjekt sich bei seiner Handlung diesen Systemen zwangsläufig unterwerfen muss,
müssen die Normen doch zunächst durch die Handlung des Subjekts in den konkreten
Handlungsspielräumen erkannt und akzeptiert werden. In diesem Sinn werden die Normen bei
der Anwendung auf der konkreten Handlungsebene notwendigerweise vom handelnden
Subjekt interpretiert. Das unterworfene Subjekt muss im Verlauf des Veränderungsprozesses
der geschichtlichen Situation fähig sein, die Normen zu interpretieren, bevor die Normen
einen unerträglichen Zwang auf das handelnde Subjekt ausüben. Mit der Möglichkeit der
Interpretation der Normen wird dem Subjekt zunächst ein Spielraum überlassen, in dem die
150
Ebd., S.267 - 269.
149
Handlung überhaupt erst möglich wird. Zudem erhält das Subjekt innerhalb dieses Spielraums
die Möglichkeit, die Lebendigkeit bzw. die Flexibilität der Normen zu erfassen. Denn die
Normen müssen dem Handelnden auf der Gesellschaftsebene konkret einleuchten, damit die
Abstraktion des Systems aufgehoben werden kann.
An dieser Stelle geht Bubner auf „die Übersetzbarkeit der Normen“ ein. Die
Übersetzbarkeit der Normen bezieht sich bei ihm zunächst nicht auf die subjektiv entworfene
Abstrahierung der Normen, sondern auf die der Intersubjektivität zugrunde liegende
Etablierung der Normen. Das handelnde Subjekt steht zunächst beim Handeln, wie wir bereits
gesehen haben, unter dem Einfluss der vorgegebenen Sitte. Das Subjekt findet eine
allgemeine Lebensform vor, bei der die Menschen einen gegenseitigen Einflußs aufeinander
ausüben und sich ihre Handlungen wechselseitig aufeinander auswirken. Daraus folgend gibt
die allgemeine Lebensform dem Subjekt Handlungssicherheit und eröffnet ihm die
Möglichkeit, künftige Handlungsverläufe zu erkennen. Hier erscheint die allgemeine
Lebensform in Form der Institution, die vom handelnden Einzelnen, nämlich dem isolierten
Subjekt, gar nicht aufgebaut werden kann. Aus diesem Grund werden die Institutionen, in
denen sich das Gesellschaftssystem konkretisiert, durch die gemeinsame Verbindung mit allen
Subjekten etabliert und installiert. Somit zeigt sich, dass die Institutionen, die die existentielle
Basis der Gesellschaft bilden, die „Bedingung der Möglichkeit“ des intersubjektiven
Handelns sind. In diesem Sinn schreibt Bubner: „Überall dort, wo der Einzelne sein Handeln
mit Intersubjektivität verbindet, kommen Institutionen seinen Zielsetzungen entgegen: ihr
Zweck wird sein Zweck.“ 151 Dieser Äußerung Bubners zufolge kann die Übersetzbarkeit der
Normen auf zweierlei Weise verstanden werden: Die absolute Übersetzung richtet sich erstens
auf die Übereinstimmung des einzelnen Subjekts mit den Institutionen als dem
Gesellschaftssystem. Zweitens muss die Institution immer durch die kollektive Handlung und
das Bedürfnis des handelnden Subjekts nach dem Handlungsziel gestützt werden, um die
Normen auf die Gesellschaftsebene zu übertragen. Mit dieser zweiten Perspektive weist er im
Anschluss an Hegels Begriff eindeutig auf „ein unhinterfragbares >>es gibt<<“, nämlich „die
Stellung des objektiven Geistes in der Zeit“ 152 hin. Dieses besteht darin, hegelianisch
betrachtet, einen Blick auf den objektiven Geist zu werfen, der sich unter den Bedingungen
der geschichtlichen Situation angemessen verwirklicht.
151
152
Ders., Ebd., S. 282.
Ders., Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, S. 165.
150
V.
Resümee
–
Von
einer
reflexiven
Abgeschlossenheit
zum
spielerischen
Reflexionsverhältnis der ästhetischen Erfahrung
An dieser Stelle fassen wir zunächst die bisherigen Überlegungen der Geschichtlichkeit der
ontologischen Erfahrung des Bewusstseins bzw. der wechselseitigen Anerkennungsbewegung
in Hegels Philosophie unter Gadamers hermeneutischem Denkansatz zusammen. Mittlerweile
haben wir gesehen, dass der ontogenetische Selbstausbildungsprozess des Bewusstseins zum
reflexiv zu sich selbst zurückkehrenden Selbstbewusstsein für Hegel auch die Grundstruktur
der ontologischen Erfahrung des Menschen angesichts einer historisch spezifischen Situation,
die für das hermeneutische Verstehen in Gadamers philosophischer Hermeneutik
charakteristisch ist, bildet. Denn wenn die Erfahrung des Bewusstseins, dessen Hauptaufgabe
es ist, sich seiner selbst bewusst zu werden, auf die sich wandelnden Erfahrungssituationen
angewiesen ist, spielt jede Situation in jeder geschichtlichen Phase der Erfahrung des
Bewusstseins ihre entscheidende Rolle als ontologische Grundlage, die dem prozessualen
Verzweiflungsweg des Selbstbewusstseins dadurch, dass sich das Subjekt dieser Erfahrung
auf jeder Entwicklungsstufe das, was es hinter sich gebracht hat, bewusst macht, und gibt
damit den Anstoß zur Selbstentfaltung hin zu einem anderen Erfahrungshorizont. Kurz gesagt,
ist der Motor der dialektischen Selbstausbildung des Selbstbewusstseins hier das
Bewusstmachen, das jeder gelungenen Erfahrung des Bewusstseins immer fehlt. Wenn wir
außerdem in Anknüpfung an Gadamers Hermeneutik die ontologische Grundlage für die
ontologische Selbsterfahrung des Bewusstseins, die sich selbst dem geschichtlichen
Entfaltungsprozess
gemäß
darbieten
soll,
nicht
vom
vollendeten
Ende
dieser
Erfahrungsgeschichte her, sondern von ihrem Verlauf aus betrachten, können wir sehen, dass
sie sich auch bei Hegel nie voll ausschöpfen lässt, obwohl Hegels Konzept des
geschichtlichen Lernprozesses des Selbstbewusstseins zum Geist im Grunde darin besteht,
den fortschreitenden Erfahrungsweg mit der bewussten Vollständigkeit des Geistes zu Ende
zu führen. Dennoch kann man sagen, dass der geschichtliche Erfahrungsverlauf des
Bewusstseins, den Hegels Phänomenologie des Geistes detailliert skizziert hat, noch immer,
wie bereits erwähnt, den Charakter der ontologischen Erfahrung impliziert, da es sich hier im
Prinzip um die Geschichtlichkeit der Erfahrung, die bei Hegel, Gadamers Ansicht zufolge, die
Integrationsleitung vollbringt und nicht die Restitution des Urbildes vollzieht, sondern den
ständig neuen und anderen Sinnhorizont erschließt, handelt.
Aus Gadamers Sicht konstituiert die Wechselseitigkeit der Erfahrung des
Selbstbewusstseins, nämlich die Anerkennungsbeziehung bei Hegel, andererseits auch das
151
Grundelement der ontologischen Erfahrung des menschlichen Seins. Es wurde bereits gezeigt,
dass Hegels Auffassung von der wechselseitigen Anerkennungsbeziehung im wesentlichen
den geschichtlichen Lernprozess des Selbstbewusstseins in den Vordergrund stellt. Dass die
Grundstruktur der Erfahrung des Selbstbewusstseins sich in ihrer Wechselseitigkeit befindet
und dass das Selbstbewusstsein sich in die gegenseitige Bezüglichkeit als ein sich selbst
ausbildendes Sinnnetzwerk einlässt, bedeutet, dass das Selbstbewusstsein sich bereits im
unentbehrlichen Wechselverhältnis zum Anderen befindet. In diesem reziproken Spielraum
bildet
das
Selbstbewusstsein
nicht
nur
sich
selbst
durch
die
verschiedenen
Anerkennungsformen hindurch aus, sondern findet auch unmittelbar seinen Anderen. Um sich
selbst als ein freies Selbständiges zu erkennen, muss das Selbstbewusstsein im Verlauf seines
Bildungsprozesses die unvermeidbare Konfrontation mit der Andersheit des Anderen erfahren.
Gadamer sieht den entscheidenden Punkt in Hegels Grundanliegen zur zwischenmenschlichen
Anerkennungsbeziehung darin, dass das Sich–im-Anderen–Anschauen im Laufe der
geschichtlichen
Selbstausbildung
den
hervorragenden
Modus
der
kritischen
Selbstüberwindung der eigenen Isoliertheit, nämlich der reflexiven Selbsterkenntnis, in deren
Stufe das Selbstbewusstsein weiß, womit es sich identifizieren soll, bildet. Dadurch, dass das
Selbstbewusstsein die dauerhafte Anerkennungsbewegung zwischen der sich von der naiven
Banalität befreiten Selbstüberwindung und der internalisierten Selbstidentifizierung
durchläuft, bestimmt es sich, nach Hegel, schließlich als einen freien Menschen. Da wir
Gadamers philosophische Hermeneutik später noch genauer betrachten werden, haben wir uns
im Zusammenhang mit der Hegelschen Anerkennungstheorie im Hinblick auf Gadamers
dialoghermeneutische Perspektive insbesondere auf die Liebesbeziehung als das unmittelbare
Finden des ontologischen Gegenübers auf der Basis des gegenseitigen Rechtsverhältnisses
konzentriert. Denn wenn sich das Selbstbewusstsein, um seine Selbständigkeit zu erkennen, in
das unvermeidbare Anerkennungsfeld einlässt, zumal wenn das Anerkennungsverhältnis unter
den Menschen eine zirkuläre Bewegtheit zwischen dem Selbstbezug und dem Fremdbezug
aufweist, erfordert das Sich-Einlassen auf das Anerkennungsverhältnis zuallererst die
freiwillige Bereitschaft zum Annehmen des Anderen als Partner, nämlich zum Verstehen des
Anderen, was durch den geschichtlichen Prozess geschieht. Da die Liebesbeziehung innerhalb
des den Anderen ausschließenden Rechtskonfliktes hier die ontologische Erfahrung der
Verlässlichkeit, ja Freundschaft, die das menschliche Zusammenleben ermöglicht, bedeutet,
spielt
sie
als
eine
der
beiden
Bestandteile
des
zwischenmenschlichen
Anerkennungsverhältnisses in Gadamers Dialoghermeneutik eine entscheidende Rolle. Denn
ungeachtet des erbitterten Streits mit dem Gesprächspartner im Dialogverhältnis über die
152
Dialogsache, zu der alle Betroffenen dazu gehören, vor allem z. B. in einer diplomatischen
Verhandlung, verweist, wie das Anerkennungsverhältnis oben gezeigt hat, das Sich-Einlassen
auf das Gespräch mit dem Anderen von vornherein nicht nur auf die Bereitschaft zum
Verstehen des Anderen, sondern befindet sich immer schon im fortdauernden historischen
Durchgangsweg von der kritischen Erprobung der eigenen Position zur Verständigung über
den Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit und über sich selbst.
Auch wenn Gadamer einerseits die Geschichtlichkeit der Selbsterfahrung des
Bewusstseins und andererseits die Bewegung der gegenseitigen Anerkennung in Hegels
Philosophie als die musterhafte Struktur der ontologischen Erfahrung des Menschseins
verstanden und deshalb in seine Dialoghermeneutik aufgenommen hat, so hat er doch auch
darauf geachtet, dass Hegels Systemphilosophie, gegen die sämtliche Hegel–Kritiker
Vorwürfe erhoben haben, eine reflexive Abgeschlossenheit aufweist. Von der in sich
geschlossenen
Selbstgewissheit
der
subjektphilosophischen
Reflexivität
und
der
systemphilosophischen Abgeschlossenheit in Hegels Philosophie, hat Gadamer sich jedoch
kritisch distanziert. In Hegels Philosophie wurde zunächst gezeigt, dass das Bewusstsein seine
Aufgabe durch den gesamten Prozessverlauf hindurch bis zum Ende, an dem es sich als ein
freies und selbständiges Selbst erkennt, erfüllt. Somit können wir feststellen, dass die
dialektische
Entwicklungslogik
in
diesem
Prozess
verborgen
ist.
Wenn
die
Anerkennungsbewegung zwischen den beteiligten Parteien nunmehr vor allem zur
unmittelbaren Vereinigung mit dem allgemeinen Willen tendiert, muss eine solche
Anerkennungsbewegung den Entwicklungsweg über die tiefere, höhere, ja bis hinaus zum
höchsten, letzten Endzweck, auf dessen Stufe sich der absolute Geist selbst vollendet,
manifestiert und erkennt, durchsetzen. Im Anschluss an diesen teleologischen Denkvorgang
erhebt jeder Hegel–Kritiker den Einspruch, dass Hegels Philosophie eine systematische
Homogenität, nämlich die systemphilosophische Abgeschlossenheit, die immer mit der
totalen Vermitteltheit zwischen Wirklichkeit und Denken bzw. Wahrheit und Geschichte
vollendet ist, aufweist. So gesehen kann man sagen, dass das Selbst sich selbst in der
prozessualen Anerkennungsbewegung als ein freies nur nachträglich bestimmen und erkennen
kann, erst nachdem es den Selbsterfahrungsprozess, während dem es sich selbst negiert, im
Verhältnis zum allgemeinen Willen durchlaufen hat. Im Anschluß treffen wir auf die
unerwartete Gefahr, die darin besteht, dass der entwicklungslogische Verfahrensverlauf der
Anerkennungsbewegung die Individualität des Selbst als ein freier und besonderer Mensch
zunehmend vernichten und schließlich der staatlichen Machtherrschaft unterwerfen kann.
153
Im Anschluss an diese Hegel–Kritik können wir hier auch Schellings kritischer
Bezugnahme auf Hegels dialektische Entwicklungslogik der Selbstnegation, die im Grunde
mit Hegels Wissenschaft der Logik zu tun hat, unsere Aufmerksamkeit zuwenden. 153 Hier
handelt es sich um die zwei Hauptpunkte in der Hegel–Kritik des späten Schellings: Einerseits
die Unterscheidung zwischen der „negativen“ und der „positiven“ Philosophie, die „die freie
Begegnung mit dem wirklichen Prinzip selbst sein muß“, 154 andererseits die ungelöst
bleibende Systemfrage in Bezug auf Hegels Begriff der Realität. Aus Sicht des späten
Schellings kann Hegels Philosophie nicht mehr die absolute Philosophie sein, sondern sie ist
lediglich die negative Philosophie, sofern sie für Schelling die realen Gegenstände im bloßen
Denken negativ einholt, d. h. das Denken in dieser Philosophie seinen Gegenstand von sich
selbst aus logisch und begrifflich herstellt. Denn wenn eine Philosophie, Schellings Ansicht
zufolge, de facto absolut wäre, sollte sie unter allen Umständen die negative und die positive
Philosophie gleichermaßen umfassen können. Für ihn gilt das begriffliche Denken nunmehr
als dasjenige, das alles in sich selbst negierend aufnimmt und deshalb nur um sich selbst
kreist. Dies berücksichtigend, merkte der späte Schelling gegenüber Hegels Konzept für den
„Begriff“ in dessen Logik kritisch an, dass der „Begriff alles sei und nichts außer sich
zurücklasse“. 155 Ausgehend von dieser Hegel–Kritik stellt Schelling seine Unterscheidung der
negativen und der positiven Philosophie ins Zentrum seines eigenen Denkens. Im Hinblick
auf eine solche Unterscheidung hat er auch zugegeben, dass es Hegels philosophisches
Verdienst war, die negative Philosophie, also diejenige Philosophie, die das Reale auf das
„reine Denken“, das in seinem Vollzug mit seinem Sein und sich selbst eins ist, vollkommen
zurückführt, als ein unabdingbares Paradigma der Philosophie zu erarbeiten. Infolgedessen
erhebt Schelling später aber auch einen Anspruch auf die positive Philosophie in dem Sinn,
dass die negative Philosophie nur im notwendigen Übergangsweg zur positiven Philosophie
ihre Berechtigung hat. Aus diesem Denkansatz Schellings zur positiven Philosophie können
wir schlußfolgern: Wo die Philosophie ihre prinzipielle Negativität gegenüber der
Wirklichkeit in ihrem unvordenklichen Existieren durchschaut und sich aus dieser, der sie ja
in
der
Praxis
angehört,
erkennt,
da
vermag
sie
zu
einer
„positiven
Philosophie“ fortzuschreiten, die sich als ein Begreifen aus Wirklichkeit und Geschichte
153
154
155
Vgl. Wolfdietrich Schmied–Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie – Studien zur Hegel –
Kritik und zum Problem von Theorie und Praxis, Düsseldorf 1974, S. 119 – 136. Ders., „Anhang. Ansätze
einer materialischen Kritik der Hegelschen Logik bei Schelling“, in: ders., Die Dialektik der
gesellschaftlichen Praxis – Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie, Freiburg/München 1981,
S. 247 – 261. Auch zudem Rolf–Peter Horstmann, Die Grenzen der Vernunft – Eine Untersuchung zu Zielen
und Motiven des Deutschen Idealismus, 2. Aufl., Weinheim 1995, S. 245 – 268.
Schmied–Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie, S. 126.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften von 1813 – 1830, Bd. 10, in: Schelling Ausgewählte Werke,
Darmstadt 1989, S. 409.
154
versteht und die Schelling daher auch gelegentlich als eine auf die freie Tat des erfahrenden
Denkens gegründete „geschichtliche Philosophie“ bezeichnet.“ 156
Nach dieser Feststellung, dass Hegel in der negativen Philosophie die absolute
Philosophie gesehen hat, ist Schelling später, wie von Schmied–Kowarzik formuliert, der
Frage nach der systematischen Inkompatibilität zwischen dem Begriff als der logischen Idee
und der Natur, nämlich der Realität, in Hegels Philosophie nachgegangen. Im Hinblick auf die
ungelöste Systemfrage in Hegels Philosophie schreibt Schelling später: „[…] Für so
verdienstlich man daher auch die Anwandlung anschlagen muß, die Hegel hatte, die bloß
logische Natur und Bedeutung der Wissenschaft, die er vor sich fand, einzusehen, so
verdienstlich insbesondere es ist, daß er die von der früheren Philosophie im Realen
verhüllten logischen Verhältnisse als solche hervorgehoben hat, so muß man doch gestehen,
daß in der wirklichen Ausführung seine Philosophie (eben durch die Prätension auf objektive,
reale Bedeutung) um ein gut Theil monströser geworden ist, als es die vorhergehende je war,
[…].“ 157 Dieser Satz bezieht sich nunmehr nicht nur auf den Endpunkt der dialektischen
Denkbewegung als der absoluten Einheit von dem Begriff bzw. der Idee und der Realität bzw.
der Wirklichkeit, sondern auch auf den absoluten Anfang als das unbedingte Erste der
logischen Denkbewegung in Hegels Logik. Denn wenn der Begriff bzw. die Idee durch den
logischen Entwicklungsweg hindurch in der Tat die vollkommene Identität mit der Realität
bzw. der Wirklichkeit erreicht oder wenn Hegels Logik zumindest diesen Entwicklungsweg,
auf dem sich der Begriff als die sich selbst wissende Idee erkennt, konsequent darstellt, soll
diese absolute Einheit vor jedem logischen Verfahren bereits als ein absolutes Prinzip im
Anfangspunkt, das als Darstellungswegweiser innerhalb des dialektischen Vorgangsrahmens
fungieren muss, vorausgesetzt werden. Sodann ist der absolute Anfang, der sich selbst als das
„unvermittelte
Unmittelbare“,
als
Voraussetzungslosigkeit
bezeichnet,
damit
zum
Vorausgesetzten, nämlich zum Vermittelten geworden. Nun geht es bei Schelling nicht darum,
„das absolute Prinzip“, nämlich den voraussetzungslosen Anfang bei Hegel im logischen
Denkvollzug zu bestimmen, sondern darum, „das absolute Prinzip als auch ein über das
Denken mächtiges anzuerkennen“. Es geht um „die Bejahung der Vorausgesetztheit des
Prinzips im Denkakt“, da das erste Prinzip nicht vorbestimmt ist, sondern durch das Denken
gesucht werden soll. 158 Daran anschließend richtet der späte Schelling seine Grundeinsicht
dahin, „daß das wirkliche Denken immer auf die entgegenstehende Wirklichkeit, die dem
156
Schmied–Kowarzik, „Anhang. Ansätze einer materialischen Kritik der Hegelschen Logik bei Schelling“, S.
258.
157
Schelling, Ebd., S. 410, meine Hervorhebung.
158
Schmied–Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie, S. 127.
155
Denken vorausliegende Existenz, bezogen ist, die es niemals voll in seine Denkbestimmungen
aufzuheben
vermag.“
159
So
stellt
Schelling
schließlich
auch
die
ambivalente
Unvollkommenheit von Hegels philosophischem System fest. Denn in seinen Augen war es
überflüssig, dass Hegel vor der Logik die Realphilosophie konzipiert hat und nach der Logik
noch die Geistesphilosophie in Abgrenzung zu der Naturphilosophie geschrieben hat, wenn
die Logik im Grunde die absolute Identität zwischen der Idee und der Realität, die vollendete
Einheit zwischen dem Begriff und der Wirklichkeit bzw. der Natur, bereits erreicht hat.
Unter dem Titel „Die Grenze der Reflexionsphilosophie“ in Wahrheit und Methode,
setzt Gadamer, so wie später Schelling Hegels Philosophie der negativen Philosophie
zugeordnet hat, Hegels reflexionsphilosophischem Gedankengang die „hermeneutische
Reflexion“ 160 entgegen. Dort fokussiert Gadamer seine Kritik auf die totale Vermitteltheit der
zu sich selbst zurückkehrenden Selbsterkenntnis in Hegels Denkmodell der reflexiven
Selbsteinsicht des Selbstbewusstseins. Gadamers kritische Distanz zu der reflexiven
Verschlossenheit des Selbstbewusstseins in Hegels Subjektphilosophie bahnt sich unter der
Fragestellung an: „Werden wir damit nicht gezwungen, Hegel recht zu geben, und muß uns
nicht doch die absolute Vermittlung von Geschichte und Wahrheit, wie sie Hegel denkt, als
das Fundament der Hermeneutik erscheinen?“ (GW. 1, S. 347) Wenn Gadamer auch Hegels
Denkmodell von der reflexiven Selbsterkenntnis im „Anderssein“ bzw. von den
wechselseitigen Einwirkungen auf den Anderen seiner selbst als einem Grundmodus der
ontogenetischen Selbstausbildung des Selbstbewusstseins in seine Konzeption für das
hermeneutische Bewusstsein aufgenommen hat, bahnt das hermeneutische Bewusstsein sich
den anderen Weg als die dialektische Reflexionsbewegung des Hegelschen Subjekts, durch
die hindurch es die vollständige Selbstgewissheit, die unerschütterlich und unhintergehbar ist,
erreicht.
Dahinter
liegt
Gadamers
Grundanliegen
zur
Kritik
am
neuzeitlichen
Wissenschaftsbegriff, nämlich am Subjektivismus und am Objektivismus, mit der wir uns
später beschäftigen werden. 161 Sofern die Struktur der reflexiven Selbsterkenntnis des
Subjekts sich immer noch auf die grundsätzliche Spaltung von Subjekt und Objekt gründet, d.
h. auf dem Grundstein, „sich selbst zum Gegenstand [zu] machen“, aufgebaut ist, muss das
Subjekt in seiner Reflexionsbewegung eine doppelte Objektivierung erfahren: Einerseits die
Selbstobjektivierung, ja das Selbst als sein Objekt, andererseits das bestimmte Objekt, das von
159
Schmied–Kowarzik, Ebd., S. 256.
Vgl. Michael Hofer, „Hermeneutische Reflexion? – Zur Auffassung von Reflexion und deren Stellenwert bei
Hans–Georg Gadamer“, in: Gadamer Verstehen / Understanding Gadamer, hrsg. v. Mirko Wischke u.
Michael Hofer, Darmstadt 2003, S. 57 – 83 u. dazu Riccardo Dottori, Die Reflexion des Wirklichen – Zwischen
Hegels absoluter Dialektik und der Philosophie der Endlichkeit von M. Heidegger und H. G. Gadamer,
Tübingen 2006, S. 557 – 586.
161
Vgl. Kap. I – 1. Die ontologische Grundlage der Erfahrung vom II. Teil in dieser Arbeit.
160
156
seinem Anderen ausgeschlossen ist. Zweifelsohne wird uns hier gezeigt, dass die
Verdoppelung der reflexiven Selbstvergegenständlichung des Subjektes mehrschichtig ist, da
das Subjekt in der sich selbst ausbildenden Reflexionsbewegung die Möglichkeit, sich selbst
zum Gegenstand zu machen, nicht nur von sich selbst, sondern auch immer schon von seinem
Anderen her ableitet. Darüber hinaus müssen wir uns selbst in Bezug auf die subjektive
Selbstreflexivität fragen, inwiefern sich das unmittelbare Ichsein, das den absoluten
Ausgangspunkt der Reflexionsbewegung prägt, von sich selbst unterscheiden kann, wenn es
keinen Anstoß des Anderen zur Reflexion gibt; ob das Subjekt überhaupt die vollständige
Selbstobjektivierung als die Grundbedingung für die totale Zurückführung auf sich selbst
ohne die bloße Vernachlässigung des eigenen Anspruchs auf die Aufbewahrung der
Unmittelbarkeit erlangen kann, wenn die Grundmotivation der Reflexionsbewegung auf die
Andersheit des Anderen angewiesen ist. Somit stellen wir fest, dass die reflexive
Selbstvergegenständlichung des Bewusstseins von Anbeginn an nicht nur die Differenz von
seinem Unmittelbaren, sondern auch die von seinem Anderen aufweist. So befindet sich die
Selbstreflexion grundsätzlich in der unauflösbaren Bewegtheit von dem Selbstbezug und dem
Fremdbezug. Aus Gadamers Sicht kommt der Rückzug des Bewusstseins zu sich selbst
deshalb nicht durch die vollkommene Selbsterkenntnis, durch die sich selbst gänzlich
einholende Reflexionsbewegung zustande, sondern ist immer schon auf ein unendliches
Fortschreiten ausgerichtet, das stets vom nie ganz auflösbaren Fremdbezug motiviert ist.
Wenn Gadamer sich auch, wie bereits erwähnt, von Hegels homogener
Systemganzheit und insbesondere von der vollkommenen Selbsteinsicht durch die reflexive
Selbsterfahrung des Selbstbewusstseins kritisch distanziert hat, gilt Gadamer die
Reflexionsstruktur des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins auf dem tendenziellen Weg
zum Selbstwissen als eine notwendige Selbstbewegung, die nicht diejenige, die sich
nachträglich auf sich selbst zurückführt und sich auf dem nur um sich selbst kreisenden
Selbstbezug vollendet erkennt, sondern von ihrer inneren Intention her gefördert wird. Denn
das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein verhält sich auch zu sich selbst, jedoch nur durch
seinen Eintritt in den Lebensvollzug, welcher stets selbstbezüglich von statten geht. Da das
hermeneutische Bewusstsein das bewusste Wissen davon ist, dass es bereits in die
lebensweltlichen Bezüge einbezogen ist, d. h. dass es sich immer schon unter bestimmten
Umständen befindet, ist seine reflexive Selbsterkenntnis nicht die absolute Übertragung des
Verstandenen auf das Denken, sondern befindet sich in dem unerschöpflichen Prozess des
Verstehens des Verstandenen unter den wirkungsgeschichtlichen Bedingungen, in dessen
Verlauf das Verstandene auf jeden Fall immer wieder neu erfahrbar wird. Insofern geht die
157
hermeneutische Reflexionsbewegung des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins nicht von
der absoluten Voraussetzungslosigkeit, sondern immer schon von der vorreflexiven
Voraussetzung, die nie ganz einholbar ist, aus. Die hermeneutische Reflexion wird deshalb
nicht aus dem deduktiven Prinzip abgeleitet, sondern als die praktische Applikation auf ihren
betroffenen
Fall
bereits
aufgrund
der
gemeinsamen
Überzeugungen
von
dem
gesellschaftlichen und geschichtlichen Überlieferten vorausgesetzt. Dementsprechend steht
das hermeneutische Bewusstsein immer schon unter dem wirkungsgeschichtlichen Einfluss
und ist sich seiner Endlichkeit in der unentrinnbaren Bedingtheit bewusst. Aus diesem Grund
kann man sagen, dass das hermeneutische Bewusstsein, das seine Reflexionsbewegung im
Wissen um seine Grenzen leitet und durch die reflexive Anwendung auf seinen konkreten Fall
den Blick ins Innere wendet, des richtigen Wissens in der bestimmten Situation bedarf. Da die
hermeneutische Reflexion das bewusste Wissen um ihre geschichtliche Begrenztheit ist, da
die reflexive Selbsterkenntnis des hermeneutischen Bewusstseins sich nicht in der
Verschlossenheit vollzieht, sondern sich mit der sich ständig verändernden Situation mit
bewegt, wird ersichtlich, dass diese hermeneutische Selbsterkenntnis über ihre Grenze hinaus
immer wieder weitergeht und nicht begrenzt werden kann.
In Gadamers philosophischer Hermeneutik hat die hermeneutische Reflexion des
wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins zunächst ihren ausgezeichneten Ort da, wo sie sich
vollzieht, nämlich im Spielverhältnis und im Gesprächsverhältnis. Sofern die beiden
Verhältnisse als die Grundstruktur der hermeneutischen Erfahrung des geschichtlich
bedingten Menschseins von vornherein auf die unvermeidbare Angewiesenheit auf die
Andersheit, nämlich auf die wechselseitige Beziehung der gleichzeitigen Reaktionen
verweisen, sind sie aus der hermeneutischen Sicht strukturell gleich. Für uns liegt nunmehr
auf der Hand, dass sich das hermeneutische Bewusstsein auf seinem jeweiligen Standpunkt
deshalb bereits auf dem Spielfeld befindet, da das Bewusstsein in seiner bestimmten
Intentionalität dasjenige, was im Weltbezug geschehen ist, bewusst macht und seinen
Rückzug auf sich selbst nicht auffällig gestaltet, dabei aber dennoch stets begleitet wird.
Indessen gilt Gadamer das Spielverhältnis als der Grundmodus der ästhetischen Erfahrung, 162
162
Zum ästhetischen Spiel, vgl. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels – Hermeneutik, Dekonstruktion
und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt a. M. 2000, S. 7 – 72. Wenn er hier unter dem eigenen Verständnis
von Schlegels These, Gadamers Denkansatz zur ontologischen Erfahrung im ästhetischen Spielverhältnis zu
kritisieren versucht hat, hat er absichtlich oder unfreiwillig Gadamers Betonung auf die
Endlichkeitserfahrung des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins und auf die ununterschätzbare
Seinsvalenz des Kunstwerks ignoriert. Er hat außerdem unter der „Langsamkeit“ das ästhetische „Verweilen
bei“ in Gadamers Hermeneutik verstanden. Aber aus hermeneutischer Sicht geht es nicht um die
Geschwindigkeit des Verstehens, also weder um die Langsamkeit, noch um die Schnelligkeit, sondern es
handelt sich bei Gadamer um die ontologische Seinsweise der menschlichen Erfahrung, einerseits das
Teilnehmen des Darstellenden am Dargestellten und das Teilhaben des Dargestellten am Darstellenden, die
158
noch genauer, als die existenzielle Seinsweise der menschlichen Erfahrung. Mit seiner
emphatischen Aussage vom „Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des
Spielenden“ erhebt Gadamer in diesem Zusammenhang einen Einwand gegen die verfügbare
Herrschaft des Subjekts über die ästhetische Erfahrung. (GW. 1, S. 110) Wenn auch jeder
Spieler sein Spiel spielt, verläuft das Spiel doch nicht gemäß der geplanten Absicht des
Spielers. Das Spiel hingegen stellt sich selbst dar, weil es sich immer schon mit dem
gleichursprünglichen Verhältnis zwischen Zug und Gegenzug hin- und herbewegt. Nun kann
man sagen, dass das subjektive Bewusstsein mit dem Eintritt ins Spiel den reflexiven
Rückzug auf sich selbst nur unter den spielerischen Rahmenbedingungen, die von seinem
Mitspieler, genauer, von der Spielsituation her vorgegeben sind, erfährt und dass das Spiel in
seiner Selbstdarstellung den Spieler von der kausal verketteten Zweckorientierung befreit.
Eine solche begrenzte Freiheit befindet sich in der Seinsmöglichkeit der subjektiven
Wahlentscheidungsfreiheit, die immer schon vom reflexiven Situationswissen her erschlossen
ist.
Das Spiel bedarf nur der amüsanten Bereitschaft der Teilnehmer zum Mitspielen. Das
Sich-Einlassen auf das Spiel hängt zwar von der Lust auf die Teilnahme am Spiel ab, jedoch
verlangt das Spiel auch das Ernstnehmen der jeweiligen Spielsituation, das jeden einzelnen
Spieler zur übersubjektiven Dimension, wo er sich selbst vergisst, hinführt. Bezüglich der
„Selbstvergessenheit“ im Spiel, wird noch gezeigt werden, dass das Spiel nicht vom Subjekt,
nämlich vom geplanten Zweck aus gespielt wird, sondern von sich selbst aus spielerisch
abläuft. Infolgedessen schafft das Spiel seinen eigenen Spielraum, den nur die Spielregeln
beherrschen. In Anknüpfung an Johan Huizingas Denkanliegen zum Spiel als einer
anthropologischen Kategorie schreibt Gadamer nunmehr: „Es macht den Spielcharakter
menschlicher Spiele aus, daß Regeln und Forderungen aufgestellt werden, die nur in der
Geschlossenheit der Spielwelt gelten. […] Innerhalb des Spieles freilich haben diese Regeln
und Forderungen ihre eigene Verbindlichkeit, die man so wenig verletzen kann wie
irgendwelche uns bestimmenden und verbindlichen Regeln des Zusammenlebens sonst.“ (GW.
8, S. 87) 163 Obwohl das Spiel de facto einen imaginären Spielraum konstruiert, ja in diesem
163
im Grunde den spekulativen Sinnganzheitshorizont bildet. Somit ist auch entscheidend, dass Gadamers
Ansatzpunkt nicht mehr zur neuen Begründung einer Ästhetik, ja Wissenschaft der Schönheit, sondern zu
den Phänomenen der ästhetischen Erfahrung, nämlich der ontologischen Erfahrung des Schönen, tendiert. In
Gadamers Augen hat die ästhetische Erfahrung in ihrem Wechselverhältnis denselben Stellenwert wie die
Erfahrung des überlieferten Textsinns und der sprachlichen Erfahrung im Gespräch mit dem Anderen.
Ganz ähnlich sagt J. Huizinga in seinem Buch: „Innerhalb des Spielplatzes herrscht eine eigene und
unbedingte Ordnung. […] Es schafft Ordnung, ja es ist Ordnung. […] Diese innige Verknüpfung mit dem
Begriff der Ordnung ist vielleicht der Grund, daß das Spiel, […], zu solch großem Teil innerhalb des
ästhetischen Gebiets zu liegen scheint. Das Spiel, so sagen wir, hat eine gewisse Neigung, schön zu sein.
Der ästhetische Faktor ist vielleicht identisch mit dem Drang, eine geordnete Form zu schaffen, die das Spiel
159
Sinne von der alltäglichen Lebenslage mehr oder weniger distanziert ist, hat das Spiel im
Grunde eine lehrreiche Funktion, da jeder Beteiligte mit dem freiwilligen Sich-Einlassen die
Spielregeln erlernt und sich ihnen unausweichlich im weiteren Spielverlauf unterwirft. So
bildet der Spielraum, der immer schon von den eigenen Regeln des Spiels begrenzt ist, den
souveränen Sinnhorizont, vor dem jeder Teilnehmer das Wie der zwischenmenschlichen
Verhaltensweise, nämlich dasjenige, den Anderen in jeder bestimmten Situation ernst zu
nehmen, lernt. Aufgrund einer solchen zwischenmenschlichen Verbindlichkeit im
Spielverhältnis, verläuft das Spiel zwar jeweils auf seine je eigentümliche Weise anders und
neu, doch das Spiel bleibt damit auch stets nachvollziehbar und wiederholbar. Analog zum
Charakter
dieser
Selbstdarstellung
des
Spiels
können
wir
feststellen,
dass
die
Nachvollziehbarkeit im ständigen Anders–sein–Können den potenziellen Weg der offen
bleibenden Selbsterkenntnis im wechselseitigen Reflexionsfeld bahnt. In Gadamers
Auffassung
vom
nie
ganz
einholbaren
Selbstwissen
durch
die
hermeneutische
Reflexionsbewegung im wechselseitigen Spielverhältnis geht es deshalb immer um den
mitkonstitutiven Anteil der unangeeigneten Andersheit, da die hermeneutische Reflexion im
Grunde die des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins war und das wirkungsgeschichtliche
Bewusstsein von vornherein aus der hermeneutischen Sicht bedingt ist.
in allen seinen Gestalten belebt.“ Johan Huizinga, Homo Ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel,
Hamburg 1987, S. 19.
160
Zweiter Teil: Die ontologische Struktur der hermeneutischen Erfahrung im
Verstehensmodell
„[…]
daß
der
eigentliche
Sinn
unserer
Endlichkeit oder unserer Geworfenheit darin
besteht, daß wir nicht nur unserer historischen
Bedingtheit, sondern vor allem der Bedingtheit
durch den anderen gewahr werden. Gerade in
unserem ethischen Bezug zum anderen wird uns
klar, wie schwer es ist, den Anforderungen des
anderen gerecht zu werden oder bloß gewahr zu
werden. Die einzige Weise, unserer Endlichkeit
nicht zu erliegen, ist, sich dem anderen zu öffnen,
dem ‚Du’ zuzuhören, das vor uns steht.“ 1
Die philosophische Hermeneutik versucht zunächst, den naiven Dogmatismus des
naturwissenschaftlichen Methodenbewusstseins und den neuzeitlichen Glauben an die
fundamentale Gewissheit der Subjektivität zu erklären, anders gesagt, einen abgeschlossenen
Monolog
einerseits
in
der
Naturwissenschaft,
andererseits
in
der
neuzeitlichen
Subjektphilosophie philosophisch zu reflektieren und kritisch zu überwinden. Hierbei richtet
sie ihren Blick auf einen unumgänglichen Fragehorizont und damit zugleich auf eine
andersartige Annäherung, nämlich auf einen neuen Zugang zur Sinnwelt gegenüber dem
wissenschaftlichen Methodenanspruch. Aus dieser kritischen Auseinandersetzung folgt
Gadamers Grundeinsicht in die ontologische Struktur der menschlichen Erfahrungen. In der
Folge gelangt das menschliche Verstehen nicht nur zu umfassenderen und komplexeren
Verfahrensvorgängen, mit anderen Worten, zu dialektisch ineinander übergehenden
Erfahrungsprozessen, sondern es verweist auf immer neu situierte Grundlagen, die von den
vorwissenschaftlichen Sinngefügen geprägt, also geschichtlich, kulturell tradiert sind.
Gadamer gilt das Verstehen als solches als allgemeines Grundphänomen des Menschseins, da
wir bereits in die geschichtlich strukturierte Erfahrung eingebettet sind. Aufgrund dieser
Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der menschlichen Erfahrung geht es ihm weder um
die methodische Exaktheit, noch um ein letztbegründetes Wahrheitskriterium, sondern um die
Angemessenheit der Sache im unendlichen Verlauf der Wahrheitssuche.
1
Hans–Georg Gadamer, Die Lektion des Jahrhunderts – Ein philosophischer Dialog mit Riccardo Dottori,
Münster 2002, S.33.
161
Aus hermeneutischer Sicht ist das Verstehen, das die angemessene Annäherung an den
Sachsinn und den offenen Zugang zur Sinnwelt sucht, der Inbegriff aller möglichen Modi der
menschlichen Erfahrungen. Diesbezüglich kann man sagen, dass das Menschsein überhaupt,
Heideggers ontologischer Auffassung zufolge, das „Sich–Verstehen“ und das „Sich–
Auslegen“ sei oder Ch. Taylor’s anthropologischer Perspektive zufolge, „ein sich selbst
interpretierendes Tier“.2 So gesehen darf der „Text“ im engeren Sinn nicht mehr nur auf das
schriftlich geschriebene Werk beschränkt sein, sondern soll für alle sinnfähigen Gegenstände
des Verstehens, einschließlich der sprachlichen und nicht–sprachlichen gelten. Kurzum kann
man das Verstehen in der Hermeneutik als die zugrunde liegende Lebenspraxis des
menschlichen Daseins bezeichnen; es hat deshalb sämtliche Sinnzusammenhänge zu seinem
Gegenstand. In diesem Sinn bezeichnet der Text sämtlichen Sinngehalt, mit dem der
Verstehende angemessen umzugehen versucht, sobald er verstehen will. So gesehen lässt sich
sagen, dass das Verstehen nicht von einem voraussetzungslosen Nullpunkt ausgeht, sondern
von vornherein mit der geschichtlich tradierten Überlieferung als seiner vorreflexiven,
vorwissenschaftlichen, vorgesellschaftlichen Bedingtheit zu tun hat. Mit anderen Worten: Das
Verstehen konfrontiert uns aus einer bestimmten Perspektive heraus, die an die vorgegebene
Verstehenssituation geknüpft ist, mit seinem zu Verstehenden. Denn das Verstehen findet
immer schon in dieser Begegnung, in deren Vollzug statt. Aus der existenziellen Begegnung
der menschlichen Wahrheitserfahrung gewinnen wir das Bewusstsein, dass die Geschichte
nicht nur die ontologische Grundlage unserer Erfahrung ist, sondern immer auch über uns
selbst hinausragt. Hier ist die Geschichtlichkeit der menschlichen Erfahrung zum einen die
jeweils bestimmte Grundlage für eine wechselseitige Anerkennungsbeziehung als die
Erfahrung des Anderen. Wenn deshalb gezeigt werden kann, dass die menschliche Erfahrung
unabdingbar vom geschichtlichen Kontext abhängig ist, dann müssen wir auch annehmen,
dass sie den Anerkennungsbezug, nämlich das Wechselverhältnis zwischen dem Vergangenen
und dem Gegenwärtigen, in ihrer Grundstruktur aufweist: Sie sorgt andererseits von
vornherein für eine Auflösung der Grenzen, d. h. offenbart permanent den möglichen Sinn der
tradierten Bedingtheit, da sie sich in einer unendlich fortlaufenden Bewegung befindet. Nun
kann man sagen, dass sich das menschliche Verstehen im interaktiven Sinnraum zwischen
unserer offenen Chance auf die Teilhabe am Wahrheitsgeschehen und der unaufhebbar
bedingten Sichtweise bewegt. In diesem medialen Zwischenspiel von beiden polarisierten
Komponenten wirft das Verstehen seinen Blick stets auf den Wahrheitssinn als einen
Vollzugssinn. Gleichwohl hat diese Sicht auf die Wahrheit in der philosophischen
2
Ch. Taylor, „Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen“, in: Seminar: Die Hermeneutik und die
Wissenschaften, hrsg. v. H. – G. Gadamer u. Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1978, S. 184.
162
Hermeneutik kein vorherbestimmtes Ziel, sondern vielmehr bezieht sich der erwünschte
Wahrheitsvollzug im hermeneutischen Verstehen auf eine je einstimmige Sinnganzheit, die
sich unter der bestimmten Bedingungen der Verstehenssituation entfalten und auch für die
andere Sinnmöglichkeit offen halten muss.
Eine solche Hermeneutik sieht es damit auch als ihre Aufgabe an, nicht nur den
schriftlich geschriebenen Text zu verstehen und auszulegen, sondern sich vielmehr von
vornherein mit dem Anderen zu verständigen und ihn kommunikativ zu erreichen. Das
bedeutet: Die Hermeneutik zielt im Grunde auf die Gemeinsamkeit der Sinnsuche mit dem
Anderen in der vorgegebenen Gesprächssituation ab. Aus Gadamers Sicht gilt selbst im
Kontext des Textverstehens der Text als jeweiliger Gesprächspartner. Angesichts dessen
erweitert sich die begriffliche Bedeutung vom Text, wie bereits erwähnt, auf alle sinnfähigen
Gegenstände. Infolgedessen ist jede Verstehenspraxis bei Gadamer von vornherein ein
Gespräch mit dem Anderen und reicht damit zugleich in die Lebenspraxis der alltäglichen
Lebenszusammenhänge hinein. Hierbei handelt es sich nunmehr um die ethische
Verständigungspraxis unter den Beteiligten im Dialogverhältnis. Wenn wir unter einer
bestimmten Situation miteinander sprechen und dem Gesprächspartner die eigene
Überzeugung mitteilen, wenn wir die Handlung des Anderen verstehen oder umgekehrt dem
Anderen unsere eigene Haltung verständlich machen, wollen und müssen wir uns zuallererst
um eine Verständigung über uns selbst bemühen, obwohl die Gefahr des Nicht–Verstehens
und des Missverstehens in diesem unermüdlichen Versuch vorhanden ist: Um mit dem
Anderen zusammen zu handeln und zu leben, müssen wir zuerst den Anderen als unseren
Gesprächspartner annehmen und uns miteinander kommunikativ verstehen. Dies ist die
grundsätzliche Voraussetzung für die Bildung von Gemeinsamkeit, die allen anderen Urteilen
vorausgeht. Nur in diesem wechselseitigen Dialogverhältnis können wir über einen
bestimmten Punkt streiten und diskutieren. Anders formuliert, können wir nur in diesem
dialogischen Verlauf des Nachfragens und der Unterstellung die mögliche Gefahr des
Missverstehens vermeiden, zumindest mildern, da der Dialog in seinem eigenen
Entwicklungsprozess unsere dogmatische Eigensinnigkeit und unsere naive Zufriedenheit mit
einem einmal gefundenen Sinngehalt ständig erschüttert. So gesehen ist das Verstehen des
Anderen, die dialogische Verständigung nicht nur das Telos der hermeneutischen
Verstehenspraxis, sondern auch die wesentliche Grundlage für das menschliche
Zusammenleben.
Aus der hermeneutischen Sicht sind alle Beteiligten am Dialog immer schon mit dem
gemeinsamen Sinnnetzwerk verwoben, das als das den Weltsinn freilegende ‚Zwischen’
163
vorgegeben ist, von vornherein über die eigensinnige Einzelheit hinausgeht und sich deshalb
als eine Wir–Dimension darstellt. Aufgrund dieser Verbundenheit mit der Gemeinsamkeit
stellt der hermeneutische Dialog die Anerkennung unserer unentrinnbaren Endlichkeit in den
Vordergrund und appelliert an die Anerkennung des Eigenrechts des Anderen. Aufgrund
dieses Aspekts dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass der hermeneutische Dialog mit der
Hegelschen Bewegung des Anerkennens, wie wir bereits gesehen haben, Schritt hält,3 da er
nicht nur dasselbe Strukturmoment aufweist, d. h. den Weg der unmittelbaren Begegnung mit
dem ontologischen Gegenüber durch Nachfragen und strittige Diskussionen zur
Gemeinsamkeit
in
seinem
Sachverhalt
bahnt,
sondern
dieses
wechselseitige
Anerkennungsverhältnis auch das Leitmotiv für seine Entwicklung bildet. Die gegenseitige
Anerkennung, also die genuine Intersubjektivität, findet in diesem offenen Dialogprozess
ihren speziellen Ort, an dem die Beteiligten, ohne sich die Andersheit des Anderen
anzueignen, ihr Eigenrecht behaupten, zueinander verhalten und zum potenziellen
Einverständnis gelangen können. Die ethische Haltung in Bezug auf Gadamers Einsicht in die
Bildung von Gemeinsamkeit durch das dialogische Wechselverhältnis, die Hegels Auffassung
von der intersubjektiven Anerkennungsbeziehung im Gesellschaftsverhältnis berücksichtigt,
bedeutet, dass dem hermeneutischen Dialog die Anerkennung des Anderen, sozusagen die
Verlässlichkeit der Wahrheitssuche des Anderen zugrunde liegt, dass diese Anerkennung sich
aus der Anerkennung der existenziellen Endlichkeit des Menschen und aus der darauf
gegründeten Zusage über die Grenze unserer Erkenntnis ergibt. So gesehen ist der Andere
bzw. der Fremdsinn, Gadamers Ansicht zufolge, nicht mehr ein objektivierbares Ding, ein
stillschweigendes Objekt, sondern spricht uns immer schon an und ist so gesehen bereits in
ein interaktives Verhältnis mit uns eingetreten. Demzufolge vollzieht sich das
Wahrheitsgeschehen im Verstehen bzw. die gemeinsame Sinnstiftung in der dialogischen
Verständigungspraxis, nicht mehr jenseits dieses verketteten Sinnraums, sondern immer schon
mit dem wachsamen Verweilen in diesem interaktiven Zwischenspielraum, in dem wir unsere
3
Zum Anerkennungsproblem in Gadamers Hermeneutik vgl. Axel Honneth, „Von der zerstörerischen Kraft des
Dritten – Gadamer und die Intersubjektivitätslehre Heideggers“, in: Hermeneutische Wege – Hans–Georg
Gadamer zum Hundertsten, hrsg. v. Günter Figal, Jean Grondin u. Dennis J. Schmidt, Tübingen 2000, S. 307 –
324. In diesem Aufsatz hat er zunächst die intime von der anonymen Beziehung im Anerkennungsverhältnis
unterschieden. Mit dieser Unterscheidung wollte er Gadamers Einsicht in das intersubjektive
Wechselverhältnis im Dialog, in die daraus folgende Forderung an die ethische Haltung, auf die intime
Beziehung begrenzen. Hiermit hat er den notwendigen Anspruch auf das Dritte, wie im Titel angedeutet, in der
anonymen Beziehung erhoben. Aber bei Gadamer geht es, soweit ich verstehe, um den inneren Lernprozess im
wechselseitigen Dialogverkehr. Deshalb fragt er sich selbst immer nach dem Guten in Bezug auf die
Aristotelische Ethik, das der Frage nach der Gerechtigkeit voraus gehen soll und dieses Gute darf sich in
Gadamers Augen nie auf einem äußeren Dritten begründen, sondern soll durch den geschichtlichen
Bildungsprozess aus seinem Inneren herauskommen. In diesem Dialogprozess soll sich die Anonymität auf die
intime Übereinstimmung übertragen.
164
Überzeugung vorlegen und auf die Stimme des Anderen hören können. Wir müssen deshalb
berücksichtigen, dass Gadamers Hermeneutik nicht nur verständlich machen will, wie das
Wahrheitsgeschehen, das sich über die Grenze der Textinterpretation hinaus universell
ereignet, mit und bei uns stattfindet, sondern dass sie auch einräumt, dass dieses
Wahrheitsgeschehen über unsere reflexive Verständlichkeit hinausragt.
Im Anschluss an das oben vorweggenommene Verständnis will ich nunmehr auf die
Grundstrukturen des menschlichen Verstehens in Gadamers philosophischer Hermeneutik
eingehen. Hierbei geht es mir um drei Punkte: Erstens die Geschichtlichkeit als die
ontologische Grundlage für die menschlichen Erfahrungen überhaupt; zweitens den
Sinnganzheitshorizont als die Vollzugsform jeder Verstehenspraxis; und drittens die
hermeneutische Offenheit für den Anderen. Aus dieser Perspektive hoffe ich, dass wir
schließlich sehen werden, dass dem Verstehen bei Gadamer das interaktive Dialogmodell zu
Grunde liegt, dass sich die menschliche Verstehenspraxis im dialogischen Modus der
intersubjektiven Wechselseitigkeit vollzieht und dass dieses dialogische Verstehensverhältnis
nicht nur die primäre Wechselseitigkeitsstruktur der intersubjektiven Anerkennungsbewegung
impliziert, sondern auch für den lebendigen Sinnraum in dieser Bewegung sorgt. Im Anschluß
daran stellt sich die Frage: Unter welchen Bedingungen ist das Verstehen überhaupt möglich?
Von welcher Bedeutung ist die hermeneutische Offenheit bzw. die Horizontverschmelzung in
Gadamers Hermeneutik? Wie und inwiefern kann das dialogische Anerkennungsverhältnis
den Gemeinsinn im offenen Prozess finden und etablieren? Wo findet die Bewegung des
wechselseitigen Anerkennens den vitalen und hervorragenden Sinnraum für ihre Erfüllung?
165
I. Die Geschichtlichkeit der Erfahrung des hermeneutischen Bewusstseins
I – 1. Die ontologische Grundlage der Erfahrung: Die Rehabilitierung der Vorurteile als die
Vorstruktur des Verstehens
Vorweg ist festzuhalten, dass das hermeneutische „Vor“, nämlich die Vorstruktur im Grunde
die ontologische Angewiesenheit der menschlichen Erfahrung auf die Andersheit bedeutet.
Denn wenn das menschliche Verstehen aus hermeneutischer Sicht hauptsächlich mit dem
tradierten Überlieferten, das wir nicht als ein befremdendes Anderes, das keinen Bezug zu uns
hat, sondern als unseren Anderen, der immer schon auf uns bezogen ist, annehmen können, zu
tun hat, verweist das hermeneutische Vor von vornherein auf den geschichtlichen und
kontextabhängigen Fremdbezug unserer Erfahrung. Aus diesem Grund ist für unseren
Zusammenhang hier entscheidend, darauf zu achten, dass die hermeneutische Vorstruktur die
Grundstruktur der ontologischen Erfahrung des Menschseins, nämlich die „Erkenntnis des
Erkannten“, von der Aristoteles in seiner Metaphysik ausgeht, bedeutet. Diesbezüglich hat
Aristoteles, den ich hier zitiere, geschrieben: „Aus der Erinnerung entsteht nämlich für die
Menschen Erfahrung; denn viele Erinnerungen an denselben Gegenstand bewirken das
Vermögen einer Erfahrung, und es scheint die Erfahrung der Wissenschaft und Kunst fast
ähnlich zu sein. Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung
hervor; […].“ 4 Aufgrund dieses philosophiegeschichtlichen Denkzusammenhangs können wir
feststellen, dass das hermeneutische „Vor“ bei Gadamer nichts anderes als die ontologische
Grundlage
des
menschlichen
Verstehens
in
seiner
Denkformel
„Verstehen
des
Verstandenen“ ist, ähnlich wie Aristoteles die Grundstruktur der menschlichen Erfahrung als
Erkenntnis des Erkannten, also die Erinnerung an das Erfahrene bezeichnet hat. Deshalb darf
man nicht aus den Augen verlieren, dass das „Vor“ in Gadamers Hermeneutik den
unentrinnbaren Bezug der menschlichen Erfahrung auf ihre Andersheit bereits impliziert.
4
Aristoteles, Metaphysik, in: Aristoteles Philosophische Schriften, Bd. 5, übers. v. Hermann Bonitz, Darmstadt
1995, Kap. I, I. Buch, 980b – 981a.
166
1 – 1. Gadamers Kritik am neuzeitlichen Ideal des Objektivismus und des Subjektivismus
Aus der hermeneutischen Sicht liegt das Verstehen bzw. die Verständigung im
interdependenten Sinngewebe von Vertrautheit und Fremdheit. Von der miteinander
verschränkten und aufeinander einwirkenden Polarität kommt das Verstehen, die
Verständigung überhaupt, zustande. Im Hinblick auf diese interdependente Polarität
rehabilitiert Gadamer die „Vorurteile“ als die Grundmodi des menschlichen Verstehens: Die
Vorurteile werden von nun an in der Hermeneutik zur allgemeinen Vorstruktur des
menschlichen Weltzugangs. So bilden die Vorurteile, Gadamers Ansicht zufolge, einen
wichtigen Bestandteil der menschlichen Erfahrung, d. h. eine Grundstruktur in der
Binnenperspektive des Verstehens. Aus diesem Grund bezieht sich Gadamers Überlegung
über die Vorurteile als ontologische Grundlage der menschlichen Erfahrung keinesfalls auf
die eigensinnige Befangenheit, - obwohl viele Kritiker ihre Vorwürfe unter diesem
Gesichtspunkt begründet haben - sondern Gadamers Einsicht besteht grundsätzlich darin, dass
das Verstehen als der Grundvollzug der menschlichen Welterfahrung von vornherein auf das
Fremdverstehen angewiesen, d. h. in die Erfahrung des Fremden bereits eingebunden ist; dass
die Vorurteile also sich selbst, wie wir sehen werden, auf diese Begegnung mit dem Fremden,
gewissermaßen auf ihren Erprobungsprozess einlassen. Wir können sagen, dass die Vorurteile
mithin die „Vorstruktur“ des hermeneutischen Verstehens, nämlich das „Vorverständnis“ sind.
Von daher macht Gadamers Hermeneutik diese Vor–Struktur des Verstehens, die jedem
reflexiven Urteilsakt vorausgeht, zum ontologischen Ausgangspunkt der menschlichen
Erfahrung. Sie weist zwar darauf hin, dass das Verstehen bereits auf die Vorgegebenheit des
ontologischen Hintergrunds bezogen ist, aber das Verstehen wäre nicht auf die als an sich
seiende Entität oder Fundament zurückzuführen. In diesem Sinn wollte Gadamer m. E.
vielleicht nicht von einem Vorurteil (Singular), sondern von den Vorurteilen (Plural) sprechen,
die im Verstehensprozess aufs Spiel gesetzt, erprobt, korrigiert und geklärt werden müssen.
Mit seiner Einsicht in die ontologische Vorstruktur des menschlichen Verstehens wehrt
Gadamer
sich,
wie
wir
naturwissenschaftliche
Verfahrensexaktheit
noch
sehen
werden,
Methodenbewusstsein,
der
Objektivität
zu
eingangs
das
versichern
sich
einerseits
durch
glaubt
und
das
damit
gegen
das
Ideal
der
auf
den
Fortschrittsglauben stützt, andererseits gegen das Ideal der neuzeitlichen Subjektivität, das die
unhinterfragbare Letztinstanz der in sich verschlossenen Selbstgewissheit bilden soll. Mit
anderen Worten: Gadamer geht zunächst von der Kritik am Subjektivismus und
Objektivismus aus und legt damit auf die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung sein
167
Augenmerk. Doch diese kritische Überwindung zielt bei ihm weder auf das Ideal des
Fortschritts noch auf die Aufstellung der zweifellosen Instanz ab, auf die alle Komponenten
reduzierbar wären, sondern sie übt selbst eine reflexive Kritik, die durch einen inneren
Prozess hindurch Sinnmöglichkeiten immer wieder neu eröffnet. Dennoch zielt sie nicht auf
die Ersetzung des gesamten neuzeitlichen Denkens durch ein destruktives Hinterfragen oder
durch andere metaphysische Grundlagen – Gadamer selbst hat sich auf das humanitäre Erbe,
insbesondere die Romantik, bezogen – ab. Gadamers Hermeneutik hingegen betont die
Geschichtlichkeit unserer Erfahrung, nämlich die tradierte Situiertheit im menschlichen
Verstehen. Deshalb will sie auf keinen Fall ein letztbegründendes Element als den Maßstab
des Fortschritts oder die Substanz der subjektiven Selbstgewissheit herausarbeiten. Anders als
ein solches neuzeitliches Ideal betont Gadamers Hermeneutik, dass das Verstehen überhaupt
in der Angewiesenheit auf die Fremdheit bzw. die Andersheit geschieht, d. h. sich im Prozess
des Aufeinander-Bezogenseins vollzieht. Die Vorurteile, die die ontologische Grundlage des
Verstehens sind, verweisen in Gadamers Hermeneutik nunmehr auf die anschließende Rolle
der überlieferten Tradition im unendlichen Verstehensprozess; sie haben ja die Fähigkeit, die
Erweiterung des Verstehens zu ermöglichen. So wird gezeigt, dass die Vorurteile bei
Gadamer auch eine berechtigte und produktive Sinnerschließungskraft in der Begegnung mit
der Überlieferung haben.
Wir wenden jetzt unsere Aufmerksamkeit Gadamers Objektivismus–Kritik zu, da
diese Kritik m. E. den Grund für die Rehabilitierung der Vorurteile im Verstehen darstellt.
Hierbei geht es Gadamer um die Wahrheitsfrage, weshalb der erste Teil seines Hauptwerkes
mit der Überschrift „Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst“ betitelt wird.
(GW. 1, S. 7) Gadamer zufolge meint Hermeneutische Wahrheit „Teilhabe“ an einer
unaufhörlichen Sinnkette, die für uns nicht objektivierbar ist und nie völlig vergegenständlicht
werden kann. Aus hermeneutischer Sicht befinden wir uns deshalb mit dem eigenen
Verstehen–Wollen immer schon im Sinngeschehen mittendrin, über das wir keinesfalls Herr
sind und das uns nicht verfügbar ist. Da wir uns bereits im Sinnfeld befinden, weist das
hermeneutische Wahrheitsgeschehen über uns hinaus. Im Anschluss an diese Einsicht in den
unübersteigbaren Ereignischarakter der hermeneutischen Sinnerschließung spricht Gadamer
auch von der „adaequatio intellectus ad rem“ in der traditionellen Denkweise. (GW. 2, S. 47)
Die Angmessenheit meint, Gadamers Ansicht zufolge, keine vollständige Korrespondenz,
sondern eine Sachangemessenheit, die aus hermeneutischer Sicht im Prozess des Verstehens
zur Geltung kommt. Die Naturwissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, die das Ideal der
Objektivität in den Vordergrund gestellt hat, verlangt Gadamer zufolge, einen
168
letztbegründeten Prüfstein, der sich an der exakten Methodik orientiert. Dieser
Naturwissenschaft gilt deshalb das Vorurteil des nicht beweisbaren, nicht begründeten Urteils.
Infolgedessen ist ihr Methodenbewusstsein auf die Aufstellung des Gesetzes nach der
induktiven Verfahrensweise gerichtet, die von der mathematischen Genauigkeit abhängt. Mit
Hilfe dieser methodischen Verfügbarkeit glaubt sie nunmehr das Vorurteil vollkommen
ausschalten und jede bloß subjektive Einstellung aus allen Wissenschaftsbereichen
ausschließen zu können. 5 Durch diese Ausschaltung des Vorurteils und die Ausschließung der
subjektiven Einstellung versucht sie die vollendete Objektivität, die allerletzte Evidenz zu
erreichen. Hierbei stellt das naturwissenschaftliche Ideal auch fest, dass die menschliche
Erfahrung nur durch die methodische Vollständigkeit beweisbar und die beweisbare
Erfahrung allein wertvoll ist. Im Hinblick auf den Appell dieses Methodenbewusstseins an die
methodische Beweisbarkeit sagt Gadamer: „Alle Erfahrung ist ja nur in Geltung, solange sie
sich bestätigt. Insofern beruht ihre Dignität auf ihrer prinzipiellen Wiederholbarkeit.“ (GW. 1,
S. 352 – 353) Für uns lässt sich vor allem sagen, dass der Appell des Methodenbewusstseins
selbst auf eine überzeitliche Logizität, Allgemeingültigkeit und die wiederholbare
Kommensurabilität
unter
klar
bestimmten
Bedingungen
abzielt.
Indem
das
Methodenbewusstsein nunmehr die logische „Selbstvergewisserung“ und die objektive
Allgemeingültigkeit durch die methodische Exaktheit unter klar bestimmten Bedingungen,
insbesondere z. B. im Laboratorium, zu beweisen versucht, sieht es jedoch, Gadamers Ansicht
zufolge, von den subjektiven Einflüssen bei der Aufstellung der eigenen Hypothesen ab.
Wenn es mit der exakten Verfahrensmethodik irgendein Problem zu lösen glaubt, vergisst es
die geschichtliche Herkunft des Problems völlig. Auf dieses Vergessen der geschichtlichen
Herkunft seiner eigenen Problemstellungen, die man die „Geschichtsvergessenheit“ nennen
könnte, stützt sich der Fortschrittsglaube dieses Methodenbewusstseins; ein Forschrittsglaube,
der die Überwindung der früheren Zustände aufgrund der technischen und methodischen
Vergewisserung garantieren zu können glaubt. Im Hinblick auf die Gewissheit der
unendlichen Entwicklung können wir anmerken, dass ein solcher Fortschrittsglaube eine
unauflösbare Selbstwidersprüchlichkeit in sich enthält, da er sich selbst ständig negieren und
aufheben soll.
5
Diese Ansicht von der subjektiven Einstellung im Auslegen kommt bei E. Betti deutlich zum Ausdruck,
obwohl er den kategorischen Kanon bei der Rechtsanwendung im Anschluss an Schleiermacher, insbesondere
an Dilthey, zu erarbeiten versucht. Diesbezüglich sagt er folgendes: „ Eben deshalb ist das Bestreben mancher
Geschichtsschreiber, sich der eigenen Subjektivität zu entkleiden, völlig unsinnig.“ E. Betti, Zur Grundlegung
einer allgemeinen Auslegungslehre, Tübingen 1988, S. 34.
169
Davon abgesehen erarbeitet Gadamer einerseits seine eigene Konzeption von der
„philosophischen Hermeneutik“
6
aus der Überlegung zum Methodenideal und dem
Fortschrittsglauben in der Naturwissenschaft heraus und übt sich im Anschluß andererseits
auch in der kritischen Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Tradition. Aus Gadamers
Sicht schränkt die traditionelle Hermeneutik, die in ihrer Entwicklungslinie Schleiermacher
und Dilthey bis hin zu E. Betti einschließt, mit ihrem grundsätzlichen Glauben an den
Objektivismus und den Psychologismus, die jeder Auslegung Objektivität verleiht, das
Verstehen auf die Methodologie ein. Mit Hilfe ihrer methodischen Durchdringung sieht die
traditionelle Hermeneutik es als ihre Aufgabe an, in der Auslegung von Texten deren
Sinnintentionen zu erklären. Sie fordert Regeln für die objektive Textauslegung, sie versucht
methodische Verfahrensregeln aufzustellen und nach diesen aufgestellten Regeln den
tradierten Textsinn zu verstehen. Anders gesagt, glaubt sie, den ursprünglichen Sinn des
Textes durch das „kunstgerechte Verfahren“ zu erschließen und rekonstruieren zu können.
(GW. 1, S. 178) So gesehen kann man die Behauptung wagen, dass die Auslegungskunst in
der tradierten Hermeneutik wichtiger ist als das Verstehen selbst, 7 so wie Schleiermacher die
Hermeneutik auch als „Kunst des Verstehens“ 8 bezeichnet hat. Seiner Ansicht zufolge hat die
Hermeneutik deshalb die Aufgabe, die kunstgemäßen Auslegungsregeln für die Erhellung des
Ursinnes der dunklen Stellen im Text aufzustellen. Nur wenn die Textauslegung diesen
methodischen Verfahrensregeln gemäß stattfinden würde, könnte das Missverständnis
6
7
8
Gadamers opus magnum „Wahrheit und Methode“ hat, ähnlich wie andere berühmte Meisterwerke, eine
eigene Geschichte in Bezug auf den Titel, weil er von Anbeginn an nicht die Frage der
naturwissenschaftlichen Methoden, sondern die nach der Wahrheit oder genauer gesagt, nach dem
Wahrheitsgeschehen freilegen will, d. h. er im Grunde einen kritischen Zweifel an dem
wissenschaftstheoretischen Methodenbewusstsein hat. In seinem Meisterwerk will er sich deshalb von dem
Methodenbewusstsein kritisch distanzieren. Stattdessen will er die Grundstruktur der Wahrheitssuche im
menschlichen Verstehen zur Sprache bringen. In diesem Zusammenhang macht Ben Vedder in seinem Buch
über diesen Titel den folgenden Vorschlag: „Der Titel von Gadamers Hauptwerk hätte besser auf Wahrheit
oder Methode verweisen können, statt auf Wahrheit und Methode.“ Ben Vedder, Was ist Hermeneutik? – Ein
Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit, Stuttgart 2000, S. 131. Zudem gibt J. Grondin
uns den Hinweis, dass Gadamer ursprünglich „Verstehen und Geschehen“ als Haupttitel gewählt und unter
dem gegenwärtigen Untertitel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ das gesamte Manuskript
erarbeitet hatte. Vgl. J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 5 – 21.
Mit dem italienischen Juristen E. Betti gesagt, liegt auf der Hand, dass die Auslegung bei ihm vom Verstehen
getrennt ist, sozusagen dem Verstehen gegenüber bevorzugt wird. Diesbezüglich sagt er: „Der
Auslegungsprozess ist überhaupt dazu bestimmt, das epistemologische Problem des Verstehens zu lösen.
Benutzen wir dabei die bekannte Unterscheidung zwischen Handlung und Erfolg, Verfahren und Ergebnis des
Verfahrens, so können wir die Auslegung vorläufig als Handlung und Verfahren kennzeichnen, dessen Erfolg
und zweckdienliches Ergebnis ein Verstehen ist.“ E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen
Auslegungslehre, S. 12 – 13. Im Nachwort desselben Buches, das den Titel „Emilio Betti und das idealistische
Erbe“ trägt, spricht Gadamer im Gegenteil von der „Unlösbarkeit von Verstehen und Auslegen.“ (S. 95)
Sowohl bei Heidegger als auch bei Gadamer ist das Verstehen selbst das Auslegen. Diesbezüglich schreibt
Heidegger in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“: „In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes,
sondern es selbst. Auslegung gründet existenzial im Verstehen, und nicht entsteht dieses durch jene.“ M.
Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001, 18. Aufl., S. 148 (Hervorhebung von mir).
Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 75.
170
vermieden und das Verstehen gesichert werden. Da er, mehr oder weniger überheblich, seinen
Akzent auf die gesicherte Auslegung legt, auf dem die bedrohliche Möglichkeit des
Missverständnisses vermieden werden soll, verlangt er methodische Auslegungsregeln. Mit
diesem Appell an einen methodensicheren Auslegungsweg legt er, wie wir bereits wissen,
seinen Kanon für die Textauslegung vor, der im Prinzip auf dem Denkmodell der
grammatischen und psychologischen Regeln beruht. Der Kanon soll bei ihm als Kriterium
dienen, das dem Urteil von Richtig und Falsch bei der Auslegung zugrunde zu legen sei. Im
Hinblick auf die Kanonisierung schreibt er deshalb, dass „die hermeneutischen Regeln mehr
Methode sein müssen.“ 9 Für uns ist zudem bemerkenswert, dass Schleiermacher nicht „Die
psychologische Auslegung“, sondern ursprünglich „Die technische Auslegung“ für den
zweiten Teil seines Textes als Titel gewählt hatte.
10
Das weist darauf hin, dass
Schleiermachers Hermeneutik von vornherein auf die vollkommene Rekonstruktion des
Ursinnes des Textes abzielt.
In Bezug auf die hermeneutische Konzeption steht auch Dilthey unter dem Einfluss
der Hermeneutik Schleiermachers. Dilthey beschränkt die Hermeneutik auch auf eine
Auslegungslehre. Unter Schleiermachers Einfluss sieht er die Aufgabe der Hermeneutik als
„die Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen“ 11 oder, in einem anderen Text, als
„das kunstgemäße Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen.“
12
In diesem
Zusammenhang verlangt er, wie Schleiermacher bereits vorgeschlagen hatte, dass die
„grammatische“,
„psychologische“
und
„divinatorische“
Interpretationsmethodik
als
demonstrative Regeln beim Auslegen gelten sollen. 13 Seiner Ansicht zufolge könnte der
Interpret nur mit Hilfe dieser strikten Methodik die Eingebundenheit der Einzelperson in
seinen zeitgenössischen Lebenszusammenhang verfolgen und nachzeichnen. Er hält deshalb
die „Selbstbiographie“ 14 der historischen Individuen für einen typischen Ausdruck eines
bestimmten Zeitalters. Die Selbstbiographie ist bei ihm eine vollkommene Explikation, die
die gesamten Sinnbezüge der geschichtlichen Lebenszusammenhänge umfasst. Hiermit zieht
9
Ebd., S. 84, Vgl. H. Inneichen, Philosophische Hermeneutik, Freiburg / München 1991, S. 38 – 62. Mit der
Frage „Gibt es ein Kriterium der Auslegung“, hat er den Anspruch auf den Kanon, nach dem die Richtigkeit
der Auslegung von der Falschheit unterschieden werden kann, erhoben. Aber wenn es im Verstehen nicht um
die Absicht des Autors, sondern um die Frage geht, was die Wahrheit der uns vom Autor übermittelten Sache
sei, wenn dieser Sachsinn uns übergeschichtlich, aber dennoch abständig überliefert ist, dann sollte er auf
unsere Frage antworten können, wie der Prüfstein, unter dem alle Auslegungen eingeschätzt werden können,
aufgestellt wird, um zu überprüfen, ob diese Regeln auch überzeitlich allgemeingültig wären.
10
Ebd., S. 167.
11
Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“ (1900), in: Gesammelte Schriften, Bd. V, Stuttgart 1957,
S. 320.
12
Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1970, S. 267.
13
Ebd., S. 279.
14
Ebd., S. 244.
171
er die Möglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung in Betracht, die sich auf der
erkenntnistheoretischen Aufklärung der Geschichte innerhalb der Denkweise des Historismus
gründet. In seiner Auseinandersetzung mit der Diltheyschen Hermeneutik-Konzeption
schreibt Gadamer: „So konnte er (= Dilthey, KBL) sich das Ziel setzen, zwischen historischer
Erfahrung und idealistischem Erbe der historischen Schule eine neue erkenntnistheoretisch
tragfähige Grundlage aufzubauen. Das ist der Sinn seiner Absicht, Kants Kritik der reinen
Vernunft durch eine Kritik der historischen Vernunft zu ergänzen.“ 15 (GW. 1, S. 223) Seiner
Ansicht nach sieht Dilthey die Aufgabe der Geschichtsauslegung in der „historischen
Restitution der Lebenszusammenhänge“ und darin, dass der Geschichtsschreiber gemäß den
Verfahrensregeln
die
gesamten,
geschichtlichen
Lebenszusammenhänge
objektiv
rekonstruieren können soll. (GW. 1, S. 180) Diese aus der Methode folgende Objektivität
fordert aber dennoch dazu auf, die subjektive Perspektivität bei der Geschichtsschreibung
auszublenden. Bei Gadamer hingegen hört die Hermeneutik auf, eine bloß methodische
Hilfsdisziplin für alle Wissenschaftsarten zu sein. Vielmehr habe die Hermeneutik mit dem
Verstehen zu tun, das ein Grundphänomen der menschlichen Existenz sei, die sich ihrerseits
immer schon zum gegenseitigen verstehen-können und verstehen-wollen auffordert. Da
Gadamer das Verstehen als einen Grundmodus des Menschseins betrachtet, gäbe es, wie er
betont, „keine eigene Methode der Geisteswissenschaft.“ (GW. 1, S. 13) Selbst die Statistik,
so Gadamer, sei von der subjektiven Beobachtungsperspektive bei der Datenansammlung und
der Interpretation der angesammelten Daten abhängig, so wie ein Zuschauer bei einem
Schauspiel bereits im Sinngeschehen mittendrin ist, das sich im Spiel selbst vollzieht. So
gesehen
kann
bei
der
Beobachtung
des
Gegenstandes
im
Laboratorium
die
Beobachterperspektive selbst nie gänzlich ausgeschlossen, ausgeschaltet werden. Vielmehr
geht es bei Gadamer um den subjektiven Versuch eines sachgemäßen Sinnentwurfs.
Neben der Kritik am Objektivitätsideal setzt Gadamer sich intensiv mit der Kritik an
der neuzeitlichen Subjektivität auseinander, da die moderne Subjektivität mit einer
fundamental begründeten Selbstgewissheit des denkenden Subjekts, die Möglichkeit des
reflexiven Urteils suche und damit zugleich ein Wahrheitskriterium, mit dem dieses
subjektive Urteil untermauert werden kann. Aus Gadamers Sicht lehnt sich das
bewusstseinsphilosophische Paradigma, das als das fundamentale Prinzip der neuzeitlichen
Subjektsphilosophie gilt, grundsätzlich an das Denkmodell des Aufklärungszeitalters an.
Unter Berücksichtigung der philosophischen Begriffsgeschichte 16 wirft Gadamer deshalb
15
16
Ebd., S. 233, hier lautet bes. der Untertitel: „Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft“
In seinem Aufsatz „Begriffsgeschichte als Philosophie (1970)“ (GW 2) beschäftigt sich Gadamer insbesondere
mit der Geschichtlichkeit der philosophischen Begriffsbildung. Hier besteht Gadamers Grundeinsicht darin,
172
einen zweifelnden Blick auf die Diskreditierung des Begriffs „Vorurteil“ in der Aufklärung.
Ihm
zufolge
fordert
die
Aufklärung
sämtliche
Überzeugungen
auf,
einen
Begründungsanspruch zu erfüllen, der sie zur beweisbaren und demonstrierbaren
Kommensurabilität, gewissermaßen zu einem evidenten Geltungsgrund, zwingt. Da sich die
Aufklärung von Anbeginn mit dem endlosen Zweifel an jeder Überlieferung ihren Weg bahnt,
lässt sie das Vorurteil als ein grundloses Urteil außer Acht. Anders gesagt, hegt die
Aufklärung einen grenzlosen Verdacht gegenüber allem Überlieferten, nämlich den
Vorurteilen. Dementsprechend orientiert sich die Aufklärung mit ihrem Anspruch auf das
demonstrativ Letzte an dem Glauben an die methodologische Perfektion, an einer utopischen
Denkformel, da sie sich das Ziel setzt, die vollkommene Vorurteilslosigkeit zu erreichen, d. h.
die Vorurteile auf allen Gebieten der menschlichen Erfahrung vollständig auszuschalten. Der
Glaube an die Idee der methodologischen Perfektion im Aufklärungszeitalter verlagert
deshalb seinen Schwerpunkt auf die Entkleidung und Entmachtung der mythologisierten Welt
durch die Rationalität, die selbst die endlose Entlarvung und die fortschreitende Erhellung der
Welt voraussetzt. Mit diesem Ideal der gewissen Erklärung der Welt und dem
Fortschrittsglauben errichtet die Aufklärung „alles vor dem Richtstuhl der Vernunft“ und
beurteilt die Verifikation und Falsifikation aller Sachverhalte nur nach der Autorität der
Vernunft. (GW. 1, S. 277)
Gadamers Überlegung über die Illusion der Idee von einer evidenten Instanz für alle
Urteile im Aufklärungszeitalter, erlaubt uns nunmehr, auf den Methodengedanken bei
Descartes einzugehen, der als der Ahnenvater der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie mit
seinem berühmten Diktum, „ich denke, also bin ich“ gilt. Descartes versucht, wie bekannt,
mit seinem methodologischen Zweifel den Weg zur Letztinstanz alles Wissens zu durchlaufen.
Auf diesem Weg von dem grundsätzlichen Zweifel an allen tradierten Überzeugungen zur
fundamentalen Gewissheit gewinnt er die obige Formel, die besagt, dass das denkende Ich
ohne Zweifel ein unhinterfragbarer Grundstein unseres Wissens ist. Das unerschütterliche
Fundament, das durch die methodische Reflexion konstruiert wird, also sich auf die sich
selbst denkende Subjektivität als das unbezweifelbare Prinzip gründet, wird von nun an zum
allerletzten Prüfstein für das allgemeingültige Wissen, zum einzigen Zugang zur
dass selbst die philosophischen Begriffe nicht vom reinen Verstand abgeleitet sind, sondern die
Begriffsbildung in der damaligen Not – hierbei könnte man Heideggers späten Begriff „Sprachnot“ in
Erinnerung rufen – und den geschichtlichen Situationen gestanden haben, in denen die Begriffe geboren und
verwendet wurden. So gesehen haben die philosophischen Begriffe bereits mit der geschichtlichen Vorstruktur
in ihrem Bildungsprozess, die mit dem menschlichen Verstandesvermögen nicht ganz zu fassen ist, zu tun. In
diesem Sinn sind die philosophischen Begriffe kein Werkzeug für die Veräußerung des instrumentellen
Verstandes, sondern sie stehen in den geschichtlichen Lebenszusammenhängen zur Suche nach dem
zutreffenden Wort im anstrengenden Umgang mit der bestimmten Situation.
173
allgemeingültigen Wahrheit. Aus dieser fatalen Perspektive ist die cartesianische
Selbstgewissheit aus der methodischen Spaltung zwischen Subjekt und Objekt abgeleitet, da
die subjektive Selbstgewissheit die prinzipielle Selbstvergegenständlichung zur Bedingung
ihrer Möglichkeit macht und die Selbstobjektivierung im weiteren Schritt ebenso auf einen
Selbstbesitz des Subjekts hinausläuft. Diese cartesianische Auffassung, dass das Subjekt, das
die vollständige Selbsteinsicht erwirbt, nicht nur über die Welt als den rein empirischen
Gegenstand, sondern auch über sich selbst Herr sein kann, ergibt sich, aus Gadamers Sicht,
aus dem altgriechischen Begriff „hypokeimenon (das Zugrunde liegende)“ in Aristoteles’
Metaphysik, wovon bei Gadamer oft die Rede ist. 17 Mit Gadamers Einsicht kann man sagen,
dass der neuzeitliche Begriff „Subjekt“ insbesondere mit der verführerischen Vorstellung von
einem „grammatischen Subjekt“, 18 das allen Prädikaten zugrunde liegt, zu tun hat. Aufgrund
dieser Vorstellung wird das Subjekt, dem die neuzeitliche Wissenschaft nachgegangen ist, zu
einem fundamentalen Element, das nicht nur allen Erkenntnissen den Maßstab der Gewissheit
verleiht, sondern sich selbst auch nur auf sich selbst bezieht. Aus hermeneutischer Sicht ist
die Illusion des denkenden Ichs „die monologische Fiktion“, 19 da sie das Ziel verfolgt, nach
dem das Subjekt sich nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch den Anderen
gegenüberstellt und damit als einen Stoff, eine Materie objektiviert. Letztlich kann es sich auf
sich selbst nur durch die Negation der Andersheit beziehen. Gegen diese monologische
Fiktion der Subjektivität gibt Gadamer dem Verstehensvorgang zum Bewusstsein den
17
Gadamer hat die Begriffsreihe, „hypokeimenon“, „substantia“ und „subiectum“ in Bezug auf die
philosophische Begriffsgeschichte vorzüglich behandelt. Mit dieser Untersuchung versucht er, auf die Frage
zu antworten, woher dieser Begriff etymologisch stammt, aber auch inwiefern der Begriffsgebrauch von dem
ursprünglichen Sinngehalt entfernt und in Dissonanz geraten ist. Vgl. Gadamer, „Begriffsgeschichte als
Philosophie“ (1970), GW. 2 und „Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person“ (1975), GW. 10.
Bei Aristoteles war Substanz das erste Prinzip, von dem sich alle anderen Kategorien ableiten und an das sich
alle übrigen Kategorien koppeln. Nun schreibt er: „Denn keines von diesen besteht an sich oder ist einer
Abtrennung von dem Wesen (Substanz) fähig, sondern, sofern überhaupt, so gehört vielmehr das Gehende, das
Sitzende und das Gesunde zu dem Seienden. Dieses zeigt sich aber als mehr seiend, weil sein Subjekt etwas
Bestimmtes ist, nämlich das Wesen und das Einzelne, welches sich unter einer solchen Aussageweise
(Kategorie) zeigt. Denn das Gute oder das Sitzende wird ohne dieses nicht ausgesagt. Es erhellt also, daß
durch dieses, das Wesen (Substanz), auch ein jedes von jenem ist, so daß demnach Seiendes in erster
Bedeutung (erstes Seiendes), welches nicht etwas Seiendes (in irgendeiner Beziehung), sondern schlechthin
Seiendes ist, das Wesen sein dürfte.“ Aristoteles, Metaphysik, Kap. 1, VII. Buch, 1028a.
18
Vgl. J. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 118.
19
M. Riedel, Hören auf die Sprache, Frankfurt a. M. 1990, S. 41. Er hat überdies die Zirkularität zwischen dem
„ich denke“ und dem „ich bin“ im Decarteschen Grundsatz „ich denke, also bin ich“ ins Auge gefasst. Ihm
zufolge ist der Schlusssatz „also bin ich“ aus dem Hauptsatz „ich denke“ nicht folgerichtig abgeleitet. Das
Ichsein ist hier keine Schlussfolgerung des denkenden Ich, sondern das Ichsein geht dem „ich denke“ voraus, d.
h. das denkende Ich setzt umgekehrt das Ichsein voraus, wie er sagt, „um zu denken, muß man sein.“ In dieser
Übereinstimmung mit der Hermeneutik, sieht er die Wechselseitigkeit von Sprechen und Hören, in deren
Verhältnis das Ichsein und das denkende Ich gemeinsam zur Sprach kommen. Er verlagert „die akroamatische
Dimension“ in der Hermeneutik, in der das Ich sich selbst erscheint und sich selbst entdeckt, auf den
Knotenpunkt von dem „ich bin“ und dem „ich denke.“ In diesem Sinn sagt er: „Ja, das Ego ist sogar erste Idee,
nämlich diejenige, worin sich die Zusammengehörigkeit des Denkens mit dem Sein auf dem Boden der
Sprache enthüllt.“ (S. 32 – 36)
174
„Vorrang des aufeinander Bezogenseins“: „Das Verhältnis von Verstehen und Verstandenen
hat vor dem Verstehen und den Verstandenen den Primat, […], der weder im einen noch im
anderen Gliede der Relation seine feste Basis hat.“ (GW. 1, S. 126) Um es mit einem Wort zu
sagen, ist die „Selbstvergessenheit“ aus hermeneutischer Sicht für das Phänomen „ich
verstehe“ charakteristisch, anders gesagt, vergesse ich mich selbst dort, wo ich verstehe.
Dieses bewusstseinsphilosophische Schema setzt sich in der Entwicklungslinie von
Descartes über Kant bis Hegel durch. Gadamers Hermeneutik übt deshalb auch „eine
immanente Kritik an der Geistphilosophie Hegels“, 20 obwohl sie Hegels Denkweise,
einerseits die dialektisch–geschichtliche Erfahrung, andererseits die Anerkennung im
Verhältnis zum Anderen, in ihre Überlegungen mit einschließt. Gadamer beschäftigt sich in
seinen Überlegungen mit der ontologischen Erfahrungsgeschichte in Hegels Phänomenologie
und mit dem Anerkennungsverhältnis als Bezogenheit auf den Anderen, die in den Arbeiten
des frühen Hegels bis hin zur Phänomenologie auftauchen. Gleichwohl lehnt sich Gadamer
gegen die Reflexivität des Selbstbewusstseins und die daraus folgende Selbsteinsicht, d. h. die
Allwissenheit des Geistes bei Hegel auf. Aus Gadamers Sicht meint die Reflexivität des
Selbstbewusstseins bei Hegel „die Reflexion in sich“, die durch die objektive
Vergegenständlichung des Selbst hindurch zu sich selbst zurückkehrt. Das Bewusstsein von
sich selbst läuft im um sich selbst drehenden Kreis herum und bezieht sich damit auf sich
selbst. Diese Reflexionsbewegung bahnt sich mit sich selbst an und endet auch mit der
Rückkehr zu sich selbst. Das heißt, dass die Reflexion des Selbst den in sich abgeschlossenen
Weg von der unmittelbaren Selbstgewissheit über das Verhältnis zum Anderen hin bis zur
Rückkehr zu sich selbst – Hegel selbst hat „die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst“ als den
Untertitel von „B. Selbstbewußtsein“ in der Phänomenologie gewählt – durchführt. So
gesehen ist das denkende Subjekt bei Hegel zweifelsohne die Rückbesinnung auf sich selbst
durch die Selbstreflexion, in der das Subjekt sich seiner selbst bewusst wird. Diese
unerschütterliche Selbstgewissheit bildet die Basis, auf der sowohl das Bewusstsein von sich
selbst als auch von allem Anderen ruht. Sie ist bei Hegel, Gadamers Ansicht zufolge, ein
bedingungsloser Anfang, der das absolute Ende unmittelbar in sich vereint.21 Diesbezüglich
sagt Gadamer: „Das Problem des Anfangs ist, wo immer es sich stellt, in Wahrheit das
20
G. Figal, „Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik“, in:
Gadamer Verstehen / Understanding Gadamer, hrsg. v. Mirko Wischke u. Michael Hofer, Darmstadt 2003, S.
149. Zur Hegelschen Philosophie in Bezug auf Gadamers Hermeneutik, vgl. G. Krüger, „Die dialektische
Erfahrung des natürlichen Bewusstseins bei Hegel“, in: Hermeneutik und Dialektik, hrsg. v. R. Bubner, K.
Cramer u. R. Wiehl, Tübingen 1970, S. 285ff und Claus v. Bormann, „Die Zweideutigkeit der
hermeneutischen Erfahrung“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971, S. 83ff. Vgl. zudem
das Resümee in Abschnitt V. von dieser Arbeit.
21
Zur Voraussetzungslosigkeit und Anfangsproblematik in Hegels Logik, Vgl. R. Bubner, „Die >>Sache
selbst<< in Hegels System“, S. 40 – 69.
175
Problem des Endes. Denn vom Ende her bestimmt sich der Anfang als der Anfang des
Endes.“ (GW. 1, S. 476) Aus Gadamers Sicht bewegt sich die Reflexion des Hegelschen
Subjekts in sich selbst als ein absolut voraussetzungsloser Anfang, vollzieht sich mit dem
Wissen um sich selbst bzw. vom vollendeten Ende wie dem absoluten Anfang. Die Hegelsche
Reflexivität
des
Subjekts
ist
in
sich
geschlossen,
ähnlich
wie
die
Hegelsche
Geistesphilosophie die systematische Homogenität zur Sprache bringt.
Gadamers hermeneutische Reflexion hingegen geht von keinem Nullpunkt aus, d. h.
sie setzt immer schon ihre unentrinnbare Bedingtheit, die sich aus der Geschichtlichkeit ergibt,
voraus. Kurzum nimmt die hermeneutische Reflexion von vornherein die Geschichtlichkeit
als Voraussetzung für die menschliche Selbsterfahrung an. Von daher ist sie sich dessen
bewusst, dass die letzte Wahrheit nicht gefunden werden kann und der potenzielle, stets über
uns hinausreichende Sinnhorizont, nur unter bestimmten Bedingungen erschlossen werden
kann. Nun sagt Gadamer: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören
ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf
selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus
der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern
im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des
einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“ (GW. 1, S.
281) Später setzt er hinzu: „Wer >Sprache< denkt, bewegt sich schon immer in einem
Jenseits der Subjektivität.“ (GW. 10, S. 19, meine Hervorhebung) Der Hauptsinn von
Gadamers obigen Sätzen liegt m. E. im Einwand gegen die Selbsteinsicht des Subjekts in der
neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, die durch die vollständige Aneignung der
unaufhebbaren Andersheit des Anderen das Widerspruchsrecht des Anderen ignoriert.
Gadamer wehrt sich, wie bereits erwähnt, gegen die methodologische Gewissheit der
Naturwissenschaft und gegen die neuzeitliche Subjektphilosophie. Gleichwohl schließt er das
Reflexionsmoment des Selbstverständnisses im gesamten Verstehensvorgang nie vollkommen
aus. Gadamer nimmt zwar von der fundamentalen Selbstgewissheit, die sich auf den
Selbstbesitz des Subjekts gründet, kritischen Abstand, thematisiert jedoch in der
hermeneutischen Reflexion das Verhalten zu sich selbst im Anderen. Wenn ich Gadamer
richtig verstehe, kann ich die Behauptung wagen, dass die hermeneutische Reflexion die
reflexive Besinnung auf sich selbst im Verlauf des Verhaltensprozesses zum Anderen
garantiert, ohne jedoch zu der vorherigen Selbigkeit zurückzukehren. So zeigt sich das
Selbstverständnis in der hermeneutischen Reflexion als ein Bewusstsein, das immer seinen
Anderen ernst nimmt und ihn als Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit bestehen lässt.
176
Hierbei handelt es sich nunmehr um eine Selbstbezogenheit im Verhalten zum Anderen, die
zu sich selbst Distanz hält und sich damit zugleich in der Erfahrung des Anderen wandelt. In
diesem Sinn spricht Gadamer nicht von der vollständigen Abschaffung der Subjektivität,
sondern von der „Abdämpfung der Subjektivität.“ 22 (GW. 2, S. 485) So gesehen liegt es auf
der Hand, dass das „Sich–Verstehen“ im hermeneutischen Bewusstsein keinesfalls die
unhintergehbare Selbstheit, sozusagen die letztbegründete, deshalb fundamental selbstgewisse
Individualität ist, die sich stets auf sich selbst bezieht. Vielmehr wird dagegen gezeigt, dass
dieses hermeneutische Sich–Verstehen das Bewusstsein dessen ist, dass es sich seiner
unvermeidbaren Angewiesenheit auf die Andersheit des Anderen und damit seiner
geschichtlichen Bedingtheit bewusst ist. Aus hermeneutischer Sicht ist das sich verstehende
Bewusstsein keine neuzeitliche Subjektivität, die um ihre Selbstbezogenheit ohne irgendeine
ontologische Voraussetzung weiß, sondern es konstituiert sich in der Beziehung zum Anderen.
Kurzum erkennt das hermeneutische Bewusstsein auf seinem niemals endenen Weg, auf dem
es sich selbst erkennt, den zwangsläufigen Anteil der Andersheit an. So verändert sich die
jeweils gelungene Selbstbildung des Bewusstseins nur unter ihrer eigenen Voraussetzung. Das
hermeneutische Bewusstsein, das immer schon ein Sich–Verstehen bedeutet, ist deshalb, mit
Gadamers Worten, „das Weggegebensein an etwas“, d. h. es vollzieht einen inwendigen
Wandel zur Selbstbesinnung hin in Abhängigkeit von den interdependenten Sinnbezügen. 23
Von dieser bisherigen Überlegung aus wird ersichtlich, dass Gadamer den „Seinsvorrang des
Zugehörigseins
zur
Geschichte“
im
hermeneutischen
Verstehen
gegenüber
der
bewusstseinsphilosophischen Subjektivität bevorzugt.
Um diese Grundstruktur der hermeneutischen Erfahrung zur Sprache zu bringen,
möchte ich nun kurz Gadamers „Spielbegriff“ nennen. Aus Gadamers Sicht führt uns der
Spielvorgang stets über die subjektive Dimension hinaus hin zur überindividuellen, da das
Spiel als solches schon eine Wir–Dimension ist. Wer spielen will, der muss mit dem Anderen
zusammenspielen. Jedes Spiel hat zudem seine eigene Spielart und Spielregel; es bildet damit
sein eigenes Spielfeld. In der Spielbewegung ist die reine Subjektivität deshalb sekundär,
ganz im Gegenteil, wird der Spieler „angesprochen.“ Das Spiel fordert unsere
Spielbereitschaft, miteinander zu spielen, versetzt uns selbst in eine Spielbewegung. In
diesem tiefen Versunkensein in den Spielvorgang kommt ein übersubjektiver Horizont zur
Geltung, in den wir eingebunden sind. Das Spiel erlaubt uns keine vollkommene
22
Vgl. Michael Hofer, „Die „Abdämpfung der Subjektivität“ – Drei Beispiele aus der amerikanischen bzw.
französischen Gadamer–Rezeption“, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 54, hrsg. v. Otfried
Höffe, Frankfurt a. M. 2000, S. 593 – 611.
23
Hans–Georg Gadamer, „Behandlung und Gespräch“, in: Über die Verborgenheit der Gesundheit, S. 168.
177
Rückbesinnung auf eine fundamentale Selbstgewissheit, auf die isolierte Ichheit, sondern es
fordert uns auf, uns seinem Gesetz, seiner Spielart zu unterwerfen und die Regeln ernst zu
nehmen. Da die holistisch miteinander vernetzten Sinngefüge in der hermeneutischen
Erfahrung über das isolierte Ego hinweg stets auf eine übersubjektive Struktur verweisen, die
die Teilnahme an dem Sinngeschehen in ihren Bann zieht, sagt Gadamer: „Nicht, was wir tun,
nicht was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht,
steht in Frage.“ (GW. 2, S. 438)
Im Gefolge der kritischen Auseinandersetzung mit der Diskreditierung des Vorurteils
im naturwissenschaftlichen Methodenbewusstsein und mit dessen Anspruch auf die
vorurteilsfreie Selbstgewissheit im Aufklärungszeitalter, versucht Gadamer durch den Rekurs
auf die wahrheitstragende Funktion der Kunsterfahrung, die den Ausgangspunkt von
Gadamers Hauptwerk bildet, die „Wahrheitsfrage“ in der humanistischen Tradition,
insbesondere innerhalb der Denklinie der deutschen Romantik, „freizulegen.“ Indem seine
Überlegung auf die Wiedergewinnung der Wahrheitsfrage in der Kunsterfahrung abzielt, lässt
er sich auf den Diskurs mit der Kantischen, insbesondere der Schillerschen Ästhetik, 24 ein.
Aus Gadamers Sicht gewinnt die Ästhetik durch das „ästhetische Bewusstsein“, das sich auf
den
ästhetischen
„Geschmack“
gründet
und
dabei
die
Trennung
von
„dem
Naturmenschen“ und dem „künstlichen Menschen“ 25 voraussetzt, ihre Autonomie und
Souveränität. Hierbei sondert sie die Schönheit von den übrigen Welten ab, da erst das
ästhetische Bewusstsein Anlass für das ästhetische Urteil gibt und „die ästhetische
Unterscheidung“ vollzieht. (GW. 1, S. 91) Mit Schillers ästhetischem Bewusstsein betrachtet,
zielt die Ästhetik auf die Perfektionierung des menschlichen Gestaltens bzw. die bewusste
Umgestaltung zum allgemein gebildeten Individuum durch die „ästhetische Erziehung“ ab.
Doch dieser Weg zur ästhetischen Perfektion führt letzten Endes, Gadamers Ansicht zufolge,
einerseits zur Subjektivierung in der Genieästhetik – deshalb geht es bei ihr im Grunde um
das rein ästhetische, subjektive Erlebnis -, andererseits zur ästhetischen Unterscheidung, die
mit dem ästhetischen Urteilen die ästhetische Qualität einschätzt, d. h. die Trennung von
Schönheit und Hässlichkeit vornimmt. Die ästhetische Unterscheidung unterscheidet auf der
Basis des ästhetischen Werturteils nicht nur die Schönheit von der Hässlichkeit, sondern
24
Gadamer zufolge ist Kant grundsätzlich für diese Unterscheidung verantwortlich, weil er mit dem reinen
Geschmacksurteil die Schönheit vom intellektuellen und moralischen Werturteil abzusondern, die Welt des
Schönen nur der Welt des schönen Scheins zuzuordnen versuchte. Zu Gadamers intensiver Beschäftigung mit
Kants Urteilskraft, vgl., H.–G. Gadamer, „Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins“, in: Theorie der
Kunst, hrsg. v. D. Henrich u. Wolfgang Iser, Frankfurt a. M. 1992, 4. Aufl., S. 59 – 69.
25
Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1997, S. 71, vgl. dazu, Konrad Paul
Liessmann, „Die Sollbruchstelle. Die Destruktion des ästhetischen Bewusstseins und die Stellung der Kunst in
Hans–Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“, in: Gadamer Verstehen, S. 211ff.
178
trennt von der Schönheit auch deren Wahrheitsanspruch ab. Mit anderen Worten: Das
ästhetische Bewusstsein,
das
durch
sein ästhetisches
Werturteil
eine
ästhetische
Unterscheidung ausübt, schließt damit zugleich den ethischen, kognitiven und politischen
Wahrheitsbereich von sich selbst aus, um aufgrund dieser Unterscheidung seine eigene
Souveränität zu gewinnen. Angesichts dessen gibt Schiller im folgenden Satz zu: „Die
Schönheit gibt schlechterdings kein einzelnes Resultat weder für den Verstand noch für den
Willen, sie führt keinen einzelnen, weder intellektuellen noch moralischen Zweck aus, sie
findet keine einzige Wahrheit […].“ 26 Somit ist die Kunstschönheit in den Bereich der bloß
erscheinenden Welt verbannt, zu einem bloßen Gegenstand, der von der gesellschaftlichen
Lebenswurzel völlig losgelösten Kunstsammlung, herabgesetzt. Sofern die Ästhetik das
bewusstseinsphilosophische Erbe, das Ideal von der methodischen Trennbarkeit und das
fundamentale Werturteil der Schönheit verfolgt, übersieht sie vor allen Dingen den
Anknüpfungspunkt des Künstlers an den geschichtlich tradierten Hintergrund bzw. die
Tatsache, dass selbst ein genialer Künstler außerhalb seines subjektiven Triebes dem
gesellschaftlichen Bedürfnis und der geschichtlichen Weltsicht untersteht. Wenn wir den
Akzent auf Gadamers Kritik am ästhetischen Urteil legen, wird deutlich, dass die ästhetische
Erfahrung „eher eine Anti–Ästhetik als eine Ästhetik“ 27 ist.
Von der Genieästhetik, die sich an das ästhetische Bewusstsein anlehnt, weit entfernt,
sieht Gadamer in der Kunsterfahrung ein Wahrheitsmoment. Die Kunsterfahrung wird von
Gadamer als ein dynamischer Prozess verstanden, der uns zu einer jeweils nicht
wiederholbaren, unersetzbaren Erfahrung einer überempirischen Normativität hinführt.
Hierbei geht es um das Phänomen, dass man sich selbst durch die wahrheitstragfähige
Funktion des retrospektiven Rückblicks auf das Erfahrene verstehen kann. Auf dem Weg zum
Phänomen des Selbstverstehens nimmt das Kunstwerk, mit Gadamers Worten, „die
anspruchsvolle Sprache“ an, die die Fähigkeit hat, das gemeinsame Sinnfeld zu erschließen,
da es uns immer schon anredet, uns anstößt. (GW. 1, S. 57) Durch diese stets motivierende
Anregung lässt uns das Kunstwerk über die individuelle Isoliertheit hinweg bei sich selbst
„verweilen.“ Zum „Verweilen beim Kunstwerk“ kann man sagen, dass es da das
unaussprechbare „Mehr“ im Vergleich zu einer erklärenden Aussage gibt. Dieses Mehr, das
wir seit Aristoteles kartharsis nennen, lässt sich aus Gadamers Sicht keinesfalls auf eine
Instanz, also einen richterischen Urteilsmaßstab reduzieren, sondern wird nur dann sichtbar,
26
Friedrich Schiller, Ebd., S. 85 – 86. Bzg. seines Ideals von einem Schönheitsstaat gegenüber einem Moralstaat,
setzt er überdies fort: „Der ethische Staat kann sie (= Gesellschaft, KBL) bloß (moralisch) notwendig machen,
indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich
machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuum vollzieht.“ (S. 126)
27
J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 2001, 2. Aufl., S. 156.
179
wenn wir uns auf das Sinngeschehen der Kunsterfahrung, auf die Selbstdarstellung des
Kunstwerkes einlassen. Das Kunstwerk wird bei Gadamer „als die Vollendung der
symbolischen Repräsentation des Lebens verstanden, zu der ein jedes Erlebnis gleichsam
schon unterwegs ist.“ (GW. 1, S. 76) Denn die Fähigkeit, uns in ein spielerisches Gespräch
mit dem Kunstwerk einzulassen, das uns ein gemeinsames Sinngewebe als kulturellgeschichtliche Erfahrung ermöglicht, lässt uns selbst entwerfen und uns innerhalb der
Sinnbewegung der wechselseitigen Beziehung immer wieder neu konstituieren. Die
geschichtliche Selbstbildung in der Kunsterfahrung, die Gadamer von Hegel und von der
humanistischen Tradition der Romantik übernimmt, bildet einen Sinnhorizont, der es möglich
macht, sich selbst anders zu verstehen, d. h. eine der vielen „Selbstbeschreibungen“, „self–
description“ im gesamten Beschreibungssystem zu leisten. 28 In Gadamers philosophischer
Hermeneutik bezeichnet die Selbstbildung eine offene Selbstumwandlung in der
ontogenetischen Erfahrungsgeschichte. Die das Selbst verwandelnde Bildung trägt dazu bei,
dass wir eine neue Vertrautheit mit uns selbst finden und dass wir uns selbst in die neue,
vernetzte und auch anders gebildete Sinnkette einordnen. Indem Gadamer diesen
wahrheitstragfähigen Grundcharakter der Kunsterfahrung erkennt und in ihm den
geschichtlichen Ausdruck des Wahrheitsanspruchs des existenziell begrenzten Menschseins
sieht, bezeichnet er die Wahrheitssuche des menschlichen Daseins als „den Spiegel der
Kunst.“ (GW. 1, S. 103) Im Anschluss an seine Einsicht in den Wahrheitsanspruch des
Kunstwerks, der aus der ständigen Auseinandersetzung mit dem Horizont der Vergangenheit
gewonnen wird und die Erfahrung unserer existenziellen Kontinuität, in der wir immer schon
zur Wahrheit stehen, ermöglicht, sagt Gadamer: „Das Pantheon der Kunst ist nicht eine
zeitlose Gegenwärtigkeit, die sich dem reinen ästhetischen Bewußtsein darstellt, sondern die
Tat eines geschichtlich sich sammelnden und versammelnden Geistes. Alles Sichverstehen
vollzieht sich aber an etwas anderem, das da verstanden wird, und schließt die Einheit und
Selbigkeit dieses anderen ein.“ (GW. 1, S. 102)
28
Zu Gadamers Hermeneutik in Bezug auf „Bildung“ in der romantischen Tradition, Richard Rorty, Philosophy
and the Mirror of Nature, Princeton: New Jersey 1980, S. 357 – 365, hier bes. S. 362, Der Spiegel der Natur,
übers. v. Michael Gebauer, S. 387 – 395. Ihm zufolge ist selbst die Naturwissenschaft eine unter den
menschlichen Beschreibungssystemen.
180
1 – 2. Die unentrinnbare Angewiesenheit des menschlichen Verstehens auf das
hermeneutische „Vor“
Vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen über das Methodenbewusstsein und das
subjektive Urteil bzw. der hermeneutisch anstrengenden Beschäftigung mit dem
Wahrheitsanspruch in der Kunsterfahrung, hebt Gadamer das „Vorurteil“ hervor, das als eine
Vorstruktur des Verstehens nach Kant eine „Bedingung der Möglichkeit“ des Verstehens ist.
Aus hermeneutischer Sicht deutet das Vorurteil auf die ursprüngliche Zugehörigkeit des
menschlichen Daseins zur Geschichte, d. h. zur Welt selbst, hin. Dieser Gedanke steht zwar
unter dem Einfluss von Heidegger, insbesondere dem seines Hauptwerkes „Sein und Zeit“, allerdings wäre die Vorlesung vom SS 1923 über „Ontologie: Hermeneutik der Faktizität“ für
Gadamers Denkentwicklung noch wichtiger gewesen als „Sein und Zeit“ – dennoch
distanziert sich Gadamer von Heideggers Denken. Gadamer entwickelt keine weiteren
Seinsfragen, um die Heidegger sich so sehr bemühte. Gadamers philosophische Hermeneutik
bezieht sich zudem auf die überlieferte Tradition, während Heideggers Hermeneutik ihren
Blick auf die Zukünftigkeit als die Seinsweise des Daseins richtet. 29
Bevor ich auf das Vorurteil in Gadamers Hermeneutik eingehe, möchte ich zunächst
Heideggers Hermeneutik, die wir als die hermeneutische Philosophie bezeichnen können,
skizzieren. In ihr geht es insbesondere um zwei Punkte: Einerseits um die Seinsart des
Daseins in der Welt, mit Heideggers Worten um das „In–der–Welt–Sein“, andererseits die
Struktur des Vorverständnisses im menschlichen Verstehen überhaupt. Die Hermeneutik war
bei Heidegger „Phänomenologie des Daseins“, 30 nämlich die ontologische Explikation des
Daseins im Verhältnis zum Sein. Die Hermeneutik beinhaltet die Möglichkeit, dass das Sein,
um das es beim Dasein immer geht, sich selbst ausspricht und auslegt. Diesbezüglich schreibt
Heidegger: „Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter
diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, […]. In der Hermeneutik bildet sich
für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.“ 31
29
Vgl. zu Heideggers Hermeneutik als Daseinsanalytik, G. Figal, „Selbstverstehen in instabiler Freiheit. Die
hermeneutische Position Martin Heideggers“, in: Hermeneutische Positionen, hrsg. v. Hendrik Birus,
Göttingen 1982, S. 89 ff., und ders., „Gadamer im Kontext“, in: Gadamer verstehen, S. 141ff. Zum Einfluß
von Heidegger auf Gadamer und zu deren gedanklichen Verschiedenheit, vgl. J. Grondin, Von Heidegger zu
Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, S. 81 – 92 und ders., Der Sinn für Hermeneutik,
Darmstadt 1994, S. 71 – 88. Besonders nach der sog. „Kehre“ wollte Heidegger selbst die Verwendung des
Begriffs „Hermeneutik“ vermeiden. Deswegen hat er im Briefwechsel mit Otto Pöggeler seinen Standpunkt
zur Hermeneutik mit diesem berühmten Diktum festgestellt: „Die ,hermeneutische Philosophie’ ist die Sache
von Gadamer.“ Otto Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg / München 1983, S.
395.
30
Heidegger, Sein und Zeit, S. 37.
31
Ders., Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, in: GA. 63, Frankfurt a. M. 1988, S. 15.
181
Heideggers Hermeneutik zufolge ist das Sein nicht die zeitlose Ewigkeit, sondern hat seine
eigene Zeitlichkeit, da es sich selbst aussprechend auslegt. Damit wird deutlich, dass sich das
Sein selbst immer schon in der Zeit der Jeweiligkeit darstellt. Anders gesagt, ist das Sein
immer „da“. In diesem Sinn hat das Sein den Charakter des „Da“ innerhalb seiner Zeitlichkeit,
ist das „Da–Sein“ als ein jeweiliges Da des Seins, das immer zum Sein stehende Seiende. Für
das Dasein wird die Zeitlichkeit daher zur unhintergehbaren Bedingung seiner
Seinsmöglichkeit, da es sich selbst in dieser Temporalität auf seine Zukünftigkeit hin entwirft.
Mit seiner Einsicht in die Temporalität des Seins selbst, erhebt Heidegger gegen die
überlieferte Ontologietradition den Vorwurf, diese habe das Sein nur als das
„vorhandene“ aufgefasst. An deren Stelle will er nun seine „Fundamentalontologie“ setzen,
die durch die radikale Ausübung der „existenzialen Analytik des Daseins“ die Ontologie des
Seins alles Seienden erneut vorlegt und sie auf der Destruktion der traditionellen
Ontologiegeschichte
aufbaut.
32
Die
Hermeneutik
wird
bei
ihm
damit
zur
„Existentialhermeneutik“, die sich hauptsächlich mit der Daseinsanalytik beschäftigt. Unter
diesem Gesichtspunkt ist Hermeneutik bei ihm „Destruktion.“ 33 So gesehen weist das Dasein
aus Heideggers Sicht eine zeitliche Bedingtheit auf, die er „Geworfenheit“ als die Seinsweise
des Daseins nennt. Damit bahnt sich das Verstehen des Daseins als solches an. Das Verstehen
innerhalb seiner Bedingtheit richtet sich permanent auf das Selbstverständnis und die
Auslegung des Daseins, in deren Verlauf das Dasein der Welt begegnet. Mit anderen Worten:
Das sich verstehende und sich auslegende Dasein trifft mit seiner Intentionalität die Welt und
bildet durch seine Zuneigung zur Welt, die bereits das Dasein mit einschließt, die Vertrautheit
mit der Welt aus. Im Hinblick auf diese Seinsweise des Daseins in der Welt spricht Heidegger,
wie bereits erwähnt, vom In–der–Welt–Sein. Aus Heideggers Sicht weist das In–der–Welt–
Sein darauf hin, dass das Dasein in der gewissen Zeitlichkeit, in die wir hineingeraten sind, in
die Welt hineingeworfen ist. Infolgedessen lässt sich mit Heidegger sagen, dass das Dasein
bereits zu dieser Welt gehörig und mit dieser Welt vertraut ist. Bei ihm ist die Welt immer
schon der bedingte Spielraum des Daseins, sozusagen seine Lebenswelt, in der das Dasein
zum Anderen steht und sein eigenes Verhältnis zum Anderen bildet.
Darüber hinaus gilt es zunächst, unseren Blick auf die „Vor–Struktur“ des Verstehens
in Heideggers Hermeneutik zu richten. Die Vorstruktur des Verstehens, die den Zugang zum
Sein begrenzt, ja bestimmt, wird bei Heidegger unter den drei folgenden Kategorien
zusammengefasst: „Vorhabe“, „Vorsicht“ und „Vorgriff.“ 34 Heidegger zufolge kann der
32
Ders., Sein und Zeit, S. 13.
Ders., Hermeneutik der Faktizität, S. 105.
34
Ders., Sein und Zeit, S. 150.
33
182
Mensch, sofern er sich selbst versteht und auslegt, diesem „Vorverständnis“ niemals
entkommen und entziehen, sondern vielmehr wächst er in das geschichtlich vorgegebene
Vorverständnis hinein und heraus. Da die Vorstruktur die „Weltverfallenheit“ des
menschlichen Daseins als des sich selbst Verstehenden bzw. die „Geworfenheit“ des
menschlichen Daseins in die Welt meint, kann das Dasein diese Struktur nicht objektiv
betrachten, sondern befindet sich immer schon mitten in diesem ontologischen Horizont drin.
Vor dem Hintergrund dieses Vorverständnisses bildet das Verstehen einen Sinnhorizont. Aus
diesem Grund können wir in Bezug auf Heideggers fundamentalontologische Daseinsanalytik
bemerken, dass das Vorverständnis das Verstehen zu einem bestimmten Horizont hinführt, d.
h., dass das geschichtlich Vorgegebene für uns einen Sinnhorizont eröffnet und uns damit
zum Seinssinn hinleitet. Demgemäß sagt Heidegger: „Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht
und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich
wird.“ 35 Insofern bestimmt die Vorstruktur als die Geworfenheit des Daseins die Sinnrichtung
mit und macht die unentrinnbare Bedingtheit des menschlichen Verstehens sichtbar. Hierbei
ist die klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt bereits aufgehoben. Vielmehr beginnt das
Verstehen über die Dinge und über sich selbst immer mit der vorgegebenen Sinndimension,
der von vornherein keine objektivierbare Trennlinie innewohnt und der deshalb eine
holistische Potenzialität zukommt. Heidegger drückt das so aus: „Alle Auslegung bewegt sich
ferner in der gekennzeichneten Vor–Struktur.“ 36
Aus den bisherigen Skizzierungen können wir den hermeneutischen Grund dafür
entnehmen, warum Gadamer das Vorurteil im menschlichen Verstehen hervorhebt. Die
hermeneutische Akzentuierung der Struktur des Vorverständnisses ist im Grunde der Versuch,
wie bereits erwähnt, die methodische Spaltung zwischen Subjekt und Objekt im modernen
Zeitalter kritisch zu reflektieren und mehr oder weniger zu überwinden. So liegt Gadamers
Einsicht in die Vorstruktur des Verstehens auch ganz in der Linie von Heideggers Idee.
Heideggers Argumentation entsprechend wird das Vorurteil bei Gadamer deshalb als die
Vorstruktur zum Weltzugang überhaupt verstanden. Gleichwohl blickt Gadamer über
Heideggers Fundamentalontologie der radikalen Daseinsanalytik hinaus. Mit dieser
Distanzierung zu Heideggers Ontologie gewinnt er seine eigene Produktivität, seinen eigenen
Gedankengang seiner philosophischen Hermeneutik, sofern er noch stärker auf den reflexiven
Erprobungsprozess der Vorurteilhaftigkeit in der gemeinsamen Verständigung über den
Sachverhalt und über uns selbst im Gespräch eingeht.
35
36
Ebd., S. 151.
Ebd., S. 152.
183
Aus hermeneutischer Sicht kennzeichnet das Verstehen den ontologisch–existenziellen
Grundcharakter des Menschseins. Sofern der Mensch verstehen kann und will, versteht er
immer schon etwas und sich selbst. Im Verstehen, d. h. dem Verstehen-Können und –Wollen
erkennt der Mensch seine „ursprüngliche Vollzugsform.“ (GW. 1, S. 264) Sobald der Mensch
etwas verstehen will, muss er sich auf dieses Etwas einlassen und sich selbst auslegen. Mit
anderen Worten: Wenn man versteht, versteht man zugleich sich selbst und legt sich selbst
aus. Aus hermeneutischer Sicht sind das Selbstverständnis und die Selbstauslegung, die beide
die existenzielle Seinsweise des menschlichen Daseins prägen, jedoch immer auf die
Erfahrung der motivierenden Fremdheit angewiesen, da das Verstehen, sofern es vom
Verstehen–Wollen des Menschseins ausgeht, seinen eigenen Motivationshintergrund mit
einschließt.
Das
hermeneutische
Verstehen
ist
zudem
intentional
auf
ein
„Woraufhin“ gerichtet. Anders formuliert, ist das Verstehen, dem eine Intentionalität, eine
tendenzielle Zuneigung innewohnt, von Anbeginn an in seinen motivierenden Anreizen
verwurzelt. Aus diesem Einbezogensein in das Fremde vermehrt und verändert sich das
Verstehen. Damit wird deutlich, dass die Verankerung des Verstehens im Fremden aus
hermeneutischer Sicht seine Geschichtlichkeit, als die ontologische Grundlage der
menschlichen Erfahrung ist. Aus Gadamers Sicht ist das Menschsein deshalb das
„Geschichtlichsein“, da es sich bereits mitten in der Geschichte befindet, sofern es nicht nur
etwas, sondern auch sich selbst verstehen und auslegen will und kann.
Bei Gadamer geht es nunmehr um die Geschichte, noch präziser, die Geschichtlichkeit,
in der wir immer schon stehen und stehen müssen, da sie die das Subjekt übersteigende
Quelle aller Sinngehalte ist. Indem die Einbezogenheit in die Geschichte, so Gadamer, das
„Darinstehen in einem Überlieferungsgeschehen“, die Basis unserer existenziellen Seinsweise
bildet, bezieht uns das Verstehen, sobald wir verstehen wollen, ins Verstehensgeschehen mit
ein oder wie Gadamer sagt: „Wer versteht, ist schon immer einbezogen in ein Geschehen,
durch das sich Sinnvolles geltend macht.“ (GW. 1, S. 314 u. S. 494) So gesehen ist das
Verstehen die Folge unseres motivierten Verstehen–Wollens, das dem Einbezogensein in die
geschichtliche Sinnquelle, in die geschichtlich bedingte Situiertheit der menschlichen
Existenz, entstammt. Das Verstehen–Können und –Wollen des Menschen ist hier der
Grundstein der hermeneutischen Erfahrung, auf dem sich die reflexive Prüfung der
erarbeiteten Sinngefüge gründet. Aus diesem Grund wird der hermeneutische Anspruch an
den angemessenen Entwurf, an die Hoffnung auf eine kompromissvolle Verständigung, 37
erhoben. Im Verlauf unserer freiwilligen Hineinversetzung bewegt sich das Verstehen
37
Vgl. R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, S. 315ff., deutl. S. 343ff. Gegen die
wissenschaftstheoretische Methodenidee gilt ihm die Hermeneutik hier als „the hope of agreement.“
184
zwischen dem beschränkten und dem sich erschließenden Sinnfeld, das von unserem
Verstehen–Wollen in Gang gesetzt wird und sich als eine interpretationsbedürftige Sinnwelt
darstellt. Dieses Sinnfeld ist nicht objektivierbar, sondern markiert einen uns mit
einschließenden Sinnhorizont, der von uns nicht auslotbar ist, dem wir unentrinnbar von
vornherein angehören. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, jemals eine abgeschlossene
Gewissheit zu erlangen, ein allgemeingültiges Wissen. Aufgrund dieser hermeneutischen
Anerkennung der prinzipiellen Unabschließbarkeit des Verstehensvorgangs, befindet sich das
Verstehen immer auch in der möglichen Gefahr des Missverständnisses. Aber diese
Möglichkeit des Missverständnisses bedeutet aus der hermeneutischen Perspektive keinesfalls
einen bloßen Irrtum, sondern eröffnet stets einen neuen Sinnhorizont. Denn jedes Verstehen
in der Hermeneutik ist ein unendlicher Versuch, auf die Frage nach dem schon Verstandenen
zu antworten. Jedes Verstehen sieht es mithin als seine wesentliche Aufgabe an, alles bereits
Verstandene zu überprüfen und es damit in einen neuen Sinnhorizont zu integrieren. In
diesem reflexiven Integrationsvorgang, in dem sich eine Selbstumwandlung in seinem Inneren
abspielt, gelangt dem Verstehenden nicht nur das Missverständnis, sein Irrtum zu Bewusstsein,
sondern vielmehr wird er sich auch seiner eigenen Stellung zur Sache bewusst. Der
Verstehensvorgang ist deshalb ein interaktives Wechselspiel zwischen dem schon
Verstandenen und dem zu Verstehenden, dem Verstehen–Können und dem Missverstehen–
Können.
Die Geschichte beinhaltet also in Gadamers Hermeneutik die unübersehbaren
Potenzen jeder möglichen Sinnerschließung, da sie die Seinsweise der menschlichen Existenz
modifiziert und stets überragt, „der tragende Grund des Geschehens, in dem das
Gegenwärtige wurzelt“, ist. (GW. 1, S. 303) Nun kann man mit Gadamer sagen, dass die
Geschichtlichkeit die ontologische Basis für die menschliche Erfahrung, nämlich die
menschlichen Handlungen, ist. So bildet sie von vornherein den präreflexiven und
vorwissenschaftlichen Sinnhorizont, aus dem sich der potenzielle Spielraum überhaupt erst
ergibt. Angesichts dessen bezieht sie sich auf sämtliche Bereiche menschlicher Handlungen,
nämlich auf den geschichtlich-kulturellen Hintergrund, vor dem die lernprozessuale
Sozialisierung stattfindet. Aus diesem Grund stammt das hermeneutische Bewusstsein aus der
geschichtlich bedingten Situiertheit unserer Handlungen. Die Geschichtlichkeit bedingt daher
das Bewusstsein, also die Tatsache, dass wir im Grunde in die vorwissenschaftliche
Lebenswelt als sinnhaltige Grundlage der menschlichen Erfahrung hineingeworfen,
hineingewachsen sind. Die gegenwärtige Sinndimension ist bereits durch die Vergangenheit
mitbestimmt und unsere eigene geschichtliche Zugehörigkeit ist es, die uns schließlich zu
185
einem neuen Sinnhorizont führen wird. Über diese Geschichtlichkeit der Erfahrung sagt
Gadamer emphatisch: „Wohl aber scheint es mir kein Zweifel, daß sich der große
Vergangenheitshorizont, aus dem heraus unsere Kultur und unsere Gegenwart leben, bei
allem als wirksam erweist, was wir in die Zukunft hinein wollen, hoffen oder fürchten. Die
Geschichte ist mit da und ist selbst nur da im Lichte dieser unserer Zukünftigkeit.“ (GW. 1, S.
224, meine Hervorhebung) Hier geht das hermeneutische Verstehensproblem m. E. wieder
auf die alltäglichen Lebensbezüge zurück, die der wissenschaftlichen Reflexion voraus gehen
und von sämtlichen geschichtlich tradierten Überlieferungen vorgeformt sind. Im Hinblick auf
die Einbettung des Verstehens in die alltägliche Lebenswelt, betont Gadamer die
Zugehörigkeit zu tradierten Sinngefügen, die bei der Erschließung des gegenwärtigen
Sinnhorizontes, ihre Wirksamkeit entfalten. Indem Gadamer seinen Akzent auf die
Zugehörigkeit setzt, geht sein hermeneutisches Verstehen von der Anerkennung unseres
Angewiesenseins auf die überlieferte Situiertheit aus, die vor allen Reflexionsakten liegt.
Daraus leitet Gadamer nunmehr seinen Begriff des „Vorurteils“ ab, das nicht als ein Vorurteil,
sondern als die Vorurteile bezeichnet wird. Denn die Vorstruktur des Verstehens bezieht sich
nicht auf die heillose Befangenheit, der wir blind verhaftet sind, sondern sie bildet den
gemeinsamen Boden, auf dem alle Sinnhorizonte als Möglichkeiten der menschlichen
Erfahrung entstehen. In Anknüpfung an diese vielfältigen Möglichkeiten, können und müssen
wir als Verstehende auch unseren eigenen Sinnhorizont finden und uns erarbeiten.
Hermeneutisch gesehen, können wir uns einer nackten Tatsache gegenüber nicht vorurteilsfrei
verhalten, sondern konfrontieren uns mit einer Sache immer schon aus dem Blickwinkel
unserer Vorurteile heraus. Es gibt also keinen neutralen Standpunkt des Beobachters.
Vielmehr sind wir gezwungen, mit der Vorurteilhaftigkeit unserer Sichtweise umzugehen.
Hierbei kann es uns natürlich auch passieren, dass man eine Sache missversteht und sich irrt,
wie bereits erwähnt wurde. Doch von diesem Missverständnis, von diesem Irrtum ausgehend,
haben wir die Möglichkeit, das, was uns fehlt, noch zu lernen. Gefährlich wird es nur, wenn
wir unsere vorurteilhafte Beschränktheit vergessen und uns auf sie versteifen, da uns eine
solche Vergessenheit geradezu zu einer dogmatischen Verblendung führen würde. Somit liegt
auf der Hand, dass die Vorurteile, die den bereits bestehenden Sinnbezügen entstammen,
einen vorausgehenden Horizont, der sich als Ausgangspunkt der Verstehensprozesse weiter
entfaltet, bilden.
Die Struktur des Vorverständnisses in Gadamers Hermeneutik zeigt sich zudem auch
als ein Vor–Urteil in dem Sinn, dass sie der ontologische Ausgangspunkt für alles Verstehen
ist und den reflexiven Urteilen vorausgeht: Das Vorurteil geht bei Gadamer dem Urteil voraus.
186
In diesem Zusammenhang wird der frühe Hegel für unsere Diskussion wieder interessant, da
sich der junge Hegel mit der zeitgenössischen Reflexionsphilosophie insbesondere in seiner
Denkentwicklung auseinandergesetzt hat. Dort übte Hegel unter dem Einfluss der Romantik,
insbesondere Hölderlins, 38 Kritik an der urteilenden Reflexion, da diese Reflexion seiner
Ansicht nach das ursprüngliche Sein beiseite schiebt, das von vornherein allen Urteilen
zugrunde liegt. Indem sie von der Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht, muss das
Sein bei Hegel zuallererst von sich selbst unterschieden sein, damit es zum Gegenstand für
das Urteil werden kann. Das bedeutet, dass das Sein sich im Grunde selbst teilen, über sich
selbst aussagen muss. Erst dann ist das Sein für das Urteil bereit. Damit muss das Urteil
zugleich zum Sein als solches zurückkehren, da das Sein ein dem Urteil vorausgehendes
Ursprüngliches ist und das Urteil erst aus dieser Urquelle heraus erwächst. In diesem Sinn ist
das Urteil grundsätzlich „Ur–Teilung“. Von daher kann man sagen, dass Hegel in seiner
frühen Zeit die wesentliche Zirkelbewegung zwischen Sein und Urteil durchaus bedacht hat,
obwohl er sie später zunehmend mit dem abgeschlossenen System zu vollenden glaubte.
Sofern sie allen reflexiven Urteilen vorausgehen und zugrunde liegen, entsprechen die
Vorurteile bei Gadamer sowohl dem ursprünglichen Sinnfeld als auch dem Sein bei Hegel.
Jedoch sind sie für Gadamer auf keinen Fall der Ursinn, zu dem das reflexive Urteil kausal
zurückkehren muss. Vielmehr stellen sie eine bestimmte Auswahl aller potenziellen Horizonte
dar, da wir im Verstehensprozess nicht alle möglichen Vorurteile einsetzen können, sondern
jeweils nur eines wählen. Nun kann man sagen, dass diese Auswahl unseren eigenen Horizont
bildet. Aus Gadamers Sicht gewinnen wir mit der Bildung unseres eigenen Horizontes, der
von den versteckten Sinnquellen der gesamten Lebensbezüge aus erschlossen ist, unseren
Bezugspunkt zur Welt. Indem die Vorurteile in der Hermeneutik die heimlichen
Motivationszusammenhänge darstellen, von denen wir uns nicht distanzieren können, leiten
sie die Fragedimension, in der unser Verstehensprozess eingebettet ist, an. Denn das
hermeneutische Verstehen setzt mit dem Fragen ein, ein Fragen, das durch die Zugehörigkeit
zum kulturell Geschichtlichen ermöglicht wird. Insofern ist das Verstehen die Suche nach
einer Antwort auf die Frage.
Die Vorurteile im hermeneutischen Verstehen setzen sich selbst von vornherein einem
Erprobungsprozess aus. Auf diesem Weg gewinnt das hermeneutische Verstehen das
Bewusstsein von seiner ontologischen Vorstruktur und macht sich seine Vorurteile bewusst.
Die Vorurteile sind, Gadamers Ansicht zufolge, kein reines Vorurteil mehr, an dem der
Verstehen–Wollende versteinert festgehalten wird, sondern sie weisen als die ontologisch–
38
Zum Einfluss von Hölderlins Vereinigungsphilosophie auf Hegels Denkumwandlung, vgl. Kap. II. Das Prinzip
der Anerkennung in Hegels früher Zeit vom I. Teil in dieser Arbeit.
187
bedingte Vorstruktur des Verstehens mehrhorizontale Schichten auf. Aus hermeneutischer
Sicht gilt es zu sehen, dass die ontologische Vorstruktur nicht nur im Textverstehen, sondern
noch wesentlicher im alltäglichen Sinnvollzug der sozialen Lebensbezüge eine Rolle spielt.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit hier dem komplizierten Strukturzusammenhang der
Vorurteile im hermeneutischen Verstehen zuwenden, könnte man es in folgender Hinsicht als
mehrdimensional bezeichnen: Hinsichtlich des Textverstehens handelt es sich zunächst um
die geschichtliche Vorstruktur des Textes, die sich auf dessen geschichtliches Faktum bezieht
und damit um das Vorverständnis des Autors, welches sich aus seiner geschichtlichen
Bedingtheit ergibt. Es handelt sich jedoch auch um die Vorurteile des Lesers und dessen
jeweiliges Vorverständnis, das durch den durchschrittenen Horizont hindurchgeführt worden
ist. In Bezug auf die alltäglichen Dialogsituationen zwischen den Menschen werden wir
außerdem die lebensgeschichtliche Bedingtheit der Perspektive des Sprechers und seinen
daraus bestimmten Gegenwartshorizont bzw. die geschichtliche Vorstruktur des Hörers und
den davon abhängigen Gegenwartshorizont mit berücksichtigen. Auf diese mehrhorizontalen
Schichten der Vorurteile bezieht sich im Grunde das hermeneutische Verstehen. In Gadamers
Hermeneutik wird deshalb zwar gezeigt, dass die ontologische Vorstruktur des Verstehens auf
ein Gefangensein des menschlichen Verstehens in der situierten Bedingtheit verweist, stellt
für Gadamer jedoch zugleich auch die einzige Möglichkeit zur Sinnerschließung in der Welt
dar, d. h. dafür, „daß wir etwas erfahren, daß uns das, was uns begegnet, etwas sagt.“ (GW. 1,
S. 224) Da die Vorurteile, wie bereits gesagt, die Möglichkeiten der menschlichen
Erfahrungen, nämlich die Vorstruktur zum Weltzugang und die Situationseingebundenheit im
hermeneutischen Sinnvollzug zur Geltung bringen oder anders formuliert in jeder
Konfrontation der Verstehen–Wollenden mit der Sache den Sinnhorizont des Verstehen–
Könnens mitbestimmen, fügt sich das hermeneutische Verstehen mit dieser Struktur des
Vorverständnisses in die gesamte Sinnbewegung ein: Im ersten Fall als wechselseitige
Bewegung zwischen Textsinn und Standpunkt des Lesers, im zweiten Fall zwischen Sprecher
und Hörer. Somit wird deutlich, dass die Vorurteile in der Hermeneutik von vornherein den
Anknüpfungspunkt bilden, der uns über die Erfahrung der Distanz hinaus das wechselseitige
Verstehen erst möglich macht.
Aus diesem Grund rehabilitiert Gadamer die Vorurteilsstruktur als die ontologische
Grundlage der hermeneutischen Erfahrung zwar unter dem Gesichtspunkt, dass die Vorurteile
im Verstehensprozess nicht ausgeblendet oder ausgeschaltet werden dürfen, sondern sie als
ein Moment auf dem endlosen Weg zum hermeneutischen Sinnvollzug immer schon eine
herausragende Rolle spielen. Solange wir verstehen wollen, können wir uns keinen
188
vorurteilsfrei neutralen Gesichtspunkt verschaffen, da wir bereits mit unserem eigenen
Blickwinkel in die Konfrontation mit einem bestimmten Sachverhalt eingebunden sind.
Vielmehr müssen wir in angemessener Weise unser Vorverständnis auf dem Weg zum
Verstehen über die Sache korrigieren und so letztlich zum Verstehen über uns selbst kommen.
Bezüglich des Ins–Spiel–Setzens des hermeneutischen ‚Vor’ sagt Gadamer: „In Wahrheit
wird das eigene Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel gebracht, daß es selber auf dem
Spiele steht. Nur indem es sich ausspielt, vermag es den Wahrheitsanspruch des anderen
überhaupt zu erfahren und ermöglicht ihm, daß er sich auch ausspielen kann.“ (GW. 1, S. 304)
Aus hermeneutischer Sicht ist es zweifelos eine Tatsache, dass die eigenen Vorurteile im
Erprobungsprozess
denen
des
Anderen
begegnen.
Das
Sich-Hineinversetzen
ins
Verstehensfeld bringt zugleich auch die Begegnung mit den verschiedenen Sinnentwürfen mit
sich, die sich dem jeweils anderen aussetzen und damit zugleich zur kritischen
Auseinandersetzung mit den jeweils anderen Vorurteilen führen. Im Textverstehen geht der
Leser z. B. immer von seiner eigenen Sinnerwartung aus, begegnet auf der Basis seines
eigenen Sinnhorizontes dem für ihn fremden Textsinn. Bei diesem Sichaussetzen der eigenen
Vertrautheit gegenüber dem fremden Sinnhorizont wird die eigene Vormeinung überprüft und
gegebenenfalls korrigiert. Der reflexive Prozess der Selbstüberprüfung und –entlarvung der
Vorurteile auf der endlosen Wahrheitssuche skizziert von nun an aus hermeneutischer Sicht
keinen entwicklungslogischen Fortschritt, sondern den Prozess des „Scheiterns des
Verstehens.“ 39 (GW. 2, S. 57) Dennoch, auf der unendlichen Suche, die das logische
Scheitern durchläuft, wird die Voreingenommenheit im Textverstehen auf den Textsinn
treffen und sich damit dem Textsinn anzunähern versuchen. Um zu verstehen, müssen die
Vorurteile sich selbst in den miteinander konfrontierenden Erprobungsprozess einlassen. Nur
durch dieses Ins–Spiel–Setzen können sie mit dem Textsinn Schritt halten. Denn „die Sache,
um die es jeweils geht, - der Text, den man verstehen möchte – ist der alleinige Maßstab, den
man gelten läßt“, solange wir mit unserer Sinnerwartung das zu Verstehende verstehen und
wir uns selbst in den Verstehensprozess hineinbetten, in dem jeder Sinnhorizont von dem
eigenen Vorverständnis abgeleitet wird und die mögliche Sinnhorizonterschließung nur mit
dem impliziten Sinnhorizont zusammengefügt werden kann. (GW. 1, S. 109) Das
Vorverständnis ins Spiel zu setzen bedeutet daher im hermeneutischen Verstehensprozess,
39
Zu einer Logik des Scheiterns im zirkulären Verstehensgang vgl. Hans–Georg Flickinger, „Die heimliche
Logik des Verstehens – Vom Denken und vom Schreiben“, in: Prisma Nr. 46, Kassel 1992, S. 3-5 und damit
auch Jean Grondin, „Die Hermeneutik als die Konsequenz des kritischen Rationalismus“, in: philosophia
naturalis (32), hrsg. v. Bernulf Kanitscheider, Lorenz Krüger u. a., Frankfurt a. M. 1995, S. 183 – 191. Hier
geht es um K. Poppers Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis, nämlich „trial and error“ im
unendlichen Versuch, etwas zu erkennen.
189
sich den möglichen Weg zum Textsinn als solchen, d. h. zur Sachangemessenheit zu
erschließen, die eigene Vertrautheit durch die Erfahrung der Fremdheit zu bereichern und zu
erweitern. „Das hermeneutisch geschulte Bewußtsein“ stützt sich auf die Erkenntnis, dass das
Verstehen immer schon die mitkonstitutive Rolle des Fremden anerkennt, dass das Verstehen
deshalb permanent etwas von diesem fremden Sinn in die eigene Vertrautheit überträgt.
Hinsichtlich seiner Einsicht in die Grundstruktur der menschlichen Erfahrung, nämlich das
Angewiesensein auf die Andersheit im menschlichen Verständnis, sagt Gadamer: „Wer einen
Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein
hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein
empfänglich sein.“ (GW. 1, S. 273) Angesichts dessen ist bei Gadamer nicht entscheidend, ob
das Vorurteil im hermeneutischen Verstehen wahr oder falsch, legitim oder illegitim ist,
sondern wie es im Verstehensprozess des fremden Sinns als Anstoß zum Verstehen agiert und
wie es sich selbst als das Einbezogensein des Verstehens in die Erfahrung der Fremdheit
bewusst macht.
Das Vorurteil als Sinnantizipationshorizont ist immer schon auf jeder Stufe des
wahrheitssuchenden
Verstehensprozesses
beteiligt.
In
der
Konfrontation
mit
dem
wahrheitsfähigen Sinngehalt, den die Welt uns liefert, wird das Verstehen auf eine bestimmte
Sinnrichtung hin ausgerichtet. Das Vorurteil ist daher in der Hermeneutik ein Entwurf von
Sinnmöglichkeiten und erschließt den potenziellen Sinnhorizont. Aus Gadamers Sicht wird
das Vorurteil deshalb als die ontologische Bedingung des Verstehens, d. h. die unabdingbare
Angewiesenheit auf die Fremdheit im Sinnverstehen verstanden. Um etwas zu verstehen,
muss der Verstehende sein eigenes Vorurteil zunächst in den gesamten Sinnhorizont
einbringen, in dem das eigene Vorurteil mit dem Sinngehalt konfrontiert und dessen
Sachangemessenheit überprüft wird. Hermeneutisch gesehen meint das Vorurteil, wie bereits
erwähnt, die geschichtliche Position, von der aus unser Verstehen überhaupt erst möglich
wird. Daher wird verständlich, dass das Vorurteil eine Voraussetzung für die
Sinnerschließung des zu Verstehenden ist. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es wahre oder
falsche, legitime oder illegitime Vorurteile im Verstehensprozess gibt. Gibt es überhaupt eine
Trennlinie, die die wahren von den falschen Vorurteilen, die legitimen von den illegitimen
Vorurteilen unterscheiden kann? 40 Wir haben bereits gesehen, dass es in der philosophischen
Hermeneutik keine Letztinstanz mehr gibt, von der aus die Sachverhalte auf jeden Fall
beurteilt
werden
können.
Diesbezüglich
hatte
Gadamer
seine
Kritik
an
der
Bewusstseinsphilosophie im Aufklärungszeitalter und am Methodenbewusstsein in der
40
Vgl. J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1982, S. 303, u. „Zur Gadamers
>Wahrheit und Methode<“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 48.
190
Naturwissenschaft zum Ausdruck gebracht. Zudem ist das Vorurteil in Gadamers
Hermeneutik eine ontologische Grundlage, die vor allen reflexiven Urteilsakten bereits
besteht. Es verweist daher auf den vorreflexiven, vorwissenschaftlichen Sinnhorizont, dem
wir unentrinnbar ausgesetzt sind, auf die alltäglichen Lebensbezüge. Wenn wir nun die
ontologische Vorstruktur des Verstehens innerhalb des geschichtlichen Verstehensfeldes
gänzlich abschaffen könnten und daran anschließend die wahren von den falschen Vorurteilen,
die legitimen von den illegitimen Vorurteilen ganz selbstverständlich unterscheiden könnten,
wäre es m. E. überflüssig, uns die philosophische Frage zu stellen, was wahr ist, wie es
letztendlich wahr, gut oder schön ist. Denn die philosophische Grundfrage wäre damit bereits
vor allen sinnstiftenden Fragestellungen beantwortet worden, da das Problem bereits vor allen
reflexiven Urteilen gelöst worden wäre. Noch zugespitzter formuliert, wäre die Antwort auf
die Frage, was wir verstehen können und verstanden haben, vor allen Erfahrungen immer
schon gegeben, wenn wir diese Trennung vornehmen könnten. 41
Habermas
scheint,
indem er
mit
der
obigen
Fragestellung
die
kritische
Auseinandersetzung mit Gadamer sucht, die Legitimationsfrage und die Gerechtigkeitsfrage
dahinter verstecken zu wollen. Aus hermeneutischer Sicht wäre dem die Frage
entgegenzusetzen, wie eine Fragedimension ohne die vorausgehende Fragesituation überhaupt
möglich sein kann. Wenn man sich selbst eine Frage stellt, stößt diese eine motivierte
Sinnrichtung an. Das bedeutet: Jede überzeugende Frage ist bereits motiviert. Hermeneutisch
gesehen, gewinnt jede Frage zweifelsohne ihre Sinnrichtung aus ihrer inneren Motivation
heraus. Aus diesem Grund versucht das hermeneutische Verstehen zunächst die Frage, also
die Fragerichtung zu verstehen und auf die innere Motivation, die die Sinnrichtung steuert, zu
hören. Indem Habermas sich selbst der Geschichtlichkeit der Normenbildung verweigert,
indem er nach der Legitimität in der Gesellschaftstheorie fragt, gerät er in die
Begründungsproblematik, mit der er sich später noch beschäftigen wird. 42 Aus Gadamers
Sicht geht seine Begründungsproblematik jedoch auf die „objektive Substanzialität“ bzw. die
„transzendentale Subjektivität“ zurück. Mit anderen Worten: Die Begründungsfrage könnte
nach Habermas nur durch einen transzendentalen Grundsatz, der jenseits unserer
lebensweltlichen Praktiken liegt, beantwortet werden, ganz so, als ob dieser vom Himmel
fallen würde. In der Hermeneutik dagegen ist die sinnweisende Fragestellung ohne die
ontologische Vorstruktur, ohne die bewusste Anerkennung der Standortgebundenheit der
41
42
Vgl. J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 156ff.
Uns ist bereits bekannt, dass sich Habermas später von dem Anspruch auf die Letztbegründung zu distanzieren
versuchte. Diesbezüglich vgl. Jürgen Habermas, Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991,S. 119ff.,
vgl. auch Kap. II – 1. Aristoteles’ phronesis in Bezug auf den Platonischen Dialog vom III. Teil dieser Arbeit
191
Fragesituation, unmöglich. Das hermeneutische Verstehen kann daher ohne den Zwang zum
Beweis oder zur Begründung den Prozess der Sinnkonstitution von sich selbst ableiten und
ausarbeiten. Im Hinblick auf die Begründungsfrage sagt Gadamer deshalb: „Wer verstehen
will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen.“ (GW. 2, S. 273) Darüber hinaus gipfelt
Habermas’ Kritik an der Vorurteilhaftigkeit in Gadamers philosophischer Hermeneutik in
dem Vorwurf, diese ersetze ein Vorurteil durch ein anderes und verabsolutiere somit das
Vorurteil. Daran anschließend bezeichnet Habermas die Vorstruktur des Verstehens als „die
Sedimentierung von Vorurteilen“. 43 Aus den bisherigen Überlegungen schlußfolgernd, liegt
es für uns jedoch auf der Hand, dass Gadamer in seiner Hermeneutik keinesfalls das Vorurteil
sedimentieren oder verabsolutieren will, sondern seine Einsicht liegt, wie wir gesehen haben,
gerade darin, dass das hermeneutische Verstehen von dem Vorurteil als einer notwendigen
Kompetenz für das Sinnverstehen ausgeht, seine bedingte Vorstruktur anerkennt und auf
dieser Basis die Vorurteile ins Spiel bringt. Aufgrund dieser Einsicht spricht Gadamer deshalb
davon, dass es „[i]n seinem Begriff liegt, daß es (= das Vorurteil, KBL) positiv und negativ
gewertet werden kann.“ (GW. 1, S. 275) So gesehen muss das Vorurteil bei Gadamer erprobt
und zu Bewusstsein gebracht werden, weshalb das Bewusstmachen der Vorurteile auch eine
hermeneutische Aufgabe ist. Nun geht es uns als den Verstehenden um die Einbettung des
eigenen Vorurteils ins Sinnfeld, niemals aber um die Ausblendung des eigenen Vorurteils
oder gar die Entkoppelung von dieser vorurteilhaften Vorstruktur.
Im Anschluss an die Einsicht in die Vorurteilsstruktur im hermeneutischen Verstehen
spricht Gadamer von der „Tradition“, d. h. einer kulturellen, geschichtlichen Tradiertheit, die
für uns einen wesentlichen, gemeinsamen Hintergrund der sozial erzeugten Sinngewebe bildet.
Die Tradition entwickelt sich kontinuierlich über die begrenzte Zeitlichkeit hinweg und
umschließt auch das sinnverleihende Moment. Die Tradition, die den uns überlieferten
Sinnhorizont prägt, hat daher aus Gadamers Sicht doppelseitige Bezugspunkte: Sie lässt uns
auf der einen Seite stets die Frage forumulieren, aus deren Perspektive sie uns anleitet und
motiviert. So verleiht sie uns die Motivation, verstehen zu wollen. Auf der anderen Seite
bildet sie die ontologische Rahmenbedingung, innerhalb der wir verstehen wollen und können.
Als geschichtlicher Ausgangspunkt der menschlichen Erfahrung bildet sie die innere
Voraussetzung für alle weiteren potenziellen Fragehorizonte. Aus hermeneutischer Sicht
meint die Tradition, die tradierte Überlieferung, deshalb die sozial-kulturelle Erfahrung, die
kein äußeres Drittes für die Erfüllung des Geltungsanspruchs und keine Begründung braucht,
sondern sich aus dem inneren Prozess heraus konstituiert. In der Konsequenz kann man sagen,
43
J. Habermas, Zu Gadamers >Wahrheit und Methode<, S. 49.
192
dass die Tradition für das hermeneutische Verstehen die sozial erzeugten und überlieferten
Sinnhorizonte, in denen die jeweilige Sinnwelt erschlossen werden kann, bildet. Das
hermeneutische
Verstehen
bezieht
sich mithin
insbesondere
auf den
traditionell
vorstrukturierten Hintergrund eines immer schon vorhandenen Bezugssystems von Sprache
und Handlung, das sich für die Möglichkeiten verschiedener Lebensformen offen hält.
Insofern ist die Tradition für Gadamer nicht mehr die beharrliche, versteinerte Substanz,
sondern erprobt sich in der andauernden Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Denn die
Zukunft kann aus hermeneutischer Sicht nur aus der Vergegenwärtigung des Herkömmlichen
entworfen werden. Am Beispiel der Tradiertheit in der Kunsterfahrung merkt Gadamer
folgendes an: „Die Tradition, […] ist nicht etwa ein Hemmnis für freie Gestaltung, sondern
hat sich mit dem Werk selbst derart verschmolzen, daß die Auseinandersetzung mit diesem
Vorbild nicht minder als die mit dem Werk selbst die schöpferische Nachstellung jedes
Künstlers aufruft. […] die Werke, mit denen sie (= die reproduktiven Künste, KBL) es zu tun
haben, zu solcher Nachgestaltung ausdrücklich freilassen und damit die Identität und
Kontinuität nach seiner Zukunft hin sichtbar geöffnet halten.“ (GW. 1, S. 124) Diese Einsicht
Gadamers in die tradierte Überlieferung im hermeneutischen Verstehen beschränkt sich nicht
auf das Verstehensphänomen des überlieferten Kunstwerkes, sondern bezieht sich auf alle
Sinnfelder
in
der
alltäglichen
Lebenswelt.
Mit
anderen
Worten:
Die
tradierte
Kontextabhängigkeit des menschlichen Verstehens gilt nicht nur in der Kunsterfahrung,
sondern auch in den alltäglichen Lebensordnungen. Dementsprechend stehen nicht nur ein
Theaterstück, eine musikalische Komposition usw., sondern auch die gesamten Lebensbezüge,
z.
B.
die
moralische
Sitte,
die
Normativität
usw.,
in
diesen
überlieferten
Sinnzusammenhängen. Innerhalb der in dieser ganzen Bewegung wurzelnden Sinnkette wird
der herkömmliche Sinnhorizont mit dem Gegenwartshorizont konfrontiert und erschließt
damit
zugleich
in
der
sich
verwirklichenden
Auseinandersetzung
die
künftige
Sinnmöglichkeit. Daher bedeutet Tradition „nicht bloß Konservierung, sondern Übertragung“,
die die Tragfähigkeit des überlieferten Traditionssinnes immer anhand der konkreten
Situation überprüft. So ist letztere keinesfalls die nachträgliche Imitation des überlieferten
Sinns, sondern vielmehr kommt in ihr der tradierte Sinn zur Sprache. (GW. 8, S. 139)
Hieran knüpft Gadamer auch die Frage nach dem „Klassischen“ an. Seine
Fragestellung hat ihren Grund nicht nur in seinem Einwand gegen das Verständnis des
Klassischen im Historismus, sondern ermöglicht die grundsätzliche Klärung der konstitutiven
Funktion der Tradition in der hermeneutischen Erfahrung. Aus Gadamers Sicht ist das
193
Klassische zunächst ein Epochenbegriff, 44 wie z. B. die Klassik, der Klassizismus. Zunächst
wendet Gadamer sein Interesse insbesondere den wahrheitserschließenden Schriften zu, die er
selbst als „eminente“ Texte bezeichnet. Diese klassischen Texte haben uns, Gadamers Ansicht
zufolge, über die zeitliche Grenze hinaus ihren Sinn dauerhaft überliefert und verliehen, da sie
die Wahrheitsfrage stellen oder mit Gadamers Worten, „daher gewiß >zeitlos< [sind], aber
diese Zeitlosigkeit eine Weise geschichtlichen Seins [ist].“ (GW. 1, S. 295) Das Klassische ist
daher nicht lediglich obsolet geworden, sondern fordert uns stets von neuem auf, die
kontinuierliche Wirkung ausgestalteter Vorbilder nachzuahmen und zu verfolgen. Aus diesem
Grund fordert die Klassik uns dazu auf, sie in den Sinnzusammenhängen der Gegenwart zu
erkennen. Über den einseitigen Epochenbegriff hinaus, gewinnt das Klassische durch unsere
Anerkennung seinen bedeutungsvollen Inhalt, der ihm durch die geschichtlichen
Bildungsprozesse hindurch verliehen wird. So gesehen modifiziert das Klassische sich selbst
im geschichtlichen Prozess immer weiter, geleitet uns mit seinem fordernden Anspruch zu
einer handlungsorientierenden Sinnrichtung für das Alltagsleben und wird damit auch von
unserem Sinnhorizont aus immer neu verstanden. 45
An dieser Stelle spricht Gadamer von der „Autorität der Tradition“, gegen die
Habermas seinen Vorwurf richtet. Die Autorität der Tradition ist, Habermas zufolge, nur
dadurch möglich, dass die Vorurteilsstruktur in Gadamers Hermeneutik, wie bereits erwähnt,
sedimentiert und verabsolutiert wird. Aber Habermas’ Kritik geht nur auf einen Punkt von
Gadamers Überlegung ein. Er richtet seinen Blick lediglich auf die kommunikative Störung,
die gewaltsame Kommunikationsverzerrung in der Gesellschaft und sucht den Grund für diese
gesellschaftliche Gewalt in den tradierten Sinndimensionen. In der Folge hat er die Tradition,
die tradierte Situiertheit des hermeneutischen Verstehens, als eine ideologisierte Position
verstanden, der unser Verstehen unvermeidlich verhaftet ist. An dieser Stelle rückt Habermas
seine reflexive Kritik an den traditionellen Überlieferungen in den Vordergrund. 46 Mit diesem
44
Zum Problem des Epochenwandels und der Epochenmarkierung unter der Fragestellung nach der Geschichte,
vgl. Hans Blumenberg, „Epochenschwelle und Rezeption“, in: Philosophische Rundschau (6), hrsg. v. H.–G.
Gadamer u. Helmut Kuhn, Tübingen 1958, S. 94 – 120. Seiner Ansicht zufolge liegt Geschichte als Ereignis
immer in der „Schicht der Probleme“, mit der der Geschichtsschreiber und seine Überlegungen zur Geschichte
zu tun haben. Indem Geschichte bei ihm „Problemgeschichte“ sei, handelt es sich bei der
Geschichtsschreibung und –interpretation um die sachgemäße „Zuordnung der uns vorliegenden Aussagen zu
den je akuten Problemen.“
45
Vgl. J. Grondin, Hermeneutische Wahrheit. Zum Wahrheitsbegriff Hans–Georg Gadamers, 2. Aufl.,
Weinheim 1994, S. 180ff.
46
Zur Bodenlosigkeit des kritischen Bewusstseins bei Habermas, vgl. R. Bubner, „Was ist kritische Theorie?“,
in: Philosophische Rundschau (16), hrsg. v. H.–G. Gadamer u. Helmut Kuhn, Tübingen 1969, S. 213ff., und
ders., „>>Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt<<“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 210ff.
194
kritischen Verdacht 47 an allem Traditionellen begründet er auch seinen Anspruch auf einen
transzendental begründeten Grundsatz. 48 Die Autorität der Tradition bei Gadamer hingegen
setzt von vornherein auf deren Anerkennungsbedürftigkeit, sie muss im wechselseitigen
Zusammenspiel mit unserem konkreten Gegenwartshorizont anerkannt werden, da Autorität
ohne Anerkennung einen gewaltsamen Zwang bedeutet. In den Überlegungen zu Hegels
Anerkennungstheorie im I. Teil haben wir bereits gesehen, dass die Anerkennung
selbstverständlich gegenseitig ist: Wer dem Anderen Autorität abverlangt, muss zuallererst
von dem Anderen anerkannt werden und muss umgekehrt ebenfalls den Anderen anerkennen.
Wenn er seine Autorität durchsetzen will, muss er seine Autorität der wechselseitigen
Anerkennung
unterwerfen.
Indem
die
Autorität
selbst
an
das
wechselseitige
Anerkennungsverhältnis gebunden ist, kann die Gegenwart die unangemessenen, aus der
traditionellen Überlieferung überkommenen Gesetze, verweigern und zugleich die dem
Sachverhalt angemessenen Sinngefüge der Tradition übernehmen. So gesehen liegt das
hermeneutische Verstehen bei Gadamer grundsätzlich im Gespräch mit dem Geschichtlichen,
den überlieferten Traditionen, mit deren Perspektive wir uns im III. Teil beschäftigen werden.
(GW. 1, S. 284 – 286) Somit kann man sagen, dass die Hermeneutik „die Philosophie der
begrenzten Vernunft“ ist, 49 da Gadamers philosophische Hermeneutik das wechselseitige
Verhältnis
zwischen
dem
Verstehenden
und
dem
zu
Verstehenden
als
ein
interpretationsbedürftiges versteht. Das hermeneutische Verstehen befindet sich in dieser
interaktiven Polarität und vollzieht sich damit selbst. Auf dem unendlichen Weg zum
Sinnvollzug spielt die Tradition als Gesprächspartner immer schon eine Rolle. Hinsichtlich
dieses Anerkennungsverhältnisses im Verstehensvorgang sagt Gadamer: „Verstehen und
Missverstehen spielt zwischen Ich und Du. Schon die Formulierung >Ich und Du< bezeugt
aber eine ungeheure Verfremdung. So etwas gibt es ja gar nicht. Es gibt weder >das< Ich
47
Zur Hermeneutik der Verdächte, vgl. Paul Ricoeur, Die Interpretation, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.
M. 1974, bes. S. 45ff. Hier hat er sich in der Marxistischen und Freudschen Gedankenreihe mit der
psychoanalytischen Interpretation der gesellschaftlichen Pathologie beschäftigt.
48
Vgl. v. Bormann, „Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik,
S. 96. Hier hat er Gadamers Gegenposition gegen den Anspruch auf die universale Geschichtsauffassung mit
folgendem Satz zugegeben: „Insofern scheint mir Gadamers Position stärker als die seiner Kritiker zu sein, die
das Transzendieren der geschichtlichen Bedingungen der Praxis fordern und aus der >>Erfahrung der
Reflexion<< oder der Vorwegnahme des Endes der Geschichte in der Auferstehung Jesu heraus eine neue –
ihrer Herkunft in kritischer Reflexion gegenüberstehende – Praxis behaupten.“ Zur Universalgeschichte, die
den Gadamer–Kritikern zugeordnet wird, vgl. Wohlfahrt Pannenberg, „Hermeneutik und Universalgeschichte“,
in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, S. 283ff. In seinem Aufsatz versuchte er als Theologe
den Anspruch auf die Universalgeschichte zu erheben, die die hinter dem Textsinn versteckt bleibende Sache
erhellen können müsse und die im Grunde das Problem der Bibelexegese auslöse.
49
G. Figal, Der Sinn des Verstehens, Stuttgart 1996, S. 11 – 12 und vgl. zudem auch Reinhart Koselleck, Hans–
Georg Gadamer, Historik, Sprache und Hermeneutik. Eine Rede und eine Antwort, 2. Aufl. Heidelberg 2000, S.
23. Gegen die utopische Idee der Emanzipation sagt Koselleck hier: „Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß die
Emanzipation, die immer generationsbedingt ist, jemals eine endgültige und allgemeine sein könne.“
195
noch >das< Du, es gibt ein Du–Sagen eines Ich und es gibt ein Ich–Sagen gegenüber einem
Du; aber das sind Situationen, denen immer schon Verständigung vorhergeht. Zu jemandem
Du–Sagen – wir wissen es alle – setzt ein tiefes Einverständnis voraus. Da trägt schon etwas,
was dauerhaft ist.“ (GW. 2, S. 223) 50 Unser Verstehen vollzieht sich im Gespräch mit der
geschichtlichen Überlieferung und als Du–Erfahrung in der zwischenmenschlichen Beziehung.
Im Sich-Einlassen auf das Gespräch erschließt die Tradition die möglichen Sinndimensionen,
erweckt immer wieder von neuem unseren Impuls, verstehen zu wollen und zu können,
sozusagen als zentrale Bedingung des Verstehens. So sind wir immer schon auf die Stimmen
der Tradition angewiesen. Hermeneutisch gesehen, ist die Tradition mithin nichts anderes als
„das Unvordenkliche in jedem Verstehen“ 51 und zwar in der Hinsicht, dass die Tradition die
Sinnrichtung kanalisiert und den von uns nie gänzlich erklärbaren Sinnhorizont bildet. Die
Autorität der Tradition ist bei Gadamer ein Eingeständnis, das besagt, dass wir uns bereits im
Gemeinsamen befinden und uns selbst im ständigen Umgang mit unserer Herkunft weiter
bilden.
50
Zur hermeneutischen Selbsterkenntnis im Dialogverhältnis, vgl. Kap. I – 3. Dialog als Urphänomen des
Denkens: Woran orientiert sich die dialogische Gesprächsführung? im III. Teil dieser Arbeit.
51
J. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 153.
196
I – 2. Die Wirkungsgeschichte als das Prinzip des Verstehens: Die überlieferte Tradition und
die Rekonstruktion in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Das
Verstehen
in
der
Hermeneutik
vollzieht
sich
durch
den
wechselseitigen
Wirkungszusammenhang zwischen Vertrautheit und Fremdheit, Eigenheit und Andersheit.
Der Sinn im hermeneutischen Verstehen entsteht aus der ineinander übergehenden Bewegung
des uns Vertrauten und des uns Fremden. In diesem gegenseitig wirkenden Prozess werden
die Vorurteile, wie bereits erwähnt, als geschichtlich bedingte Kontextualität unseres
Verstehens bezeichnet. Insofern müssen wir unseren Verstehensvorgang mit dem vorurteilhaft
Vertrauten beginnen, da diese Vorurteilsstruktur als ontologische Grundlage der
menschlichen Erfahrung uns einerseits von der tradierten Überlieferung her gegeben ist und
andererseits von uns selbst, d. h. von dem Verstehenden, Interpreten selbst geprägt wird.
Anders gesagt bedeutet die Vorurteilsstruktur im Grunde, dass unser Verstehen die
geschichtlich bedingte Voraussetzung impliziert. Ebenso weist die Erwartung an die
Sinnerfüllung, die von uns selbst erarbeitet wird, die Struktur des Vorverständnisses auf. Mit
Blick auf die Vorstruktur des Verstehens ist das Textverstehen beispielsweise auf den
vorhandenen
Textsinn
angewiesen,
d.
h.
der
angebotene
Textsinn
bildet
die
Rahmenbedingung für das Verstehen, innerhalb dessen das Verstehen des Textes stattfindet.
So gesehen stellt der Text uns Fragen, spricht uns an. Mit anderen Worten: Das
„Angesprochenwerden“, das vom Text ausgeht, motiviert unser Verstehen, gewissermaßen
unsere Fragestellung. Und umgekehrt hängt das Textverstehen von unseren Fragen ab, das auf
den Text reagiert. Denn die Fragestellung steht in der Erwartung einer potenziellen
Sinnganzheit, die der Text enthalten soll. Es heißt also, auf die Antwort, die vom Text selbst
gegeben werden muss, zu warten. Welchen Textsinn wir herausfinden, welche Antwort wir
auf unsere Frage bekommen, hängt von der in unserer Frage enthaltenen Sinnrichtung ab.
Somit ist die Vorurteilsstruktur im hermeneutischen Verstehen ein vorreflexives Moment des
Verstehensprozesses, das von der geschichtlich überlieferten Tradition vorgeformt ist. Somit
haben wir gesehen, dass Gadamer die Vorurteile als die Geschichtlichkeit der
hermeneutischen Erfahrung, insbesondere als tradierte Bedingtheit unseres Standpunktes,
verstanden hat. An dieser Stelle fordert uns die philosophische Hermeneutik52 auf, uns die
Zugehörigkeit des Verstehens zur Geschichte, nämlich die Standortgebundenheit unserer
Erfahrung mit den tradierten Inhalten zu Bewusstsein zu bringen. Diese Geschichtlichkeit der
52
Zum Unterschied zwischen der hermeneutischen Philosophie und der philosophischen Hermeneutik, vgl.
Gunter Scholtz, „Was ist und seit wann gibt es >>hermeneutische Philosophie<<?“, in: Dilthey–Jahrbuch, Bd.
8, hrsg. v. Frithjof Rodi, Göttingen 1993, S. 93 – 119.
197
hermeneutischen Erfahrung wird von Gadamer als „Wirkungsgeschichte“ bezeichnet.
Gadamers Ansicht zufolge ist die Wirkungsgeschichte im hermeneutischen Verstehensprozess
der Inbegriff aller Möglichkeiten der Sinnerschließung und zwar dergestalt, dass das
geschichtlich Überlieferte nicht nur das zu Verstehende, das Fremde als der zu uns
distanzierte Gegenstand des Verstehens ist, sondern auch die Gesamtheit der Sinnhorizonte
ausbildet, innerhalb derer der potenzielle Sinn stets aufs Neue erschlossen wird und damit
zugleich den uns vertrauten umfasst. Deshalb kann man sagen, dass es sich bei Gadamer um
ein „Prinzip“ 53 des Verstehens handelt.
Der Begriff „Wirkungsgeschichte“ ist bei Gadamer mit der Traditionslinie des
philosophischen und literaturwissenschaftlichen Begriffsgebrauchs verknüpft. Gadamers
Einblick in die Wirkungsgeschichte beinhaltet dabei nicht nur die traditionelle Überlegung zur
Rezeptionsgeschichte der Textinterpretation in der Philosophie, vor allem im Historismus und
in der Literaturwissenschaft, sondern er orientiert sich im Grunde auch an der existenziellen
Seinsweise des menschlichen Daseins, das sich in seiner Geschichtlichkeit versteht und
auslegt. Gadamers Grundeinsicht, die unter dem Einfluss von Heideggers Denken steht,
besteht darin, dass wir unsere Seinsmöglichkeiten alle von deren Geschichtlichkeit her
bestimmt sehen, anders gesagt, dass wir in der Geschichte stehen und leben und uns selbst
und die Sache nur in Bezug auf die Geschichte verstehen. Aus diesem Grund wehrt sich
Gadamer gegen die traditionellen Auffassungen der Rezeptionsgeschichte, da diese trotz der
Anerkennung der geschichtlichen Kontextabhängigkeit der Interpretationen auf die
restaurative Rekonstruktion des ursprünglichen Sinnes des Originalwerkes abzielen. 54 Die
Wirkungsgeschichte in Gadamers philosophischer Hermeneutik ist nicht die Rückbesinnung
auf den ursprünglichen Sinn des Werkes, sondern schließt vielmehr den Sinnentwurfshorizont,
der die Sinnpotenzialität in jedem bestimmten Horizont immer wieder aufs neue eröffnet, mit
ein. Gadamers Überlegung, dass der Verstehende als geschichtliches Wesen der
unentrinnbaren Einwirkung der geschichtlichen Überlieferung ausgeliefert ist, liefert uns den
Hinweis, dass unser gegenwärtiger Sinnhorizont mit dem bewussten Verstehen über den
vergangenen Sinnhorizont und den zweckorientierenden, entwerfenden Zukunftshorizont
zusammenfallen. Damit wird deutlich, dass das hermeneutische Verstehen seinen eigenen
Sinnraum im Wirkungszusammenhang zwischen den betroffenen Polen der sich selbst
erschließenden Vergangenheit und der sich selbst entwerfenden Zukunft, vom uns Vertrauten
53
Hier dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass Gadamer damit nicht von einem deduktiven Prinzip sprechen
will, sondern er denkt, wenn ich ihn richtig verstehe, an ein ontologisches Prinzip, das wir für die Erfahrung
unvermeidbar annehmen müssen und können.
54
Vgl. Karl Robert Mandelkow, „Probleme der Wirkungsgeschichte“, in: Jahrbuch für Internationale
Germanistik, Bd. II/ 1, hrsg. v. Hans–Gert Roloff, Frankfurt a. M. 1970, S. 71 – 84.
198
und uns Fremden, aufspürt. Somit kann man sagen, dass Gadamers Einsicht in die
Geschichtlichkeit der hermeneutischen Erfahrung von ihrem Ansatz her aus Heideggers
Grundgedanke der existenziellen Zeitlichkeit als menschlicher Seinsweise – in Heideggers
Grundformel, dass das menschliche Dasein „da in seiner Jeweiligkeit“55 sei – beeinflusst ist.
Aber Heidegger legt mit dieser Formel, der des zeitlichen „Da–Sein[s]“, seinen Schwerpunkt
auf die fundamentalontologische Daseinsanalytik. Das Verstehen als die grundsätzliche
Seinsweise des menschlichen Daseins wird bei Heidegger von der bewussten Endlichkeit her
gedacht. Somit beruht diese bewusste Endlichkeit in Heideggers Fundamentalontologie auf
der Gewissheit des Todes. Bei Heidegger bezieht das Verstehen seine Möglichkeiten aus der
bewussten Gewissheit vom „Sein zum Tode“ immer aufs neue. Gadamer hingegen distanziert
sich von Heideggers „radikaler Daseinsanalytik“, die man mit Bezug auf den frühen
Heidegger als „Existenzhermeneutik“ bezeichnen kann. Seinem eigenen Denkansatz zur
Hermeneutik gemäß führt Gadamer die philosophische Hermeneutik nicht auf Heideggers
Denkweise zurück, sondern entwickelt seine Hermeneutik mit der Frage nach der
traditionellen Konzeption der Hermeneutik in der philosophischen Denkgeschichte weiter.
Von dieser intensiven Beschäftigung aus entdeckt er die hermeneutische Idee der
Textinterpretation in der Verstehensstruktur des lebensweltlichen Erfahrungsraums wieder.
Somit sieht Gadamer über Heideggers Gedanken vom „Sein zum Tode“ hinaus die
Einbezogenheit des Verstehenden in die sinnverwobenen Sinngefüge der alltäglichen
Lebenswelt, die einerseits immer durch den Verstehenden ihren Sinn gewinnen und dem
Verstehenden ihren Sinn stets aufs neue verleihen. Gadamer spricht deshalb vom „Sein zum
Text“, eine Formulierung, die ursprünglich von Odo Marquard stammt. 56 Somit kann die
Behauptung gewagt werden, dass Gadamers Hermeneutik eine „Hermeneutik des
Faktischen“ sei, da sie ihren Blick nicht nur auf die Textinterpretation, sondern auch auf die
lebendige Gegenwärtigkeit der alltäglichen Lebenswelt richtet, während sich Heideggers
Hermeneutik ständig an der Suche nach dem „Faktum der Hermeneutik“ orientiert.57
An dieser Stelle sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass Gadamer zunächst von dem
Einwand gegen die neuzeitliche Subjektivität ausgegangen war. Damit hatte er dem
lebendigen Sein den Vorrang gegenüber den reflexiven Urteilen verliehen. Die
Geschichtlichkeit setzte er allen reflexiven Urteilsakten voraus, so dass er von hier aus
55
M. Heidegger, Hermeneutik der Faktizität, S. 48.
Vgl. Odo Marquard, „Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist“, in: ders., Abschied vom
Prinzipiellen, Stuttgart 2000, S. 117 – 146, hier bes. S. 130 und in einem Gespräch mit J. Grondin, Hans–
Georg Gadamer, „Dialogischer Rückblick auf das Gesammelte Werk und dessen Wirkungsgeschichte“ (1996),
in: Gadamer Lesebuch, hrsg. v. J. Grondin, Tübingen 1997, S. 282.
57
G. Figal, „Gadamer im Kontext“, S. 148.
56
199
schließlich die Verstehensstruktur als einen Grundmodus der menschlichen Seinsweise nicht
auf die fundamentalontologische Daseinsanalytik zurückführte, - wie Heidegger das „Sein
zum Tode“ aufgefasst hatte -, sondern auf die alltägliche Lebendigkeit des lebendigen Seins.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Geschichte, die überlieferte Tradition, bei Gadamer
ein dem Urteilen vorausgehendes Allumfassendes ist, auf dessen Basis wir es später mit dem
Reflexionsakt zu tun bekommen. Die Wirkungsgeschichte selbst überragt deshalb das
subjektive Bewusstsein und die von der Reflexion ermöglichte Gewissheit. Kurzum wird
gezeigt, dass sie den gesamten Verstehensvorgang leitet. Nun bildet die Geschichtlichkeit des
hermeneutischen Verstehens den interaktiven Ort, an dem sich alle Verstehenshorizonte
begegnen, vermitteln und einander annähern, da wir uns selbst als Verstehende in diesen
geschichtlichen Überlieferungen befinden und darin leben. Dementsprechend formuliert
Gadamer seine Einsicht in die Geschichtlichkeit der hermeneutischen Erfahrung, die immer
schon im Wirkungszusammenhang mit der tradierten Überlieferung steht, wie folgt: „Das
Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als
Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart
beständig vermitteln. Das ist es, was in der hermeneutischen Theorie zur Geltung kommen
muß, die viel zu sehr von der Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist.“ (GW. 1, S.
295) Wer versteht, ist aus hermeneutischer Sicht bereits in die Überlieferung involviert, in der
über die zeitliche Grenze hinaus Sinn immer wieder neu gestiftet und gestaltet wird. Dieses
Eingerücktsein des Verstehenden ins Sinngeschehen prägt von nun an den geschichtlich–
kulturellen Hintergrund, an dem wir, ob wir wollen oder nicht, immer schon beteiligt sind.
Infolgedessen ermöglicht erst die ontologische Teilnahmestruktur, Gadamers Ansicht zufolge,
das Verstehen des Anderen und die soziale Verständigung über den Anderen und uns selbst.
Betrachtet man die Grundphänomene des hermeneutischen Verstehens aus dem
Blickwinkel der kulturellen Erfahrung, so ist die Kultur, der alle symbolisierten Werke der
Menschheit, also Kunstwerke, Kulte, Institutionen usw. zugeordnet werden, ein Ausdruck des
menschlichen Grundbedürfnisses, die inneren Schichten ins Äußere und die innere Stimme
ins äußerliche Symbolsystem zu übertragen. Wenn die Kultur selbst aus diesem
ursprünglichen Bedürfnis des Menschseins nach Lebensäußerung entstanden ist, können wir
uns vermutlich auf der grundsätzlichen, deshalb gemeinsamen kulturellen Basis über die
anderen (doppelseitig das andere und den anderen) und über uns selbst verständigen. So
gesehen führt die Kultur als der gemeinsame Boden für den Verstehensvorgang uns in ein
interaktives Netzwerk, nämlich in die Beziehung, die von uns selbst aus entwickelt wird und
uns zueinander verhalten und miteinander verständigen lässt. Wenn das Verstehen überdies in
200
dem Geflecht zwischen dem Verstehenden und dem zu Verstehenden, dem uns vertrauten und
dem uns fremden Kulturkreis, nicht nur den Spielraum der Verstehensmöglichkeit der
fremden Kultur, sondern auch den der Verstehensmöglichkeit der eigenen Kultur etabliert,58
ist für das hermeneutische Verstehen, mit Gadamers Worten, „das Ineinanderspiel der
Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten“ charakteristisch. (GW. 1, S.
298) Denn die Grundstruktur des Mitspiels hat hier zwischen der Vertrautheit und der
Fremdheit, der Eigenheit und der Andersheit bereits eine Brücke geschlagen. Im von der
unentrinnbaren Betroffenheit vorgegebenen Wechselspielraum der eigenen und fremden
Geschichtlichkeit setzt das hermeneutische Verstehen seinen eigenen Prozess in Gang, in
dessen Verlauf es sich selbst verändert und modifiziert. Damit könnte man sagen, dass
Gadamers Hermeneutik „eine Hermeneutik wirkungsgeschichtlichen Geschehens“59 sei. Aus
Gadamers Sicht sieht jeder Verstehensvorgang deshalb seinen Sinnvollzug stets nur aus der
Perspektive seiner eigenen Eingebundenheit ins geschichtliche Sinngeschehen, in dessen
Zeitperspektive das Vergangene nur für den gegenwärtigen Standpunkt vergangen ist, d. h.
die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart als das Vergangene gilt. Deshalb gibt
es keine elementar reine Vergangenheit, sondern die Vergangenheit kann das Vergangene nur
in der Hinsicht sein, dass dasjenige, was vorübergegangen ist, in den Gegenwartshorizont
einrückt und von diesem aus bestimmt wird. Und umgekehrt muss man sehen, dass es keine
Gegenwart gibt, die nicht unter dem Wirkungszusammenhang der Vergangenheit steht. Die
Gegenwart entfaltet ihren Horizont nur in Bezug auf die Vergangenheit, d. h. dass in dieser
Horizontbildung der Vergangenheitsbezug eine konstitutive Rolle spielt. Indem das Verstehen,
wie bereits erwähnt, ins miteinander verwobene Sinnnetzwerk von Gegenwart und
Vergangenheit, von Vertrautheit und Fremdheit, eingezeichnet ist, ist die tradierte
Überlieferung, so Gadamer, „Sprache, d. h. sie spricht von sich aus so wie ein Du.“ (GW. 1, S.
364) Hiermit nimmt die sprachliche Überlieferung ihren Platz als unser permanenter
Gesprächspartner ein, der von uns nicht verobjektiviert werden kann, obwohl er uns im
58
Zum Problem des Verstehens und der Erfahrung der fremden Kulturen aus der ethnologischen Perspektive:
Selbst wenn die fremden Kulturen nicht unmittelbar ineinander übersetzbar sind, so sind sie doch verstehbar,
zumindest vergleichbar. Denn das gegenwärtige Betroffensein erhebt nicht nur den Anspruch auf das
Verstehen, sondern eröffnet auch den nötigen Raum für den Verstehensakt. Das Verstehen zwischen den
Kulturen steht in dieser ontologischen Rahmenbedingung der Verstehbarkeit. Vgl. Wolfdietrich SchmiedKowarzik, „Das Verstehen fremder Kulturen – zu einem Grundbegriff der Ethnologie als Kulturwissenschaft“,
in: Kultur – Philosophische Spurensuche, hrsg. v. Gerhard Schweppenhäuser, u. Jörg H. Gleiter, Weimar 2000,
S. 62 – 80. Ihm zufolge soll die Anerkennung der subjektiven Autorität der fremden Kultur zuallererst jedem
Versuch zum Verstehen des Fremden vorausgesetzt werden. Deswegen geht es „der Ethnologie gerade nicht
um ein Verfügbarmachen fremder Völker durch ein objektivierendes, instrumentelles Wissen von ihnen,
sondern um ein Verstehen ihrer kulturellen Lebens– und Sinnzusammenhänge aus ihrer je eigenen Perspektive
heraus.“ (S. 63)
59
G. Figal, Der Sinn des Verstehens, S. 22.
201
Dialog gegenübersteht, also Abstand zu uns hat. So gesehen besteht das Verstehen aus dem
Dialog, in dem der Verstehende und das zu Verstehende von vornherein voneinander Distanz
halten und dennoch nie gänzlich voneinander entfernt sind: Das hermeneutische Verstehen
befindet sich immer schon in einem dialogischen Zwischenraum, in dem beide Beteiligte
keinesfalls ein und dasselbe sind. Diesbezüglich sagt Gadamer: „Sie (= die Aufgabe der
Hermeneutik, KBL) spielt zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns
hat, zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der
Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der
Hermeneutik.“ (GW. 1, S. 300) Hier sieht Gadamer, dass der interaktive Zwischenraum, in
dem sich alle Beteiligten zueinander verhalten und miteinander spielen, nicht in die
„destruktive Abgründigkeit“ geraten ist, wie Heidegger die Ontologietradition radikal zu
zerstören versuchte, sondern durch die ontogenetische Erfahrungsgeschichte, die mit Hegels
Dialektik eng verbunden oder genauer gesagt, für die „die negative Bestimmtheit“ in der
Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins bei Hegel charakteristisch ist, die basale
Gemeinsamkeit etabliert. 60 Demzufolge müssen wir darauf achten, dass der miteinander
verschränkte Spielraum, Gadamers Ansicht zufolge, nicht nur die Voraussetzung für die
hermeneutische Erfahrung, sondern auch ein offener Ort des Dialogs ist, an dem die
Gemeinsamkeit gewonnen werden kann und an dem das menschliche Zusammenleben
überhaupt möglich ist.
Das Sinngeschehen in den geschichtlich tradierten Wirkungszusammenhängen hat den
umfassenden Sinnhorizont, in dem die Traditionslinien den diachronisch diskontinuierlichen
Bruch ertragen, der zugleich den kontinuierlichen Bezugspunkt bildet. Auf diese Art und
Weise der Kontinuität taucht das Neue diskontinuierlich auf. Das Überlieferungsgeschehen ist
deshalb ein Sprung des Bedingten ins unendlich Übergreifende, den das Bewusstsein von
unserer endlichen Bedingtheit, nämlich unserer Unentrinnbarkeit, aus der über uns selbst
hinausragenden Überlieferung vollzieht. In Gadamers Hermeneutik ist dieses Bewusstsein das
„wirkungsgeschichtliche Bewußtsein“, das eine doppelte Bedeutung hat: Es ist einerseits das
Bewusstsein
von
der
geschichtlichen
Bedingtheit,
die
von
den
kontinuierlichen
Überlieferungen geprägt ist. Andererseits ist es aber auch das Bewusstsein davon, dass es mit
diesem bedingten Bewusstsein zu tun hat. Es ist sich seiner Verankerung in der Tradition
bewusst und als solches das retrospektiv innewerdende Bewusstsein von diesem verankerten
Bewusstsein. Mit anderen Worten: Das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein ist das
Bewusstsein von der eigenen Begrenztheit, d. h. den subjektsphilosophischen Reflexionsakt
60
Zur Differenz zwischen Heideggers und Gadamers Ontologie, vgl. R. Wiehl, „Heidegger, Gadamer und die
Möglichkeit einer Ontologie heute“, in: ders., Metaphysik und Erfahrung, Frankfurt a. M. 1996, S. 127 – 154.
202
umfassend und damit auch das Bewusstsein, das in dem prozessualen Verstehensvorgang
diese bedingte Verankerung bewusst zu machen und zu erklären versucht. Aus diesem Grund
wird in der philosophischen Hermeneutik gezeigt, dass das wirkungsgeschichtliche
Bewusstsein, mit Gadamers Worten, „das im Gang der Geschichte erwirkte und durch die
Geschichte bestimmte Bewußtsein“ und „ein Bewußtsein dieses Erwirkt– und Bestimmtseins
selber“ sei. (GW. 2. S. 444) Insofern weiß das Bewusstsein der allgemeinen hermeneutischen
Situation von vornherein, dass wir immer schon in die sinntragende Lebenswelt
hineingeworfen und hineingewachsen sind und die Lebenswelt auch von unseren
Sinnentwürfen konstitutiv zu erschließen ist. Es ist das Bewusstsein vom existenziellen
Einbezogensein des menschlichen Daseins in die lebendige Sinnwelt und von der engen
Bezogenheit dieser Sinnwelt auf unsere produktiv sinnstiftenden Entwürfe, da die
menschliche Verstehenspraxis selbst, Gadamers Ansicht zufolge, immer schon in der Hinund Herbewegung zwischen der passiven Bedingtheit und dem aktiven Entwurf steht.
Sofern die Denkreflexion überdies nach der vollständigen Aneignung des Anderen,
des Gegenstandes sucht, ist jeder Reflexionsakt selbst auch eine Zerstörung der Züge jeder
Einzigartigkeit, d. h. eine Vernichtung aller vorreflexiven und vorwissenschaftlichen
Erfahrungen zwischen den Menschen, da die subjektive Reflexion im neuzeitlichen
Denkmodell die sich um ihre eigene Achse drehende Bewegung des denkenden Ego
durchlaufen und auf diesem Weg alle von ihm sich Unterscheidenden vollständig in sich
aufnehmen muss. Von daher kann man sagen, dass der reflexionsphilosophische
Gedankengang der vollständigen Ausschließung des Eigenrechts der unaufhebbaren
Andersheit
dem
unendlichen
Erfahrungsraum
entstammt.
Die
hermeneutische
Verstehenspraxis geht demgegenüber bei Gadamer den offenen Weg von den Differenzen
über die Anerkennung des Differenten zur sachgemäßen Gemeinsamkeit. Hier meint
Gemeinsamkeit weder die vollendete Abgeschlossenheit noch die verschlossene Absolutheit,
sondern zeigt sich im gemeinsam etablierten Einverständnis, in dem die Andersheit nicht
vollständig angeeignet wird. Sie ist nicht nur die Übereinstimmung mit dem Anderen, der
immer noch die Eigenheit in seiner Andersheit behält, sondern sie ist ebenso sehr ein
prinzipiell unabschließbares Unterwegssein zu sich selbst, in Hegels Worten, das Selbst im
„Anderssein.“ Der Verstehensprozess, der zum Einverständnis im vorliegenden Sachverhalt
gelangen soll, richtet sich deshalb bereits auf das „Sich–Verstehen“ in den geschichtlichen
Lebensbezügen, sozusagen das Wiederfinden des Eigenen im Anderen und die
Wiedererinnerung der verhüllten Andersheit im Eigenen. Nun wird deutlich, dass das „Sich–
Verstehen“ des hermeneutischen Bewusstseins immer schon auf der Anerkennung der nie
203
völlig auflösbaren Fremdheit beruht. Aus Gadamers Sicht auf die Struktur des
hermeneutischen Selbstverständnisses, fungiert das Bewusstsein nicht als Endpunkt, sondern
als ein „Moment des Vollzugs des Verstehens“ im gesamten Verstehensprozess, da es selbst
nur „Bewußtsein der hermeneutischen Situation“ ist, die immer schon unter dem Einfluss der
unauflösbaren Fremdheit steht und sich damit auf die nicht abschließbare Auseinandersetzung
mit der Fremdheit einlässt. (GW. 1, S. 306 u. S. 307) Da das hermeneutische Bewusstsein von
vornherein auf eine bestimmte Situation, die sich stetig ändert, bezogen ist, vollzieht es sich
nicht mit der monologischen Verschlossenheit, die der logisch beweisbaren Schlussfolgerung
nachgeht, sondern von vornherein mit dem Einverständnis, das durch die Anerkennung seiner
eigenen Endlichkeit erschlossen wird. Insofern bleibt die überlieferte Geschichte als ein über
die zeitlich–räumlichen Grenzen hinausweisender Sinnhorizont, der mögliche Sinngefüge
stets in sich birgt, dem hermeneutischen Bewusstsein gegenüber unendlich wirksam. Das
wirkungsgeschichtliche Bewusstsein befindet sich daher in der oszillierenden Hin– und
Herbewegung, in der sich der Vollzug des Sinnes realisiert. Aus hermeneutischer Sicht bedarf
das Bewusstsein keineswegs der absoluten Ablösung von seiner Oszilliertheit in der
unendlichen Suche nach dem Sinnvollzug. Und umgekehrt muss das hermeneutische
Bewusstsein sich zuallererst auf die oszillierende Sinnbewegung einlassen, damit es sich den
Sinngehalt, den die Welt ihr verliehen hat, erarbeiten kann. In Gadamers Hermeneutik wird
deshalb gezeigt, dass das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein „mehr Sein als Bewußtsein“ ist.
(GW. 2, S. 496) In dieser Wortwendung liegt Gadamers Betonung, wie wir bereits sahen, auf
dem Seinsvorrang der ontologischen Erfahrung vor dem reflexiv urteilenden Bewusstsein.
Im Anschluss an Gadamers Einblick in den Seinsvorrang vor dem reflexiven Urteil
innerhalb
des
gesamten
Sinnbewegungsrahmens,
möchte
ich
zunächst
auf
das
„Geschehen“ im hermeneutischen Verstehen, noch präziser gesagt, auf das Sinngeschehen,
den Ereignischarakter der hermeneutischen Wahrheit eingehen. Das Sinngeschehen im
hermeneutischen Verstehen erscheint als ein Ereignis im Laufe der Erfahrungsgeschichte, das
insbesondere in der Spielstruktur und im Dialog sichtbar gemacht werden kann. Dass der Sinn
geschieht, bedeutet aus hermeneutischer Sicht, dass sich dieses Geschehen grundsätzlich im
unaufhörlichen Spannungsverhältnis von Vertrautheit und Fremdheit befindet, dass das, was
sich hier und jetzt ereignet, über eine Beteiligungsstruktur an diesem Spannungsverhältnis
verfügt, da die Fremdheit im Spannungsfeld des Verstehensvorgangs in die Vertrautheit
einbricht und auf sie einwirkt. Gadamers Einsicht in den Ereignischarakter des menschlichen
Verstehens besteht somit darin, dass sich der Sinn aus der ontologischen Begegnung mit
demjenigen, was da draußen steht und was da ist, bildet, d. h. dass der Sinn aus der
204
horizontalen Betroffenheit unter den vertikalen Wirkungseinflüssen des Überlieferten
zustande kommt. Mit dieser Einsicht will Gadamer nicht nur das naive Subjektivitätsideal
entschärfen, ja entmachten, sondern in Anlehnung an Platon stellt er auch die „Teilhabe“–
Struktur in der menschlichen Erfahrung in den Vordergrund. Denn das Verstehen findet,
Gadamers Ansicht zufolge, in der Teilhabe am Wahrheitsgeschehen, nämlich am
Überlieferungsgeschehen zwischen dem tradierten Sinn und dem Interpreten statt. Da der
Ereignischarakter bei Gadamer überdies auf das synchrone Sinngeschehen unter den
diachronen Einwirkungen, d. h. auf ein Zusammenspiel hinweist, erschließt sich das
Geschehen im synchronen Sinnfeld den Sinn immer wieder neu und anders. Mit anderen
Worten: Das Sinngeschehen stellt seinen Horizont im Spiel von Sinnverborgenheit und
Sinnerschließung immer wieder neu her, wie ein Blitz in tief dunkler Nacht, der „mit einem
Schlag“ das Ganze offenbart, um plötzlich alles wieder in tiefe Dunkelheit zurückfallen zu
lassen. 61 (GW. 8, S. 277) Am Fallbeispiel der Erfahrung der Kunst gibt Gadamer das folgende
zu verstehen: „Alle Begegnung mit der Sprache der Kunst ist Begegnung mit einem
unabgeschlossenen Geschehen und selbst ein Teil dieses Geschehens.“ (GW. 1, S. 105) Die
Kunsterfahrung und der Dialog, den wir später betrachten werden, führen uns, Gadamers
Ansicht zufolge, zur Erschütterung der naiven Illusion und der banalen Befangenheit, da die
Tradition in der hermeneutischen Erfahrung ins Gespräch einbricht. Die Kunsterfahrung und
der Dialog bilden deshalb den Wendepunkt zur „Sache selbst“.
Aus der Perspektive der Kunsterfahrung betrachtet, hat das Bild als Kunstwerk eine
doppelte Seinsweise: Einerseits ist es das Bild von einer Sache, nämlich das Abbild vom
Urbild, d. h. hier muss das Bild auf die abgebildete Sache, das Modell verweisen. Damit hat
das Bild einen Bezugspunkt zum Wirklichen. Andererseits ist das Bild immer auch für den
Zuschauer bestimmt, da es durch die Betrachtung des Zuschauers seine eigene
„Seinsvalenz“ gewinnt und der Zuschauer im Moment des Betrachtens, d. h. seiner
61
Im Anschluss an die berühmte Metapher von Aristoteles „Flucht des Heers“ im Schlachtfeld erkennt Gadamer
den Grundcharakter der menschlichen Erfahrung. Die menschliche Erfahrung ist, wie er sagt, „das
Zustandekommen der Erfahrung als Geschehen“, wie das Heer im Schlachtfeld flieht und plötzlich zum
Stillstand kommt. Hier ist die Erfahrung undurchsichtig und unvorhersehbar, ähnlich wie das fliehende Heer
während der Flucht kein einheitliches Kommando bekommt. Doch so wie die fliehenden Heere mit einem
Haltmachen unter den vielen Fliehenden oder mit dem plötzlichen Befehl des Kommandos völlig zum
Stillstand kommen, wird die menschliche Erfahrung, Gadamers Ansicht zufolge, ohne ein fundamental
begründetes Prinzip durch ein punktuelles Geschehen erworben. Somit wird deutlich, dass der Stillstand selbst
das Prinzip der Erfahrung ist, das nicht voraus bestimmt ist, uns aber denoch im Nu zum umsichtigen
Verständnis führt. (GW 1, S. 357 – 358) Aristoteles schreibt: „Oder wohl auf beide Arten zugleich, wie dies
bei dem Heer der Fall ist; denn für dieses liegt das Gute sowohl in der Ordnung als auch im Feldherrn, und
mehr noch in diesem. Nicht er ist nämlich durch die Ordnung, sondern die Ordnung durch ihn. […] In solcher
Art nämlich ist die Natur eines jeden von ihnen Prinzip; ich meine, alle müssen zur Aussonderung kommen.
Ebenso verhält es sich mit anderen Dingen, die alle gemeinsam verbunden zum Ganzen beitragen.“ Aristoteles,
Metaphysik, Kap. 10, XII. Buch, 1075a.
205
Einbeziehung ins Bild, zudem sich selbst begegnet. Das bedeutet: Der Maler befindet sich im
gesamten Schaffensprozess in Beziehung zu seinem Gegenstand, kehrt also mit jedem
Pinselstrich immer zum Gegenstand retrospektiv zurück. Damit reflektiert er im gesamten
Schaffensprozess kontinuierlich den Kontrast zwischen Darstellendem und dem Dargestellten.
Beim Betrachten kann der Zuschauer auch diesen zurückkehrenden Pinselstrich, den wir hier
als den unermüdlichen Versuch des Malers zur reflexiven Annäherung an die Sache selbst
bezeichnen können, nachvollziehen. Durch die funktionelle Vermittlung des Bildes nähert er
sich dem jeweils vorgegebenen Sachverhalt und damit zugleich sich selbst an. 62 So gesehen
bildet das Sinngeschehen einen „dreieinheitlichen“ Sinnhorizont, in dem das Darstellende
geradezu dem Dargestellten angehört und der Zuschauer durch die Vermittlung des
Darstellenden ins Dargestellte eingebunden wird. Im Hinblick auf diesen dreieinheitlichen
Sinnhorizont spricht Gadamer von der „Verwandlung ins Gebilde“, da das Kunstwerk nicht
nur über die unmittelbare Korrespondenz hinweg „in die Welt hineingehört“, d. h. sich selbst
verändert, sondern auch den Zuschauer in seinen Bann schlägt. (GW. 1, S. 116 u. S. 121)
Gadamers Ansicht zufolge vollzieht sich das hermeneutische Verstehen im „Verweilen“ bei
dem Sinngeschehen: Der einheitliche Sinnhorizont der Bestandteile, die sich ihrerseits
voneinander differenzieren und daher sich immer zu sich selbst zu verhalten versuchen, ergibt
sich im Augenblick der selbstvergessenen Faszination oder, mit Gadamers Worten, mit dem
„Dabeisein“, ja der „Anwesenheit“ des Zuschauers. (GW. 1, S. 129) In dem Augenblick, der
in das Sinngeschehen verwoben ist, vergisst der Zuschauer gleichermaßen sich selbst und sein
Zeitbewusstsein.
Die
Plötzlichkeit
des
Sinngeschehens
im
hermeneutischen
Verstehensprozess kann als „Gleichzeitigkeit“, die bei Gadamer als zeitliches ZugleichBestehen verstanden wird, bezeichnet werden. Da das Sinngeschehen nicht mit der simultanen
Restitution, sondern mit der gleichzeitigen Teilhabe zustande kommt, ist die Teilhabe des
Verstehenden am Sinngeschehen, Gadamers Ansicht zufolge, weder die „Selbsteinfühlung“ in
62
An dieser Stelle möchte ich auf den nicht–sprachlichen Gegenstand der Hermeneutik nicht weiter eingehen.
Aber wenn wir der Frage, warum Gadamers GW 8 als „Kunst als Aussage“ betitelt wird, unsere
Aufmerksamkeit zuwenden, dürfen wir uns andeutungsweise mit dem Verstehen des nicht–sprachlichen
Gegenstandes, ja der musikalischen Interpretation und dem anschauenden Verstehen des Bildes beschäftigen.
Beim selbstvergessenen Zuhören eines musikalisches Meisterwerkes und auch beim selbstvergessenen
Betrachten eines gemalten Bildes ist der Versuch zur interpretierenden Wortfindung in manchmal überflüssig,
weil uns das Wunder aller Bewunderungen beherrscht. Gleichwohl können wir, der hermeneutischen Sicht
zufolge, die Musik und das Bild als eine Antwort auf die Frage verstehen, wenn wir das uns ansprechende
Wort der Kunst heraushören können. Hier geht es deshalb um das Zuhören der innerlichen und auch
vielfältigen Stimmen. Damit übersetzt sich der nicht–sprachliche Gegenstand in einen sprachlich
erschließenden Sinnhorizont. So gesehen liegt auf der Hand, dass das Bild bzw. die Musik auch ein
Interpretationsgegenstand ist, sofern sie immer interpretationsbedürftig sind und auch interpretiert werden
müssen. In diesem Sinn wird der nicht–sprachliche Interpretationsgegenstand sprachlich übersetzt. Zur
Bildinterpretation unter Gadamers hermeneutischem Gesichtspunkt, vgl. G. Boehm, „Zu einer Hermeneutik
des Bildes“, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, S. 444 – 471 und ders., „Die Wiederkehr
der Bilder“, in: ders., Was ist Bild?, 2. Aufl., München 1995, S. 11 – 38.
206
den Autorenhorizont noch das „Sichhineinversetzen“ in die innere Seele des Autors, 63
sondern das „Sich–Versetzen“ der Vertrautheit in die Fremdheit und der Fremdheit in die
Vertrautheit. Hier meint das Sich-Versetzen weder die vollkommene Aneignung der
Fremdheit noch die Selbstübertragung in den Fremdhorizont ohne den eigenen vertrauten
Horizont, sondern einen ineinander übergehenden Weg zu dem Fremden aus der eigenen
Position und zu sich selbst aus der Entdeckung der Fremdheit. Die Teilhabe am
Sinngeschehen skizziert bei Gadamer deshalb eine dialektische Bewegung, in der sich das
Eigene mit der Bewahrung seiner Eigenheit in die Fremdheit versetzt und das Fremde ohne
Zerstörung der Züge seiner Fremdheit in die Eigenheit versetzt. Infolgedessen stellen wir fest,
dass die Teilhabe am Sinngeschehen den wechselseitig wirkenden Übergang zum Anderen
und zu sich selbst bewirkt. Aus diesem Grund sagt Gadamer: „Versetzt man sich z. B. in die
Lage eines anderen Menschen, dann wird man ihn verstehen, d. h. sich der Andersheit, ja der
unauflöslichen Individualität des Anderen gerade dadurch bewußt werden, daß man sich in
seine Lage versetzt.“ (GW. 1, S. 310)
Daran anschließend müssen wir unser Augenmerk auf die Frage richten, was die Sache
selbst bei Gadamer ist, da sich das Verstehen an der Sachangemessenheit misst, d. h. der
Maßstab des angemessenen oder unangemessenen Verstehens im Verstehensprozess der
Sache selbst zukommt. Die Sache selbst meint bei Gadamer nicht die schon vorgegebene oder
immer bei sich selbst bleibende Substanz, die sich jenseits unserer Erfahrung befindet,
sondern die sich bewegende Sache, die sich uns darstellt und sich unter den geschichtlichen
Zusammenhängen wandelt. Dass das Verstehen im Zusammenspiel seiner Bestandteile auf die
Sache selbst kommt, dass es in diesem Bildungsprozess die Wahrnehmung einer
sachgemäßen Wahrheit sucht, könnte man als Telos ohne Endzweck, mit Gadamers Worten,
als „eine unbewußte Teleologie“ in der hermeneutischen Erfahrung bezeichnen oder die
„zweckfreie Vernünftigkeit im menschlichen Spiel.“ (GW. 2, S. 129 u. GW. 8, S. 114) So
geschieht das sachgemäße Verstehen im konstruktiven Wechselverhältnis zur eigenen
Dynamik der Sache selbst. Damit wird die Sache selbst, die „Tatsache“, die, Gadamer zufolge,
ursprünglich der Begriff der Hermeneutik und daher selbst interpretationsbedürftig war, zum
Gegenstand des Verstehens. (GW. 4, S. 47) Anders gesagt, erschließt die Bewegung der
Sache selbst um ihrer selbst willen den Spielraum der Möglichkeit der hermeneutischen
Erfahrung, so dass die hermeneutische Erfahrung im Wirkungszusammenhang zur Wahrheit
der Sache selbst steht. In Anknüpfung an Hegels Denkweise spricht Gadamer deshalb vom
63
Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 263 – 264.
207
„Tun der Sache selbst“, d. h. die Sache selbst ist in Gadamers Augen nur für uns an sich, 64
sozusagen von uns als an sich gesetzte. (GW. 1, S. 468) Damit meint er keinen „subjektlosen
Subjektivismus“. Mit anderen Worten: Gadamers philosophische Hermeneutik geht nicht von
der Geschichte, nämlich der Sachbewegung, wie einige Gadamer–Kritiker den Vorwurf
erhoben haben, als einem substanziellen Übersubjekt des Verstehensprozesses aus, das
schließlich die subjektive Seite des Verstehensvorgangs aufhebt. 65 Vielmehr meint das Tun
der Sache selbst gleichermaßen die prozessuale Selbstenthüllung der Wahrheit wie die
subjektive Teilnahme des Verstehenden an diesem Vorgang, da das hermeneutische
Verstehen bereits den mitwirkenden Anteil des verstehenden Subjekts anerkennt. Um es am
Text zu verdeutlichen: Wenn ein Text an sich zu eindeutig und mit unserer Vorstellung
identisch wäre, dann wäre er kein interpretationsbedürftiger Gegenstand, d. h. wir hätten
keinen Anlass, diesen Text zu betrachten. Wenn ein Text im anderen Fall seinen Sinngehalt
völlig verdeckt und sich unter keinen Umständen selbst darstellt, dann wäre ein Verstehen
grundsätzlich ausgeschlossen. Auch dieser Text wäre dann kein Gegenstand der Interpretation.
Das Verstehen des Textes, der den Sinn der Sache trägt, ist deshalb nur in einem
Zwischenraum möglich, in dem wir uns gegenüber dessen sachlichem Wahrheitsanspruch auf
Distanz befinden, der Text also seine Sachwahrheit, seinen Sinn zur Sprache bringt.
Dementsprechend zeigt sich die Sache in Gadamers Hermeneutik von vornherein als „die
Streitsache“, 66 mit der der ganze Verhandlungsprozess zu tun hat. Dass das Verstehen sich
auf die Sache selbst bezieht, bedeutet hier, dass der Verstehende sich auf einen
Verstehensprozess einlässt, von dem er einen sachlichen Wahrheitsanspruch, eine
Sinnganzheit erwartet. Die subjektive Voreingenommenheit wird im gesamten Prozessverlauf
auf jeder Stufe überprüft und korrigiert, da der sachgemäße Sinn sich nicht aus dem äußeren
Dritten, sondern aus der Bewegung der Streitsache, noch präziser, aus der dialogischen
Teilhabe der Betroffenen an der Sachwahrheit ergibt. Das sachgemäße Verstehen verdankt
sich daher nicht nur der Ausarbeitung des angemessenen Sinnentwurfs mit jedem Schritt des
64
Zur Sache selbst in Gadamers Hermeneutik im Anschluss an Hegels Philosophie, vgl. R. Bubner, „Die
>>Sache selbst<< in Hegels System“, S. 48 – 60 und Michael Theunissen, „Philosophische Hermeneutik als
Phänomenologie der Traditionsaneignung“, in: >>Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache<<.
Hommage an Hans–Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2001, S. 61 – 88.
65
Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 33. Es ist offenkundig, dass Gadamer mit seinem Begriff
„Spiel“, „Dialog“, d. h. seiner Einsicht in die Teilhabewahrheit im hermeneutischen Verstehen das
neuzeitliche Ideal der Subjektivität durchbricht. Aber wenn er von der Teilhabewahrheit im hermeneutischen
Verstehen spricht, verweigert er nicht den Anteil der subjektiven Teilnahme, wenn ich hier mit M. Frank sagen
würde, der Individualität im Verstehensvorgang, obwohl Gadamer mehr noch seinen Akzent auf den Charakter
des hermeneutischen Sinngeschehens, das uns übertrifft, legt. Wer z. B. tanzt, der muss den musikalischen
Rhythmus verfolgen, mit ihm harmonisch Schritt halten. Er darf diesen Rhythmus weder willkürlich wechseln,
noch verlieren, sondern er muss sprachlos in ihm beim Tanz verweilen. Gleichwohl sagen wir nichts anderes,
als dass der Tänzer tanzt.
66
Gadamers Interview mit J. Grondin, in: Gadamer Lesebuch, S. 285.
208
Verstehensvorgangs, sondern zielt im Grunde auch auf eine Übereinstimmung im
Zusammentreffen mit der Wahrheit ab, sozusagen auf die prozessuale Enthüllung der
Wahrheit, die aus der Selbstbewegung der Sache selbst erwächst. Um diese Offenbarung des
Sinns in der fließenden Bewegung der Sache finden zu können, um den „Ball fangen“ 67 zu
können, muss das hermeneutische Bewusstsein immer wach sein. Seine Wachsamkeit, die
von der Sache selbst stets angestoßen wird, ist der ununterbrochene Versuch, mit allen
Kräften in die Sache einzudringen und aus dem unbewussten Zustand zu erwachen. Wie
Gadamer in Bezug auf „Theorie“, „theoria“ erwähnt, ist für diese Wachheit das
„Anblicken“
und
charakteristisch.
68
„Im–Anblicken–Verweilen“
des
hermeneutischen
Bewusstseins
Von daher müssen wir schließlich darauf achten, dass uns die
Wachsamkeit des hermeneutischen Bewusstseins zum Versunkensein in der Sache und damit
zugleich zur Wiedererweckung des inneren Selbst führt.
Die Annäherung an die Sachangemessenheit, die Teilhabe am Wahrheitsgeschehen
veranlasst uns in der philosophischen Hermeneutik dazu, einen Blick auf die prozessuale
Bewegtheit der reflexiven Revision des Verstandenen zu werfen. Mit dieser Revision des
Verstandenen, die Gadamer „hermeneutische Reflexion“ 69 nennt, geht das sachgemäße
Verstehen, d. h. die dialogische Verständigung mit der alltäglichen Verstehenspraxis einher.
In deren Verlauf bezieht sich die Reflexion auf das Verstandene und auf den Verstehenden
selbst. Die aufgeworfene Frage, die voreingenommene Sinnmotivation durch die fragende
Hinwendung auf sich selbst, wird immer wieder erneut in Frage gestellt. Um die Bedeutung
dieses Sachverhalts zu klären, will ich zunächst auf Habermas’ Tendenz zur Aufwertung des
emanzipatorischen Reflexionsvermögens eingehen, bevor ich meine Aufmerksamkeit
Gadamers hermeneutischer Reflexion zuwende.
Habermas hat, wie bekannt, aus einer ideologiekritischen Perspektive einen schweren
Vorwurf gegen Gadamers Hermeneutik erhoben. Im Hinblick auf die Überbewertung der
kritischen Reflexion, die die illusionär gesteuerten Gesellschaftssituationen und die durch die
Herrschaftsverhältnisse manipulierende Ideologisierung als durchsichtig entlarven müsste, hat
Habermas den Schwerpunkt seiner kritischen Auseinandersetzung mit Gadamer auf dessen
angebliche Unterschätzung der emanzipatorischen Reflexionskraft verlagert. So schreibt er:
„Gadamer verkennt die Kraft der Reflexion, die sich im Verstehen entfaltet. Sie ist hier nicht
67
Es ist bekannt, dass Gadamer sein opus magnum „Wahrheit und Methode“ mit Rilkes Gedicht beginnt. Zur
Interpretation dieses Gedichtes in Bezug auf den gesamten Kontext von Wahrheit und Methode, insbesondere
den Sinngeschehenscharakter, vgl. J. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 22 – 30.
68
Hans–Georg Gadamer, Hermeneutische Entwürfe, Tübingen 2000, S. 7.
69
Im Unterschied zu Hegels Begriff, „Reflexion“ haben wir Gadamers Denkansatz zur hermeneutischen
Reflexion, die das wechselseitige Spielverhältnis impliziert, betrachtet. Vgl. Kap. V. Resümee vom I. Teil.
209
länger vom Schein einer Absolutheit, die durch Selbstbegründung eingelöst werden müßte,
geblendet und macht sich nicht vom Boden des Kontingenten, auf dem sie sich vorfindet, los.
Aber indem sie die Genesis der Überlieferung, aus der die Reflexion hervorgeht und auf die
sie sich zurückbeugt, durchschaut, wird die Dogmatik der Lebenspraxis erschüttert.“ 70 Mit
diesem Einwand will Habermas auch demonstrieren, dass Gadamers Hermeneutik die
ideologische Instrumentalisierung der Sprache durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse
übersieht, einen Schritt weiter noch, dass er die Beiträge der Sprache zur Legitimation der
gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse ignoriert. Deswegen ist die Sprache aus Habermas’
ideologiekritische Sicht „auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht“ und „auch
ideologisch.“
71
Unter diesem Habermasschen Gesichtspunkt gesehen, blendet die
Hermeneutik die Notwendigkeit der Emanzipation von allen ideologischen Barrieren aus, die
durch die Einsetzung der kritischen Reflexionskraft erreichbar wäre und kann damit auch die
Kommunikationsstörung, die von den herrschenden Gewaltverhältnissen manipuliert wird,
nicht erklären. Nach diesem Einwand kommt Habermas’ eigener Anspruch auf die
psychoanalytische Hermeneutik: Die ideologisch gesteuerte Gesellschaft ist durch die
kritische Reflexion über die vorgegebenen Rahmenbedingungen der Praxis zu erklären. Durch
diesen
Reflexionsakt
soll
die
emanzipatorische
Entlastung
vom
Unterdruck
der
gesellschaftlichen Gewalt ermöglicht werden. Aus dieser Perspektive setzt Habermas die
„Tiefenhermeneutik“ 72 gegen die philosophische Hermeneutik. Die Tiefenhermeneutik, die
ihr
exemplarisches
gesellschaftlichen
Paradigma
in
Überzeugungen
der
als
Psychoanalyse
bloß
findet,
scheinbaren
muss
deshalb
Konsensus,
alle
alle
Alltagskommunikationen als eine Pseudokommunikation entlarven können. Nur in der
konkreten Praxis einer „Metahermeneutik“ 73 können, aus Habermas’ Sicht, die gewaltsam
verzerrten Kommunikationssituationen geheilt werden. Damit wäre der Übergang zur
zwangsfreien Kommunikation erfüllt. So gesehen richtet sich Habermas’ Intention, die immer
noch unter der subjektphilosophischen Denkentwicklungslinie stehen zu bleiben scheint, von
vornherein auf die Notwendigkeit des grenzlosen Einsatzes des reflexiven Verdachts auf alle
lebensweltlichen Überzeugungen und alle tradierten Verständigungen. Wenn man jedoch mit
dem uneingeschränkten Misstrauen gegenüber allem beginnt, dann stellt sich die Frage, wie
trotz dieses ursprünglichen Verdachts die Verständigung oder sogar der Konsens zum Ziel der
Kommunikation gewählt werden könnte. Um einerseits die gewaltfreie Kommunikation und
70
J. Habermas, „Zu Gadamers >Wahrheit und Methode<“, S. 48 und „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, S.
303 (Hervorhebung von mir).
71
Ebd., S. 52ff. und ebd., S. 307ff.
72
Ders., „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 147.
73
Ebd., S. 149.
210
andererseits die kommunikative Gemeinsamkeit zu erreichen, soll sich die kritische Reflexion
letztendlich auf einen neutralen Richterstuhl, der von allem vorurteilhaft Geschichtlichen
entkoppelt sein soll, setzen. Wenn man mit seinem Reflexionsvermögen über alles kritisch
negierend hinweggehen will, dann stellt sich die Frage, ob der Reflexionsakt nicht zur
abstrakten Leerstelle und zum homogenen Monolog wird, wo er vollendet ist. Daran
anschließend gesteht M. Frank Habermas’ Reflexionsideal gegenüber, dass Gadamer, wenn er
die Begrenztheit der subjektiven Reflexionskraft einsieht, „recht gegenüber dem Rückfall der
kritischen Theorie in einen Idealismus der Reflexion“ 74 hat.
An dieser Stelle sollten wir noch der Habermasschen Sprachauffassung unsere
Aufmerksamkeit
„ideologisch“ sei.
schenken,
75
da
er
so
deutlich
betont,
dass
selbst
die
Sprache
Wenn die Ideologiekritik bei Habermas im Vordergrund steht, wird die
Sprache m. E. unfreiwillig zum Instrument der Ideologiekritik herabgesetzt: Habermas hat die
Sprache noch immer als nützliches Werkzeug für seine Ideologiekritik angesehen. Denn wenn
die Ideologiekritik ohne die Sprache nicht ausgeübt werden kann, ist die Sprache hier nichts
anderes als ein Instrument zur Aufklärung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und
zum Aufbau der zwangsfreien Kommunikationsgesellschaft. Der Instrumentalisierung der
Sprache zum Trotz, hat Habermas jedoch die Notwendigkeit der Funktion der Sprache bei der
Ausübung seiner Ideologiekritik eingesehen. Im Anschluss an seine Auffassung von der
positiven Funktion der Sprache, hat er das rationale Argument von dem ideologisch
manipulierenden Argument, ja der Pseudokommunikation im Kommunikationsvorgang
unterschieden. Seiner Ansicht nach stützt diese Unterscheidung zwischen dem uns
verführenden
Argument
und
dem
guten,
rationalen
Argument,
zwischen
der
Pseudokommunikation und der zwangfreien Kommunikation sich, wie wir gesehen haben, auf
die kritische Reflexionskraft. Darin liegt auch die unbemerkte Gefahr, dass die Sprache als
Werkzeug in diesem reflexiven Denken mißbraucht wird. Das Argument hingegen muss aus
74
75
M. Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 40 – 41.
Sprache hat in der späten Habermasschen Kommunikationstheorie noch einen entscheidenden Wert. Aber
wenn er seine Kommunikationshandlungstheorie unter dem Einfluss des transzendentalen Pragmatismus
etabliert, geht es auch um die Begründung des Universalgrundsatzes, weil sich die ideale Sprachgemeinschaft
bei ihm nur mit dem Einverständnis mit diesem Grundsatzes konkretisieren kann. Trotz seinem lehrreichen
Beitrag können wir ihm m. E. die Frage stellen, ob dieser Universalgrundsatz die Voraussetzung für die
Kommunikation oder das Ziel der Kommunikation ist. Wenn er zunächst die Voraussetzung wäre, dann sollte
sich die Voraussetzung ohne den Begründungsversuch aus der Kommunikationssituation ergeben. Denn die
Voraussetzung ist überdies jedem logischen Begründungsversuch vorausgegangen. Wenn er im anderen Falle
das Ziel wäre, könnte das Ziel auch ohne die transzendentale Begründung durch die lebendigen
Kommunikationsvorgänge erreichbar sein. Denn wenn die Verständigung das Ziel aller
Kommunikationsbeteiligten ist, kann sich die kommunikative Verständigung nur mit der anerkannten
Annahme der anderen Perspektive und der gegenseitigen Verflechtung vollziehen. Somit ist die Verständigung
auch aus der Kommunikationssituation abgeleitet, weil die Situation als solche die Verständigung miteinander
verlangt, so lange wir mit dem Anderen kommunizieren und dem Anderen sprachlich etwas mitteilen wollen.
Zum Habermas’ U–Satz, vgl. den Exkurs zur Ethos–Ethik in dieser Arbeit.
211
hermeneutischer Sicht vor allen Reflexionsakten zunächst sprachlich mitteilbar sein und den
Hörer überzeugen können, wenn es ein gutes Argument ist. So geht die Sprache dieser
reflexiven Unterscheidung voraus. Die Möglichkeit dieser Unterscheidung liegt daher noch
wesentlicher in der sich mit dem Sachverhalt mitbewegenden Sprache, die wir mit dem
wachsamen Bewusstsein verfolgen und nachvollziehen müssen. Von daher können wir sagen,
dass die Idee der rationalen Kommunikationsgesellschaft ohne die anstrengende
Berücksichtigung der erschließenden Kraft der Sprache, ohne den unendlichen Versuch zum
Suchen nach dem zutreffenden Wort mithin nur zu utopisch wäre.
Darüber hinaus legt Gadamers Erwiderung auf Habermas’ Intention die These nahe,
dass die Reflexion trotz ihrer Macht sämtliche geschichtlich–kulturellen Überzeugungen nicht
transparent machen kann, sondern nur im Rahmen ihrer bestimmten Begrenztheit die
entstellende Voreingenommenheit überprüfen kann. Selbst die Psychotherapie, die Habermas
als einen paradigmatischen Fall der ideologiekritischen Hermeneutik betrachtet hat, bzw. das
Verhältnis vom Arzt zum Patienten, orientiert sich, wenn sie auf die Heilung abzielt, an der
geheilten Wiedergewinnung der alltäglichen Normalität durch die Beseitigung des
pathologischen Zustandes, d. h. an der Wiederherstellung des normalen und gesunden
Zustandes dank der Mithilfe des Arztes. Die Rolle des Arztes, des Psychotherapeuten im
dialogischen Behandlungsprozess darf nicht in einem äußerlichen Behandlungsverhältnis
stehen bleiben, sondern das Verhältnis von Arzt und Patient muss so beschaffen sein, dass der
Patient
„seine
natürliche
Fähigkeit
wiedergewinnen
[kann],
mit
anderen
zu
kommunizieren.“ (GW. 2, S. 115) Arzt und Patient müssen mit der Vorstellung vom sozialen
Miteinander ins therapeutische Gespräch gehen und sich auf der Basis der sozialen
Gemeinsamkeit des Willens zum Verstehen treffen. Aus hermeneutischer Sicht zielt die
Therapie mithin nicht auf den Fortschritt zum höheren Zustand durch die sich negierende und
sich überwindende Reflexionsbewegung ab, – hier müsste der Arzt für seine Behandlung im
Voraus den Maßstab ansetzen –, sondern die dialogische Heilkunst muss eine
Grundverständigung über das alltägliche Zusammenleben herbeiführen und deshalb alle
Beteiligten in diesem Dialog zum Sich–Verstehen führen. Davon abgesehen bedarf das
soziale
Zusammenleben
aus
Gadamers
Sicht
statt
des
psychoanalytischen
Behandlungsmodells der basalen Gemeinsamkeit, die auf einem gemeinsamen geschichtlich–
kulturellen
Hintergrund
basiert,
weswegen
Habermas
den
erkenntnistheoretischen
Reflexionsakt des einzelnen Subjekts im Modell der Psychotherapie auf die gesamten
gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge übertragen will.
212
Um ein Grundverständnis im gesellschaftlichen Handlungsraum zu erzielen, ja das
zwischenmenschliche Zusammenleben überhaupt möglich zu machen, muss die Reflexion,
Gadamers Ansicht zufolge, auch den wechselseitigen Übergang von der geschlossenen zur
sich neu öffnenden Bildungsdimension, d. h. den unendlichen Weg der „immanenten Kritik“,
von der bei Gadamer im Anschluss an Hegel die Rede ist, endlos durchschreiten. Die
hermeneutische Reflexion hat daher immer schon die kritische Aufgabe, sich durch den
Prozess der Prüfung hindurch der Sachangemessenheit anzunähern. Gadamers Einsicht in die
kritische Aufgabe der Hermeneutik ist grundsätzlich auch mit der traditionellen
Überlieferungslinie der Hermeneutik verbunden, da nicht nur Schleiermacher die
Hermeneutik als Kritik sieht, sondern auch Dilthey die kritische Aufgabe der Hermeneutik
betont. So sagt Dilthey: „Mit der Auslegung der auf uns gekommenen Reste ist innerlich und
notwendig die Kritik derselben verbunden.“ 76 Gadamer hatte, wie wir sahen, seine kritische
Verstehenspraxis einerseits in Bezug auf das „ästhetische Bewusstsein“ angewandt,
sozusagen die kritische Demaskierung der Selbsteinsicht des Subjektes und des „absoluten
Geistes“, andererseits in Bezug auf das Methodenbewusstsein in der Naturwissenschaft. In
ihrer Verstehenspraxis erfährt die hermeneutische Reflexion nicht nur einen Prozess des
Scheiterns der vorweggenommenen Sinnentwürfe und der Kristallisierung des vorgegebenen
Sinns, sondern sie selbst führt zum Verstehen des eigenen Selbst, das die Distanz zu sich
selbst beinhaltet. Denn die hermeneutische Reflexion bettet sich nicht nur in den Prozess der
Prüfung von Pro und Kontra, also in die Fragestellung, ob das Urteil in diesem Fall
angemessen sei oder nicht, sondern sie richtet sich auch auf die Verständigung über das
Andere und den Anderen sowie über sich selbst; eine Verständigung, die stets im Prozess des
Sinnvollzugs
geschieht.
Den
Selbstaufbau
des
kritischen
Reflexionsfeldes
des
hermeneutischen Verstehens betreffend, sagt Gadamer: „Die hermeneutische Reflexion
schließt vielmehr ein, daß in allem Verstehen von etwas Anderem oder eines Anderen
Selbstkritik vor sich geht.“ (GW. 2, S. 116) Die Verstehenspraxis der hermeneutischen
Reflexion entwickelt sich selbst mithin im Zwischenraum von Vertrautheit und Fremdheit, in
dem keiner von beiden Priorität hat. Da sich das unauflösliche Spannungsverhältnis in
derselben Dimension bewegt, handelt es sich immer um das Verstehen des Fremden aus dem
Blick der eigenen Vertrautheit, ohne die Fremdheit aufzuheben. So gesehen führt die
Reflexivität der hermeneutischen Erfahrung eine doppelte Verwandlung herbei: Einerseits die
der Einsicht in die Sache selbst, andererseits die Selbstverwandlung des Verstehenden.
Gadamers Ansicht zufolge ist dieser reflexive Blick auf das Verstandene keine irgendwann
76
Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 267 – 268.
213
endende Erfahrung, sondern eine unendliche Sinnerschließung des „anders VerstehenKönnens“. Nun könnte man sagen, dass die Unabschließbarkeit des menschlichen Verstehens
ein universales Bekenntnis der hermeneutischen Erfahrung ist, mit Gadamers Worten, „daß
man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.“ (GW. 1, S. 302) Denn die
hermeneutische Erfahrung geht von der Anerkennung der menschlichen Endlichkeit und der
unaufhebbaren Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen aus. Sein Hauptwerk hat
Gadamer daher mit dem Satz abgeschlossen: „Wir sind als Verstehende in ein
Wahrheitsgeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen,
was wir glauben sollen.“ (GW. 1, S. 494) Infolgedessen stellen wir fest, dass die
hermeneutische Reflexion es permanent mit einer nie völlig gelösten Aufgabe zu tun hat und
deshalb keinesfalls zu einem Abschluss kommt, da sie den geschichtlich–kulturellen
Hintergrund als die existenzielle Grundlage des menschlichen Daseins nicht restlos mit der
Macht der subjektiven Reflexion auflösen kann. Sofern die Geschichte selbst, zu der sie von
vornherein gehört, zu keinem Abschluss kommt, stellt sich ihre Aufgabe als eine unendliche
dar.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns die Frage stellen, ob Gadamers Hermeneutik
von dem häufig geäußerten Relativismusvorwurf betroffen ist, wenn das hermeneutische
Bewusstsein immer der Geschichtlichkeit seiner Erfahrung innewohnt, der Geschichte als
seiner ontologischen Grundlage für seine Erfahrung also niemals entrinnt. Wir hatten gesehen,
dass sich Gadamers Hermeneutik durch die Einwände gegen das naturwissenschaftliche
Methodenbewusstsein
und
gegen
die
subjektive
Selbstgewissheit
in
der
Bewusstseinsphilosophie von jedem Absolutismus oder Dogmatismus kritisch distanziert.
Aus dieser Perspektive betrachtet Gadamer nicht nur das objektivierende Erkenntnismodell, d.
h. den Methodenanspruch im Historismus, sondern auch das Problem des historischen
Bewusstseins. Wie jeder andere Philosoph auch, will Gadamer seine eigene Philosophie auf
keinen Fall dem Vorwurf des Relativismus aussetzen, sondern er versucht diesen, im Verlauf
seines kritischen Argumentationsgangs, kritisch zu überwinden. In Anknüpfung an Gadamers
Denken könnte man m. E. sagen, dass das hermeneutische Bewusstsein immer in einem
Beziehungsgefüge steht und die Relativität unseres Wissens, sozusagen das eng verbundene
Wechselverhältnis von Selbstbezug und Fremdbezug bewusst macht, da das Verstehen aus
dem miteinander verschränkten Sinnhorizont genährt wird und von diesem Horizont aus
seinen Standpunkt bildet. So gesehen geht Gadamers Hermeneutik von der unverzichtbaren
Annahme der Möglichkeit des Wahrheitswissens in diesem Beziehungsgeflecht aus. Daher
befindet sie sich weder im Beweiszwang unter der Ägide des übergeschichtlich
214
allgemeingültigen Wahrheitskriteriums, noch in einem absoluten Skeptizismus, der die
Möglichkeit des Wahrheitswissens grundsätzlich aufgibt. Sie lehrt uns vielmehr, dass unser
Verstehen auf dem offenen Weg von der Vormeinung über deren Korrektur hin zum
Umdenken
in
einem
Zwischenraum des
Sinnverkehrs
steht,
in
dem
sich
das
Wahrheitsgeschehen abspielt. Denn die Wahrheit stellt sich nur im Vollzug des
Verstehensvorganges, d. h. der Erhellung, der Überprüfung, der Korrektur und der
Neuschaffung des Sinnes her. Dennoch folgt Gadamers Hermeneutik keineswegs dem
Grundsatz des Relativismus, wonach alles nur relative Wahrheit sei, sondern sie weist darauf
hin, dass das Verstehen in der reflexiven Prüfung des schon Verstandenen unter dessen
bedingter Situiertheit stattfindet und dass es deshalb kein Verstehen ohne diesen nie endenden
Revisionsprozess gibt.
Davon abgesehen entlarvt Gadamers Hermeneutik, wie er selbst oft betont hat, 77 die
verdeckte Voraussetzung der Absolutheit im Relativismus, welche sich hinter diesem verbirgt.
Gadamer hält an der Selbstwidersprüchlichkeit jeder Widerlegung des Relativismus insofern
fest, als man den Grundsatz des Relativismus, alles sei relativ, nur behaupten könne, wenn
man nur das ahistorisch allgemeingültige Wahrheitskriterium voraussetzt. Denn die
Vorstellung der Universalrelativität setzt sich selbst dem Geltungszwang zur absoluten
Satzallgemeingültigkeit aus, wie der Absolutismus seinen Geltungsanspruch auf das
endgültige
Wahrheitswissen
erfüllen
soll.
Anders
formuliert,
besteht
die
Selbstwidersprüchlichkeit offensichtlich darin, dass der Relativismus von vornherein über den
eingeschränkten geschichtlichen Standpunkt hinaus mit dem Ideal des Absolutismus
argumentieren muss, da er andernfalls auf seinen ursprünglichen Grundsatz verzichten müsste.
So sagt Gadamer: „Die Geschichtlichkeit ist nicht länger eine Grenzbestimmung der Vernunft
und ihres Anspruchs, die Wahrheit zu erfassen, sondern stellt vielmehr eine positive
Bedingung für die Erkenntnis der Wahrheit dar. Dadurch verliert die Argumentation des
historischen Relativismus jedes wirkliche Fundament. Ein Kriterium für absolute Wahrheit
verlangen
enthüllt
sich
als
ein
abstrakt–metaphysisches
Idol
und
verliert
jede
methodologische Bedeutung. Die Geschichtlichkeit hört auf, das Gespenst des historischen
Relativismus heraufzurufen, […].“ (GW. 2, S. 103) Darüber hinaus ist das Verstehen, wie
bereits erwähnt, letztendlich das Sich–Verstehen in dem Verstehen über die Anderen oder,
mit Gadamers Worten, ein „Sichversetzen in etwas.“ (GW. 1, S. 183–184) Das
hermeneutische Verstehen bildet sich selbst also in der unabgeschlossenen Bewegung
zwischen der aufklärenden Selbsterinnerung an das Vergangene und der vorweggenommenen
77
Vgl. Gadamers Interview mit J. Grondin, in: Gadamer Lesebuch, S. 282 – 285 und Hans–Georg Gadamer, Die
Lektion des Jahrhunderts, S. 44 – 58.
215
Selbstentwürfe auf das Zukünftige immer wieder neu aus. Aufgrund seiner Einsicht in den
Grundcharakter des menschlichen Verstehens formuliert Gadamer daher: „Was als wahr
gelten muß, zielt auf das Glaubhafte ab.“ 78 Insofern verlangt das hermeneutische Bewusstsein
nicht die Beweisbarkeit, sondern stellt sich stattdessen die Frage nach der glaubwürdigen
Überzeugung, da es um seine Situationsbedingtheit weiß. Da das hermeneutische Bewusstsein
das gewisse Wissen um seine Situation ist, bleibt das Bewusstsein immer für den
motivierenden Anstoß des Fremden und für die Möglichkeit der besseren Einsicht in die
Wahrheit des Anderen offen.
78
Gadamers Interview mit J. Grondin, S. 284.
216
I – 3. Das distanzierende Verstehen und die Sinnrekonstruktion
An dieser Stelle müssen wir uns die bisherigen Überlegungen in Erinnerung rufen: Für das
menschliche Verstehen war gleichfalls die Geschichtlichkeit des hermeneutischen
Bewusstseins
wie
die
ontologische
Vorstruktur
der
hermeneutischen
Erfahrung
charakteristisch. Aus hermeneutischer Sicht hat das Verstehen bereits einen eigenen
Standpunkt, der einerseits im Laufe der Geschichte gebildet wird und andererseits durch das
Ins–Spiel–Setzen gewonnen wird. Das Verstehen bildet daher durch seine Eingebundenheit in
den geschichtlich–kulturellen Kontext seinen Standpunkt aus. Das menschliche Verstehen ist
von vornherein in die geschichtlich–kulturellen Konventionen einbezogen und mit diesem
Einbezogensein auf seine ontologische Grundlage zurück geworfen. So gesehen sieht die
Hermeneutik es von Anbeginn an als ihre Aufgabe an, die mitkonstitutive Rolle des Anderen
in der menschlichen Erfahrung zur Sprache zu bringen. Das Verstehen erwächst aus der
ineinander übergehenden Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, von Eigenheit und
Andersheit, also aus der zwischenmenschlichen Sozialbeziehung. Mit anderen Worten: Das
hermeneutische Verstehen als eine Grundstruktur der menschlichen Binnenperspektive ist
grundsätzlich das Verstehen des Anderen, d. h. die gemeinsame Verständigung mit dem
Anderen über die Sache als die sich selbst erschließende Welt, die mit dem Sich-Einlassen der
eigenen Voreingenommenheit in die Konfrontation mit dem Anderen, erreichbar ist. Wenn
sich das Verstehen im Zwischenraum zwischen dem uns Vertrauten und dem uns Fremden,
also zwischen Eigenheit und Andersheit vollzieht, d. h. das Finden des Eigenen in der
Begegnung mit dem Gegenüberstehenden in der alltäglichen Lebenswelt geschieht, dann
müssen wir zu dem zu Verstehenden eine Distanz schaffen, sofern wir überhaupt verstehen
wollen und müssen. Denn die Distanz zu sich selbst drückt sich allein in dieser Distanziertheit
aus. Nur so wird das Fremde zum relativ Fremden, das Andere zum relativ Anderen in der
Beziehung zum Eigenen.
Am Phänomen des Sehens, insbesondere an dem des „>ästhetischen< Sehens“ in der
Kunsterfahrung, lässt sich das veranschaulichen. Wir können nur aus einem bestimmten
Abstand das sehen, was vor uns steht und wir nehmen deshalb im Sehen etwas Bestimmtes
wahr, das zwar auf positive Weise artikuliert wird, aber zugleich auf negative Weise
abstrahiert, vom anderen absieht. (GW. 1, S. 96) Da die Gefahr des Übersehens und des
Wegsehens dem Sehen unvermeidbar innewohnt, müssen wir deshalb dem vor uns stehenden
Gegenstand gegenüber immer eine angemessene Distanz halten, damit wir ihn richtig sehen
können. Das Sehen verlangt dabei, dass unser Standpunkt nicht nur zum Gegenstand Distanz
217
hält, sondern sich mit dieser Distanznahme auch auf den Spielraum einlässt, der sich aus den
voneinander distanzierten Polen ergibt. Wenn die Frage, ob dieses Sehen, dieses Wahrnehmen
richtig ist, ins Zentrum gestellt wird, geht es beim Sehen darum, auf welche Weise wir die
angemessene Distanz gewinnen können. Und damit geht es auch um das „Verweilen“ bei dem
distanzierten Gegenpol, etwa im Fall der Erfahrung des Kunstwerks, in der die
Interdependenz von Pol und Gegenpol konstitutiv ist. Im Hinblick auf die Distanz im Fall des
ästhetischen Sehens sagt Gadamer: „Der Aufnehmende ist in eine absolute Distanz verwiesen,
die ihm jede praktische, zweckvolle Anteilnahme verwehrt. Diese Distanz ist eine im
eigentlichen Sinne ästhetische Distanz. Sie bedeutet den zum Sehen nötigen Abstand, der die
eigentliche und allseitige Teilhabe an dem, was sich vor einem darstellt, ermöglicht.“ (GW. 1,
S. 133) Gadamers Einsicht in die Distanz beim „ästhetischen Sehen“ ist paradigmatisch,
sofern die Erfahrung der Distanz nicht nur für den Bereich der ästhetischen Erfahrung gilt,
sondern auch als ein universales Phänomen des hermeneutischen Verstehens – vom
Textverstehen bis hin zur Verständigung in der zwischenmenschlichen Sozialbeziehung –
gelten kann, da die Distanznahme die Erfahrung der Fremdheit im Verstehensvorgang und die
der Andersheit im gesellschaftlichen Verständigungsprozess ermöglicht. Das bedeutet: Es gibt
kein Verstehen und keine Verständigung ohne die Distanz zum Anderen und zu sich selbst.
So kann man sagen, dass unser hermeneutisch anstrengender Versuch, die dunkle Stelle in
einem Text zu verstehen, auf die angemessene Distanznahme, die allein den eigenen
Sinnhorizont zu bilden vermag, angewiesen ist. Denn wenn die dunkle Textstelle als
Verstehensgegenstand vom Interpretationshorizont des Verstehenden zu weit entfernt ist, ist
der Textsinn völlig verborgen. Mit anderen Worten: Wenn sie dem Interpreten absolut
unzugänglich wäre, gäbe es hier keine Möglichkeit, sich mit uns auf ein Gespräch einzulassen.
Und umgekehrt ist unsere Anstrengung, zu verstehen, auch in dem Fall zwecklos, in dem das
zu Verstehende mit unserem Horizont übereinstimmt. Indem das hermeneutische Sinnfeld in
dem miteinander verschränkten Zwischenraum des distanzierten Sich–aufeinander-Beziehens
liegt, müssen wir als Verstehende zuallererst die Fremdheit, die Andersheit akzeptieren und
den motivierenden Gegenpol als Bedingung für das gelingende Verstehen bejahen können.
Von daher können wir nunmehr sagen, dass die Hermeneutik von vornherein das Differente
anerkennt, dass die hermeneutische Gemeinschaftsbildung sich deshalb auf die Anerkennung
der distanzierten Differenzen bezieht. Somit kann man sagen, dass die hermeneutische
Distanznahme den Freiraum für das Verstehen öffnet, in dem sich die verschiedenen
Perspektiven auf das Gespräch einlassen und sich auf einen gemeinsamen Bezugspunkt hin
ausrichten.
218
Sofern das Verstehen sich mit dem Eintreten des Eigenen in die Fremderfahrung,
nämlich innerhalb des wechselseitigen Bezugsrahmens der beiden Betroffenen ereignet, liegt
das hermeneutische Sinnfeld immer schon in der Spannweite der Korrelation von Vertrautheit
und Fremdheit. Die zwischenräumliche Spannweite, in der die Pole zueinander Distanz halten
bzw. der Abstand ist nicht nur ein „nötiger Abstand“, sondern auch eine zeitliche Distanz, die
man als „ontologische Distanz“ bezeichnen kann. Im Hinblick auf den nötigen Abstand geht
ein Interpret zunächst von dem zu Verstehenden als einem Gegenstand der Interpretation aus.
Um das Interpretandum zu verstehen, muss er auch zu diesem eine gewisse Distanz gewinnen.
Innerhalb des Spielraums der Distanzierung zu sich selbst, kann der Interpret mithin sein
Interpretandum finden. Mit anderen Worten: So lange wir etwas verstehen und verstehen
müssen, muss das Verstehen das zu Verstehende zu seinem Gegenstand haben. Um das zu
Verstehende zu vergegenständlichen, muss das Verstehen sich damit auch von ihm
distanzieren, da es nur durch die Distanz zu sich selbst das zu Verstehende als seinen
Gegenstand finden kann. Darüber hinaus können wir mit Gadamers Begriff „Zeitenabstand“,
nämlich dem geschichtlichen Abstand, die konstitutive Sinnkreation durch die Distanzierung
erarbeiten, die zwischen dem zu verstehenden Sachverhalt und dem Interpreten, nämlich
zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen besteht. Die tradierte Geschichte, die
sich mit dem geschichtlichen Abstand bewegt, ist uns über die geschichtliche Grenze hinaus
immer schon gegenwärtig. Gleichwohl verändert sie sich durch die Begegnung mit unserem
Horizont immer wieder aufs neue. Anders formuliert: Sobald wir sie verständlich machen, ist
sie in einen anderen Sinnhorizont übersetzt, d. h. sie lässt sich in unseren Horizont übertragen.
Aufgrund der unaufhebbaren zeitlichen Distanz ist das Verstehen aus der hermeneutischen
Sicht bereits ein Andersverstehen, d. h. ein Hervorbringen eines neuen Sinnhorizontes. Wenn
man davon ausgehen kann, dass der Abstand die Basis für die Interpretationsfähigkeit bildet,
dann kann man mit Gadamer sagen: „Der Dialog, den wir mit der Vergangenheit führen,
konfrontiert uns mit einer Situation, die von der unseren grundlegend verschieden ist, sie ist
uns >>fremd<<, - sagen wir - , und erfordert daher ein Interpretationsverfahren.“ 79 So
gesehen eröffnet die Erfahrung des Abstandes zwischen dem geschichtlich Überlieferten und
unserem Horizont aus Gadamers Sicht den möglichen Sinnhorizont, vor dem die Fremdheit zu
erfahren ist und wo das Geschichtliche als das eigene Fremde zu betrachten ist. Das Fremde,
das durch das hermeneutische Bewusstsein von der Geschichtlichkeit unserer Erfahrung
entdeckt wird, bestimmt das geschichtliche Sinngeschehen mit, da das Verstehen, wie wir
gesehen haben, sich von vornherein durch die Teilnahme an diesem Sinngeschehen vollzieht.
79
Hans–Georg Gadamer, Das Problem des historischen Bewußtseins, übers. v. Tobias Nikolaus Klass, Tübingen
2001, S. 9.
219
Selbst wenn wir uns an die eigene Erfahrung zu erinnern versuchen, führt die
Erinnerungsstruktur aufgrund der zeitlichen Distanz dazu, dass der erinnerte Inhalt ein
gegenüber der eigenen Erfahrung fremder wird. Die Erinnerung ist deshalb keine
Widerspiegelung derselben Geschichte, - wir können auch keinesfalls ein und dasselbe
wiederherstellen -, sondern sie wird im Verhältnis zu den gegenwärtigen Umständen ständig
modifiziert. 80 Die Erinnerung bedeutet aus dieser Perspektive betrachtet, eine Übertragung
des eigenen Fremden ins gegenwärtige Eigene.
Etwas verständlich machen bedeutet aus hermeneutischer Sicht, das Fremde ins
Eigene zu übersetzen, 81 die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden in diesem
Übersetzungsvorgang auszuhalten. Die Distanz, die nicht nur von uns ausgeht, sondern auch
im vertikalen Horizont der Geschichte verankert ist, lässt nunmehr das Andersverstehen, den
neuen Sinnhorizont zu. Angesichts dieses Sachverhaltes sagt Gadamer, „daß das
nachkommende Verstehen der ursprünglichen Produktion gegenüber eine prinzipielle
Überlegenheit besitzt und deshalb als ein Besserverstehen formuliert werden kann, beruht
nicht so sehr auf der nachkommenden Bewußtmachung, […] sondern beschreibt im Gegenteil
eine unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber, die durch den
geschichtlichen Abstand gegeben ist.“ (GW. 1, S. 301, meine Hervorhebung) Mit der
Formulierung „eine unaufhebbare Differenz“ will Gadamer m. E. weniger eine abgründige
Differenz, als die ontologische Distanz aufzeigen, die auch auf eine zeitlich-räumliche
Trennung verweist, aber dennoch über die markierte Grenze hinaus die Unterschiedenen
zusammenführen, d. h. eine Brücke zwischen dem Eigenen und dem Fremden schlagen kann.
Die Differenz bedeutet bei Gadamer daher eine unaufhebbare und zwar in dem Sinn, dass sich
das Fremde im gesamten Verlauf des Verstehensvorgangs als ein Unerschöpfbares zeigt und
dass das Verstehen trotz der Übertragung des Fremden ins Eigene immer die auffällige
Fremdheit entdeckt. Hinsichtlich des ununterbrochenen Bezugs zwischen den Differenten
bezieht sich Gadamers Hermeneutik nicht auf einen unüberbrückbaren Abgrund, der im
Grunde einen grenzenlosen Zweifel am Verstehen–Können und –Wollen in sich verbirgt,
sondern stützt sich auf die Verstehbarkeit des wahrheitstragfähigen Sachsinnes in der
80
Vgl. Paul Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, übers. v. Andris
Breitling u. Hendrik Richard Lessar, Göttingen 1998, S. 131ff. Hier hat er die psychologischen Phänomene
vom Vergessen und Erinnern ins Auge gefasst. Besonders sagt er: „In dieser Hinsicht erweist sich dieses
Vergessen auf der abgeleiteten Ebene des In–Erinnerung–Rufens und des Wiedererinnerns als wohltätig. Man
kann sich nicht an alles erinnern. Ein lückenloses Gedächtnis wäre eine unerträgliche Last für das wache
Bewußtsein.“ (S. 140) Damit sieht er die kritische Kraft in diesen Vergessensphänomenen und
unvollständigen Erinnerungen.
81
Zum Übersetzungsverhältnis der Polarität von dem Eigenen und dem Fremden, vgl. G. Figal, Der Sinn des
Verstehens, S. 101 – 111.
220
wechselseitigen Distanznahme. 82 Denn der wahrheitstragfähige Sachsinn befördert sich aus
dem distanzierten Aufeinanderbezogensein, aus der Anerkennung der unauflösbaren
Fremdheit stets in einen neuen Sinnhorizont, vor dem sich die hermeneutische Kreativität
abspielt.
Wenn jemand einen Text liest, offenbart sich der Sinn des Textes stets auf eine neue
Weise, auch wenn wir denselben Text immer wieder lesen. Die Veränderung des Sinns wird
durch den Leseakt selbst hervorgerufen, in dessen Verlauf der Leser mit seiner eigenen
Antizipation den möglichen Textsinn hervorhebt und erhellt. Somit begleitet die Betonung
des Textsinns auch die Sinnverstellung und Sinnverdrängung. Angesichts dessen gilt
Gadamer das Verstehen als das „Immer–Anders–Verstehen“, nämlich als das ständige
Anderswerden im Prozess. (GW. 2, S. 8) Außerdem steht dasjenige, was zeitlich prozessual
zu entfalten ist, im ständigen Übergang zum Anderssein, in dessen Verlauf das
Wechselverhältnis zu seinem Anderen im Prinzip ungebrochen ist. Im Anschluss an
Gadamers Einsicht ins Andersverstehen wird auch deutlich, dass die Distanz nicht von uns
geschaffen wird, sondern dem Verstehensprozess selbst entstammt. Der Weg zum
Andersverstehen in Gadamers Hermeneutik orientiert sich, wie bereits gesagt, nicht an der
vermeintlichen Restauration eines Ursinns, sondern zielt auf die ontologische Begegnung des
Fremdsinns mit unserem Sinnhorizont, auf die schöpferische Interpretation in unserem
Sinnhorizont ab. Dementsprechend wird das Verstehen, wie wir bereits mit der Vorstruktur
des
Verstehens
besagt
haben,
von
dem
Angesprochenwerden
initiiert.
Das
Angesprochenwerden gibt uns den Anlass zum Verstehen; es erhebt einen Wahrheitsanspruch
im bestimmten Sinnfeld. Dass das Verstehen stets ein Angesprochenwerden voraussetzt,
bedeutet, dass es zunächst vom Fremden motiviert wird, dass das Fremde dem Eigenen
auffällt, das Eigene herausfordert. Aus hermeneutischer Sicht gibt es deshalb kein Verstehen
ohne die Herausforderung des Anderen. Es bahnt sich mit dieser Herausforderung an und
vollzieht sich mit der Begegnung zwischen dem tradierten Fremdsinn und unserem
Standpunkt. Die Begegnung als Sinnvollzug verweist darauf, dass der überlieferte Fremdsinn
in seiner eigenen Interpretationsgeschichte immer neu verstanden wird, seinen Sinngehalt
vermehrt und verändert. Insofern sieht Gadamers Hermeneutik ein, dass die ontologische
Differenz keine Barriere für das Verstehen, sondern als eine Basis für das Verstehen gilt. Aus
82
Dementsprechend sagt Schleiermacher: „Denn in jedem Falle ist immer eine gewisse Differenz des Denkens
vorhanden zwischen dem Sprechenden und Hörenden, aber keine unauflösliche. Selbst im gewöhnlichen
Leben, wenn ich bei vollkommener Gleichheit und Durchsichtigkeit der Sprache die Rede eines anderen höre
und mir die Aufgabe stelle, sie zu verstehen, setze ich eine Differenz zwischen ihm und mir. Aber in jedem
Verstehenwollen eines anderen liegt schon die Voraussetzung, daß die Differenz auflösbar
ist.“ Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 178.
221
diesem Grund fordert sie uns auf, die Erfahrung des Fremden als Motivation des Verstehens
aufzunehmen. Da das hermeneutische Verstehen sich mit der Erfahrung des Fremden bewegt,
kann man sagen, dass die Hermeneutik die unterschiedlichen Vielen mit dem selbigen Einen83
zusammendenken will. So nimmt sie mithin das Fremde als das eigene Fremde in sich auf.
Der Zeitenabstand hat bei Gadamer überdies die hermeneutische Funktion der
Filterung in der Hinsicht, dass er zwischen uns und der differenten Sache vermittelt, d. h. den
Wahrheitsanspruch des wahrheitstragfähigen Sachsinnes erhebt, dass er, wie bereits erwähnt,
den potenziellen Sinnhorizont in Bezug auf die Sachwahrheit erneut und andersartig eröffnet.
Der Zeitenabstand legt damit mehr oder weniger auch unsere Vorentwürfe auf den Prüfstein,
auf dem das wahre Vorurteil vom falschen unterschieden werden kann. Hier spielt der
Zeitenabstand seine Rolle als Scheidelinie, aber er begründet sie weder auf einer
Kontrollinstanz, noch beansprucht er einen letztbegründeten Richterstuhl. Aus Gadamers
Perspektive soll die Scheidelinie aus dem unendlichen Versuch unserer dialogischen
Wahrheitssuche selbst hervortreten, mit Gadamers Worten, muss „diese Scheidung vielmehr
im Verstehen aber geschehen.“ (GW. 1, S. 301) Aus der Perspektive des hermeneutischen
Verstehensproblems betrachtet, dem wir im Interpretationsverlauf so häufig begegnen, stellen
wir die meisten Fragen nach der dunklen Stelle im Text, die sich im Allgemeinen aus der
geschichtlichen Distanz, der Differenz der kulturellen Erfahrungen, ergibt. Anders gesagt,
führt uns die dunkle Stelle im Text zu der Interpretationsfrage, d. h. zu der
Interpretationsbedürftigkeit, wohingegen der allzu deutliche Textsinn unser Interesse nicht
weckt. Die dunkle Stelle bildet den Anlass, sie als ein uns Fremdes zu erfahren und sie fordert
uns auf, indem sie uns gegenüber bereits eine auffällige Fremdheit an den Tag legt. Mit
anderen Worten: So lange das hermeneutische Verstehen einen Gegenstand findet, der der
Interpretation bedarf, befindet es sich in Kontakt, indem es immer auf die Fremdheit, die von
vornherein dem Verstehensvorgang vorausgeht, angewiesen ist. Die dunkle Textstelle, die
unser Interpretationsinteresse weckt, veranlasst unsere Voreingenommenheit, sich in den
überprüfenden Erprobungsprozess hinüber zu begeben. In diesem selbstkorrigierenden
Lernprozess fragen wir uns nicht nur nach dem wahren Sinn der dunklen Textstelle, sondern
vielmehr nach den eigenen Sinnvorentwürfen: Wir erarbeiten den Textsinn vor dem
Hintergrund sämtlicher Sinnzusammenhänge und stellen noch mehr die kritischen Fragen
83
Sowohl die Hermeneutik als auch die dialogische Dialektik müssen Vieles in Einem sagen, das Eine ins
Mannigfaltige übersetzen, solange sie die ursprüngliche Distanz umfaßt, ihren Gegenstand aus dieser Distanz
herauszufinden versucht. Zu dieser Aufgabe der Hermeneutik, die aus dem Ursprung der philosophischen
Tradition, d. h. aus dem Erbe des Denkens von Parmenides und Heraklit entstammt, vgl. M. Riedel, Hören auf
die Sprache, S. 96ff. und ders., „Gadamers dialektische Hermeneutik und der „Schritt zurück“ zum Ethos der
Dialektik. Die Werkausgabe zum Zeitpunkt seines 90. Geburtstages“, in: Allgemeine Zeitschrift für
Philosophie, Jg. 15, Heft 3, hrsg. v. Josef Simon, Stuttgart 1990, S. 43 – 49.
222
nach den eigenen Vorurteilen in den Vordergrund. Im Hinblick auf die hermeneutische
Funktion des Zeitenabstandes sagt Gadamer: „Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat
nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung
begriffen.“ (GW. 1, S. 303)
Für uns ist entscheidend, dass die hermeneutische Funktion der Filterung in Gadamers
philosophischer Hermeneutik eine sinnkonstruktive Kreativität impliziert. Hinsichtlich der
hermeneutischen Sinnkreation kann man sagen, dass Gadamers Hermeneutik auch das
„Besserverstehen“
nicht
außer
Acht
lässt.
Wenn
jedoch
bei
Gadamer
vom
„Besserverstehen“ oder von der hermeneutischen Produktivität die Rede ist, orientiert sich die
hermeneutische Produktivität nicht mehr am abgeschlossenen Punkt der Allwissenheit, mit
dem alles differente Viele beendet werden soll, - um das Bessere zu beweisen, müssen wir
unabdingbar den transzendenten Endzweck vorlegen können - sondern sie kommt im
Gegenteil aus der Erwartung auf die Sinnerfüllung, die von der wahrheitstragfähigen Sache
her erschlossen wird. In der zirkulären Sinnbewegung von der Eigenheit und der Fremdheit
legt die hermeneutische Produktivität damit in Gadamers Augen ihren Schwerpunkt auf das
Sich–Verstehen im Textsinn ebenso wie im Dialog, was nur durch die Selbsteinstellung im
prozessualen Verstehensvorgang erreichbar ist. Aus Gadamers Perspektive ist die
hermeneutische Produktivität nicht die abbildende Reproduktion des Urbildes: Die
reproduktive Restitution ist, Gadamers Ansicht zufolge, kein Anteil des menschlichen
Verstehens, so lange das Verstehen sich mit der ursprünglichen Differenz mitbewegt.
Vielmehr liegt Gadamers Einsicht in die hermeneutische Kreativität darin, dass das Verstehen
unter
den
Umständen
der
Begegnung
des
Vergangenheitshorizontes
mit
dem
Gegenwartshorizont immer anders und stets erneut erzählt wird. Das beste Beispiel für diese
hermeneutische Produktivität können wir m. E. in Gadamers Gedanken finden. So schreibt
Gadamer in seinem Hauptwerk: „Oft vermag der Zeitenabstand die eigentlich kritische Frage
der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahrer Vorurteile, unter denen wir verstehen,
von den falschen, unter denen wir mißverstehen, zu scheiden.“ (GW. 1, S. 304) Das in der
Textstelle vorkommende Wort „Oft“ entspricht, wie Gadamer selbst sagte, dem „Nichts
anderes als“ im ursprünglichen Text. Anhand dieser Textänderung zeigt sich, dass dem
Verfasser selbst das Problem, das im alten Text enthalten war, bewusst geworden war, dass er
die Selbstrevision auf sich selbst, die Selbstkritik im Überblick auf sich selbst, die
hermeneutische Besinnung auf sich selbst leisten konnte und somit die andere und deshalb
223
neue Dimension finden konnte. 84 Diese selbstkritische Textmodifikation gibt uns auch einen
Hinweis darauf, dass die Distanz der Geschichte, der Kulturen, der selbstbiographischen
Erfahrungsgeschichte, z. B. der Erinnerung, der zwischenmenschlichen Beziehung usw.
grundsätzlich die hermeneutische Forderung nach der unendlichen Anstrengung um die
Wahrheit und nach der Bereitschaft zur überprüfenden Revision auf sich selbst erhebt.
Aus diesem Grund kann man sagen, dass das Distanzhalten im hermeneutischen Sinn
nicht nur das grundsätzliche Moment der Textinterpretation, sondern auch die Voraussetzung
für
die
gemeinsame
Verständigung
und
die
Gemeinschaftsbildung
in
der
zwischenmenschlichen Beziehung ist. Aus hermeneutischer Sicht lag es auf der Hand, dass
das Verstehen die uns begegnende Überlieferung verständlich machen will. Mit dieser
Begegnung hat das Überlieferte als ein tradiertes Fremdes an dem gesamten
Verstehensvorgang seinen eigenen Anteil. Nun gilt es zu berücksichtigen, dass das
hermeneutische Verstehen mithin nicht nur mit dem Hören auf den Wahrheitsanspruch des
Überlieferten, sondern auch im Gespräch mit diesem sachorientierten Überlieferten zu Tage
kommt. So hat das hermeneutische Verstehen seinen Grundcharakter in der „Du–Erfahrung“,
die Gadamer später nicht nur als die Grundstruktur der hermeneutischen Erfahrung im
Dialogverhältnis bezeichnete, sondern auch in seinem Hauptwerk emphatisch als das
„Moment der Hermeneutik“ bezeichnet. Das hermeneutische Verstehen behält damit die
personalen Züge bei, so dass es das Fremde, das Andere als seinen Gesprächspartner in
diesem dialogischen Verstehensvorgang annimmt. Kurzum findet das Verstehen immer schon
im zwischenmenschlichen Bezug statt. In Gadamers Augen bewegt sich das menschliche
Verstehen von vornherein mit dem Aufeinander-Bezugnehmen weiter und zielt auf das
Aneinander-Anschließen durch die Begegnung mit dem Anderen, d. h. dem Du ab. Nun wird
gezeigt, dass Gadamers Hermeneutik von Anfang an „mit dem Problem des Anderen
befasst“ 85 ist, sich mit der Frage nach dem Verstehen des Anderen beschäftigt. Die
Anerkennung der unaufhebbaren Andersheit des Anderen bestimmt in Gadamers Augen das
Verstehen mit, anders gesagt, das Verstehen setzt die unvermeidbare Distanz des Eigenen
zum Anderen voraus. Die hermeneutische Erfahrung schließt mithin die gegenläufigen
Bestrebungen, d. h. die interaktive Verflechtung mit ein, in deren Verlauf die Beteiligten
aufeinander eingehen und zueinander halten. Der hermeneutische Spielraum, in dem sich die
verschiedenen
Meinungen
zeigen
und
es
mit
der
Anerkennung
dieser
Meinungsverschiedenheit zur gelungenen oder misslungenen Verständigung kommen kann,
84
Vgl. Gadamer, „Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik (1985)“, in: GW. 2, dazu
auch J. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 140 – 144 und ders., Hermeneutische Wahrheit, S. 149 – 158.
85
Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchung zur Hermeneutik, Weilerswist 2003, S. 114.
224
erschließt sich deshalb nur aus dem Bewusstsein, das, mit Gadamers Worten, „um die
Andersheit des Anderen, um die Vergangenheit in ihrer Andersheit so gut, wie das Verstehen
des Du dasselbe als Person weiß.“ (GW. 1, S. 366)
Damit kommt die hermeneutische Grundstruktur der Du–Erfahrung nunmehr zur
„Bewegung des Anerkennens“ im Dialogverhältnis. Wir haben gesehen, dass das
Anerkennungsverhältnis bei Hegel auch mit der Entdeckung des Anderen, mit der
Voraussetzung der Andersheit des Anderen in der prozessualen Erfahrungsgeschichte des
Bewusstseins beginnt, dass das Bewusstsein in dieser Anerkennungsbewegung das Selbst im
Anderen findet und den Anderen anerkennt, obwohl das Bewusstsein bei Hegel von
vornherein durch die Anerkennungsbewegung, durch die Reflexion hindurch, auf die
vollkommene Rückkehr zur fundamentalen Selbstgewissheit abzielt. Dennoch ist die
Anerkennungsbewegung
in
der
zwischenmenschlichen
Beziehung
in
Gadamers
Dialoghermeneutik nicht mehr der vollständige Rückzug auf die egozentrische Selbstheit als
das allem zugrunde liegende Fundament, sondern begründet sich auf der ständigen Du–
Erfahrung, der unaufhebbaren Andersheit des Anderen, die Gadamer, wie wir schon sahen,
durch die Entschärfung der neuzeitlichen Auffassung von der Subjektivität erreicht und die
bei ihm den beständigen Bestandteil des Verstehensvorganges, das Moment der unendlichen
Sinnerschließung bildet. Die Anerkennung im Dialogverhältnis ist damit nicht nur die
ontologische Voraussetzung für die Verständigung unter den Menschen, sondern bildet sich
auch selbst durch den gesamten Dialogvorgang hindurch weiter stabil aus. Mit seiner Einsicht
in die Unaufhebbarkeit der Andersheit des Anderen im Reflexionsakt sagt Gadamer: „Es ist
wie im Verhältnis zwischen Ich und Du. Wer sich aus der Wechselseitigkeit einer solchen
Beziehung herausreflektiert, der verändert diese Beziehung und zerstört ihre sittliche
Verbindlichkeit. Genau so zerstört, wer sich aus dem Lebensverhältnis zur Überlieferung
herausreflektiert, den wahren Sinn dieser Überlieferung.“ (GW. 1, S. 366) Im gesamten
Verlauf der Anerkennungsbewegung ist der Andere deshalb in Gadamers Hermeneutik nicht
mehr ins Selbige, wie die Reflexionsphilosophie es sieht, hineinverschlungen, sondern er
verstärkt sein Eigenrecht.
Da Gadamers Dialoghermeneutik ihren Sinnvollzug nicht am Anschlusspunkt der
prozessualen Bewegtheit, sondern in der unendlichen Bewegung selbst sieht, subsumiert die
Anerkennungsbewegung in der hermeneutischen Erfahrung die Andersheit des Anderen selbst
nach dem Bewegungsvollzug keinesfalls unter die Selbstheit, sondern sie akzeptiert im
Gegenteil die unauflösbare Distanz des Eigenen zum Anderen. Die Anerkennung bringt es im
hermeneutischen Sinn zum Bewusstsein, dass die Distanz zum Anderen stets den
225
Handlungsraum der gegenseitigen Verständigung eröffnet, so dass der Andere das Eigene
zum Vorschein bringt und zur Bedingung für die gemeinsame Wir–Dimension wird. Aus
dieser hermeneutischen Sicht betrachtet, muss auch der Andere, um anders zu sein, daher zum
Eigenen permanent Distanz halten. Denn der Andere fällt dem Eigenen nur durch seine
differente Andersheit auf. Dass der Andere als Anderer anerkannt wird, bedeutet, die
distanzierte Spannung stets zu halten. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses kann sich die
Anerkennung des Anderen nur dann als sinnvoll erweisen, wenn das Eigene in der
Distanznahme nicht nur seinem Anderen gegenübersteht, d. h. seine Eigenheit mit dem
Anderen zusammen bildet, sondern der Andere sich damit vor den Anderen seiner selbst
stellen kann. Aus diesem hermeneutischen Zusammenhang kann man erkennen, dass der
Andere im Anerkennungsprozess unersetzbar ist. Die hermeneutische Erfahrung will, so
Gadamer, mithin „im Verstehen die Andersheit des Anderen nicht aufheben, sondern
bewahren.“ (GW. 2, S. 5) Im Dialogverhältnis lässt sie uns deshalb zur wechselseitig
aufeinander wirkenden Sinnkonstruktion, in die das Eigene mit seiner Eigenheit und der
Andere mit seiner Andersheit hineingezogen ist, gelangen. Mit dem Eintritt in den
aufeinander wirkenden Dialoghorizont versetze ich mich selbst, ohne mir die Andersheit
anzueignen, in die Andersheit des Anderen und der Andere gewinnt damit auch seine
Andersheit,
ohne
sein
Eigenrecht
zu
verlieren.
Denn
wenn
wir
uns
in
die
Verhandlungssituation einbetten, zeigen wir dem Handlungspartner unser Interesse an der
Sache und unser Handlungspartner tut dasselbe. Ohne das eigene Interesse aufzugeben,
suchen wir in diesem Verhandlungsdialog einen möglichen Kompromiss. In diesem
ontologischen
Distanzschaffen
zwischen
der
unverzichtbaren
Eigenheit
und
der
unreduzierbaren Andersheit liegt die hermeneutische Erfahrung, genauer gesagt, das
miteinander zu führende Gespräch. Gadamer zufolge ist das hermeneutische Verstehen mithin
„die Anerkennung des ständigen Andersseins“, die Begleitung des Sinnvollzugs des Anderen.
(GW. 1, S. 499) Indem Gadamer die Selbstvergewisserung durch die Selbsterschütterung in
der Begegnung mit dem Anderen und die Aufbewahrung der Andersheit des Anderen im
Dialog sieht, sagt er: „[…] wenn man schon von Sichversetzen sprechen will, so versetzen wir
uns in die Perspektive, unter der der andere seine Meinung gewonnen hat. Das heißt aber
nichts anderes, als daß wir das sachliche Recht dessen, was der andere sagt, gelten lassen. […]
So geschieht es schon im Gespräch.“ (GW. 1, S. 297) Das Gespräch in der hermeneutischen
Erfahrung verstärkt nunmehr nicht nur das Eigenrecht des Anderen als Gesprächspartner,
sondern erweitert auch die Möglichkeit der Schaffung eines gemeinsam gebildeten
Sinnhorizontes, ohne die Differenz in einer differenzlosen Identität aufzulösen.
226
Die Erfahrung der Distanz im vorangegangenen Dialogprozess führt uns zu dem
Bewusstsein, dass das Andere und der Andere die Grenze meines Eigenen sind. Dieses
Selbstwissen um die eigene Begrenztheit lässt mich, Gadamers Ansicht zufolge, auf das
Gespräch mit dem Anderen einlassen und damit auch über meine Grenze hinaus den
Blickwinkel auf die überindividuelle Sinndimension richten. Hierbei nimmt der Andere
immer schon am Gespräch teil und geht auch in der durch das Gespräch gestifteten
Verständigung immer mit. Dementsprechend hebt Gadamers Hermeneutik die privilegierte
Funktion des Anderen im dialogischen Verstehen hervor. Denn wir müssen beim Verhältnis
zum Anderen bleiben und wir können nur von diesem privilegierten Anderen aus die
Motivation zur Selbstvergewisserung, d. h. zur sich selbst modifizierenden Erhebung, zur
Überschreitung über die eigene Grenze, gelangen, wenn wir verstehen wollen. Wo das
Verstehen geschieht, da ist es aus hermeneutischer Sicht mithin das Verstehen des Anderen.
Der Andere gibt stets den Anstoß zum Verstehen, wie die Begierdeerfüllung bei Hegel, sofern
sich die Begierde nur in Beziehung auf das Andere ergibt und durch das Andere zum Genuss
gelangt. Ihren Vermittlungscharakter hat sie in der Bewegung des Anerkennens. Der Andere
in Gadamers Hermeneutik ist nicht so sehr ein bloßer Gegenpol, der in die abgeschlossene
Letztinstanz hineingeschlungen ist, als, mit Gadamers Worten, „eine primäre Grenzsetzung
unserer Eigenliebe und unserer Egozentrik“ im Inganghalten des Gesprächs. (GW. 8, S. 346)
Wenn der differente Andere nunmehr als die eigene Grenze erfahrbar ist, versucht die
Hermeneutik das Gespräch ständig in Gang zu halten, in dem sich das Verhältnis zwischen
Ich und Du über die egozentrische Individualität hinweg, dem überindividuellen Sinngewebe
zuwendet und damit die betroffenen Parteien in die Wir–Dimension versetzt. Mit der
Überlegung über die ausgezeichnete Fähigkeit des Dialogs, zum Anderen Distanz zu halten,
über die eigene Begrenztheit hinaus den Blick auf die sozialen Sinngewebe zu werfen, sagt
Gadamer: „Gerade zwischen Mensch und Mensch gibt es ein Sich–Öffnen und eine
Vertrautheit, […] sondern als eine Steigerung, Ausweitung, Ergänzung meines eigenen
Eigenseins, ja als die Brechung meines Eigensinns, durch die ich Wirkliches anerkennen
lerne.“ (GW. 4, S. 46) So gesehen ist das Gespräch in der hermeneutischen Erfahrung ein
wirklicher Ort, an dem die voneinander Verschiedenen miteinander spielen und sich die
menschliche Bereitschaft zum Sich-Einlassen auf das gemeinschaftliche Zusammenspiel zeigt.
Das Gespräch in Gadamers Hermeneutik führt uns zum „Über–sich–hinaus–Sein“ hin, zum
„mit dem Anderen denken und auf sich zurückkommen als auf einen anderen.“ (GW. 2, S.
369) Dieses Gesprächsverhältnis ist in der Hermeneutik „ein moralisches Phänomen“, anders
gesagt, die Hermeneutik hat an diesem Ort, an dem das Gespräch zwischen den Menschen
227
stattfindet, an dem sich das Eigene im unabschließbaren Distanzgewinnen zum Anderen
befindet, an dem sich alle Beteiligten in diesem Verhältnis einander näher kommen, eine
ethische Haltung. (GW. 1, S. 364) Da das Gespräch, Gadamers Ansicht zufolge, die
unauflösbare Distanz zum Anderen anerkennt, die von der Andersheit aus eröffnete
Sinnrichtung impliziert und deshalb für das Andere offen bleibt, kommt es nie zu einem Ende:
Das Gespräch in der hermeneutischen Erfahrung findet keinen Abschluss. Insofern hat es die
lebendige Prozessualität zu seinem Grundcharakter. Konsequent wird im hermeneutischen
Zusammenhang daran festgehalten, dass die menschliche Verstehenspraxis ohne jeden
Zweifel die Lebenspraxis in der alltäglichen Lebenswelt ist. Denn die Hermeneutik versucht
die Gemeinsamkeit aus dem lebendigen Gespräch mit dem Anderen abzuleiten und die
ethische Konnotation durch ihre dialogische Offenheit für die unaufhebbare Andersheit zu
finden.
228
I – 4. Das Bewusstsein der Endlichkeit und die hermeneutische Offenheit
Bisher haben wir gesehen, dass Gadamers Hermeneutik von Anfang an ihren Schwerpunkt
auf das Verstehen des Anderen legt. Das Verstehen geht davon aus, vom Anderen befragt zu
werden und sich im Verhältnis zum Anderen zu vollziehen. Das Verstehen ist daher vom
Anderen her motiviert und kommt durch die Selbsterfahrung in der Distanz zum Anderen
zustande. Trotz dieser unauflöslichen Distanz sind die Anderen vom hermeneutischen
Gesichtspunkt aus nicht verschlossen, sondern stellen sich selbst für immer vor uns dar, d. h.
sie erschließen sich im Verhältnis zu uns einen Zugang zu sich selbst. Diese Anderen sind
meine Gesprächspartner im gesamten Verstehensprozess und bewahren ihren Standpunkt
permanent im wechselseitig aufeinander wirkenden Verstehenszusammenhang. Seiner
Ansicht nach steht die hermeneutische Erfahrung unter der Einwirkung der gegenseitig
miteinander verflochtenen Beziehung, anders gesagt, ist sie immer schon im unentrinnbaren
Verhältnis des Ich zum Du als seinem Anderen enthalten. Die privilegierten Anderen, die
nicht nur den überlieferten Text, sozusagen den schriftlich fixierten Sinn, sondern auch den
Gesprächspartner, den anderen Kulturkreis usw. umschließen, bilden auf der einen Seite zwar
den Hauptbestandteil im Verstehensvollzug, in dem menschlichen Versuch zur sozialen
Verständigung, lassen aber andererseits ihre nie vollständig durchdrungene Andersheit hinter
sich: Als ein Pol im gesamten Verstehensprozess spielen sie die wesentliche Rolle. Auch
wenn das Verstehen durch diesen gesamten Prozess hindurch, in dem sich das Eigene und die
Anderen eng zueinander verhalten, zum Sinnvollzug kommt, darf das hermeneutische
Bewusstsein nie aus den Augen verlieren, dass die Anderen noch in der Distanz zum Eigenen
verbleiben, dass sie noch immer keine Aussage unter ihren gesprochenen Worten getroffen
haben. Aus hermeneutischer Sicht wohnen die Anderen sich selbst inne, d. h. sie haben stets
das Moment des zu Verstehenden in sich und geben uns immer den Anstoß zum Verstehen. In
diesem unaufhebbaren Spannungsverhältnis begegnet der Verstehende dem Anderen als
seinem Kommunikationspartner. Aus Gadamers Sicht werden die Anderen deshalb geradezu
zu einem Du, das mit uns und von uns verstanden werden kann, sie sprechen „von sich aus so
wie ein Du“ (GW. 1, S. 364), während Schleiermacher in seiner „allgemeinen
Hermeneutik“ auf den vollkommenen Sinnvollzug abgezielt hat, der durch die divinatorische
Methode mit der idealen Erhellung der Absicht des Urhebers erreichbar sei. 86 Und auch
Dilthey glaubte mit der psychologischen Methode die Sinnganzheit vollständig erfassen zu
können
86
und
er
versuchte
diese
Möglichkeit
vom
vorbildlichen
Paradigma
der
Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 169ff.
229
Selbstbiographie
abzuleiten.
87
Gegen
Schleiermachers
und
Diltheys
Ideal
der
Vollkommenheit des Verstehens wehrt sich Gadamer nunmehr mit folgender Aussage: „Die
Idee einer allein richtigen Darstellung hat angesichts der Endlichkeit unseres geschichtlichen
Daseins, wie es scheint, überhaupt etwas Widersinniges.“ (GW. 1, S. 125) An dieser Stelle
nimmt Gadamer den Gesprächspartner des Verstehenden nicht als den Autor, sondern er
bezieht beispielsweise den überlieferten Text auf den Kommunikationspartner als den
Anderen.
Er verschiebt den Akzent einerseits auf die geschichtliche Bedingtheit in der
hermeneutischen Erfahrung, wie wir oben sahen, andererseits auf die existenzielle Endlichkeit
des menschlichen Daseins. Man kann sagen, dass das Verstehen bereits durch das
Zueinander-Verhalten zustande kommt, dass es im Zwischenraum der ineinander
eingebundenen Pole stattfindet. Das Zugehörigsein des Eigenen und des Anderen zum
geschichtlichen Gemeinsamen kann m. E. hier auf zwei Weisen betrachtet werden: Wir stehen
einerseits unter der kontinuierlichen Linie der geschichtlichen Überlieferung, d. h. unter den
vergangenen Sinnzusammenhängen. Unser gegenwärtiger Gesichtspunkt ist andererseits
diskontinuierlich auf unseren jetzigen Zeitpunkt beschränkt. Unser Gegenwartshorizont ist
deshalb nicht allmächtig, allwissend, sondern endlich, aber auch besonders. So steht die
Gegenwart immer schon zum künftigen Horizont. Anders formuliert vollzieht sich die
hermeneutische Wahrheit, laut Gadamer, nur durch die Teilhabe am gesamten Sinngeschehen.
Indem sie nur durch unsere Teilnahme an der Sinnganzheit geschieht und sie auch von dem
unobjektivierbaren Sinnnetzwerk ausgeht, können wir als die Beteiligten an diesem
Sinngeschehen aus dieser Sinnganzheit nur einen abgesonderten Teil entnehmen, nur einen
bestimmten Fall unter der kontinuierlichen Sinnverkettung erarbeiten. Das menschliche
Verstehen muss deshalb ständig nach der sachgemäßen Wahrheit suchen und es steht auch
zum Wahrheitsgeschehen, sofern wir verstehen wollen und können. Aus Gadamers
Perspektive kann man sagen, dass das menschliche Verstehen die ständige Wahrheitssuche ist,
da das zu Verstehende in diesem wahrheitssuchenden Prozess unabschließbar übrig bleibt.
Wir, als die geschichtlich Bedingten und die existenziellen Endlichen, müssen uns für die
künftigen Sinnmöglichkeiten, die immer sich selbst zur Sprache bringenden Sinndimensionen,
offen halten. Infolgedessen lassen wir uns nunmehr zum Bewusstsein der Endlichkeit und zur
hermeneutischen Offenheit, die man „die hermeneutische Tugend“ nennen kann, führen.
Das hermeneutisch geschulte Bewusstsein ist bei Gadamer, wie bereits erwähnt, das
Bewusstsein davon, dass es um die geschichtliche Begrenztheit der menschlichen Erfahrung
87
Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 198ff.
230
und die existenzielle Zeitknappheit des menschlichen Daseins weiß. Die Hermeneutik lehrt
uns, dass unsere Erfahrung von vornherein den geschichtlichen Überlieferungen und der von
der Geschichte überlieferten Sprachlichkeit zugehört, dass unsere Erfahrung damit auch auf
den Lebenszeitraum begrenzt ist, in dem wir uns als die existenziellen Endlichen befinden.
Demzufolge führt uns das Bewusstsein von der Zugehörigkeit unserer Erfahrung zur
Geschichtlichkeit und zur geschichtlich überlieferten Sprachlichkeit auf den unabschließbaren
Weg der leidenden Erfahrungen, den Hegel als den „Verzweiflungsweg“ bezeichnet hat und
auf das unendliche Gespräch mit den Anderen. Das „Eingerücktsein“ in die sprachlichen
Überlieferungen und in das Gespräch mit dem überlieferten Geschichtlichen wird deshalb bei
Gadamer, wie bereits mit Kant angedeutet wurde, eine ontologische „Bedingung der
Möglichkeit“ der hermeneutischen Erfahrung. Somit wird nun deutlich, dass das
hermeneutische Bewusstsein seine bedingte Zugehörigkeit, nämlich seine Angewiesenheit auf
den Anderen, erkennt. Nun gibt ein solches Bewusstsein uns den grundsätzlichen Hinweis
darauf, dass die Standpunktseingebundenheit unserer Erfahrung in die vorgegebenen
Situationen, das Einbezogensein in das aufeinander wirkende Sinnfeld, ein Leitfaden für die
menschliche Erfahrung ist. So gesehen, sind wir keinesfalls Herr über die Geschichte, sondern
die Geschichte umschließt uns und geleitet uns auf dem unumgänglichen Weg zur
Wahrheitssuche. Diese geschichtliche Bedingtheit der menschlichen Erfahrung bedenkend,
beginnt Gadamer den III. Teil seines Hauptwerkes mit dem folgenden Satz: „Wir sagen zwar,
daß wir ein Gespräch >führen<, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die
Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Gesprächspartners. So ist das
eigentliche Gespräch niemals das, was wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen
richtiger zu sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, daß wir uns in ein
Gespräch verwickeln.“ (GW. 1, S. 387) Das Gespräch gestaltet sich ebenso wie das Spiel mit
den tradierten Kunstwerken und mit den sprachlich überlieferten Texten als ein freier
Spielraum der Beteiligten, deren verschiedene Perspektiven ihn zusammen ausfüllen, in dem
sie spielen und in dem sie ihre je eigene Besonderheit gewinnen und damit zugleich einander
näher kommen. Im Gespräch, das sich durch den wechselseitigen Austausch der
verschiedenen Meinungen vollzieht, spricht Einer mit dem Anderen über seine Überzeugung,
versucht dem Anderen seine Überzeugungen effektiv zu vermitteln. Und umgekehrt hört er
auch, indem der Andere ebenso verfährt, auf den Anderen. Dieser dialogische Austausch ist,
wie die zitierten Sätze gezeigt haben, von dem Einen und dem Anderen unabhängig. Aus
Gadamers Sicht wird deutlich, dass die gesamten Vorgänge des dialogischen Austausches von
selbst ablaufen. Hinsichtlich seiner souveränen Dynamik erscheint das Gespräch als eine
231
übersubjektive Dimension - wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass das Sprechen selbst
schon eine Wir–Dimension ist -, ähnlich wie ein Schachspiel nicht erst durch einen
Schachzug ausgetragen wird, sondern sich durch den gesamten Vorgang von Zug und
Gegenzug jede besondere Spielart nach ihren Spielregeln entfaltet.
An dieser Stelle ist das Gespräch, mit Gadamers Worten, „die eigentliche Spur unserer
Endlichkeit“, es ist „immer schon über uns hinweg.“ (GW. 2, S. 150) Wir als die bedingten
Endlichen befinden uns bereits auf der ständigen Suche nach der wahrheitstragfähigen Sache,
nach dem angemessenen Wort: Um den Anderen richtig zu erreichen und dem Anderen
überzeugend zu vermitteln, versuchen wir das Wort stets in der bereits vorhandenen
Gesprächslage zu finden. Wir können den Anderen zwar mit dem gesuchten Wort erreichen,
aber es liegt auch auf der Hand, dass dieses gesuchte Wort vom Anderen oft missverstanden
wird. Um zu einer Übereinstimmung mit dem Anderen zu gelangen, müssen wir uns
unabdingbar in den unendlichen Gang zur gemeinsamen Wahrheitssuche begeben. Im
Anschluss an die unendliche Wahrheitssuchstruktur der hermeneutischen Erfahrung im
Gesprächsverhältnis verweigert Gadamers philosophische Hermeneutik die vollständige
Korrespondenz von Denken und Welt, von Denken und Sprache, d. h. die absolute
Vollendung der prozessualen Wahrheitssuche. Vielmehr stellt sie die nie abgeschlossene
Unendlichkeit der menschlichen Erfahrung in den Vordergrund, die stets unter der Diskrepanz
der wahrheitstragfähigen Sache leidet und mit dem Leiden auch die eigene Erfahrung macht.
Diese
strukturelle
Unabschließbarkeit
der
hermeneutischen
Erfahrung
fördert
das
Gesprächsverhältnis zu Tage, da sich unsere Sprache in der Kommunikationssituation nicht
nur miteinander austauscht, sondern auch voneinander distanziert, d. h. die je eigene
Besonderheit der Gesprächspartner verstärkt. Aus hermeneutischer Sicht ist die absolute
Wahrheit, die vollendete Angemessenheit nur Gott zugehörig, da Gott allein in einem Moment
mit einem Wort alle erzeugt. Wir als die Bedingten müssen im Gegenteil, Gadamers Ansicht
zufolge, das Eine in die Vielen bringen, die Mannigfaltigen aufrollen und versuchen, uns
dadurch verständlich zu machen. Denn wir vermögen nur innerhalb unseres hermeneutischen
Versuchs einander näher zu kommen und uns der sachlichen Wahrheit anzunähern. Aus
diesem Grund sagt Gadamer im Zusammenhang mit Platons Einsicht: „Keiner der Götter
philosophiert.“ (GW. 1, S. 490) Mit Gadamer kann man sagen, dass das Philosophieren der
Anteil des Menschen sei. Insofern richtet sich die menschliche Erfahrung bzw. das Gespräch
auf die unendliche Wahrheitsuche, das Einverständnis, so lange sie auf dem unabschließbaren
Weg über die Endlichkeit, die Partikularität geht. Hierin liegt bei Gadamer das
Besserverstehenkönnen. Die hermeneutische Universalität bei Gadamer ist im Grunde die
232
Anerkennung der universal beschränkten Endlichkeit der menschlichen Erfahrung, da die
menschliche Erfahrung aus hermeneutischer Sicht die unvorhersehbare Wahrheitsdimension
hinter sich lässt. Daran anschließend kann Gadamers philosophische Hermeneutik, wie der
Gadamer-Experte J. Grondin es tut, auch als „Endlichkeitshermeneutik“ 88 bezeichnet werden.
Darüber hinaus haben wir gesehen, dass das hermeneutische Bewusstsein das
Bewusstsein der Endlichkeit ist, sofern es ein menschliches Bewusstsein und der Mensch auf
seine existenzielle Zeitknappheit begrenzt ist.
89
Das Bewusstsein der existenziellen
Endlichkeit zeigt sich hier auf zweierlei Weisen: Einerseits als die räumliche Bedingtheit des
menschlichen Daseins und andererseits als die zeitliche Begrenztheit der menschlichen
Existenz. In Gadamers Hermeneutik weiß dieses Bewusstsein, dass die menschliche
Erfahrung aus dem begrenzten Umgang mit den Anderen, den überlieferten Texten, dem
Gesprächspartner und den anderen Kulturen besteht, dass sie, sofern der Mensch zum Tode ist,
deshalb das existenzielle Endliche ist und unter der Bedingung der Zeitlichkeit lebt. Um es
mit einem Wort zu beschreiben, ist die hermeneutische Erfahrung, wie Gadamer sagt, „die
Erfahrung der menschlichen Endlichkeit.“ (GW. 1, S. 363) Das Bewusstsein der Endlichkeit
führt uns zum Umgang mit den Anderen, in dessen Verlauf wir nicht nur die einstimmige
Verständigung über die Sache und den Anderen, sondern auch die soziale Verständigung über
uns selbst, gewinnen. Auf diesem ineinander übergehenden Weg der hermeneutischen
Erfahrung findet ein Endlicher den Anderen, er begegnet dem Anderen, der gleich begrenzt ist.
Nach dem Finden des Anderen, erfährt der eine, dass der gegenüberstehende Andere
angesichts der gemeinsamen Handlungssituation ein und dasselbe Recht hat, indem er sich
mit dem Anderen identisch auf seine Endlichkeit, seine Begrenztheit besinnt. Damit führt die
Anerkennung der eigenen Endlichkeit zugleich zu dem Bewusstsein, dass weder der eine noch
der
andere
den
Sinnhorizont,
sozusagen
das
Gespräch,
führt,
sondern
der
Sinnganzheitshorizont, das Gespräch, als offener Spielraum unserer Erfahrung, dem der eine
und der andere zugehören, das gesamte Verfahren ausführt. Die Erkenntnis der zeitlich–
räumlichen Begrenztheit der menschlichen Existenz lässt uns deshalb zu dem Schluß kommen,
88
Vgl. J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 159ff., bes. S. 161 und M. Frank, Das
individuelle Allgemeine, S. 20.
89
Zum menschlichen Zeitbewusstsein mit Bezug auf die Musik, vgl. Odo Marquard, „Musik in der Philosophie“,
in: ders., Individuum und Gewaltenteilung, Stuttgart 2004, S. 138 – 144, bes. S. 143 – 144. Hier wollte er,
wenn ich ihn richtig verstehe, ebenso die Endlichkeit des menschlichen Daseins wie den musikalischen
Rhythmus im Leben zur Sprache bringen. Ihm zufolge hat das Leben selbst zwar eine zeitliche Grenze, aber es
hat innerhalb dieser Grenze auch die Fähigkeit, zu musizieren, sich zu erfüllen, wie eine Musik ihre
rhythmische Harmonie mit dem widersprüchlichen Kontrast und der unwiederholbaren Improvisation ausführt.
So sagt er: „Je musikalischer ein philosophischer Text ist, desto menschlicher – endlichkeitsfreundlicher – ist
er. Je menschlicher ein philosophischer Text ist, desto mehr wird er dem Gesichtspunkt der unendlichen
Kostbarkeit der endlichen Zeit gerecht; und er ist umso menschlicher, je mehr er – als Nichtmusik – Musik ist.
Oder kurz gesagt: Je endlicher für die Menschen ihre Zeit ist, desto musikpflichtiger wird ihre Philosophie.“
233
die potenzielle Wahrheitstragfähigkeit des eigenen Gesprächspartners wechselseitig
anzuerkennen. Diese anerkannte Konfrontation mit dem Anderen fördert die gegenseitige
Verstrickung zu Tage und bringt damit zugleich den möglichen Kompromiss zustande.
Insofern kann die menschliche Erfahrung im Bewusstsein der Endlichkeit dem Irrweg der
dogmatischen Abgeschlossenheit, der allgemein-endgültigen Allwissenheit, ausweichen. Aus
dieser hermeneutischen Sichtweise können wir schlußfolgern, dass das Bewusstsein der
Endlichkeit die Möglichkeit der menschlichen Erfahrung nicht mehr ausschließt, sondern stets
den gesamten möglichen Sinnganzheitshorizont offen legt. So lange wir uns selbst unserer
Endlichkeit bewusst sind, erkennen wir, dass das zu Verstehende immer noch übrig geblieben
ist. Dennoch stehen wir bereits zum unerreichbaren Unendlichen, das in der auffälligen
Distanz zu uns erscheint. Aus Gadamers Sicht führt uns die Unerschöpfbarkeit der sachlichen
Wahrheit nicht nur zum Bekenntnis der menschlichen Endlichkeit hin, sondern erschließt uns
als Basis der menschlichen Erfahrung auch den Sinnhorizont, dem wir zugehörig sind, immer
wieder aufs Neue. Das Bewusstsein der Endlichkeit, das um die Unerreichbarkeit der letzten
Wahrheitsdimension weiß, - um es mit dem von Gadamer oft zitierten Ausspruch Sokrates’ zu
sagen: „Wissen um Nichtwissen“, - wird keine Barriere, sondern immer ein motivierender
Grund für die weitere Erfahrung sein. Es bietet sich uns die Möglichkeit, uns auf den offenen
Weg der Erfahrung zu begeben und einen Sprung in das Gespräch mit dem Anderen zu wagen.
In der philosophischen Hermeneutik hat das Wissen um die endliche Bedingtheit
unserer Erfahrung und die endlose Unabschließbarkeit der Wahrheitsdimension die basale
Funktion, uns den immer neu zu verstehenden und auszulegenden Sinnhorizont zu erschließen.
Das Bewusstsein um die Endlichkeit und der daraus folgenden Unmöglichkeit, die letzte
Wahrheit zu finden, führt zu einer offenen Fragestellung. Das Wissen um die prinzipielle
Unvorhersehbarkeit aller menschlichen Erfahrung bildet einen Leitfaden für die Fragen. Der
Fragestellung liegt damit auch das Verhalten zum Anderen zugrunde, das das miteinander
geführte Gespräch bestimmt und eine Antwort erwartet. Das Gespräch, in dem die Frage
gestellt und die Antwort erwartet wird, führt uns vor Augen, dass die Andersheit des Anderen
nicht bloß das Andere des fragenden Eigenen, sondern die ontologische Voraussetzung für
den endlosen Weg zur Erfahrung der sich selbst offenbar machenden Wahrheitssache, zur
Selbstvergewisserung ist. Beim Eintritt ins Gespräch erfahren wir, dass das Andere nicht
mehr ein auf das Eigene reduzierbares, sondern von vornherein mein eigener
Gesprächspartner ist, der auf die Frage antwortet und von dem ich eine Antwort erwarten
kann. Hermeneutisch gesehen, bewahrt die unaufhebbare Andersheit des Anderen im
dialogischen Verhältnis unserer Erfahrung nicht nur seine Besonderheit, sondern bildet sich
234
als Antworthorizont aus und wird damit zugleich zum Fragehorizont. Meine Frage ist hier das
vom Anderen Befragte und erhofft damit zugleich die Antwort des Anderen. Der
Fragehorizont ist eine Sinnerwartung auf die angemessene Antwort und stellt damit zugleich
den vom Anderen erfragten Sinnhorizont dar. In diesem Verhältnis von Frage und Antwort,
das das beantwortete Fragen und das befragte Antworten wechselseitig herbeiführt, erschließt
die Fragestellung zugleich den möglichen Antworthorizont und den neuen Fragehorizont.
Kurzum verweist die Fragestellung, hermeneutisch gesehen, auf den bestimmten Umfang
unserer Erfahrung, d. h. auf eine bestimmte Sinnrichtung und eröffnet auch die mögliche
Antwort, den offenen Spielraum, in dem das potenzielle Einverständnis gefunden werden
muss. Die variable Sinnerschließung des Fragehorizonts im gesamten Verstehensvorgang
betreffend, sagt Gadamer, „[…] ist die Vollzugsweise der Dialektik das Fragen und
Antworten, oder besser, der Durchgang alles Wissens durch die Frage. Fragen heißt ins
Offene stellen. Die Offenheit des Gefragten besteht in dem Nichtfestgelegtsein der
Antwort.“ (GW. 1, S. 369) So gesehen zieht das Fragen nicht nur die Erschließung der
möglichen Antwort, sondern auch das Andersverstehen und deshalb den neuen Sinnhorizont
in Betracht, nämlich dass der tradierte Fremdsinn sich selbst nicht unbedingt ausschließlich
durch die gesamte Rezeptionsgeschichte hindurch aufrecht erhält, sondern in der Begegnung
mit jeder neuen Epoche sich immer wieder neu formiert. Wer beispielsweise eine Geschichte
erzählt, der stellt die Geschichte mit seiner je eigenen Hervorhebung, Überspitzung und
Verdrängung dar. So lange man verstehen will, taucht das Andersverstehen, das neue
Verstehen, immer dann auf, wenn ein anderer Erzähler dieselbe Geschichte darbietet und auch
dann, wenn derselbe Erzähler dieselbe Geschichte erzählt, da seine Erzählung immer schon
nicht nur vom eigenen Interesse abhängt, sondern auch von den narrativen Umständen. Hier
wird die Geschichte immer wieder anders und immer wieder neu verstanden, obwohl sie als
eine geschichtliche Tatsache immer gleich geblieben ist. Eine eigene Frage zu stellen bedeutet
daher, beide Fragehorizonte mit einzubeziehen: Die vom Anderen formulierte Frage und die
unter der gegenwärtigen Fragesituation gestellte Frage. Sie führen nicht nur zur Nachfrage
nach dem Vorhergegangenen, sondern erschließen auch die Andersartigkeit des Verstehens,
die sich immer für das mögliche Neue offen hält. In diesem offenen Spielraum gestaltet sich
das Verstehen immer wieder neu. Noch deutlicher gesagt, muss es anders sein und sich
ständig neu zur Sprache bringen, so lange es existiert. In diesem ständigen Anderswerden
liegt das neue Verständnis, das unter Umständen besser ist.
Die hermeneutische Offenheit ist überdies in Gadamers Hermeneutik eines der
höchsten Prinzipien der dialogischen Verstehenspraxis. Mit dem Bekenntnis der eigenen
235
Endlichkeit verlangt die Offenheit, Gadamers Ansicht zufolge, die Anerkennung des Anderen,
ohne sich dessen Andersheit anzueignen. Aufgrund ihres eigenen Anspruchs an die Offenheit
bleibt die hermeneutische Erfahrung stets für das Andere offen: Sie fordert uns zum einen auf,
für die eigene Sinnerwartung auf die gegebene Antwort offen zu sein und zum anderen für
eine mögliche Antwort offen zu sein. Diesem offenen Erwartungshorizont entsprechend legt
die hermeneutische Offenheit auch einen bestimmten Sinnhorizont offen, d. h. sie setzt sich
dem offenen Sinnfeld aus. Indem die hermeneutische Erfahrung ihre Endlichkeit und ihre
geschichtliche Begrenztheit anerkennt, begibt sie sich unweigerlich in das Verhältnis zum
Anderen hinein, sie macht damit die Erfahrung, dass das Andere einen unvorhersehbaren
Sinngehalt bereits hält. An dieser Stelle lernt sie, für diese potenzielle Andersartigkeit offen
zu sein und mit dieser Offenheit die Sinnerschließung geschehen zu lassen. So eröffnet die
Fragestellung im dialogischen Verhältnis der hermeneutischen Erfahrung, Gadamer zufolge,
eine bestimmte Sinnrichtung. Die Offenheit ist in zweierlei Hinsicht die Bedingung für die
stets existierende Andersheit: Einerseits für das mögliche Andersverstehen bei der
Textinterpretation, andererseits für den anderen Gesprächspartner im Dialog. In der
dialogischen Verstehenspraxis wehrt sich daher die Frage gegen den Weg in die
Sinnentleertheit, in die Sachlage ohne Ausweg. Die Offenheit im Fragen entlarvt auch die
falsche Sinnentstellung, die durch das versteifte Festhalten am Vergangenen und
Verstandeshorizont gestaltet wird, die sich aus der eigensinnigen Vormeinung bzw. aus der
fixierten Voreingenommenheit ergibt. Aus diesem Grund hält sich die Frage in Gadamers
Hermeneutik immer für den sinnvollen Aufschluss des anderen, daher neuen, möglichen
Sinnhorizont offen. „Jede echte Frage“, so Gadamer, „verlangt diese Offenheit.“ (GW. 1, S.
369) Die hermeneutische Offenheit der Frage in der Gesprächssituation hat die konstitutive
Fähigkeit, dass der eine seine dogmatische Eigensinnigkeit aufgibt und sich auf das Gespräch
mit dem Anderen einlässt und dass der Andere seinen Sinnhorizont offen hält.
Von diesem Punkt aus, fordert Gadamers Hermeneutik die Bereitschaft, sich für das
Andere offen zu halten, sich also in die offen bleibende Zukünftigkeit hineinzuversetzen und
immer weiter nach der unerschöpfbaren Wahrheit zu suchen. Diese Bereitschaft, für das
Andere offen zu bleiben, stellt in Gadamers Hermeneutik das höchste Anerkennungsprinzip
dar. Die Offenheit für das Andere bedeutet, auf den Anderen hören zu können und damit
durch den selbstüberprüfenden Lernprozess auch das eigene Möglichsein aufzurollen. 90 Mit
seiner Einsicht in die hermeneutische Offenheit sagt Gadamer: „[…] diese Offenheit ist am
90
Zum Sinnhorizont der hermeneutischen Selbsterkenntnis in der Logik von Frage und Antwort, vgl. Kap. I – 2
Hören auf das Ungesagte, das wir im Gesprächsverhältnis ständig aussagen wollen, vom III. Teil in dieser
Arbeit.
236
Ende nicht nur für den einen da, von dem man sich etwas sagen lassen will. Vielmehr, wer
sich überhaupt etwas sagen lässt, ist auf eine grundsätzliche Weise offen.“ (GW. 1, S. 367) In
Bezug auf diese hermeneutische Offenheit können wir uns auch die Frage stellen, ob die
Offenheit in Gadamers Hermeneutik lediglich eine moralische Forderung ist oder ob sie die
ethische Grundlage für das menschliche Zusammenleben mit einschließt. Die Offenheit stützt
sich, wie wir sahen, auf die wesentliche Anerkennung, dass einer im unabschließbaren
Gesprächsprozess nicht nur auf den Anderen hören muss, sondern auch das Recht des
Verstehenshorizontes des Anderen gelten lassen muss, da stets die Möglichkeit besteht, dass
der Andere das Richtigere zur Sprache bringt und den angemessenen Sinnhorizont aufzeigt.
Mit dieser Anerkennung des Sinnhorizontes des Gesprächspartners ermöglicht die Offenheit
auch, Gadamer zufolge, dass einer seinen Verstehenshorizont ins reflexive Selbstverständnis
im gemeinsamen „Ins–Gespräch–halten“ hineinführen kann, da das Verstehen im Grunde
vom Bekenntnis der existenziellen Endlichkeit des menschlichen Daseins und von der
Unerschöpfbarkeit der letzten Wahrheit ausgeht. Anders gesagt, muss man seinen möglichen
Irrtum, nämlich sein eigenes Missverstehen–Können akzeptieren und deshalb für den Anderen
immer offen sein, sich für das endlose Gespräch offen halten, wenn man seine Endlichkeit,
seine geschichtliche Bedingtheit einsieht und sich dessen bewusst ist, dass der Sinnhorizont
aus der unabschließbaren Sachwahrheit, aus der unauflöslichen Andersheit des Anderen her
immer weiter und anders erschlossen wird. Um den Anderen richtig zu erreichen, um den
Sachverhalt angemessen zu verstehen, müssen wir uns deshalb auf den offenen Spielraum des
miteinander geführten Gesprächs einlassen, das angemessene Wort zu finden versuchen und
den endlosen Weg vom basalen Stützpunkt aus über das Hören der verschiedenen Meinungen
bis hin zur Gemeinsamkeitsbildung gehen. Gadamers Ansicht zufolge ist die hermeneutische
Offenheit nicht nur eine Moralforderung ohne Inhalt, sondern vielmehr bildet sie selbst, die
als hermeneutische Tugend verstanden werden soll, die ethische Grundlage für die
„Bewegung des Anerkennens“ im Dialogverhältnis. „So kommt es am Ende darauf an“, wie
Gadamer sagt, „daß überall Dialog gelingt, und das ist Austausch mit Worten, die gewiß noch
von anderen Momenten begleitet werden, aber im gegenseitigen Austausch immer wieder
Worte finden lassen, durch die man sich verständigen kann.“ 91 Aus diesem Grund kann man
festhalten, dass die Gemeinschaftlichkeit, die der basalen Anerkennung der Menschen
zugrunde liegt, ihre eigene Basis dort findet, wo wir im Dialogverhältnis den Anderen
erreichen und uns selbst gelten lassen. Die gemeinschaftliche Solidarität als die einzige
Grundlage
91
für
das
zwischenmenschliche
Zusammenleben
findet
in
Gadamers
Gadamer, Hermeneutische Entwürfe, S. 53.
237
Dialoghermeneutik nur dort statt, wo das Gespräch zwischen den Menschen in Gang gesetzt
wird und wo der Mensch sich mit dem Bekenntnis seiner eigenen begrenzten Endlichkeit ins
Gespräch einbringt und die Angemessenheit sucht. Mit Gadamers Einsicht in den Aufbau des
sozialen Zusammenlebens durch das Dialogverfahren können wir sagen, dass der Dialog, dem
die Offenheit innewohnt, stets das verständigende Mitgehen mit dem Anderen leitet.
238
II. Die Zirkelbewegung und die Erwartung der Sinnganzheit
Im vorigen Kapitel haben wir der ontologischen Grundlage der menschlichen Erfahrung in
Gadamers Hermeneutik unsere Aufmerksamkeit geschenkt. Da waren für das hermeneutische
Verstehen einerseits die Geschichtlichkeit, die das hermeneutische Bewusstsein in seine
vorstrukturierte Standpunkteingebundenheit einbindet und andererseits die Offenheit, die aus
diesem Bewusstsein der geschichtlichen Endlichkeit folgt, charakteristisch. Aus seiner
geschichtlichen Erfahrung vollzieht sich das menschliche Verstehen im Zwischenraum von
beiden betroffenen Polen, d. h. das Sinnverstehen geschieht immer im Rahmen des
Wechselverhältnisses der beteiligten Komponenten. Von dieser Grundpolarität im
hermeneutischen Verstehen ausgehend, die den Sinnereignischarakter ermöglicht, muss der
grundlegende Anspruch auf gegenseitige Anerkennung in der zwischenmenschlichen
Beziehung mit dem endlosen Zirkel zwischen dem Eigenen und dem Anderen sowie mit dem
ganzen Sinnraum wieder gestartet werden, in dem sich die wechselseitige Bewegung entfaltet
und die gegenseitige Verständigung als Telos dieser Bewegung gesucht wird. Aus dieser
Perspektive heraus werden wir nun der Wechselseitigkeit des Anerkennungsverhältnisses und
dem gesamten Sinnraum, der von der Wechselseitigkeit selbst gefordert und etabliert werden
muss, unsere Aufmerksamkeit zuwenden.
II – 1. Wagnischarakter im Verstehen: Die Hin– und Herbewegung zwischen dem Eigenen
und dem Anderen
Dem hermeneutischen Verstehen ist eine Zirkelstruktur im dynamischen Erfahrungsprozess
eigen, durch den das Unbekannte, das zu Verstehende entdeckt und erfahren werden kann.
Aus hermeneutischer Sicht zeigt sich die Zirkelstruktur als die allgemeine Grundstruktur der
menschlichen Verstehenspraxis, da sich nicht nur die Textinterpretation, sondern auch das
Verstehen als solches im zirkulären Verhältnis bewegt: Die Hermeneutik stellt deshalb fest,
dass sich die menschliche Verstehenspraxis in der zirkulären Interaktionsbeziehung zwischen
den Beteiligten vollzieht. Auf dieser Ebene kann ein reflexiver Überprüfungsprozess
durchgeführt und der eigene Sinnhorizont gewonnen werden. So betrachtet, wird die
Zirkelstruktur zur unentrinnbaren Rahmenbedingung, die die Verstehenspraxis überhaupt erst
möglich macht. Wenn wir uns nun dem Zirkelphänomen in der menschlichen
Verstehenspraxis näher zuwenden, werden wir sehen, dass der jeweilige Sinnentwurf, der
239
jedem Verstehensvorgang zugrunde liegt und auf den der Verstehensprozess bezogen ist,
durch den Zirkel selbst ermöglicht wird, indem im freien Spielraum sämtliche Möglichkeiten
von den interaktiv beteiligten Perspektiven selbst hergestellt werden. Der hermeneutische
Zirkel, der als „die hermeneutische Regel“ in der romantischen Hermeneutik bezeichnet
wurde, wurde Gadamers Ansicht zufolge, bereits in der antiken Rhetorik als die Hin– und
Herbewegung zwischen dem Ganzen und dem Teil im jeweiligen Verstehensakt erklärt. (GW.
1, S. 179) Dies besagt: Man muss das Ganze vorher verstehen, wenn man das Teil verstehen
will. Und umgekehrt muss man das Teil vorher verstehen, wenn man das Ganze verstehen
will. Da das ‚Vorher’ hier nicht nur die logische und zeitliche Vorweggenommenheit im
Verstehensvorgang, sondern auch das ontologische Primat des menschlichen Verstehensaktes
impliziert, ist der hermeneutische Zirkel aus hermeneutischer Sicht endlos und unauflösbar.
Dennoch ist auch klar, dass die zirkuläre Unendlichkeit selbst eine Produktivität in dem Sinn
aufweist, dass sich das Verstehen im Zwischenraum des wechselseitig ineinander Übergehens,
sozusagen im interpersonalen Spannungsfeld zwischen den Dialogteilnehmern, jeweils neu
bildet. Schleiermacher machte schon den unendlichen Zirkelcharakter des menschlichen
Verstehensaktes bewusst, obwohl er die Unauflösbarkeit der Zirkelbewegung im
Verstehensprozess mit dem Postulat des wissenschaftlichen Wissens, eines so genannten
objektivierbaren Wissens, überwinden wollte. Er sagt: „Auch innerhalb einer einzelnen
Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muss deshalb eine
kursorische Lesung, um einen Überblick des Ganzen zu erhalten, der genaueren Auslegung
vorangehen.“ 92 Demzufolge durchläuft die menschliche Verstehenspraxis im Textverstehen
den zirkulären Erfahrungsprozess vom Vorabentwurf einer Sinnganzheit über die Erprobung
der Antizipationsdimension zur anvisierten Übereinstimmung. In der interaktiven
Zirkelbewegung bringen wir also unsere Vorannahme in die gesamte Sinnbewegung ein und
suchen nach einer Übereinstimmung, die in jeder vorläufigen Phase der hermeneutischen
Erfahrung erwartet wird.
Bevor ich in Gadamers intersubjektive Anerkennungsstruktur der Zirkelbewegung der
menschlichen Erfahrungen einführe, möchte ich zunächst kurz Heideggers Auffassung von
der Zirkelstruktur als existenzieller Seinsweise des Daseins skizzieren. Bei Heidegger ist die
hermeneutische Zirkularität nicht circulus vitiosus, formallogisch betrachtet der mangelhafte
Zirkel, sondern sie gewinnt einen „ontologisch positiven Sinn.“ (GW. 1, S. 271) Gadamer
92
Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 97. Sein Postulat des vollkommen wissenschaftlichen Wissens
würde auffallen, wenn wir hier andere Textstellen einführten. Diesbezüglich sagt er: „Überall ist das
vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreisen, daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen
Teil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt. Und jedes Wissen ist nur wissenschaftlich, wenn es so
gebildet ist.“ Ebd. S. 95.
240
zufolge hat Heidegger in seiner Existenzialhermeneutik die Zirkelbewegung im Verstehen
erstmals als die Grundstruktur des Sich–Verstehens und des Sich–Auslegens des
menschlichen Daseins aufgefasst. Wenn wir hier im Hinblick auf die Zirkelstruktur z. B. die
Begründungsproblematik in der formalen Beweisführung der Logik ins Auge fassen, dann hat
die Begründung in der logischen Denkform selbst einen logischen Mangel, d. h. den
schlechten Zirkel zwischen Begründendem und dem Begründeten. Das bedeutet: Um zu
begründen, wird hier das Begründende, wie Hegel bereits sah, vom Begründeten als das
Begründende bewiesen. In diesem Fall ist das Begründete selbst das Begründende gegenüber
seinem Begründenden. Mit anderen Worten: Im schlechten Zirkel wird das Begründende vom
Begründeten begründet. Und umgekehrt kann das Begründete ohne das Begründende auf
keinen Fall zuvor begründet werden, da das Begründete als das zu Begründende nur vom
Begründenden begründet werden kann.
Damit gilt die logische Zirkelform, formallogisch betrachtet, als Fehler, als Mangel,
der deshalb logisch überwunden werden muss. Aber bei Heidegger ist die hermeneutische
Zirkularität kein logischer Fehlschluss, sondern die unentrinnbare ontologische Struktur des
Verstehens. In der Hermeneutik geht es deshalb nicht darum, wie der Zirkel im logischen
Beweisgang vermieden werden kann, sondern es handelt sich darum, wie wir als Verstehende
mit der Zirkelstruktur als „Struktur des Sinnes“ 93 in der richtigen, produktiven Weise
umgehen können. Diese unaufhebbare Zirkelstruktur des Verstehens betreffend sagt
Heidegger: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der
rechten Weise hineinzukommen. Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich
eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor–
Struktur des Daseins selbst.“ 94 Heideggers Ansicht zufolge hat das menschliche Dasein
überhaupt „eine ontologische Zirkelstruktur,“
95
da es sich mit der vorstrukturierten
Geworfenheit auf seine Zukünftigkeit entwirft und es sich im Rückzug zu seinem
Geworfensein auslegt: Das Dasein ist existenziell in diese Zirkelbewegung von Geworfenheit
und Entworfenheit eingebettet, so lange wie es sich um seine Seinsmöglichkeit sorgt. Die
Zirkelstruktur im Verstehen gilt Heidegger mithin nicht als circulus vitiosus, sondern als die
einzige Zugangsmöglichkeit zur Welt, sofern das Dasein im Grunde das In–der–Welt–Sein ist.
In Gadamers Hermeneutik steht die Zirkelstruktur des Verstehens zunächst näher an
der hermeneutischen Tradition, gewissermaßen näher an Schleiermachers Auffassung von der
Zirkularität in der Textinterpretation, während die Zirkelformel bei Heidegger die
93
Heidegger, Sein und Zeit, S. 153.
Ebd.
95
Ebd.
94
241
Konsequenz der ontologischen Analytik des existenziellen Daseins ist. Heidegger richtet
seinen Blick grundsätzlich auf die existenzielle Sorgestruktur des menschlichen Daseins. Aus
seiner Sicht betrachtet, liegt das Dasein als das Selbstverständnis im Zirkel zwischen der
Verborgenheit und der Entworfenheit. Bei Heidegger wird dieser Zirkel deshalb als die
Seinsstruktur des menschlichen Daseins, das sich selbst versteht und sich selbst auslegt,
bezeichnet: Das Dasein lässt sich selbst mit dem voreingenommenen Selbstentwurf auf seine
Seinsmöglichkeit ein und setzt hier die Verständlichkeit seines Selbstentwurfs voraus.
Gleichzeitig führt das Selbstverständnis des Daseins auf die Selbstauslegung zurück. Die
Selbstverständlichkeit bestätigt sich deshalb durch das zum Geworfensein zurückkehrende
Auslegen, d. h. sie bildet sich selbst nur in diesem Auslegen. Gadamer nimmt zwar
Heideggers Grundeinsicht in die ontologische Zirkelstruktur der Seinsweise des menschlichen
Daseins auf, aber geht zunächst von der allgemeinen Zirkelbewegung im Textverstehen aus
und rückt dabei auch die universale Zirkelbewegung in der dialogischen Verstehensweise,
sozusagen den unendlichen Austausch von der Rede und der Gegenrede, ins Zentrum. Anders
gesagt, steht Gadamer unter dem Einfluss der Heideggerschen Grundidee, dass die
ontologische Zirkelstruktur des menschlichen Daseins die unaufhebbare Grundstruktur des
Verstehens sei und wir ihr deshalb nie entrinnen können. Gadamers Einsicht beharrt jedoch
darauf, dass das zirkuläre Hin und Her im hermeneutischen Verstehen ein dialogisches
Sinnfeld etabliert, in dem der freie Verhaltensspielraum von den Beteiligten am Gespräch
durch den Rollentausch zwischen dem Sprechen und dem Hören offen gelassen wird. Man
kann sagen, dass die Zirkularität im Verstehensvorgang in Gadamers Dialoghermeneutik im
Prinzip der Grundmodus der menschlichen Erfahrung, sozusagen die zwischenräumliche
Wechselseitigkeit ist: Wenn seine Hermeneutik ihre Aufgabe im Verstehen des Anderen sieht
und wenn dieses Verstehen sein Grundelement im dialogischen Verstehensmodell findet, lässt
sich die Zirkelbewegung selbst über die Zirkulation im Textverstehen hinaus auf das
praktische Gesprächsverhältnis übertragen, in dem sich die vernetzte Sinnganzheit des
lebensweltlichen Verständigungsversuches bewegt. Innerhalb dieser zirkulären Hin- und
Herbewegung bezieht sich das Verstehen einerseits auf die je eigene Antizipation von Sinn
und andererseits auf den Ansprechpartner: In diesem oszillierenden Bezugsfeld treten seine
inneren Tiefenschichten hervor. Von daher ermöglicht das gesamte Sinnnetzwerk nunmehr
nicht nur die angemessene Distanzhaltung zum Anderen, sondern es bildet auch das jeweilige
Einverständnis zwischen den Beteiligten aus. Die hermeneutische Zirkularität in Gadamers
Hermeneutik hat m. E. deshalb nicht nur mit dem „Wagnischarakter“ des menschlichen
Verstehens zu tun, sondern sie zeigt sich auch als das gesamte Sinnfeld von „Verbindlichkeit
242
und Freiheit,“ 96 von teilnehmendem Bezugspunkt und freier Eigenartigkeit in jedem
Verstehensvorgang.
An dieser Stelle fasst Gadamer den Horizont der Sinnganzheit als einen
leitmotivischen Wegweiser für die wechselseitige Zirkelbewegung in der menschlichen
Erfahrung ins Auge. Auf dem Weg von der vorstrukturierten Sinnerwartung zur Entdeckung
eines neuen Sinns, also auf dem Weg der Erprobung dieser Sinnvorentwürfe mit dem
ständigen Blick auf eine jeweilige Sinnganzheit, d. h. auf den vorläufigen Sinnvollzug,
erarbeitet das Verstehen einen Sinnhorizont, den es permanent erweitert. Das bedeutet: Die
menschliche Verstehenspraxis richtet sich ständig in der hin- und herbewegenden Zirkulation
auf das zu Verstehende, aber sie kehrt mit dem Verstandenen zugleich auch zum eigenen
Sinnhorizont zurück. In diesem Kreislauf verändert und erweitert sich ihr Sinnhorizont. Im
Hinblick auf die innere Selbstbildung einer Sinnganzheit in der hermeneutischen
Zirkelbewegung sagt Gadamer: „So läuft die Bewegung des Verstehens stets vom Ganzen
zum Teil und zurück zum Ganzen. Die Aufgabe ist, in konzentrischen Kreisen die Einheit des
verstandenen Sinnes zu erweitern. Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen ist das
jeweilige Kriterium für die Richtigkeit des Verstehens.“ (GW. 1, S. 296, meine Hervorhebung)
Mit diesen Sätzen sieht Gadamer in der hermeneutischen Aufgabe nicht nur die Erweiterung
zu einem Horizont von Sinnganzheit, sondern es wird auch deutlich, dass Gadamer aus der
sich wechselseitig bedingenden Zirkulation das Wahrheitskriterium für das Verstehen
herauszufinden versucht. Seiner Ansicht nach soll sich die endlose Wahrheitssuche einerseits
an dem vorübergehenden Sinnvollzug, andererseits an den vorläufig von uns gestalteten
Sinnentwürfen abarbeiten. Gleichzeitig wird mit Gadamers Hermeneutik deutlich, dass auf
ein allgemeingültiges, von den jeweiligen Perspektiven unabhängiges Wahrheitskriterium als
solches verzichtet werden muss. Wir können uns hier Gadamers kritische Auseinandersetzung
mit dem Objektivismus und dem Fortschrittsglauben in Erinnerung rufen. In dieser Kritik
Gadamers wurde der Maßstab für ein Urteil, das auf jeden Fall ewig wiederholbar und
allgemeingültig sein sollte, infrage gestellt. Im Verstehensprozess verzichtet Gadamer auf
dieses Wahrheitskriterium. 97 Aber er sieht das „jeweilige“ Kriterium auf unserer unendlichen
Wahrheitssuche darin, dass es auf jeder vorläufigen Stufe zu einer Übereinstimmung
zwischen den am Verstehensprozess Beteiligten kommt. Gadamers Ansicht zufolge verweist
dieses Kriterium in der hermeneutischen Zirkelbewegung darauf, dass es sich selbst im Hin
96
Zur hermeneutischen Zirkelstruktur als einem freien Spielraum der Interpretationen. Vgl. G. Figal, Für eine
Philosophie von Freiheit und Streit. Politik – Ästhetik – Metaphysik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 7 – 19, hier
bes. S. 11.
97
Zum Problem des Wahrheitskriteriums vom Gesichtspunkt der hermeneutischen Wahrheit aus betrachtet. Vgl.
J. Grondin, Hermeneutische Wahrheit?, S. 176 – 180.
243
und Her des dialogischen Verstehensvorgangs befindet. Darüber hinaus machen die geltenden
und gestaltenden Regeln ihren Anspruch im prozessualen Verfahren, d. h. in ihrer
Anwendung auf die alltägliche Lebenswelt, geltend. Die Wahrheits– und die Welterfahrung
kommen weder durch das vorbestimmte Wahrheitskriterium für das Urteil, noch durch die
vorgegebenen Handlungskategorien zustande, sondern werden aus der geschichtlichen
Verstehenspraxis gewonnen, in deren Licht die konventionellen Sitten und die
gesellschaftlichen Spielregeln ständig auf die lebensweltlichen Lebenszusammenhänge als
dem lebendigen Sinnraum angewendet und zugleich mit dieser Anwendung immer neu
wirksam werden. Indem die sich stets entwickelnde Wahrheitssuche im lebendigen Sinnraum
für die Konzeption der hermeneutischen Wahrheit charakteristisch ist, bleibt „die
Wahrheitsmöglichkeit“, mit Gadamers Worten, immer „in der Schwebe – solches In–die–
Schwebe–bringen ist das eigene und ursprüngliche Wesen des Fragens.“ (GW. 1, S. 380)
Im Anschluss an Gadamers Einsicht in diesen wechselseitigen Dialograhmen können
wir nunmehr das intersubjektive Anerkennungsverhältnis im endlosen Zirkel zwischen Ich
und Du in unsere Diskussion mit einbeziehen. Die hermeneutische Zirkelbewegung als solche
zeigt sich als Ausbildung eines Sinnhorizontes im Dialogverhältnis von Frage und Antwort.
Dieses Hin und Her der dialogischen Frage–Antwort–Beziehung impliziert geradezu die
wechselseitige Zirkelbewegung der zwischenmenschlichen Anerkennung, in deren Beziehung
jeder die Distanz zu seinem Anderen erfährt und den Anderen als seinen Gesprächspartner
annimmt. Anders formuliert, entsteht die wechselseitige Anerkennungsbeziehung aus der
intersubjektiven Zirkelstruktur, also aus der dialogischen Verkehrsform. In der dialogischen
Zirkelbewegung der wechselseitigen Anerkennung gelangt jeder Beteiligte zunächst und
unmittelbar zu der Erkenntnis der Differenz zu seinem Anderen. Somit erfährt er auch, dass
sein Anderer immer als Auslöser für seine eigene Reaktion in dieser gegenseitig
verflochtenen Handlungsbeziehung agiert. Im Hinblick auf die Erfahrung der Distanz
voneinander und auf die anerkennende Annahme des Anderen als Anderer ist der Andere
nicht mehr ein aufzuhebender Bestandteil in der zirkulären Anerkennungsbewegung, sondern
er besitzt einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert in der möglichen Erfahrung der
intersubjektiven Anerkennung. So gesehen führt die Erfahrung des Anderen zum
Eingeständnis der eigenen Grenzen aller Beteiligten, da sich das Bewusstsein vom Anderen
im miteinander verschränkten Zirkel einerseits auf die unaufhebbare Andersheit des Anderen,
nämlich auf die unauflösliche Distanz stützt, und andererseits jedem Beteiligten dadurch die
Selbstbesinnung auf seine Eigenheit ermöglicht. Die Zirkelbewegung der intersubjektiven
Anerkennung bewegt sich in dieser endlosen Wechselseitigkeit zwischen der unaufhebbaren
244
Distanz und der einverständlichen Anerkennung des mitspielenden Anderen. So gesehen
macht die intersubjektive Zirkelbewegung den ganzen Sinnraum des wechselseitigen
Anerkennungsverhältnisses aus.
Der Spielraum im Hin und Her des dialogischen Austauschs bietet die Möglichkeit,
sich auf den Fremdsinn zu beziehen und sich zum Anderen zu verhalten. Auf diesem
Bezugspunkt bauen wir auch die Hoffnung auf die potenzielle Übereinstimmung in dem Im–
Gespräch–halten auf. Indem unsere Verstehenspraxis in der ständigen Zirkulation in Bezug
auf den wahrheitstragfähigen Sachsinn nicht nur auf den Anderen angewiesen ist, sondern
auch ihren eigenen Sinnhorizont ständig neu erschließt, gewinnt sie auch den nötigen
Freiraum, sich auf den oszillierenden Prozess von Gegensätzlichkeit und gegenseitiger
Verflechtung einzulassen und zu einer möglichen Gemeinsamkeit auf der endlosen
Wahrheitssuche, die durch die interaktive Beziehung zustande kommt, zu gelangen. Hier wird
deutlich, dass das hermeneutische Verstehen in diesem Bewusstsein des gegenseitigen
Angewiesenseins einem einheitlichen Sinnganzheitshorizont näher kommt. Dementsprechend
kann Gadamers Einsicht in die hermeneutische Zirkelbewegung durchaus als die
„>>holistischere<< Auffassung des Verstehens“
98
bezeichnet werden. In Gadamers
Hermeneutik bildet der vorgreifende Sinnentwurf der Sinnganzheit jedoch keinesfalls das
abgeschlossene Ende, sondern diese Sinnganzheit tritt der jeweiligen Verstehenslage
entsprechend immer wieder neu in Erscheinung. Hierbei ist darauf zu achten, dass die
Ganzheit in Gadamers Hermeneutik ein offenes Ganzes ist. Es liegt für Gadamer auf der Hand,
„daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses
dauerhaft bestimmt bleibt. Der Zirkel von Ganzem und Teil wird im vollendeten Verstehen
nicht zur Auflösung gebracht, sondern im Gegenteil am eigentlichsten vollzogen.“ (GW. 1, S.
298) So gesehen sind wir immer schon in die zirkuläre Sinnbewegung der wechselseitigen
Wirkung eingebettet und finden zugleich durch unsere Selbsteinstellung zu dieser Hin und
Herbewegung das vorläufige Sinnganze. Aus hermeneutischer Sicht befindet sich der
Sachverhalt selbst nur in unserem begrenzten Blickwinkel: Unsere Perspektive ist von
vornherein auf einen bestimmten Standpunkt beschränkt, sofern unser Sehen in eine
bestimmte Blickrichtung mit dem Sachverhalt konfrontiert ist. Durch diese Teilnahme an der
zirkulären Gesamtsinnbewegung vollzieht sich das Verstehen, Gadamers Ansicht zufolge,
„am eigentlichsten.“ Hierin hat der hermeneutische Sinnvollzug, der sich in der ständigen
Zirkelbewegung als dem freien Verhaltensspielraum von Eigenem und Anderem auftut, seine
jeweilige Eigenheit.
98
Ders., Einführung zu Gadamer, S. 131.
245
Die bisherigen Überlegungen hier zusammengefasst, findet unsere Verstehenspraxis in
einer notwendigen Zirkelbewegung statt. Anders formuliert, bewegt sie sich im gesamten
Sinnnetzwerk, an das die Beteiligten dialogisch und intersubjektiv gebunden sind. Das
intersubjektive Zirkelverhältnis prägt den dialogischen Zwischenraum, in dem wir die Distanz
zum Anderen erkennen und zu der Verbindlichkeit, die auf dieser Erkenntnis beruht, gelangen.
Demzufolge
bewahrt
die
menschliche
Verstehenspraxis
beständig
das
zirkuläre
Wechselverhältnis auf ihrem ganzen Weg von der Einstellung des Erwartungshorizontes über
die Explikation des Verstandenen zur Überprüfung vom Verstandenen im sich bildenden
Verstehensprozess,
so
lange
wie
sie
sich
ihren
Weg
mit
dem
vorgreifenden
Sinnerwartungshorizont bahnt. Die zirkuläre Hin- und Herbewegung ist daher, wie Gadamer
sagt, „ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens.“ (GW. 1, S. 298 – 299) Davon
abgesehen tritt unsere Verstehenspraxis deshalb ins Gespräch mit dem Anderen ein, weil sie
vom Sinnerwartungshorizont, sozusagen von der Hoffnung auf das Einverständnis, die bei
Gadamer begrifflich als „Vorgriff der Vollkommenheit“ bezeichnet wurde, ausgeht. In diesem
Ins–Gespräch–eintreten zeigt sich die Konfrontation des Sinnerwartungshorizontes mit dem
wahrheitstragfähigen Sinngehalt auch als ein zirkulärer Horizont einer Sinnganzheit. Um zu
einer Übereinstimmung im endlosen Zirkel zu gelangen, muss sie das Vertrauen zur
vollkommenen Wahrheit des Fremdsinnes, sozusagen zum auffordernden Wahrheitsanspruch
des Anderen, vorweg nehmen. Denn der Andere hat seinen Anteil an diesem Sinnfeld des zu
Verstehenden und spielt eine mitkonstitutive Rolle. Nur in dieser wechselseitig aufeinander
wirkenden Zirkelbewegung kann unsere Verstehenspraxis das Missverständnis, sozusagen die
dogmatische Naivität, dauerhaft überwinden und vermeiden. So gesehen, konstruiert die
hermeneutische Zirkelbewegung selbst im gesamten Bildungsprozess einen zirkulären
Sinnganzheitshorizont, in dem die Beteiligten aufeinander treffen, sich zueinander verhalten
und miteinander eine Übereinstimmung in der Sache suchen.
246
II – 2. Der Sinnhorizont der Erwartung auf den Sinnvollzug
Gadamer hat der hermeneutischen Zirkularität zunächst seinen eigenen Begriff , nämlich den
„Vorgriff der Vollkommenheit“ gegeben. Damit versucht er den Sinnhorizont der
Wahrheitserwartung im Gefüge der hermeneutischen Zirkelbewegung sichtbar zu machen.
Aus der hermeneutischen Zirkelbewegung betrachtet, umschließt die Vollkommenheit
begrifflich die Vollständigkeit einer Sinnganzheit, gewissermaßen den Möglichkeitshorizont
der vollkommenen Wahrheit, den der, der verstehen will, als das Telos des Verstehens
beständig anstrebt. Wenn die Vollkommenheit als Beziehung zwischen dem Ganzen und
seinem Teil betrachtet wird, soll sie das Teil nicht übrig lassen, sondern so in sich aufnehmen,
dass es im Rahmen eines Sinngefüges integriert ist. Wenn Gadamer von der
„Vollkommenheit“, d. h. vom Sinnvollzug im Verstehen spricht, steht seine Einsicht zunächst
unter folgender Perspektive: Der Wahrheitssuchende besinnt sich auf die Unerreichbarkeit
eines vollendeten Letzten, wird sich also seiner Endlichkeit bewusst. Trotz dieser Erfahrung
hält er jedoch an der inneren Tendenz zur Vervollkommnung, d. h. am unendlichen Streben,
das dem vollständigen Unendlichen, nämlich der vollkommenen Wahrheit näher kommen will,
fest. Der Entwurf einer Vollkommenheit des Sinns hat damit eine steuernde Funktion im
interaktiven Verstehensvorgang, da er die Sinnrichtung bestimmt, d. h. der Verstehenspraxis
eine
ursprüngliche
Motivation
verleiht.
In
der
Erwartung
einer
vollkommenen
Übereinstimmung spielt der Entwurf deshalb auch die Rolle eines motivierenden
Anfangspunktes. Daran anschließend hat die vorgreifende Sinnerwartung an die Sinnerfüllung
hier mit dem hermeneutischen Bewusstsein von der Endlichkeit zu tun. Bei dem Vorgriff auf
die Vollkommenheit handelt es sich jedoch um keine so genannte transzendentale
Kontrollinstanz, nach der ein vorher bestimmtes Ziel gesetzt wird, sondern sie bezieht sich in
Gadamers Hermeneutik auf den Erwartungshorizont des Wahrheitssuchenden, nämlich seine
Teilnahme am Wahrheitsgeschehen. Dem Wahrheitssuchenden steht stets die vollkommene
Sinnganzheit, der Vorgriff auf die Wahrheit, gegenüber. Mit diesem Vertrauen in das
Wahrheitsgeschehen begeben wir uns mitten in die hermeneutische Anstrengung hinein,
verstehen zu wollen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die erwünschte Wahrheit,
die prinzipiell unerreichbar, aber ständig im Auge behalten werden soll, „das Sein zur
Wahrheit“ als die nötige Voraussetzung für die Verstehenspraxis ist. 99 Nun hoffe ich im
Folgenden, dass wir einige Antworten auf die Frage finden können, welche Rolle der Vorgriff
der Vollkommenheit bei Gadamer in Bezug auf die hermeneutische Wahrheitsfrage spielt, da
99
Ders., Hermeneutische Wahrheit?, S. 139ff.
247
die Rede von der Vollkommenheit die „regulative Idee“ für das richtige Verstehen oder die
Idee von der Vollendung der Wissenschaften in sich zu verbergen scheint. Dies widerspräche
jedoch der These, die hermeneutische Wahrheitsfrage sei von vornherein von der Kritik am
Ideal der Wissenschaftlichkeit, der fundamentalen Subjektivität, ausgegangen. Wohin also
führt der vorgreifende Erwartungshorizont, der von jedem Beteiligten im dialogischen
Wechselspiel aufgestellt wird?
Zunächst will ich auf den Wahrheitsbegriff in Gadamers Hermeneutik zurückkommen,
bei dem vor allem darauf zu achten ist, dass seine Freilegung der Wahrheitsfrage einen
musterhaften Modus der Normenbildung als Handlungswegweiser in der geschichtlichen
Auseinandersetzung mit den überlieferten Konventionen umfasst. Die hermeneutische
Wahrheit ist, wie wir bereits sahen, eine geschichtliche. Aus hermeneutischer Sicht verändert
sich der Wahrheitsbegriff selbst unter den geschichtlichen Bedingungen, in deren Verlauf wir
als beständige Wahrheitssuchende unsere Erfahrungen machen und uns selbst bilden. Aus
dieser hermeneutischen Einsicht in die Geschichtsabhängigkeit der menschlichen Erfahrungen
heraus betrachtet, ist der Wahrheitsanspruch der geschichtlichen Überlieferung und des
Anderen für jede sinnvolle Verstehenspraxis unentbehrlich. Indem die Wahrheit als solche
nunmehr auf die Geschichtlichkeit als ihre Bedingung verwiesen ist, ist sie nicht mehr ein
ewig Selbiges, die vordefinitive Allgemeingültigkeit oder der demonstrative Anspruch auf
den vorbestimmten Endzweck, sondern sie hält mit dem geschichtlichen Wandel Schritt. Die
beständige Annäherung an den Sinnvollzug, an das Wahrheitsgeschehen, erhebt deshalb nicht
mehr das Postulat auf einen letzten Konsens, da dieser selbst eine endgültige Korrespondenz
voraussetzen würde und damit auch auf der Grundlage des regulativen Prinzips die
systematische Einheit der vielfältigen Erkenntnisformen aufzubauen versuchen würde. Mit
Apel gesagt, hat die „regulative Idee“, die er im Anschluss an Kant und Peirce unter seiner
Konzeption der „transzendentalen Hermeneutik“ in den Vordergrund rückt, in der idealen
Sprachgemeinschaft ihre normative Kraft. Und sie setzt sich zu ihrem Ziel, dass das bessere,
richtigere Verstehen, nämlich das „kreative“ Verstehen geleitet, garantiert und die Wahrheit
transparent vor Augen geführt werden soll. Die regulative Idee fungiert in ihrer
transzendentalen
Hermeneutik
deshalb
als
ein
Grundelement
der
zweckmäßigen
Verständigung. Bei ihr kommt es grundsätzlich darauf an, einen normativen Prüfstein für die
Richtigkeit bereitzustellen. 100 Die hermeneutische Erfahrung hingegen ist aus Gadamers Sicht
100
Apel hat mit seinem kritischen Vorwurf gegen Gadamer versucht, die hermeneutische Verstehenspraxis am
Leitfaden der regulativen Idee, die eine völlige Übereinstimmung mit der idealen Sprachgemeinschaft bilden
muss, zu gewährleisten. Hierbei bewegt sich das Ideal des Fortschritts der Verstehenspraxis zum letzten
Zweck, den man fast eine ideale Utopie nennen könnte, in seiner Konzeption mit. Später hat er allerdings
selbst seine frühere Konzeption leicht verändert und dabei betont, dass die regulative Idee für eine normative
248
von
den
geschichtlichen
Kontexten
abhängig.
Aufgrund
ihrer
interaktiven
Kontextabhängigkeit hört die menschliche Verstehenspraxis auf, die letztbegründete
Bedingung für eine endgültige Wahrheit zu garantieren und eine solche vorher bestimmte
Teleologie zu verfolgen. Aus hermeneutischer Sicht bringt die Wahrheit sich vielmehr selbst
unter den sich ständig verändernden Situationen zur Sprache. Sie wird damit zu einem
geschichtlichen Produkt, da der hermeneutische Wahrheitsbegriff seine geschichtliche
Vermitteltheit und das produktive Wahrheitsmoment des Andersverstehens im endlosen
Verlauf
der
menschlichen
Geschichte
anerkennt.
Eine
solche
hermeneutische
Wahrheitsauffassung ist geradezu mit der Anerkennung der unabschließbaren Erschließung
der Sinnpotenzen im offenen Verstehensprozess verknüpft. Die Offenheit für künftige
Sinnmöglichkeiten und die notwendige Erwartung eines Wahrheitsgeschehens orientieren
sich nicht mehr an einem bestimmten Vorgegebenen, auf das sich alle Verstehensvorgänge
reduzieren, sondern sie finden und arbeiten durch die jeweilige Konfrontation mit dem
geschichtlich Vorgegebenen das vorläufige Wahrheitsmoment heraus, das die orientierende
Handlungsnormenbildung diachron in der interaktiven Auseinandersetzungen und synchron
im intersubjektiven Anerkennungsverhältnis gewährleistet.
Gadamers Einsicht in den Vorgriff der Vollkommenheit hat entscheidend zu dieser
hermeneutischen Wahrheitskonzeption beigetragen. In der hermeneutischen Anstrengung der
Suche nach der Wahrheit, dem Sinnganzen, zeigt sich der Wahrheitsbezug im gesamten
Verstehensvorgang als jeweils gleichbleibend: Einerseits die Verlässlichkeit auf den
gemeinten Sinn, nämlich das Vertrauen auf den Wahrheitsanspruch des Anderen, andererseits
der eigene Erwartungshorizont des Verstehenden. Diese beiden Komponenten schließen
bereits auch die Voraussetzung für den Sinnvollzugs mit ein, der sich selbst ins Spiel bringt.
Hier können wir uns diese Struktur anhand einer alltäglichen Gesprächssituation
verdeutlichen. Damit ich die Schilderung eines Anderen, meines Gesprächspartners, verstehen
und ein Gespräch mit ihm führen kann, muss ich von vornherein darauf vertrauen, dass er der
Sache nach die Wahrheit sagt und übermittelt. Damit erkenne ich an, dass er zumindest in
diesem bestimmten Fall der Sache näher gestanden hat, wenn ich an dieser Geschichte selbst
nicht beteiligt bin. Mit dieser Erwartung an die Verlässlichkeit des Anderen kann ich nun
meinen Entwurf eines Sinnhorizontes entwickeln. Mit anderen Worten: Ich muss mit meinem
Blick nun einen Wahrheitshorizont entwerfen, der mir für jede Phase des Verstehens das
Hermeneutik ein „nötiges und notwendiges Postulat“ sei, deshalb keinesfalls auf eine „Utopie der völligen
Transparenz“ abziele. Vgl. Apel, Transformation der Philosophie I, S. 52 – 76 und ders., „Regulative Ideen
oder Wahrheits–Geschehen? – Zu Gadamers Versuch, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit
gültigen Verstehens zu beantworten“, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendental–
pragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 2002, S. 571 – 588.
249
Leitmotiv
gibt.
Ohne
die
vorausgesetzte
Verlässlichkeit
hinsichtlich
meines
Gesprächspartners kann die gesuchte Verständigung im Gespräch nicht zustande kommen.
Denn ein Verdacht gegenüber dem Gesprächspartner führt notwendig zum Abbruch des
Gesprächs,
zur
Gesprächsverweigerung.
Ganz
anders
ist
es,
wenn
wir
seinem
Wahrheitsanspruch vertrauen. Unter dieser Voraussetzung können wir das Gespräch nicht
verweigern, weil wir in eine bestimmte Gesprächssituation eingebettet sind. Denn die
Gesprächssituation selbst zwingt uns bereits zum Sprechen und Hören. Andernfalls wäre die
Beurteilung, ob die Darbietung meines Gesprächspartners richtig oder falsch ist, unmöglich,
wenn ich an der Erzählung von der erfahrenen Geschichte meines Gesprächspartners weder
teilnehmen, noch die Sachwahrheit herausfinden wollte, die sich nur im Prozess des
Gesprächs herstellt und offen gelegt werden kann. Die mögliche Einschätzung der Richtigkeit
des Verstehens kann, hermeneutisch betrachtet, nur in dem vielschichtigen Gesprächsprozess,
der selbst die Geschichte der eigenen Erfahrung bildet, gefunden werden. So gesehen muss
ich meinem Gesprächspartner die Verlässlichkeit zubilligen und meinen vorausgesetzten
Sinnvorentwurf aufs Spiel setzen, so lange ich verstehen will, was mein Gesprächspartner
gesagt hat und sagen will. Denn die Bereitschaft, sich auf den Anderen einzulassen, sich ins
Gespräch mit dem Anderen hineinzuversetzen und dabei zu bleiben, ist die einzige
Möglichkeit für die menschliche Verstehenspraxis. Mit dieser offenen Bereitschaft müssen
wir deshalb, Gadamer zufolge, auf die Wahrheit warten und uns immer für das sich offenbar
machende Wahrheitsgeschehen offen halten. Seiner Ansicht nach sind wir immer schon im
freien Spielraum, wenn wir die Wahrheit suchen und mit der Sachwahrheit umgehen.
Auf diese Wahrheitserwartung, unsere Wahrheitssuche, bezieht sich der Vorgriff der
Vollkommenheit in Gadamers Hermeneutik. Der Vorgriff der Vollkommenheit als der
erwünschte Wahrheitshorizont ist in Gadamers Augen eine leitmotivische Sinnrichtung im
Zugang zur Welt, unter der die Verstehenspraxis stattfindet und sich ihren Weg bahnt. „Der
Vorgriff der Vollkommenheit“, wie Gadamer sagt, „der all unser Verstehen leitet, erweist sich
mithin selber als ein jeweils inhaltlich bestimmter. Es wird nicht nur eine immanente
Sinneinheit vorausgesetzt, die dem Lesenden die Führung gibt, sondern das Verständnis des
Lesers wird auch ständig von transzendenten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem
Verhältnis zur Wahrheit des Gemeinten entspringen.“ (GW. 1, S. 299, meine Hervorhebung)
Hier müssen wir besonders darauf achten, dass Gadamer in dieser Passage nicht von
„transzendental“, wie im Falle O. Apels, sondern von „transzendent“ spricht. Hier liegt
Gadamers Intention m. E. nicht in der exakten Erstellung transzendentaler Begriffe,
sozusagen der apriorischen Kategorien, die Kant als die „Bedingungen der Möglichkeit“ der
250
Erfahrung gelten, 101 sondern er weist mit dem eigenen Begriffsgebrauch „transzendent“ auf
den leitenden und motivierenden Horizont einer Sinnerwartung hin, der immer über uns
hinausgeht und uns zum anstrengenden Umgang mit dem wahrheitstragfähigen Sachverhalt
veranlasst. Diese transzendente Sinnerwartung ist bei Gadamer im Prinzip der Horizont der
Frage nach der Wahrheit, die jedem Verstehensprozess vorausgehend gestellt werden muss
und deshalb dem Verstehensvorgang eine bestimmte, normenähnliche Sinnrichtung verleiht.
Sofern die Sinnerwartung an die vollkommene Wahrheit, die Sinnganzheit, hier mit dem
anleitenden Fragehorizont zu tun hat, steuert die Wahrheitserwartung im dialogischen
Wechselverhältnis unsere Verstehenspraxis und gründet deren Sinnvollzug in der beständigen
Bewusstmachung unserer Erwartungshorizonte.
Indem der vollkommene Sinnvollzugshorizont zudem ein erwünschter Wahrheitsraum
ist, zu dem wir, so lange wir verstehen, eine Teilhabebeziehung haben, stellt Gadamer
zunächst
weniger
die
Sinnerwartungshorizont,
Vollkommenheit
in
den
als
die
Vordergrund,
hermeneutische
der
im
Vorstruktur,
gesamten
Verlauf
den
des
Verstehensprozesses die bestimmte Sinnrichtung leitet. In der wechselseitigen Interaktion der
menschlichen Erfahrungen entwirft sich die vorgreifende Sinnerwartung auf eine noch
unbekannte Wahrheit und verweist zugleich auf eine in ihr gelegene vorstrukturierte
Vorwegnahme. Denn der Erwartungshorizont impliziert nicht nur die vorausgegangene
Aneignung des erwünschten Sinnvollzugs, sondern erschließt stets auch eine gewisse Sicht
auf den möglichen Wahrheitshorizont, auf den hin der Verstehende sich immer schon richtet.
In dieser interaktiven Wechselwirkung zwischen dem Rückgriff auf die eigene
Voreingenommenheit und dem Warten auf den erwünschten Sinnhorizont hat der Vorgriff aus
101
Zur philosophischen Begriffsgeschichte „transzendental“. Vgl. N. Hinske u. a., Art. Transzendental;
Transzendentalphilosophie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, hrsg. v. Joachim Ritter u.
Karlfried Gründer, Basel/Stuttgart 1998, S.1358 – 1436. Vgl. damit auch Ruth Sonderegger, „Gadamers
Wahrheitsbegriffe“, in: Gadamer verstehen, Understanding Gadamer, S. 248 – 267. Er hat in diesem Aufsatz
gegen Gadamers Auffassung von der hermeneutischen Wahrheit einen radikal kritischen Einwand erhoben,
den er mit den Worten „Traditionalismus“, „Klassizismus“ und „transzendentale[n] Trivialitäten“ beschrieb.
Doch Gadamer versuchte nie, wie wir bereits sahen, transzendentale Wahrheitskriterien zu erstellen, sondern
den sinnvollen Vorgriffshorizont der Wahrheit in der gegenwärtigen Verstehenspraxis, die immer mit dem
vergangenen Sinnhorizont verbunden ist, hervorzuheben. Aus dieser Sicht ist sein Einwand gegen Gadamers
Wahrheitsbegriff fraglich, weil er selbst nicht unterscheidet, ob er mit seinem Begriffsgebrauch der
„Transzendentalität“ das Transzendentale als die Bedingung der hermeneutischen Erfahrung verwendet oder
das Transzendente als einen leitenden Endzweck des menschlichen Denkens gemeint hat. Wenn er dasjenige
meint, trifft dies m. E. auf Gadamers Grundeinsicht nicht zu. Selbst wenn sich Gadamer im Vorwort zur 2
Auflage(1965) für sein Hauptwerk die transzendentale Frage, die die Affinität mit der Kantischen Frage zu
haben scheint, stellt, „wie das Verstehen möglich ist“, kommt es bei ihm nicht darauf an, die methodischen
Maßstäbe für das transzendentale Urteil der Wahrheit erneut aufzustellen, sondern darauf, das
Verstehensgeschehen, an dem wir bereits teilgenommen haben, „phänomenologisch“ darzustellen. Das
Verstehen kommt, Gadamer zufolge, durch den transzendental begründeten methodischen Eingriff in das
objektiviert zu Verstehende nicht vor, sondern es ereignet sich mit der Teilhabe am Wahrheitsgeschehen. Zur
phänomenologischen Darstellungsvariante, vgl. Michael Theunissen, „Philosophische Hermeneutik als
Phänomenologie der Traditionsaneignung“, in: >>Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache<<, S. 65ff.
251
hermeneutischer Sicht die leitende Funktion, den Verstehenden ins intersubjektive Geschehen
hineinzustellen und seinen Standpunkt in der wechselseitigen Verschränktheit geltend zu
machen. So gesehen verweist der Vorgriff der Vollkommenheit die Beteiligten an der
dialogischen Verstehenspraxis auf den Anknüpfungspunkt in der vorausgesetzten Erwartung
des gemeinsamen Situationsverstehens und zugleich auch auf die Verständigung, die immer
nur im Verhältnis zum Anderen zustande kommt. Somit wird deutlich, dass die
hermeneutische Wahrheit keinen monadologischen Monolog, sondern bereits die dialogische
Struktur der Sinnerschließung aufweist, da er bei jeder möglichen Sinnenthüllung die
Angewiesenheit auf den mitkonstitutiven Anderen zur Sprache bringt, die sich wiederum von
Beginn an auf die Verlässlichkeit und die Wahrheitserwartung des Anderen stützt.
In Gadamers philosophischer Hermeneutik ist der Vorgriff der Vollkommenheit damit
auch die „kontrollierte“ Vollzugsform, die aus der Antizipation auf den begrenzten Spielraum
der wechselseitig einwirkenden Verstehensmodi heraustritt und den gemeinschaftlichen
Normenanspruch erhebt. (GW. 1, S. 312) Sobald wir uns auf den interaktiven Spielraum
einstellen, wird der vorgreifende Erwartungshorizont mit einem unerwarteten Sinnhorizont
konfrontiert. Die Konfrontation mit dem Unerwarteten bewirkt nicht nur, dass die eigene
Erwartung im Nachhinein korrigiert und überprüft wird, sondern auch, dass der beschränkte
Sinnhorizont auf neue Perspektiven und Ansprüche hin ausgedehnt wird. Auf diesem ständig
sich verändernden Weg orientiert sich die Sinnerwartung an dem zukünftigen Sinnvollzug.
Aus
hermeneutischer
Sicht
beinhaltet
die
kontrollierende
Überprüfung
dieses
Erwartungshorizontes deshalb offenkundig die dialogische Verhaltensweise zwischen
Sprecher und Hörer und damit auch die sittliche Funktion, die gesellschaftlichen Spielregeln
auf der Basis des gemeinsamen Situationsverstehens der Beteiligten am Gespräch
aufzustellen. 102 Die Vorstellung, dass der Sprecher allein versteht, was er sagt und dem Hörer
als dem Interpret daher diese Sachwahrheit nicht zukommt, da der Sprecher allein den Sinn
der Sachwahrheit aussagen kann, ist im Grunde irreführend. 103 Aus hermeneutischer Sicht
102
Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 144 – 207. Hier handelt
es sich bei ihm insbesondere um die entscheidende Macht des Erwartungshorizontes in der literarischen
Rezeptionsgeschichte, den normativen Konflikt bewusst zu machen und Normen in einer Gesellschaft
aufzustellen. Diesem Konzept entsprechend schreibt er: „So kann ein literarisches Werk die Erwartungen
seiner Leser durch eine ungewohnte ästhetische Form durchbrechen und sie zugleich vor Fragen stellen, deren
Lösung ihnen die religiös oder staatlich sanktionierte Moral schuldig blieb.“ Damit hat er auch die
emanzipatorische und gesellschaftsbildende Funktion der Literatur auf der Ebene der gesellschaftlichen
Lebenspraxis betont.
103
Diesbezüglich könnte man m. E. sagen, dass die Hermeneutik, die die psychoanalytischen Methoden
musterhaft bevorzugt, die eingreifende Reduktion auf den Sprecher als den Urheber des Wahrheitssinnes im
Prinzip konzipiert hat. Denn die Hermeneutik wollte einerseits den Autor als einzigen Ursprecher, der allein
die Wahrheit tragen kann, gelten lassen und daher durch den psychologischen Rückgriff auf die Absichten des
Urhebers die letzte Wahrheit vorlegen. Andererseits wollte sie mit dem psychotherapeutischen Modell durch
die erklärende Reduktion auf das „tief“ zugrunde liegende Unbewusste des Patienten von der psychischen
252
hingegen wird der Sprecher selbst zum Hörer seiner selbst, sobald er sich selbst die Frage
stellt, was er gesagt hat und sagen will. Nachdem der Sprecher gesprochen hat, ist er auch der
Interpret seiner selbst, damit er sein gesagtes Wort verständlich machen kann. Er kann nur aus
der Perspektive des interpretatorischen Hörers auf die Frage antworten, was er gesagt hat und
sagen will. Somit wird deutlich, dass die Verstehenspraxis als solche im Grunde das
Dialogverhältnis zu ihrem Grundcharakter hat. Von daher schafft sie ihren eigenen
Kontrollbereich. Denn alle aktiv Beteiligten an einem Dialogvorgang legen ihren erwarteten
Sinnhorizont, noch konkreter gesagt, ihre Stellungnahmen und Absichten vor, - selbst ein
passiver Zuhörer hört das gesprochene Wort aus seiner eigenen Perspektive - erkennen sich
selbst im Verstehensverfahren gegenseitig wieder und korrigieren sich dadurch gegenseitig. In
diesem endlosen, deshalb offenen Prozess der Antizipation der eigenen Erwartungen, der
gegenseitigen Konfrontation und der Selbstüberprüfung, wirft der Erwartungshorizont seinen
Blick stets auf den Sinnvollzugshorizont und baut damit die handlungswegweisende
Gemeinsamkeit der Verständigung über uns selbst auf. Der dialogische Kontrollbereich
umfasst somit in Gadamers Hermeneutik einen normativen Wahrheitsraum, in dem alle
gewissen Überzeugungen manifest werden, umstritten diskutiert werden können und alle
Beteiligten dem sinnvollen Einverständnis und den leitenden Handlungsnormen näher
kommen können.
Die bisherigen Überlegungen zusammengefasst, liegt es auf der Hand, dass die
hermeneutische Zirkularität zunächst weder ein circulus vitiosus, das als ein logischer Mangel
aufzuheben wäre, noch ein sinnloser Kreislauf, sozusagen ein richtungsloses Herumtreiben,
ist, sondern sie mit ihrem Erwartungshorizont bereits eine bestimmte Sinnrichtung hat. Der
Erwartungshorizont verleiht dem Verstehenden nicht nur ein orientierendes Leitmotiv auf
eine vollkommene Sinnganzheit gerichtet, sondern verschafft zugleich auch den
intersubjektiven Spielraum, in dem jeder Wahrheitsanspruch durch den kommunikativen
Prozess der Pro- und Kontra–Aussage und der übereinstimmenden Zusage, also durch die
Zerstörung befreien. Für uns liegt auf der Hand, dass die Psychotherapie bzw. die Psychoanalyse
komplizierten Interpretationsdimensionen aufweist, insofern jede therapeutische Behandlung auf die Diagnose
und die Heilung des psychosomatischen Unbewussten abzielt. Die Komplexität des psychotherapeutischen
Interpretationsverfahrens liegt zunächst in der situierten Differenz zwischen der Erzählung des Patienten im
Wachzustand und seiner Bildgestaltung im Schlafzustand. Hierin ist der Verstehensakt des Patienten mit
Bezug auf das verborgene Unbewusste bereits präsupponiert, weil nicht nur der Erzählungsversuch dem
Therapeuten gegenüber, sondern auch die entstellte Bildgestaltung eine verstandene Freilegung des verdeckten
Ursinns bedeutet. Um zu therapieren, soll der Therapeut nicht nur die Sinnentstellung im Traumzustand,
sondern auch die Sinnüberhellung in der geäußerten Erzählung in seiner eigenen Verstehensweise erklären und
durch den Erhellungsweg der vielfältig entstellten Sinnschichten hindurch dem unbewussten Ursinn näher
kommen. Darüber hinaus wird deutlich, dass der unbewusste Ursinn, der hier zum therapeutischen Gegenstand
gemacht wird, ohne das sagende Verstehen des Patienten im Prinzip an das therapeutische Selbstverständnis
nicht herankommen kann.
253
reflexive Selbstüberprüfung der eigenen Überzeugungen, kontrolliert wird und damit neue
Sichtweisen auf den zukünftigen Sinnhorizont eröffnet. Der Erwartungshorizont hat
letztendlich in der alltäglichen Lebenspraxis eine Funktion der gesellschaftlichen
Handlungsnormenbildung, die durch die Selbsteinbindung der Betroffenen in die
Gesprächssituation möglich wird und die unter den Beteiligten eine Gemeinschaftlichkeit
etabliert. Im Anschluss an Gadamers Einsicht in den Vorgriff der Vollkommenheit im
dialogischen Verstehensverfahren, müssen wir schließlich feststellen, dass sich der
Erwartungshorizont vor dem geschichtlich gemeinsamen Hintergrund des intersubjektiven
Situationsverstehens aller Beteiligten bildet und deshalb den normativen Anspruch auf eine
spezifische ethische Haltung im gesellschaftlichen Handlungsraum geltend macht.
254
II – 3. Die Horizontverschmelzung als die wahrhafte Verständigung
In dem anstrengenden Lernprozess des hermeneutischen Sinnvollzugs, d. h. der Bildung von
Gemeinschaftlichkeit, zeigt jeder Beteiligte in der dialogischen Verständigungspraxis sein
aktives Engagement. Jeder erkennt das mitwirkende Verhältnis zum Anderen im vernetzten
Sinngewebe der dynamischen Wechselbewegung. In diesem Verlauf eröffnet sich der
Horizont einer Sinnganzheit, die aus einem intersubjektiven ‚Zwischen’ hervorbricht. Dabei
ist eine Verschmelzung von Horizonten zu betrachten, die jedem Verstehensvorgang eigen ist;
eine Horizontverschmelzung, die nicht nur die Bildung von Gemeinschaftlichkeit in der
wechselseitigen Interaktion meint, sondern zu einer eigentlichen Selbsterkenntnis aller
Dialogteilnehmer führt, so wie sich das sokratische Vorbild im platonischen Dialog
entwickelt. 104 Angesichts dessen stellt sie, mit Gadamers Worten, „die Vollzugsform des
Gesprächs“ dar. (GW. 1, S. 392) Insbesondere im Hinblick auf die zwischenmenschliche
Gemeinschaftlichkeit will ich zunächst die Dynamik der Horizontverschmelzung und damit
das
dialogische
Verstehensmodell
im
Anerkennungsverhältnis
vorstellen,
das
die
hermeneutische Grundpolarität als interaktive Beziehung der Beteiligten in den Vordergrund
stellt. Ich tue dies mit der Frage, wie es möglich ist, zwischen den distanzierten Horizonten
der Dialogteilnehmer eine Brücke zu schlagen. Inwiefern verfügt das Gespräch als eine
Verständigungspraxis in der Horizontverschmelzung über einen hermeneutischen Grundzug
und stellt so den gesamten Sinnraum her?
Im Anschluss an diese Fragen will ich zunächst auf Gadamers Grundauffassung des
Begriffs „Horizont“ eingehen. Aus hermeneutischer Sicht bedeutet einen Horizont erwerben,
dass man ein entscheidendes Leitmotiv für seinen je eigenen Zugang zur Sinnwelt hat. Der
„Horizont“, den Gadamer unter dem Einfluss von Husserls Theorie der Intentionalität und von
Heideggers Einsicht in das „In–der–Welt–Sein“ übernimmt, meint das Gewinnen eines
104
Mit dieser kritischen Fragestellung haben einige Autoren wie z. B. M. Frank und H. R. Jauß den
verschmolzenen Sinnhorizont des hermeneutischen Bewusstseins bei Gadamer verdammt. M. Franks hegte
das Verdachtsmoment, dass Gadamers Begriff der „Horizontverschmelzung“ mit ihrer eigenen „höheren
Einheit“ zu Ende gegangen sei und diesem einheitlichen Sinnhorizont alle „individuellen Eigenschaften und
Partikularitäten“ entzogen wären. Aus diesem Grund hat er die hermeneutische Offenheit in Gadamers
Hermeneutik nicht weiter beachtet. Darüber hinaus meinte H. R. Jauß, dass der verschmolzene Sinnhorizont
bei Gadamer in den „substanzialistischen Rückfall“ auf den vergangenen Sinnhorizont geraten sei, weil er m.
E. Gadamers Einsicht in den Charakter des hermeneutischen Wahrheitsgeschehens, das nur mit der Begegnung
mit dem gegenwärtigen Sinnhorizont, sozusagen mit unserer Standpunkteingebundenheit vorkommt,
übersehen hat. Bei Gadamer orientiert sich die Verschmelzung der Horizonte im Anschluss an das
hermeneutische Bewusstsein, wie wir schon sahen und sehen werden, weder am verschlossenen Monolog,
noch an der eschatologischen Einigkeit, sondern hat die Vorläufigkeit zu ihrer Charakteristik, hält sich deshalb
immer für die Potenzialität des anderen Sinnhorizontes offen. Vgl. M. Frank, Das individuelle Allgemeine, S.
20 – 34 und H. R. Jauß, Literatur als Provokation, S. 186 u. S. 235.
255
bestimmten Blickwinkels, der als ein vorgeformter Sinnbezug schon vor unserer Einsicht in
den Verstehensvorgang existiert. Einen Horizont gewinnen bedeutet letzten Endes, die
jeweilige Begrenztheit vom momentanen Standpunkt aus anzuerkennen und zugleich die
Erschließung des über die Eigensinnigkeit hinausragenden Sinnfeldes zu ermöglichen. Beim
Gewinnen eines Horizontes, in dem der eigene Schatten eine bestimmte Sphäre hinter sich
lässt, zeichnet man die Begrenzungslinie seines Sehens ein, in deren Umfeld dennoch das zu
Verstehende erscheint. Innerhalb dieser begrenzten Sichtweise und –weite betrachtet man den
betreffenden Sachverhalt, der immer auch auf sich zurückgeworfen ist. Jede bestimmte
Perspektive stellt mithin eine Grenzlinie dar und eröffnet damit auch die Möglichkeit, seinen
Blick auf die Außenseite der eigenen Grenze zu richten. Der Horizont ist deshalb in Gadamers
Hermeneutik ein den Blickwinkel begrenzender, aber dennoch richtungsweisender
Standpunkt. Die Horizontgewinnung leitet damit nicht nur die Selbsteinstellung in
Verbindung zu den lebensweltlichen Bezügen, sozusagen zu einem intersubjektiven Sinnraum,
sondern sie bildet auch die mediale Mitte zwischen dem inneren Kreis des Sehens und seiner
Außenseite, da sie das eigene Sinnfeld sichtbar macht und damit zugleich das entscheidende
Bewusstsein von der Unaufhebbarkeit der Andersheit des Anderen zu Tage fördert. Darüber
hinaus führt uns die Horizontgewinnung einerseits zu der diachronen Vermittlung zwischen
den zeitlich distanzierten Horizonten, andererseits zu der synchronen Vermittlung zwischen
den Kulturen, zwischen den verschiedenen Lebensformen, nämlich zwischen Ich und Du in
einem Kulturkreis. Die eigene Horizontgewinnung bedeutet deshalb bei Gadamer „Nicht–
auf–das–Nächste Eingeschränktsein, sondern über es Hinaussehenkönnen.“ (GW. 1, S. 307)
Das bedeutet: Der Horizont verweist hier im Grunde auf die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Perspektive, unter der allein man mit der Sinnwelt richtig umgehen kann. Hierbei
ermöglicht der Horizont die Wahrnehmung des ausgegrenzten, des anderen Horizontes,
dessen Richtung nicht nur den jetzigen Standpunkt, sondern auch die entworfene Sinnwelt,
die auf diesem Standpunkt beruht, verändert. So lange wir dem leitmotivischen
Wahrheitsbezug näher zu kommen versuchen, müssen wir zuallererst unseren eigenen
Horizont haben und bilden, da dieser gebildete Horizont die Grundlage für die Begegnung mit
der Sinnwelt bildet, die ein Vorverständnis mit einschließt. Erst mit diesem Sich-HineinBegeben in das interaktive Wechselverhältnis begegnen wir dem Anderen. In dieser
Begegnung werden wir selbst zu ihm getrieben, der zwar nie gänzlich transparent vor unseren
Augen erscheint, aber von der stets zu verstehenden Sinnwelt stets aufs neue erschlossen wird.
Innerhalb der bestimmten Rahmenbedingungen der intersubjektiven Interaktivität
zwischen dem Selbstbezug und dem Bezug zum Anderen, bildet sich unser Sinnhorizont aus.
256
Gleichzeitig verschiebt er sich in der konstitutiven Auseinandersetzung mit dem Anderen
aufgrund eines Horizontwandels, dem jede Verstehenspraxis unterliegt. Die Horizontbildung
führt uns nicht nur auf das Spielfeld der Verstehensmöglichkeiten, sondern leitet den
Horizontwandel auch aus der Entdeckung des Anderen ab. In der permanenten Veränderung
der Sinnhorizonte gewinnt sie die Perspektive auf eine Sinnganzheit, in deren Licht sich der
eigene Horizont erweitert und der Andere zuallererst wahrgenommen wird. Aus Gadamers
Sicht ist der Horizont deshalb keinesfalls in sich verschlossen, sondern die Horizonte sind
bereits miteinander verbunden, stehen immer schon in einem Wechselverhältnis zueinander.
Über diese gegenseitige Interaktion im Bilden der Horizonte sagt Gadamer: „Der Horizont der
Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen
Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte.
Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich
seiender Horizonte.“ (GW. 1, S. 311) So besteht die Horizontbildung als solche geradezu aus
der konstitutiven Begegnung mit dem gegenüberstehenden Anderen. Von dieser
mitkonstitutiven Rolle des Anderen aus betrachtet, sind die Horizonte von vornherein
füreinander offen. Durch das Offenhalten für den Anderen, sozusagen im interaktiven
Verhältnis, verschiebt sich der Sinnhorizont auf den sich selbst darbietenden und
erweiternden Wandel, in dessen Hin- und Herbewegung ein neuer Sinnhorizont entsteht. Die
Horizontbildung in jedem Verstehensvorgang hat deshalb im Grunde die Fähigkeit, zwischen
den distanzierten Horizonten eine Brücke zu schlagen, da sie hier nicht nur eine
Vorbedingung für die Entdeckung des Anderen darstellt, sondern auch die Begegnung
zwischen den Beteiligten anleitet. Somit kann man die Horizonterweiterung in dieser
oszillierenden Bewegung auch in der Hinsicht verstehen, dass die Erweiterung der Horizonte
das jeweilige Auftreten des neuen Sinnhorizontes in einer vorläufigen Übereinstimmung
erfährt, aber auch modifiziert und eröffnet. Sie verweist deshalb, so könnte man sagen, auf die
Selbstverwandlung als eine vorübergehende Assimilation mit dem Anderen. Mit diesem
Ereignis bereichert und vermehrt sich die Sinnwelt, da der sich ausbildende Horizont in einem
endlosen Wandel die Entdeckung des Bewusstseins der Eigenheit und des Bewusstseins von
der Andersheit des Anderen erfährt und so die Blickrichtung auf den Anderen lenkt.
Die interdependente Dynamik des gesamten Sinnhorizontes, der sich immer mit uns
mitbewegt und der es, mit Gadamers Worten, ist, „in das wir hineinwandern und das mit uns
mitwandert“, wird in der Hermeneutik als „Horizontverschmelzung“ (GW. 1, S. 309)
bezeichnet. Die Verschmelzung der Horizonte im hermeneutischen Sinn verweist zunächst
auf das auf gegenseitigem Einverständnis beruhende Zusammenkommen der Beteiligten im
257
Sinnraum des Dialogs. Hierbei prägt der assimilierte Sinnhorizont den holistisch miteinander
verknüpften
Sinnganzheitsraum,
der
als
ontologische
Grundlage
der
sozialen
Verständigungspraxis im intersubjektiven Handlungsspielraum eine funktionelle und
normative Rolle spielt. Diese Vermitteltheit des Sinnhorizontes ermöglicht daher das
Zustandekommen der gemeinsamen Verständigung, d. h. die Gemeinsamkeitsbildung im
Zusammenspiel der Differenzen bzw. die Ich und Du vermittelnde Wir–Dimension, die sich
in dem variablen Zwischenspielraum konstituiert. Selbst wenn die Horizontverschmelzung im
hermeneutischen Sinn als der Horizont des Sinnvollzugs verstanden wird, der uns prinzipiell
im gesamten Verstehensvorgang eine bestimmte Orientierung verleiht, geht es hier nicht um
die Vermittlung der rekonstruierten Wiedergabe des Originalsinnes, sondern im Grunde um
die Integration in eine Gemeinsamkeit, in die die verschiedenen Perspektiven einfliessen und
anerkannt werden. Aber die Verschmelzung der Horizonte impliziert überdies ein
unauflösliches Spannungsverhältnis, das von der unvorhersehbaren Sachwahrheit im
unendlichen Selbstentfaltungsprozess der Wahrheitssuche ausgelöst wird, da diese einen je
vorläufigen Wendepunkt zur Erschließung des neuen Sinnhorizontes darstellt. Gadamer
zufolge ist die interaktive Bewegung des Austauschs gerade die dialektische Dynamik des
wechselseitigen Austauschs im Gesprächsvorgang. Die Horizontverschmelzung selbst bzw.
die Schaffung des gemeinsamen Sinnraums der Verständigung in der Gesprächssituation
muss sich deshalb, mit Gadamers Worten, auf „die eigentliche Leistung der Sprache“ stützen.
(GW. 1, S. 383) Somit besteht Gadamers Einsicht darin, dass die Sprache sowohl über die
schöpferische
Kraft
verfügt,
den
gesamten
Sinnraum
der
intersubjektiven
Anerkennungsbewegung sichtbar zu machen, als auch die konstitutive Fähigkeit hat,
zwischen den verschiedenen Sichtweisen zu vermitteln, sie einander näher zu bringen.
An dieser Stelle können wir der Sprachlichkeit und dem damit verbundenen
Dialogverhältnis in der menschlichen Verstehenspraxis unsere Aufmerksamkeit zuwenden.
Wenn ich hier zunächst die Bedeutung, die Gadamer der Sprache für das Verstehen beimißt
und die wir hauptsächlich im III. Teil behandeln werden, andeute, wäre vorweg festzuhalten,
dass die Sprache in Gadamers Dialoghermeneutik die erhellende Macht hat, die in sich
verborgene Sinnwelt zu offenbaren. Das bedeutet: Sie bildet mit ihrer eigenen Produktivität
und mit ihrer prozessualen Geschichtlichkeit auch den Bezugspunkt, an dem die Welt immer
schon mit Hilfe der Sprache erscheint, an dem wir dem Wahrheitsbezug zur Welt, der bereits
sprachlich vermittelt ist, näher zu kommen versuchen. Die zu verstehende Sinnwelt ist
deshalb von vornherein ein sprachlich überliefertes und zu erschließendes Sinnfeld, das die
hermeneutische Anstrengung der unaufhörlichen Wahrheitssuche motiviert und mit der
258
angemessenen Weltzuwendung dieser Wahrheitssuche zur Sprache kommt. Hier hat das
menschliche Weltverstehen die Sprache zur Grundlage für den Zugang zur Sinnwelt und die
Sprache ermöglicht deshalb in ihrem Grundverhältnis zum wahrheitstragfähigen Sachbezug
dessen primäre Erschließung. Mit Gadamers Worten ist die Sprache „das universale Medium,
in dem sich das Verstehen selber vollzieht.“ (GW. 1, S. 392) Denn die Sprache übt eine
mediale Funktion aus, so dass die Sinnwelt sich selbst mitteilt und uns zukommt, sozusagen
den gemeinsamen Hintergrund für das Zusammenleben im dialogischen Wechselverhältnis
bildet. Wenn Gadamer hier das „universale Medium“ als eine Vollzugsebene der
menschlichen Verstehenspraxis bezeichnet, so handelt es sich weder um ein allgemeingültiges
Prinzip, aus dem alle Sätze abgeleitet werden und auf dem sie deduktiv beurteilt werden, noch
um einen begründeten Universalgrundsatz, an dem sich alle Handlungen von vornherein
orientieren sollen, sondern um das Universale, das die Bestandteile für das Verstehen und die
Beteiligten an dem Verständigungsvorgang miteinander verbindet. Kurz gesagt, meint das
hermeneutische Universale hier die dialogische, deshalb gesellschaftliche Verbindlichkeit, auf
deren Basis die Beteiligten ihre Worte formulieren und verständlich machen können, die
Verschiedenheit sichtbar gemacht und miteinander verschmolzen werden kann. Im Hinblick
auf diese dialogische Wechselseitigkeit haben die Textverstehenspraxis und die
gemeinschaftliche Verständigung mithin denselben Grundcharakter der „sprachlichen
Vermitteltheit.“
Im Anschluss an die sprachliche Vermittlung fasst Gadamer zunächst die soziale
Verständigung
im
wechselseitigen
Dialogverhältnis,
die
im
Grunde
die
Anerkennungsbewegung untermauert, ins Auge. Dieses verständliche Ja–Sagen im Dialog
geht hier von der unmittelbaren Annahme des Anderen als Gesprächspartner aus und muss
damit auch durch die dialogische Anerkennungsbewegung festgelegt werden. In Bezug auf
die gemeinsame Sprachbildung im Dialog sagt Gadamer deshalb, dass „[…] das
hermeneutische Gespräch sich wie das wirkliche Gespräch eine gemeinsame Sprache
erarbeiten muß und daß diese Erarbeitung einer gemeinsamen Sprache […] mit dem Vollzug
des Verstehens und der Verständigung selbst zusammenfällt. Auch zwischen den Partnern
dieses >Gesprächs< findet wie zwischen zwei Personen eine Kommunikation statt, die mehr
ist als bloße Anpassung.“ (GW. 1, S. 391) Was will Gadamer in den obigen Sätzen mit der
„gemeinsamen Sprache“, einschließlich des „hermeneutischen Gesprächs“ sagen? Was
bedeutet in diesem Zusammenhang die gemeinsame Sprache oder eine gemeinsame
Sprachbildung im dialogischen Wechselverhältnis? Es ist klar, dass Gadamer mit diesem
Ausdruck keinesfalls eine einheitliche Sprache, wie z. B. eine künstliche Sprache meinte, die
259
sich auf die homogene Äquivalenz zwischen Sprache und Welt richtet. Demgegenüber meint
die gemeinsame Sprache in Gadamers hermeneutischer Sprachauffassung ebenso wie die
Horizontverschmelzung m. E. eine der wechselseitig komplementären Komponenten des
hermeneutischen
Gesprächs:
Einerseits
die
sprachliche
Gemeinsamkeit
als
die
Grundbedingung für die intersubjektive Verstehenspraxis, denn wir müssen die sprachliche
Gemeinsamkeit als eine minimale Grundbasis voraussetzen und einen Hintergrund des
gemeinsamen Situationsverstehens, der mit der sprachlichen Gemeinsamkeit zusammenfällt,
haben, damit wir uns mit unseren Anderen verständigen können. Die gemeinsame Sprache
soll andererseits durch das Gespräch „erarbeitet“ werden. Die Verständigung in einem auf die
Sache bezogenen Sinnraum des Gesprächs ist hier auch ein Telos, das auf dem Weg von der
in der Frage formulierten Vorerwartung durch den wechselseitigen Austausch der jeweiligen
Überzeugungen aller Gesprächsteilnehmer schließlich zur Gemeinschaftlichkeit gelangt.
Anders gesagt, ist dasjenige, das den gesamten Sinnraum im Dialogprozess stiftet, der Zweck,
der vom Dialog selbst erzeugt und durch den Dialog erreichbar wird. In diesem Verlauf zur
Verständigung, an deren Sinnnetzwerk alle Gesprächsbeteiligten immer schon partizipieren
und in dessen Spielraum sie nicht nur ihre Meinungsverschiedenheit zum Ausdruck bringen,
sondern vielmehr eine auf Verständigung gerichtete wechselseitige Begründung und
Auslegung geben, erkennt der Dialog im Grunde den Anderen in seiner unaufhebbaren
Andersheit an und bewahrt deshalb das symmetrische Wechselverhältnis.
Daran anschließend hat die intersubjektive Anerkennungsbewegung, in deren Prozess
jeder Beteiligte den Anderen als seinen Partner annimmt und damit sich selbst zugleich
erkennt,
ihren
herausragenden
Sinnraum
im
wechselseitigen
Dialogverlauf
zur
Gemeinsamkeitsbildung. Die Anerkennung unter den Menschen bahnt sich, wie bereits
erwähnt, nicht nur mit der sprachlichen Gemeinsamkeit an, sondern auch mit der
gemeinsamen Basis der kulturell–geschichtlichen Erfahrung. Von daher kann sie ihren
Vollzug im Dialogverhältnis finden. Denn die Gewissheit aller Beteiligten, die immer noch
der Legitimation bedürfen, sich selbst geltend zu machen, ist im offenen Prozess des
Dialogverhältnisses austauschbar. In diesem Zusammenhang bewegt sich die Bewegung der
Anerkennung unter der notwendigen Grundvoraussetzung, wonach die Beteiligten bereits eine
minimale Gemeinsamkeit haben, damit sie ihre Beziehung weiter führen, die wechselseitige
Anerkennung erlangen und ein gemeinsames, solidarisches Zusammenleben führen können.
Das bedeutet: Die soziale Beziehung unter den Menschen beruht auf der Grundlage der
sprachlichen Gemeinsamkeit und der vertrauten Gewohnheiten, die durch die kulturell–
geschichtlichen Erfahrungen geprägt werden. Insofern ermöglicht die wechselseitige
260
Anerkennung
bzw.
die
darauf
gestützte
Gemeinschaftlichkeit
das
menschliche
Zusammenleben. Aus hermeneutischer Sicht findet das Anerkennungsverhältnis deshalb dort
seinen wirklichen und vitalen Ort, wo das Gespräch zwischen den Beteiligten sich wirklich
vollzieht, wo diese bereits den Gegenüberstehenden anerkennen und zugleich die Bereitschaft
haben, die Gemeinsamkeit durch den Eintritt ins Gespräch wiederherzustellen. So gesehen
durchläuft die wechselseitige Anerkennung im hermeneutischen Dialogverhältnis einen
inneren
Übergangsprozess
in
der
Verständigungspraxis.
Auf
diesem
Weg
der
kommunikativen Selbstbildung durch die Entdeckung der Andersheit wird die gemeinsame
Verständigung über den Anderen und über sich selbst, also auch über die gewohnheitsmäßige,
aber noch nicht bewusste Spielregel, in Gang gesetzt. Diese dialogische Verständigungspraxis
hat
m.
E.
bereits
eine
enge
Verwandtschaft
mit
der
gesellschaftlichen
Handlungsnormenbildung in einer bestimmten Handlungssituation. Dies gilt für die
Gesprächssituation gleichermaßen wie für das Spiel. Aus hermeneutischer Sicht ist im Auge
zu behalten, dass sich die wechselseitige Anerkennungsbewegung innerhalb des innerlich
verständigenden Dialogparadigmas, d. h. auf der Grundlage der Symmetrie des
intersubjektiven Gesprächsverkehrs, ständig mitbewegt. Hierin findet das intersubjektive
Anerkennungsverhältnis seinen lebendigen Sinnraum, verleiht damit den geschichtlich
tradierten Gesellschaftsnormen einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert und arbeitet
anschließend einen Orientierung bietenden Handlungswegweiser aus der geschichtlichen
Normbildung heraus aus, der der gegenwärtigen Handlungssituation immer angemessen ist.
Von den bisherigen Überlegungen ausgehend, können wir einige vorläufige Antworten
auf folgende Fragen finden: Warum hebt Gadamer das Primat des Gesprächs im
menschlichen Verstehen hervor? Inwiefern spielt das Gesprächsverhältnis im Lernprozess der
Sozialisierung
eine
entscheidende
Rolle?
Wo
findet
das
wechselseitige
Anerkennungsverhältnis, das sich aus der Grundstruktur der hermeneutischen Erfahrung
ergibt, seinen lebendigen Sinnraum? Aus welchem Grund erfordert der Dialog selbst auch den
Sinnraum der wechselseitigen Anerkennung? Darüber hinaus hoffe ich, dass wir im folgenden
anhand einiger Punkte sehen können, dass die menschliche Verstehenspraxis in Gadamers
Hermeneutik von vornherein das Dialogparadigma umfaßt. Zunächst taucht sie nur vor dem
geschichtlich–kulturellen Hintergrund der wechselseitig einwirkenden Erfahrungen auf; sie ist
letztlich von den geschichtlich überlieferten Kontexten abhängig. Mithilfe dieses
kontextabhängigen Wandels ihres eigenen Standpunktes und der sprachlich erschlossenen
Zugänglichkeit zur Sinnwelt, bildet sie auch den produktiven, nämlich neuen Sinnbezug aus.
Im Hinblick auf die dialogische Wechselseitigkeit gilt Gadamer die Verstehenspraxis als das
261
„hermeneutische Gespräch.“ (GW. 1, S. 391) Zudem sind die Horizontverschmelzung sowie
die Verständigung in den alltäglichen Lebensbezügen bei Gadamer bereits „eine
Verwandlung ins Gemeinsame.“ (GW. 1, S. 384) Das bedeutet hier, sich selbst in die
überindividuelle Gemeinsamkeit, sozusagen in die Wir–Dimension zu verwandeln und zu
versetzen, so dass sich alle Beteiligten am dialogischen Verstehen auf einen lebendigen
Sinnraum einlassen, in dem sich der Sinnvollzug ereignet, in dem jeder den Anderen als
unaufhebbaren Anderen anerkennt und sich selbst erkennt, in dem er den gemeinsamen
Sinnvollzug
im
Gespräch
erfährt.
Die
menschliche
Verstehenspraxis
in
diesem
Dialogverhältnis bewegt sich schließlich auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprachlichkeit
hin und her, die die möglichen Sinnhorizonte erschließt und offen hält und das erschlossene
Sinnfeld angemessen zur Sprache bringt. Aus Gadamers Sicht ist die Sprache deshalb weder
ein instrumentelles Mittel, noch ein Epiphänomen, das nachträglich und zweitrangig
abgeleitet ist, sondern sie stellt bei jedem Sprechen die Sache selbst vor und gibt dem
Sachverhalt eine bestimmte Sinnrichtung. Daher ist die Sprache kein beherrschbares
Werkzeug, sondern unsere Welterfahrung selbst wird nur mit und durch die Sprache
erschlossen.
Aus
hermeneutischer
Sicht
vollzieht
sich
der
intersubjektive
Anerkennungsprozess über die Banalität unserer legitimationsbedürftigen Vormeinungen
hinaus zu einer gemeinschaftlichen Verständigung über uns selbst nur durch das SichEinlassen auf das Gespräch, in dem sich der wahrheitstragfähige und normative Sinnraum
herstellt und die Überzeugungen aller Sprecher ohne äußerliche Einschränkungen und
Hemmungen wechselseitig aufeinander bezogen werden.
262
Dritter Teil: Vom Verstehen des Textes zur Verständigung im Dialog
„Was wir nämlich denkend an Wahrem
auffinden, von dem vor allem finden wir, daß
wir es einsehen, und dies wiederum hinterlegen
wir dann in der Erinnerung. Aber dort ist die
abgründigere Tiefe unserer Erinnerung, wo wir
auch das zum ersten Mal finden, wenn wir
denken, und das innerste Wort gezeugt wird,
das keiner Sprache angehört, wie Wissen von
Wissen und Schau von der Schau und Einsicht,
die im Denken erscheint, von der Einsicht, die
schon in der Erinnerung war, aber verborgen
war.“ 1
Nach dem so genannten „linguistic turn“, der besonders seit dem späten Wittgenstein in
Erscheinung getreten ist, steht die Sprachproblematik, nämlich die Frage nach der
umfassenden
Beziehung
zwischen
Denken
und
Sprechen,
im
Zentrum
unseres
philosophischen Diskussionsrahmens. Demnach können wir sagen, dass die Sprache kein
Instrument zur nachträglichen Bezeichnung des vorgestellten Denkinhaltes oder zur
bildhaften Wiedergabe des Gedankens ist, sondern in engem Zusammenhang mit dem
jeweiligen Denken steht. Damit wird deutlich, dass die Sprache einen entscheidenden Einfluss
auf das jeweilige Denken seiner Zeitepoche hat und dass das gebildete Denken sich auch stets
seine Sprache sucht. Mit dieser philosophiegeschichtlichen Wende der Sprache Schritt haltend,
wählt Gadamer den Satz „Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der
Sprache“ als Titel für den letzten Teil von Wahrheit und Methode. Hierbei geht es, wie wir
sehen, um die „ontologische Wendung der Hermeneutik“, nämlich um die hermeneutische
„Sprachontologie“, die im Prinzip auf den Ereignischarakter der Sprache bei jedem Denken
verweist. Gadamer will damit zum Ausdruck bringen, dass die Sprache eine kreative oder
zumindest mitkonstruktive Funktion im Denkprozess übernimmt. Die hermeneutische
Sprachontologie meint weder die substantielle Metaphysik der Sprache noch die exakte
Widerspiegelung der Dingwelt oder des Denkinhaltes durch die Sprache, sondern die
menschliche Seinsweise im dialogischen Umgang mit den Anderen (Welt und dem Anderen).
1
Aurelius Augustinus, De trinitate, übers. v. Johann Kreuzer, Hamburg 2001, XV. Buch, 21. 40.
263
Hinter seiner ontologischen Sprachauffassung, dass die Welt vermittels der Sprache zu uns
kommt und dass das Denken sprachlich verfasst ist, steht deshalb Gadamers Grundeinsicht,
dass wir immer schon im dialogischen Wechselverhältnis zum Anderen sind, solange wir
bereits unseren Anderen begegnen.
Wenn seit der Sprachwende klar ist, dass das Denken nicht souverän zu seinem
Schluss kommt, sondern das Denken sich selbst vermittels der Sprache zeigt, ist die Sprache
dessen entscheidender Erscheinungsort, was gilt, so lange das Sein von selbst zu Wort kommt.
Für die Sprache ist damit keine monologische Verschlossenheit, sondern von vornherein die
dialogische Gerichtetheit charakteristisch. Die Sprache befindet sich nicht im kausalen
Referenzverhältnis zwischen dem Zeigen und dem Bezeichneten, sondern ist bereits auf die
Welt und auf den Anderen gerichtet und umgekehrt kommt dieser Andere gleichzeitig auch zu
seiner Sprache. Im Anschluss an Gadamers Einsicht können wir deshalb sagen, dass die
Sprache eine zirkuläre Bewegtheit aufweist. Aus diesem Grund ist die Sprache bei Gadamer
im wesentlichen das Gespräch. Nun kann man sagen, dass Gadamers Denkansatz zur
hermeneutischen Sprachontologie in III. Teil von Wahrheit und Methode darin besteht, dass
das, was ist, immer schon sich selbst mit und in der Sprache erscheint und die menschliche
Seinsweise deshalb das unaufhörliche Suchen nach dem Wort, das uns im endlosen Umgang
mit der Welt fehlt, ist, da das Denken von Beginn an zum Sein steht. Wenn das Denken von
vornherein zum Sein, das von selbst zum Wort kommt, steht, soll das Denken auch
unabdingbar in der Sprache sein und zur Sprache kommen. Insofern kann derjenige, der an
das Sein denkt, sich selbst auf das Gesprächsverhältnis einlassen und zur Sprache bringen.
Hinter seiner Aussage „Ontologische Wendung“ steht die Einsicht, dass wir im Prinzip von
dem, was ist, sprechen können. Somit stellen wir fest, dass dieses prinzipielle Können die
hermeneutische Universalität der Sprache ist. Es liegt auf der Hand, dass das Menschsein von
vornherein mit seiner existentiellen Zeitknappheit eingeschränkt, nämlich endlich ist. Wir als
Endliche sind uns, wie Gadamers Hermeneutik gelehrt hat, darüber im Klaren, dass wir uns
unter dem Einfluß des geschichtlichen, kulturellen und sprachlichen Hintergrunds befinden
und unseren Anderen vor diesem Hintergrund begegnen. Mit dieser geschichtlich bedingten
existentiellen Ausgangslage des Menschseins betrachtet, ist das prinzipielle Können in
Gadamers Dialoghermeneutik praktisch, da das hermeneutische Mangelbewusstsein, das
Suchen nach dem, was zu sagen und was zu tun ist, ständig motiviert.
An dieser Stelle will ich kurz auf Gadamers kompositorische Konstellation in seinem
Hauptwerk eingehen. Um sich Gadamers Hauptanliegen zu nähern, empfiehlt sich die Frage,
welchen Stellenwert der abschließende Teil in Wahrheit und Methode hat und ob das Werk
264
selbst
heterogen
oder
homogen
ist.
Bevor
wir
unsere
Aufmerksamkeit
dem
Kompositionsproblem zuwenden, muss für uns klar sein, dass die menschliche Erfahrung aus
hermeneutischer Sicht immer schon auf den unaufhebbaren Anderen in seiner Andersheit
angewiesen ist, dass das Verstehbare, ja das Erfahrbare sich aus dem dialogischen Zwischen
des Eigenen und des Anderen ergibt und dass dasjenige, was wir erfahren, sich immer aus
dem dialogischen Verfahrensprozess, in dessen Verlauf die Sprache die entscheidende Rolle
spielt, ergibt. Davon abgesehen ist bekannt, dass Gadamer in Wahrheit und Methode die drei
verschiedenen Bestandteile, nämlich Kunst, Geschichte und Sprache als die Voraussetzungen
für die hermeneutische Wahrheitserfahrung bezeichnet. Es stellt sich die Frage, ob diese drei
Elemente der hermeneutischen Erfahrung bei Gadamer die „vertauschbaren Größen“ sind. 2
Diese verkannte Frage ist in der Tat nicht grundlos, da Gadamers Hauptwerk aus der
Untersuchung dieser drei Arbeitsfelder entsteht. Dennoch wird deutlich, dass das Werk im
Grunde dann seinen einheitlichen Sinnhorizont, 3 der den konsequenten Übergang von der
präparierenden Kunsterfahrung über die Geschichtlichkeit der ontologischen Erfahrung zur
universalen Sprachlichkeit der Hermeneutik bildet, entfaltet, wenn wir uns dem werkinneren
Übergangsmoment, d. h. Gadamers Kritik an der kongenialen Reproduktivität in
Schleiermachers
Hermeneutik
und
seine
Betonung
auf
Hegels
dialektischem
Integrationsmoment vom II. Teil bzw. Gadamers Blickwinkel auf die Dialektik von Frage und
Antwort vom III. Teil, zuwenden. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass sowohl die
Kunsterfahrung als auch die hermeneutische Erfahrung unter der geschichtlich bedingten
Situation vermittels der Sprache zustande kommt. So kann die Sprache bei Gadamer als unser
ausgezeichnetes, universales Erfahrungsfeld, in dem das Wahre, das Gute und das Schöne als
das verschwisterte Eine erfahrbar sind, bezeichnet werden. Aus Gadamers Sicht ist die
Sprache auch deshalb universal, weil sie, als die menschliche Erfahrung selbst, von
vornherein „Sprachliche Spiele“, nämlich Dialog ist, in dessen Licht wir als Dialogbeteiligte
das Eine in seiner Vielfältigkeit ohne Ende zu suchen trachten und das richtige Wort
herauszufinden versuchen. (GW. 1, S. 493) Wenn wir zudem unseren Blick auf die
werkinnere Sinnorientierung an der universalen Dialogperspektive richten, könnte man sagen,
dass Gadamers Hauptwerk an sich ein kohärenter Philosophietext ist.
Im Anschluss an Gadamers Auffassung, dass die Dingwelt sprachlich verfasst ist und
dass die menschliche Erfahrung als der sich selbst verstehende Umgang mit der Welt
2
Vgl. Walter Schulz, „Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers“, in: Hermeneutik und Dialektik, S. 305 – 316,
hier, S. 311.
3
Zum Kompositionsproblem von Gadamers Wahrheit und Methode, vgl. Jean Grondin, Der Sinn für
Hermeneutik, Darmstadt 1994, S. 1 – 23.
265
sprachlich vermittelt ist, wird deutlich, dass Gadamers Dialoghermeneutik ohne Ethik nicht
verstehbar ist. 4 Denn Gadamers Denken kehrt nicht nur immer wieder zur Wurzel des
philosophischen Anliegens der Ethik zurück, sondern auch die hermeneutische Erfahrung, die
als die ontologische Struktur der menschlichen Seinsweise bezeichnet werden kann, bewegt
sich bereits auf die Anerkennung des begegneten Anderen zu. Aus hermeneutischer Sicht ist
die anerkannte Annahme des Anderen als Gesprächspartner kein Ergebnis unseres reflexiven
und nachreflexiven Verhältnisses zum Anderen, sondern ein präreflexives Ereignis, das die
bedingungslose Bedingung für das gemeinsame Suchen im Gespräch mit dem Anderen
bestimmt. Da das Sich-Einlassen auf das Gespräch als die menschliche Seinsweise nunmehr
die unmittelbare Begegnung mit dem Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit ist,
verlangt das Gespräch als eine hermeneutisch anstrengende Verstehensgemeinschaft von
jedem Betroffenen eine ethische Verhaltenweise. Dementsprechend stellen wir fest, dass diese
Betroffenheit als unentrinnbare Grundstruktur geradezu auf die situierte Begrenztheit der
menschlichen Erfahrung verweist. Daran anschließend liegt es auf der Hand, dass Gadamers
Einsicht in den Situationscharakter der hermeneutischen Erfahrung an Aristoteles’ Analyse
der Phronesis anknüpft. Bei beiden Philosophen geht es hier um das praktische
Situationswissen. Denn das Ethische ist im Gespräch oder im Handeln als einer anerkannten
Begegnung mit dem unmittelbaren Gegenüber immer schon von der gewissen
Bewusstmachung der jeweiligen Situation abhängig. Da die betreffende Situation nicht mehr
zum Stillstand kommt, sondern sich flexibel und variabel in ihrer geschichtlichen und
zeitlichen Kontinuität weiter bewegt, müssen wir als Betroffene immer wieder die Frage
stellen, was gut für das Leben ist und die Antwort auf die Frage permanent suchen.
Diese
Aspekte
berücksichtigend,
möchte
ich
nun
die
Universalität
der
hermeneutischen Sprachlichkeit aus der dialogischen Perspektive einleiten. Hierbei geht es
um das ethische Fundament, das sich mit den gesamten Dialogvorgängen mitbewegt. Um das
ethische Element in Gadamers Dialoghermeneutik herauszuarbeiten, will ich von der
Universalität der hermeneutischen Sprachlichkeit, die wir als das Gespräch, das, so Hölderlin,
wir sind, verstehen müssen, ausgehen. Somit werden wir sehen, dass die dialogische
Sprachvermittlung, die sich als die spekulative Wechselbeziehung darstellt, den
ursprünglichen Hörverstehenshorizont erschließt. Von da aus wird sich der Dialog als das
philosophische Urphänomen zeigen. Damit wird auch gezeigt, dass der Dialog nicht nur die
Anerkennung des Anderen voraussetzt, sondern auch die Anerkennungsbewegung vollzieht,
da der Dialog einerseits durch die Zustimmung des Anderen voran kommt und andererseits
4
Vgl. Günter Figal, „Ethik und Hermeneutik“, in: Hermeneutik als Ethik, hrsg. Hans–Martin Schönherr–Mann,
München 2004, S. 117 – 133.
266
die grundsätzliche Unaufhebbarkeit der Andersheit bestätigt. Aus diesem Grund möchte ich
mich zunächst Gadamers Rekurs auf Aristoteles’ Phronesis in seinen frühen Arbeiten und in
Wahrheit und Methode zuwenden. Ich hoffe, dass wir auf diesem Weg die Frage beantworten
können, von welcher Bedeutung die universale Sprachlichkeit in Gadamers Kontext ist, auf
welche Weise das dynamische Anerkennungsverhältnis im Dialog vorkommt oder ob der
Dialog selbst die Bewegung des Anerkennens ist und schließlich ob der Dialog ohne das
praktisch-ethische Fundament denkbar ist.
267
I. Die dialogische Verständigung als die Gemeinsamkeitsbildung durch die sprachliche
Vermittlung
I – 1. Die Universalität der Sprache, in der wir sind
In der philosophischen Hermeneutik bezieht sich die Universalität der Sprachlichkeit des
menschlichen Verstehens, mit Gadamers berühmtem Satz gesagt, „Sein, das verstanden
werden kann, ist Sprache“ (GW. 1, S. 478), auf das hermeneutische Bewusstsein, das unter
der geschichtlichen Bedingtheit steht und sich mit dem uns Betreffenden unter der Bedingung
dieser Begrenztheit auseinandersetzt. Somit kann man sagen, dass Gadamers Grundeinsicht in
die
Sprachlichkeit
des
hermeneutischen
Verstehens
zu
dem
tendiert,
was
im
Verstehensprozess immer schon sprachlich geschehen ist. Die hermeneutische Wendung zur
Sprache, wie Gadamer in Anlehnung an Platons „Flucht in die Logoi“ gesagt hat, verweist auf
die sprachliche Erschlossenheit der menschlichen Welterfahrung. Wir können im Prinzip alles
sprachlich formulieren; wir können uns darum bemühen, die Sprache mit unserem Partner
gemeinsam zu finden. Dieses universale Können, mit dem wir uns beschäftigen müssen, ist
bei Gadamer die menschliche Fähigkeit, dasjenige, was ist, in eine sprachliche Formulierung
zu überführen. Gleichwohl liegt Gadamers Sprachauffassung gerade nicht darin, dass alle
Dingwelt sprachlich, sagbar ist, dass die Sprache das Denken an sich vollendet erschöpft,
sondern sie weist darauf hin, dass sich die menschliche Welterfahrung in der eingeborenen
Sprache bildet, d. h. dass das Verstehen von vornherein der Sprache zugehörig und die Welt
vermittels der Sprache zugänglich ist. Aus hermeneutischer Sicht ist die Sprache deshalb nicht
mehr das Objekt der Besitzergreifung, mit dessen Beherrschung wir unseren Gesprächspartner
argumentativ niederschlagen können und ihn zum Irrtum verführen können 5 , sondern sie ist
5
Habermas hat sich in seinem Aufsatz „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“, wie wir bereits gesehen
haben, mit der Kritik an Gadamers Hermeneutik beschäftigt: Es geht hier um Gadamers Akzentuierung der
konstitutiven Rolle der Rhetorik in der Gesprächsführung. Gegen Gadamers dialogische Perspektive hat
Habermas insbesondere die Gefahr der sophistischen Verführung der Sachwahrheit durch die
Überredungskunst, wie seit Aristoteles’ Kritik bekannt war, und die ‚ideologische’ Propaganda im
gesellschaftlichen Machtverhältnis, betont. Dessen Ansicht nach stellt er die unverzichtbare Rolle der
„Reflexivität“ und der „Objektivität“ für die rationale Begründung im kommunikativen Handeln ins Zentrum.
Wenn Habermas deshalb den Anspruch auf die „Metasprache“ erhebt, tendiert seine Intention zu dem
Verdacht gegen den lebendigen Sprachaustausch in der Lebenswelt. Aus Gadamers Sicht ist die Rhetorik
hingegen nicht bloße Überredungskunst, die mit einer vorbestimmten Zielsetzung des argumentativen
Niederschlags des Gesprächspartners anfängt, sondern sie dient im andauernden Gesprächsprozess dem Bilden
der Überzeugungskraft, weil sie uns zum Wahren und zum Guten führt. Die Rhetorik im Gesprächsaustausch
ist nicht mehr eine sophistische Redekunst, die das Wahre, das Gute tarnt und uns damit in die Irre führt,
sondern sie leistet immer die konstitutive Funktion im Dialog, uns das Moment der reflexiven
Selbstüberprüfung der eigenen Gewissheit zu verleihen. Um sich über das Wahre und das Gute gemeinsam
verständigen zu können, bedarf die Gesprächsführung der Rhetorik. Denn ein guter Rhetoriker weiß, welches
Wort in einer bestimmten Gesprächsphase angemessener als ein anderes ist, damit das, was er eigentlich sagen
268
der entscheidende Ort, an dem das Sein erscheint. Wir müssen bedenken, dass die Sprache
nicht vom atomisierten Subjekt manipulierbar, beherrschbar ist. Demgegenüber bildet sie von
vornherein den übersubjektiven Sinnhorizont, in dessen Licht wir uns dialogisch verständigen.
Darüber hinaus darf man nicht außer Acht lassen, dass die bildhafte Wiedergabe, Gadamers
Ansicht zufolge, jenseits unserer Sprache liegt, so lange wie die menschliche Welterfahrung
in den geschichtlich bedingten Lebenszusammenhängen entsteht. Von hier aus führt uns das
Bewusstsein unseres Mangels, dass uns die nötige Sprache fehlt, zur Sprachsuche hin. So
schlägt die Sprache den offenen Weg ihrer Selbsterweiterung und –entfaltung ein.
An dieser Stelle möchte ich auf die Sprachlichkeit des menschlichen Verstehens, die
Gadamer als „Sprachverfasstheit“ bezeichnet, anders formuliert, auf die konstitutive und
einführende Funktion der Sprache in unserem sorgfältigen Umgang mit der Welt, eingehen.
Hier geht es insbesondere darum, dass die Sprache in der philosophischen Hermeneutik in
einer ununterbrochenen Wechselbeziehung zu ihrer Grundstruktur steht, d. h. dass die
Sinnangebote, welche die Welt uns gibt, im sprachlich erschlossenen Zwischen gebildet
werden. Die Erscheinung der Sachwahrheit bewegt sich stets mit der Sprache mit. Die
Wahrheit, die die menschliche Erfahrung von vornherein anstrebt, ist deshalb, so wie
Gadamer der Platonischen „Lichtmetapher“ im Endteil von Wahrheit und Methode seine
Aufmerksamkeit zuwendet, in der Sprache „einleuchtend“. Sprache selbst ist immer ‚wahr–
scheinend’, weil die Wahrheit in ihrer sprachlichen Verlautung mitklingt. In diesem Sinn
bildet die Sprache einen ausgezeichneten Ort der Selbsterscheinung der Wahrheit. Beide
gehören einem einheitlichen Sinnganzheitshorizont an, in dem die unüberbrückbare Kluft
überwunden ist. Diese einheitliche Zusammengehörigkeit bildet deshalb die ontologische
Grundlage unserer sprachlichen Welterfahrung, der wir bereits zugeordnet sind. Insofern liegt
Gadamers Anliegen zur Sprachverfasstheit der Welt darin, dass die Sprache nicht mehr das
zweitrangige Abbild, sondern das einleuchtende Aufgehen der Wahrheit ist, ähnlich wie der
schöne Schein im Kunstwerk das Lebensganze, das sich selbst unendlich und unaufhörlich
entfaltet, umfaßt und dementsprechend seinen Wahrheitsbezug etabliert. Die Sprache als der
Erscheinungsort der Sachwahrheit ist nunmehr die Wechselbeziehung als solche, in deren Hin
und Her sich die menschliche Wahrheitserfahrung ereignet. Die ineinander übergehende
will, den Hörer überzeugen kann. In diesem Zusammenhang zeigt die Rhetorik, nämlich „echte Rhetorik“, wie
Gadamer gesagt hat, „zwar auch nicht die Sache auf, wie der Redner sie sieht, sondern gibt sie den Hörern als
etwas aus, was sie nicht ist, aber geleitet von einer sachlichen Absicht: die Andern auf dem Wege dieses
Täuschens von etwas zu überzeugen und zu etwas überreden, woran dem Redner liegt. Er redet also nicht, um
sich oder seine Kunst zu zeigen, sondern um seine Hörer zu etwas zu bestimmen, das er zu vertreten imstande
wäre, das er aber vor Vielen nicht einfach wie es ist zeigen kann, weil die Vielen nicht der Eine sind, den man
allein in sachliche Verständigung zwingen kann.“ (GW. 5, „Platos dialektische Ethik (1931)“, S. 37)
Insbesondere zum Stellenwert der Rhetorik in Gadamers Hermeneutik, vgl. Jean Grondin, „Unterwegs zur
Rhetorik“, in: Hermeneutische Wege, S. 207 ff.
269
Wechselbeziehung ist „aufgrund der Selbstbedeutung des Scheins möglich, weil die
Beziehung auf Wahrheit nur aus der Beziehung des Scheins auf sich selbst sichtbar wird.“ 6
Sie hat deshalb ihre unendliche Bewegtheit, auf deren Grundlage die Sprache den Mitvollzug
leistet, so lange die Wahrheitserfahrung keine unmittelbare Konfrontation mit dem nackten
Objekt, sondern die Einsiedlung in die Welt und die Auslegung der Welt vermittels der
Sprache ist. Aus Gadamers Sicht hat die Sprache diese dialogische Bezüglichkeit zu ihrem
Grundcharakter, da sie von vornherein auf ihre Sache gerichtet ist. Die Sprache selbst hat mit
dem unaufhörlichen Versuch der Transformierung des unendlichen Ganzen zur sichtbaren
Gestaltung zu tun. In diesem Sinn stiftet die Sprache, die den dialogischen Bezugspunkt
innehat, den gesellschaftlich erzeugten Sinnhorizont, in dem nicht nur die Welt auf jede
Weise erschlossen wird, sondern wir uns auch miteinander verständigen.
Aus der Perspektive der dialogischen Gerichtetheit der Sprache, nämlich der
zirkulären Wechselbeziehung der Sprache auf die Anderen, müssen wir bedenken, welche
Bedeutung die Universalität der Sprache bei Gadamer hat, wie das Denken durch die Sprache
vermittelt wird, wenn das Denken nur durch die Sprache zum Ausdruck kommen kann und
wo die Sprache ihre Vollzugsform hat, wenn sie von vornherein die Wechselseitigkeit zu ihrer
Grundstruktur hat. Mit seiner Einsicht in die Sprachverfasstheit der Welt geht Gadamer davon
aus, dass die Welt an sich sprachlich ist.
Gadamers Ansicht über die Sprachlichkeit des hermeneutischen Verstehens im dritten
Teil von Wahrheit und Methode geht, wie bekannt, von der Kritik an der instrumentellen und
nominalistischen Sprachauffassung in der abendländischen Denktradition aus, die er als die
„Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens“ bezeichnet. (GW. 1, S. 422) Gadamers
Ansicht zufolge war die Idee, dass die Sprache dem Denken oder der Vorstellungserkenntnis
der Dinge adäquat entspricht, eine grundsätzliche Hauptströmung der abendländischen
Denktradition von Platons Kratylos 7 bis zur analytischen Sprachphilosophie. Selbst in Platons
6
G. Figal u. H.–G. Flickinger, „Die Aufhebung des schönen Scheins – Schöne und nicht mehr schöne Kunst im
Anschluß an Hegel und Adorno“, in: Hegel – Studien (Bd. 14), Bonn 1979, S. 212. Der Aufsatz gibt uns den
Hinweis, dass der Begriff „Schein“ seinen Stellenwert in Hegels Logik deshalb hat, weil der Schein auf dem
Übergang von der Seinslogik zur Wesenslogik einen systematischen Bezugspunkt bildet und in dieser
Verknüpfungsfunktion einen Anteil am begrifflichen Wissen hat. Da das begriffliche Wissen hier durch die
Vermittlung des Scheins zum Ausdruck kommt, bezieht sich der Schein auf die Wahrheit, die mit der
Begriffsergreifung vollendet wird. Es geht hier um die Beziehung im logischen Verlauf zum Begriff, mit der
sich die wesentliche Ganzheit verbindet. Uns sagen die Autoren deshalb weiter: „Der schöne Schein ist
autonomer Schein, insofern Wahrheitsbezüge kraft seiner Selbstbeziehung zustande kommen. Die
Selbstbeziehungsstruktur ist zugleich Bedingung seiner, des schönen Scheins, Zugehörigkeit zur Sphäre der
Vernunft.“ (S. 213)
7
Zunächst müssen wir beachten, dass Gadamer sich des öfteren als Platoniker darstellt, dass Gadamers gesamter
Gedankengang hauptsächlich Platons dialogische Idee im Auge behält. Davon abgesehen behandelt Platons
Dialog Kratylos, den wir beinahe als Platons einzige Sprachphilosophie verstehen können, zwei ursprüngliche
Sprachkonzeptionen: Die eine ist der Konventionalismus, dessen Auffassung zufolge alle Wörter, nämlich alle
270
Dialog Kratylos, der die sprachphilosophischen Probleme ins Zentrum stellte, wurde die
Sprache aus Gadamers Sicht instrumentell verstanden, da Platon mit Sokrates sagen wollte,
dass sie erst nach dem Denken kommen würde. Mit anderen Worten: Platon wollte in diesem
Dialog zum Ausdruck bringen, dass man die Erkenntnis der Dinge ohne die Sprache
gewinnen kann. 8 Unfreiwillig hat er hier vorausgesetzt, dass das Wort nur das Zeichen der
Dinge, nämlich dasjenige, das dem Ding gegenüber steht, sein muss. Von hier aus ist die
Sprache in ihr prekäres Referenzverhältnis zum Vorstellungsinhalt geraten und sie hat der
unerreichbaren Reduktion auf das Erkenntnisobjekt die Erfüllung ihres Gültigkeitsanspruchs
zu verdanken. Diese Sicht auf die Sprache lässt im Grunde außer Acht, dass das Wort im
ganzen Erkenntnisprozess immer schon mitwirkt.
Darüber hinaus steht die analytische Sprachphilosophie zweifelsohne auch unter dieser
Traditionslinie, da sie sich von vornherein auf dem Anspruch gründet, dass es möglich sein
muß, bei dem Gedanken an Sprache, zu wissen, was damit gemeint ist. Hinter diesem fatalen
Anspruch der analytischen Sprachphilosophie versteckt sich ein gewisser Glaube, nämlich der,
dass die Sprache objektivierbar ist. Somit ist die Sprache ihr Untersuchungsgegenstand,
womit sie die Sprache zugleich zum „Ding“ macht. Hier setzt der Anspruch auf
Objektivierbarkeit noch immer die unauflösbare Scheidelinie zwischen der Sprache und dem
Denken bzw. dem Ding voraus. So gesehen ist die analytische Sprachphilosophie auch auf die
instrumentelle Sprachauffassung festgelegt, da sie die Sprache zum wissenschaftlichen Objekt
im Anschluss an das Denkmodell der erkenntnistheoretischen Objektivität macht. Wenn die
Sprachphilosophie diese Grundidee des naturwissenschaftlichen Bewusstseins zu ihrem
Vorbild hat, dann können wir uns fragen, was Sprache, die über die Sprache als das Objekt
spricht, ist. Kann man die Sprache überhaupt zum Forschungsobjekt machen, wenn über die
Sprache als wissenschaftlicher Gegenstand wiederum nur über die Sprache kommuniziert
werden kann? An dieser Stelle wird deutlich, dass die analytische Sprachphilosophie die
8
begrifflichen Kategorien, ihre Bedeutung unter den geschichtlichen Verwendungsumständen der
Sprachgemeinschaft erwerben. Die andere ist der Naturalismus, der alle Wörter nur als die genauen Abbilder
in der unmittelbaren Konfrontation mit demjenigen, was vor uns steht, ansieht. Das Thema dieses Dialogs
wird von Anfang an genannt, wenn ich zitiere: „[…], jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende
richtige Benennung, und nicht das sei ein Name, wie einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen,
indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der
Wörter, […].“ Im Diskussionsrahmen geht es deshalb darum, wie die sophistische Verführungsgefahr durch
das Argumentationsverfahren vermeidbar ist, wie wir die richtige Erkenntnis der Dinge erreichen können,
wenn die Wörter nicht ganz die natürliche Ähnlichkeit mit dem Wesen der Dinge enthalten. Platon, Kratylos,
in: Platons Werke, Bd. 3, übers. von F. Schleiermacher, Darmstadt 1974, 383a – b.
Diesbezüglich sagt uns Sokrates im Kratylos: „[…] Denn es gibt ja keine. Sondern offenbar muß etwas
anderes aufgesucht werden als Worte, was uns ohne Worte offenbaren kann, welche von diesen beiden die
richtigsten sind, indem es uns nämlich das Wesen der Dinge zeigt.“ Und er sagt weiter: „Es ist also doch
möglich, wie es scheint, Kratylos, die Dinge kennenzulernen ohne Hilfe der Worte, wenn sich dies so
verhält.“ Ebd. 438d – e.
271
Tatsache übersieht, dass die Sprache im wesentlichen nicht objektivierbar ist, da sie ihren
Sinnraum aus sich selbst heraus schafft. Aus Gadamers Sicht gibt es eine Ausnahme in der
Sprachvergessenheit der abendländischen Denktradition, nämlich die Trinitätslehre von
Augustinus, die Inkarnationslehre im christlichen Denken, mit der wir uns in Bezug auf die
spekulative Dimension der Sprache beschäftigen müssen.
Aus hermeneutischer Sicht zeigt sich die traditionelle Sprachvergessenheit auf zwei
Weisen: Einerseits als die objektive Erkenntnis der Dinge, andererseits als die
unhinterfragbare Souveränität des Denkens gegenüber der Sprache. Wenn wir unsere
Aufmerksamkeit zunächst dem sogenannten vorstellungserkenntnistheoretischen Glauben an
die Objektivität zuwenden, muss der Erwerb der richtigen Erkenntnis durch die unmittelbare
Konfrontation mit dem nackten Objekt ohne die Vermittlung der Sprache möglich sein. Hier
besteht die Erkenntnis in der adäquaten Korrespondenz mit der Dingwelt innerhalb der
exakten Verstandeskategorien, die vom Erkenntnissubjekt verwandt werden. Von den
Erkenntnisobjekten gewinnt das Subjekt die verschiedenen Wahrnehmungsinhalte. Daran
anschließend separiert das Erkenntnissubjekt auch die Informationen und ordnet die
unterschiedlichen Informationen zugleich in den Zusammenhang ein. Auf diese Weise wird
die klassifizierte Information, die von der Dingwelt unmittelbar gegeben zu sein scheint, unter
den allgemeinen Begriff subsumiert. Da die Vorgänge der Erkenntnis der Dinge hier auf dem
Kausalverhältnis beruhen, tendiert die Subsumtion der einzelnen Information unter den
allgemeinen Begriff, mithin zu der Feststellung des unhintergehbaren Grundes, aus dem jede
Erkenntnis objektiv logisch abgeleitet werden kann. In diesem Zusammenhang wird deutlich,
dass das ideale Streben nach dem Erwerb der objektiven Erkenntnis zunächst die bildhafte
Wiedergabe des Dings durch das Wort vorausgesetzt 9 und anschließend die Sprache, die hier
z. B. als Verstandeskategorie gilt, nur als ein Instrument für die Übermittlung der
wahrgenommenen
9
Informationen
herabgesetzt
hat.
Hinter
diesem
Ideal
der
M. E. gäbe es diese nominalistische Sprachkonzeption, die auf der Voraussetzung der ontologischen
Angleichung der Dinge mit dem Begriff den Sprachsinn vereinfachen und verkürzen will. Ihr ideales Ziel
richtet sich darauf, die sinnlose Sprache durch die Reduktion auf die Substanz zu eliminieren und mit der
logischen Genauigkeit des Sprachgebrauchs, die die mathematische Genauigkeit zum Vorbild hat, den wahren
Urteilssatz vom falschen zu unterscheiden. Indem die nominalistische Sprachauffassung den Sprachsinn an der
substanziellen Dingwelt zu messen trachtet, beschränkt sie die vielfältigen Potenzen des Sprachsinns auf das
verkürzte Bedeutungsfeld. Aber die Argumentation der nominalistischen Sprachkonzeption muss diesen Fall,
wie G. Frege uns zu verstehen gibt, erklären können, nämlich dass sich ein Namensträger als verschiedene
Namen erweist, d. h. dass ein Begriffsumfang demjenigen, der durch das Wort bezeichnet wird, nicht
entspricht. In diesem Sinne sagt Frege uns: „Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung,
Schriftzeichen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden
zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist. […]
Es würde die Bedeutung von „Abendstern“ und „Morgenstern“ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.“ Gottlob
Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: Funktion, Begriff, Bedeutung, hrsg. v. Günther Patzig, 3. Aufl.,
Göttingen 1969, S. 41.
272
Instrumentalisierung der Sprache ist auch die substanzielle Metaphysik versteckt. Denn wenn
das Wort nur das Zeichen von etwas wäre, hätte das Wort das nachträgliche
Bezeichnungsverhältnis zum Erkenntnisobjekt. Damit steht das Ding als Kriterium für die
objektive Erkenntnis dem Wort gegenüber. Gadamer hingegen weist darauf hin, dass die
Erkenntnis der Dinge immer schon durch die Sprache zustande kommt, so lange die
menschliche Erfahrung innerhalb des sprachlich verschafften Sinnraums mit der Welt umgeht
und sich somit innerhalb sämtlicher Lebensbezüge befindet.
Gadamers Ansicht zufolge lässt die Überschätzung der Autorität des Denkens,
insbesondere in der neuzeitlichen Subjektsphilosophie, auch die kreative Kraft und die
mitkonstitutive Fähigkeit der Sprache im dynamischen Prozess der Denkbildung außer Acht.
In diesem instrumentellen Sprachverständnis ist die Sprache nur ein nutzbares Werkzeug für
die Verlautung des Denkens, d. h. das Denken ist eine souveräne Substanz, die sich ohne die
Sprache entäußern kann. Hier wird die Sprache dem prekären Bestandteil der Denkbildung
zugeordnet, sofern das Wort die Übereinstimmung mit dem Denkinhalt nicht ständig auf
Recht erhält. Da das Wort ein Instrument zur Verlautung des Denkinhaltes im primären
Verhältnis des Denkens mit der Dingwelt ist, wird die Sprache in der instrumentellen
Sprachauffassung mithin als ein beherrschbarer Gegenstand verstanden, mit dessen Besitz das
Denken seinen inneren Inhalt im logischen Beweisverfahren evident wiederherstellen kann.
Wenn aber das Denken die Wahrheit nicht bereits enthält, sondern sie ständig sucht, nämlich
permanent anstrebt, muss sich das Denken in den dialektischen Prozess der ununterbrochenen
Bemühung um die Offenlegung der Wahrheit begeben. Auf diesem dynamischen Weg setzt
das Denken seine eigene Bewegung aus der Selbstüberwältigung und der Selbstfeststellung
fort, damit es zur Sprache kommt. 10 Somit stellt Gadamers Hermeneutik die strukturelle
Verwandtschaft des Denkens mit der Sprache in den Vordergrund, da das Denken sich selbst
in der Sprache vollzieht und auch bildet. Diese unaufhörliche Denkbewegung zum Erwachen
der Wahrheit zeigt, dass das Denken mit seinem vorübergehenden Bruch zur Sprache kommt
10
Im gegenwärtigen Diskussionsrahmen wird deutlich, dass das denkende Subjekt die unauflösbare
Zirkelstruktur der Selbstreflexion hat, weil das reflexive Selbstbewusstsein immer zwischen dem Selbstbezug
und dem Fremdbezug, nämlich zwischen dem Bewusstsein von sich selbst und dem Bewusstsein von etwas
steht. In Bezug auf die Unendlichkeit der reflexiven Denkbewegung zwischen dem Gegenstandsbewusstsein
und dem Selbstbewusstsein sagt M. Frank, wenn ich hier die Sätze in Gänze zitiere: „Sie (= die philosophische
Tradition) ist offensichtlich unhaltbar. Denn wäre Bewußtsein durch Selbstbezug ausgezeichnet – so, daß
dasjenige, von dem Bewußtsein besteht, erst mit dem Gewahren in den Blick käme -, so wäre das erste
Bewußtsein (in der Stellung des Gegenstandes) auf ein zweites Bewußtsein (in der Stellung eines Subjektes)
verwiesen: auf ein Bewußtsein, das, selbst unbewußt, abermals auf ein Bewußtsein verwiesen wäre, für
welches das gleiche Erfordernis gälte, das also, um zu sein, was es ist, auf ein viertes Bewußtsein angewiesen
wäre, und so ad infinitum. Nun besteht aber Bewußtsein, also kommt das Reflexionsmodell als Erklärung des
Phänomens nicht in Betracht.“ Manfred Frank, „Subjekt, Person, Individuum“, in: Die Frage nach dem
Subjekt, hrsg. ders., Gérard Raulet, Willem van Reijen, u. a., Frankfurt a. M. 1988, S. 11.
273
und umgekehrt die gesagte Sprache den Anlass zum weiteren Denken gibt. Die Sprache ist
daher dem Denken weder reflexiv nachgegangen, noch ahmt sie die formallogische Folge des
Denkens nach, sondern das Denken selbst ist ein anstrengender Versuch, die treffende
Sprache zu finden. Dementsprechend müssen wir darauf achten, dass die Sprache die Spur des
Denkens ist und das Denken immer schon mit der Selbstübertragung in die Sprache Schritt
hält. Daraus folgt aus hermeneutischer Sicht, dass der Sprachgebrauch in der bestimmten
Situation dasjenige, was das Denken in seiner eigenen Situation sagen will, ist, wenn auch die
Aussage das Denken nicht ganz erhellen kann. Auf diesem offenen Weg hat das Denken
vermittels der Sprache die unendliche Bewegtheit der Herauslösung aus den erstarrten
Dogmatismen.
Mit dieser Kritik an der Sprachvergessenheit in der abendländischen Denktradition
wird Gadamers Anspruch auf die hermeneutische Universalität 11 der Sprachlichkeit gekoppelt,
die sich mit dem umstrittenen Satz, „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“, in
Wahrheit und Methode zeigt. In Gadamers Hermeneutik hat Sprache nunmehr keinen
derivativen Seinswert, sondern sie selbst ist, wie Heidegger gesagt hat, „das Haus des
Seins“. 12 Denn die Sprache ist die hervorragende Stätte der Selbsterscheinung des Seins. Aber
dies besagt bei Gadamer nicht, dass die Sprache ohne Grenze das Sein an sich erschöpft. Mit
anderen Worten: Gadamers obiger Satz meint nicht die „Gleichsetzung von Sein und
Sprache“, 13 sondern er weist darauf hin, dass das verstandene Sein zur Sprache kommt. 14
Insofern zielt die hermeneutische Ereignisontologie der Sprache, die wir als Gadamers
Universalität der Sprachlichkeit bezeichnen können, nicht auf die vollendete Erhellung des
Seinssinns durch die Sprache ab, sondern sie ist mit unseren tätigen Verstehensvorgängen
verbunden. Dementsprechend legt Gadamer uns seine spätere Erklärung vor: „Wenn ich den
11
Hendrik Birus, „Einleitung“, in: Hermeneutische Positionen – Schleiermacher – Dilthey – Heidegger –
Gadamer, hrsg. ders., Göttingen 1982, S. 11 – 12. Dort sagt er: „Als universalisierter und dazu noch möglichst
vom Makel des Subjektiven gereinigter Begriff verliert >Verstehen< nahezu jegliche Bestimmtheit und
verschwimmt mit dem der >hermeneutischen Erfahrung<; die Differenz zwischen den Gegenständen des
Verstehens (historischen Berichten, philosophischen Texten, Dichtungen etc.) wird in einem totalen
Universum des Sinns eingeebnet – nicht von ungefähr wird von Gadamer ein Aufgehen der Ästhetik in der
Hermeneutik gefordert; und schließlich schwindet auch die Differenz zwischen Verstehenden und
Verstandenem: die Tradition sagt mir immer, wer ich bin – und nichts anderes.“ (meine Hervorhebung) Aber
wir dürfen nicht übersehen, dass die hermeneutische Universalität, wie häufig betont, keinesfalls auf die totale
Identifizierung durch die Aufhebung der Verschiedenheit der Differenten verweist, sondern es hier um die
hermeneutische Situation geht, in der wir den Anderen begegnen und sie verstehen wollen. Die Universalität
der hermeneutischen Situation enthält deshalb immer die ununterbrochene Begegnung mit dem Anderen in
seiner Andersheit, weil die unaufhebbare Andersheit den Möglichkeitshorizont des Verstehens permanent
eröffnet.
12
M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 166.
13
Gianni Vattimo, „Weltverstehen – Weltverändern“, in: >>Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache<<,
hier S. 54. In diesem Aufsatz hat er sich, wie der Titel andeutet, insbesondere mit der auffälligen Wendung der
hermeneutischen Ontologie in Wahrheit und Methode, in der er von „eine[r] grundlegende[n] Revolution der
Ontologie“ (S. 53) gesprochen hat, beschäftigt.
14
Zur satzanalytischen Interpretation, vgl. Jean Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 100 – 105.
274
Satz schrieb: >>Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache<<, so lag darin, daß das, was
ist, nie ganz verstanden werden kann. Es liegt darin, sofern alles, was eine Sprache führt,
immer noch über das hinausweist, was zur Aussage gelangt. Es bleibt, als das, was verstanden
werden soll, das, was zur Sprache kommt – aber freilich wird es immer als etwas genommen,
wahr–genommen. Das ist die hermeneutische Dimension, in der Sein >sich zeigt<.“ (GW. 2,
S. 334) Gadamers Grundeinsicht besteht daher darin, dass das verstandene Sein, mit dem wir
in einer bestimmten Situation umgehen und zu dem wir allein durch die Sprache Zugang
haben, sprachlich ausgedrückt werden kann. Nur dasjenige, was zu sagen ist, ist bei Gadamer
das verstandene Sein, das sich durch die Teilnahme unseres Verstehens „zeigt“. Die
hermeneutische Universalität der Sprache setzt nicht die absolute Abgeschlossenheit der
Verstehensvorgänge durch die bildhafte Wiedergabe des Seinssinns voraus, sondern sie
akzentuiert insbesondere die potenzielle Fähigkeit der Sprache, unsere dogmatische
Befangenheit zu erschüttern und die Sinnwelt immer wieder neu zu konstruieren. Denn die
Sprache bietet uns die Sinnwelt an und der sprachlich erschlossene Sinnraum erweitert sich
damit zum unabschließbaren Erwartungshorizont der vollkommenen Übereinstimmung mit
dem Sachverhalt.
Darüber hinaus müssen wir dem Sinnfeld des zu Verstehenden, nämlich dem
Verstehen–Können im obigen Satz, unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Dass das, was ist, in
der Sprache verstanden werden kann, verweist nicht nur darauf, dass das verstandene Sein zur
Sprache kommt, sondern auch darauf, dass sich die Potenzen des Verstehen–Könnens mit der
Verlautung des Seinssinns mitbewegen. Die hermeneutische Verständlichkeit von demjenigen,
was ist, vollzieht sich deshalb im Mitvollzug der Sprache. In diesem Sinn ist das sprachliche
Verstehen des Seins bei Gadamer am Können, wie Heideggers Formel („sich auf etwas
verstehen“) den Hinweis gibt, gebunden. Außerdem ist dieses Können das praktische
Bewusstsein vom Können, da das Können hier nicht nur die theoretische Verständlichkeit,
sondern auch die praktische Fähigkeit mit einschließt, die Gadamer in Anknüpfung an das
altgriechische Begriffsfeld der „poiesis“, nämlich „Herstellen–Können“, das das Sinnfeld vom
„Machen–Können“ als dem technischen Wissen und dem „Dichten–Können“ als der Kunst
umfasst, im Auge behält. Indem das Können aus hermeneutischer Sicht die umfassende
Möglichkeit der menschlichen Tätigkeit enthält, führt das Bewusstsein vom Können uns nicht
nur zur Erfahrung des Gegenstandes hin, sondern lässt uns auch das dialogische
Handlungsfeld betreten, das die kommunikative Wir–Dimension, die jedem Betroffenen die
reflexive Unterscheidung des Könnens vom Nicht–Können erlaubt, ist. Auf dem dialogischen
Handlungsfeld behält das praktische Bewusstsein vom Können das zu Verstehende in Bezug
275
auf das Verstandene stets im Sinn. Das dialogische Verstehen, das sich auf das praktische
Bewusstsein vom Können stützt, führt zudem den eigenen Denkbildungsprozess in der
sprachlichen Wiederbelebung des Verstandenen durch, da wir die Welt sprachlich artikulieren,
den Anderen erreichen und uns selbst verständigen. Nun ist das Sein im Grunde bei Gadamer
dasjenige, was dialogisch zu verstehen ist.
Dass das Sein im dialogischen Verstehensfeld auszusagen ist, bedeutet bei Gadamer
die „Sprachverfasstheit“ der Welt. Diese Sprachauffassung weist darauf hin, dass sich die
Welt sprachlich artikuliert. Dadurch, dass sich die Welt durch die Sprache darstellt und dass
die menschliche Erfahrung auf die sprachliche Artikulation der Welt angewiesen ist, ist die
Sprache der „Kern der Hermeneutik“. 15 Das „Zur–Sprache–kommen“ des Sachsinns in der
Welt (GW. 1, S. 384) ist nunmehr bei Gadamer die Übertragung des Sachsinns auf das Wort,
nämlich das Sprachgeschehen im umsichtigen Umgang mit der Welt. Außerdem skizziert
diese Übertragung der Sache ins Wort aus hermeneutischer Sicht die unendlich wiederholbare
Selbstmanifestation, in der sich die Welt für uns weiter verändert. Da die Veränderung zum
Wort, nämlich zum Gemeinsamen immer schon auf die Sache und auf uns gerichtet ist, wie
das Kunstwerk in der Kunsterfahrung bei Gadamer für das Dargestellte und für uns steht, ist
ihr selbst der „Zuwachs an Sein“ zugehörig. (GW. 1, S. 145) In der Sprache ist dasjenige, was
die Welt uns verleiht, deshalb nachvollziehbar, da die Sprache selbst den wesentlichen
Bezugspunkt auf die Welt etabliert, d. h. die Welt in der Sprache immer „anwesend“ ist: „Die
Welt ist nur da im >>da<< der Sprache.“16 Die Sprache ist mithin ein ontologischer Fundus,17
in dem die Welt für uns erschlossen ist. Die Sache in der Welt und die Sprache befinden sich
in einer unauflösbaren Wechselbeziehung, da die Sprache von vornherein auf die Sache
gerichtet ist und die Sache sich durch die sprachliche Erhellung darstellt. In diesem Sinn ist
15
Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 27.
Jean Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 229.
17
Es wird, wie bereits bekannt, deutlich, dass Gadamer seine ontologische Auffassung in Anknüpfung an
Heideggers Fundamentalontologie weiter erarbeitet. Bei der Aufnahme der Heideggerschen hermeneutischen
Perspektive, dass Heidegger den Seinssinn in der Interpretation der Seinsgeschichte offen zu legen trachtet, in
seine philosophische Hermeneutik versteht Gadamer Heideggers Fundamentalontologie als einen
konsequenten Denkweg von der „Kehre“ zu Heideggers frühen Ontologie. Die Ontologie als Wissenschaft des
Seins der Seienden, die deshalb bei Aristoteles als „Erste Philosophie“ verstanden wurde, zielt im
ursprünglichen Sinn auf die wissenschaftliche Analyse des Seins bzw. der Seienden ab. Insofern ist sie auf der
Theorie der Gegenständlichkeit, die wir die Präsenzontologie nennen können, fixiert. Von hier aus hat
Heidegger bereits in seiner Studienzeit gelernt, dass sich die Ontologiekonzeption seit Aristoteles zeitlich und
unterschiedlich entwickelt hat, dass die traditionelle Ontologie nur das „Vorhandensein“ ohne das
„Zuhandensein“, nämlich das bestimmte Gegenwärtigsein ohne seine Zukünftigkeit behandelt. Aus
Heideggers Sicht gibt uns die geschichtliche Umwandlung der Ontologiekonzeption den entscheidenden
Hinweis, dass das Sein selber zeitlich sei und dass die traditionelle Ontologie ihre eigene Betrachtungsposition,
auf der die unhintergehbare Substanz sich der ontologischen Objektivität versichert, außer Acht gelassen habe.
Heidegger wollte die Substanzmetaphysik in die ontologische Analyse der lebensweltlichen Praxis, die wir in
seinem Buch „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles“ finden können, in seiner frühen
Hermeneutik umsetzen. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Stuttgart 2002.
16
276
die Sprache bei Gadamer das „Da“ der Welt, in dessen Modus sich die Welt im Nu offenbart.
Mit anderen Worten: Das „Da“ als der Modus der ontologischen Manifestation der Welt ist
hier das sprachliche Vorkommnis, mit dem wir die Sache verständlich machen. Insofern
nimmt das hermeneutische Verstehen desjenigen, was die Welt uns jeweils zeigt, seine
Vollzugsform als Sprache an. So stiftet Sprache ihren eigenen Sinnraum, in dem wir die Welt
erfahren.
Dass die Sache dasjenige, was zu verstehen ist, innerhalb des sprachlich modifizierten
Sinnraums zeigt, bedeutet in Gadamers Hermeneutik die Sprachzugehörigkeit der
menschlichen Welterfahrung. Die Sprache hält den Sachverhalt in ihrer Gerichtetheit
zusammen und stiftet das gesamte Sinnnetzwerk, in dem sich die menschliche Welterfahrung
auf einer gleichzeitigen Punktualität befindet. Wenn wir die wechselseitige Gerichtetheit der
Sprache hier weiter bedenken, schließt die Sprache auf dem offenen Weg zur
unabschließbaren Erfahrung der Wahrheit die kundgebende Beziehung mit ein, da sich der
Sachverhalt durch die Sprache ausdrücken lässt. Hier zeigt sich, dass das ineinander
übergehende Wechselverhältnis von der Sache und der Sprache im ununterbrochenen Verlauf
der menschlichen Welterfahrung nunmehr die hermeneutische Struktur der gemeinsamen
Selbstauslegung bilden. Deswegen steht die sprachliche Gerichtetheit im Grunde nicht mehr
unter dem einseitigen Präsenzverhältnis des Objektes. In der gemeinsamen Wahrheitssuche
der menschlichen Erfahrung befindet sich die Sprache auch im Dialogverhältnis. Denn die
Sprache ist immer schon auf den Anderen gerichtet und kann aufgrund dieser dialogischen
Gerichtetheit den Anderen erreichen. So gesehen ist die ganze Welt, die sich stets durch die
Sprache ausdrückt, wie Gadamer sagt, „nie die Welt eines ersten Tages, sondern immer schon
uns überkommen. Überall da, wo etwas erfahren, wo Unvertrautheit aufgehoben wird, wo
Einleuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, vollzieht sich der hermeneutische Prozeß der
Einbringung in das Wort und in das gemeinsame Bewußtsein.“ (GW. 2, S. 498) Gleichwohl
setzt die Sprachzugehörigkeit der menschlichen Welterfahrung aus hermeneutischer Sicht
auch die Unterscheidung zwischen dem Sprecher und der Welt an sich voraus. Aber der
Unterschied ist hier keine gegensätzliche Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, auf dessen
Scheidelinie
die
beweisbare
Gegenstandsobjektivität
garantiert
wird,
sondern
die
uneinholbare Distanz, in deren Zwischenraum sich die menschliche Welterfahrung permanent
bewegt. Da vernimmt die menschliche Welterfahrung die Sprache der Sachen in der Welt aus
dem Blickwinkel ihrer geschichtlichen Situation. Unser Umgang mit der Welt ist deshalb das
Sich-Einlassen auf die Welt durch die Transformierung der Sachen zum verstehbaren Wort. In
diesem endlosen Umgang erweitert sich das gesuchte Wort ständig zum Gemeinsamen, auf
277
dessen Ebene es verwendbar und konkretisierbar ist. So enthält die menschliche Erfahrung als
ein unendlicher und unvermeidbarer Versuch zur gemeinsamen Sprachsuche den
Sozialisierungsprozess, der sich vor dem kulturellen und geschichtlichen Hintergrund
entwickelt.
Aus hermeneutischer Sicht ist die menschliche Welterfahrung, die in der Sprache
mitschwingt, auf ihre bestimmte Perspektive angewiesen. Eine solche Welterfahrung ist keine
Entzifferung desjenigen, was die Welt an sich zu sein scheint, sondern bewegt sich vor ihrem
eigenen Sinnhorizont, der in einer bestimmten Situation existiert. So prägt sie die
Weltanschauung, durch die wir die Welt entdecken können. Aber wir gelangen nicht alle zu
der selben Anschauung, sondern zu vielfältigen Weltanschauungen, da wir verschiedene
Bildungsgeschichten haben. Die Verschiedenheit der menschlichen Weltansichten zeigt hier
die Begrenztheit unserer Welterfahrung auf. Diese Verschiedenheit, die man hier als
Meinungsverschiedenheit bezeichnen kann, führt uns zum Dialogfeld hin, in dem sich die
verschiedenen
Weltanschauungen
gegenseitig
begegnen
und
einander
annähern.
Dementsprechend sagt Gadamer: „Als sprachlich verfaßte ist eine jede solche Welt von sich
aus für jede mögliche Einsicht und damit für jede Erweiterung ihres eigenen Weltbildes offen
und entsprechend für andere zugänglich.“ (GW. 1, S. 451) Wenn auch die vollständige
Erfassung des An-Sich immer schon jenseits unserer Grenze liegt, müssen wir die Welt an
sich und die Vielfältigkeit der menschlichen Weltanschauungen in eins mitzudenken trachten,
weil unsere Welterfahrung von vornherein auf das Aufgehen der Wahrheit wartet und sich in
diesem Sinn an der Wahrheit orientiert. Aber dennoch lässt ein fanatischer Glaube an die
totale Kundgebung vom An-Sich uns entweder zur „theologischen“ Überwelt gelangen oder
vom „luziferischen“ Wahnsinn verführen. (GW. 1, S. 421 und S. 450) Denn wenn die Welt
nur an sich ist, nämlich das An-Sich der Welt nur in sich versteckt ist, soll sich das An-Sich
unentbehrlich dem „Göttlichen“ zuordnen. Im anderen Fall wäre der Glaube, dass das AnSich der Welt von uns vollständig erklärbar und beherrschbar ist, „luziferisch“, weil der
Mensch hier vergöttlicht würde und die ganze Welt schließlich unserer mächtigen Herrschaft
verfallen würde. Angesichts dessen müssen wir beachten, dass sich die hermeneutische
Sprachverfasstheit der Welt von vornherein im dialogischen Übersetzungsverhältnis der
eigenen Wortfindung befindet, so lange die menschliche Welterfahrung, durch die die
verschiedenen
Weltanschauungen
gebildet
werden,
ihre
Wahrheit
unaufhörlich
herauszuarbeiten trachtet.
Auf Grund der bisherigen Überlegungen über den ‚Universalitätsanspruch’ der
hermeneutischen Sprachlichkeit müssen wir zunächst Gadamers Berücksichtigung der
278
Augustinischen Inkarnationslehre in seiner Sprachauffassung beachten, bevor wir die
„spekulative Struktur der Sprache“, die in Gadamers Hermeneutik die dialogische Mitte meint,
behandeln. (GW. 1, S. 479) Augustinus’ Inkarnationslehre ist bei Gadamer deshalb
entscheidend, weil sie das spekulative Verhältnis der Sprache zum Denken deklamiert. Es
geht hier einerseits um die „Wesensgleichheit“ von Denken und Sprache, wie die
Anwesenheit von Gottes Vater bei Gottes Sohn. Es geht andererseits um den dialogischen
Sinnhorizont der Denkbildung, wie das Gespräch von Moses mit Gott im Alten Testament
zeigt. Die Inkarnationslehre als das christliche Denkerbe der Trinitätstheologie lehrt uns, dass
die Inkarnation Christi keine Herabwürdigung der heiligen Gottheit, sondern die
wesensgemäße Fleischwerdung Gottes sei. Demzufolge weiß Gottes Sohn von sich selbst als
dem aus seinem Vater Hervorgekommenen, bei dem Gott sich gleichzeitig und vollkommen
offenbart. Die verklärte Offenbarung des Gottesvaters durch seinen Sohn wird uns deshalb als
die Vergegenwärtigung der wesentlichen, heilsamen Gottheit präsentiert. So ist für das
Christentum die Inkarnation kein Abfall, kein Verlust der Gottheit, sondern ist im Grunde die
göttliche Dreieinigkeit. Im Anschluss an die Analogie zur theologischen Inkarnationslehre
muss auch gesagt werden, dass die Offenbarung Gottesvaters bei der jeweiligen
Gesprächsführung mit Gott in Gang gesetzt wird. 18 Für Gadamer verweist das Gespräch mit
Gott im alten Testament daher auf den dialogischen Sprachcharakter der Gottesoffenbarung.
Aus diesem Denkmodell leitet er den Ereignischarakter der Sprache im dialogischen
Verstehen ab. Denn er findet die wesentliche Einheit zwischen dem inneren Verborgenen und
seinem
äußeren
Verkörperten
im
Inkarnationsvorgang,
nämlich
die
sprachliche
Selbstmanifestation des Denkens im Dialogvorgang. Gadamers Sprachauffassung zufolge ist
die Sprache mithin die Vernehmung und Verlautbarung des inneren Denkens. Indem die
Sprache die unmittelbare Präsentation des Denkens ist, vollzieht sich das innere Denken in
der ständigen Übertragung auf die sprachliche Vielfältigkeit. So gesehen hält der dialogische
Austausch zwischen Rede und Gegenrede aus hermeneutischer Sicht mit dem
Denkbildungsprozess selbst Schritt.
18
Vgl. Jean Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 71 ff. Hier hat er hauptsächlich den hermeneutischen
Wahrheitsvollzug in der menschlichen Erfahrung behandelt. Wenn die Wahrheit unserer Erfahrung im
hermeneutischen Sinn nicht durch eine von uns unabhängige Objektivität garantiert wird, sondern sich auf
dasjenige, was mich schon immer betrifft und mich befragt, bezieht, geht es in der Wahrheitserfahrung nun um
die Angemessenheit. Mit diesem Verständnis der Wahrheitserfahrung hat er sich mit Heideggers Augustin–
Vorlesung vom Sommersemester 1921 in Anknüpfung an Augustinus’ Bekenntnisse/confessiones, in denen
Augustinus ein Selbstgespräch vor Gott geführt hat, beschäftigt. Wenn die hermeneutische Wahrheit mit dieser
unentrinnbaren Wahrheitsfrage, die mich betrifft, rettet, und um die wir uns deshalb ständig sorgen sollen, zu
tun hat, dann enthält die Wahrheitserfahrung die Gesprächsform der von sich selbst gestellten Frage und der zu
suchenden Antwort. Denn die Wahrheitserfahrung als die permanente Selbstfrage ist hier ein Selbstgespräch
sowohl vor der Wahrheit als auch vor Gott, das stets die unverzichtbare Frage nach dem Wesen des Menschen
in sich enthält.
279
Nach dieser hermeneutischen Einsicht in die ontologische Einheit von Denken und
Sprache richtet Gadamer nun seine Aufmerksamkeit auf Augustinus’ Verbum–Lehre. 19
Gadamers Grundanliegen in Wahrheit und Methode liegt hier in der Umsetzung der
offenbarungstheologischen Trinitätslehre von Augustinus in den sprachphilosophischen
Bereich. Seine Aufnahme der augustinischen Verbum–Lehre in die hermeneutische
Sprachauffassung stützt sich deshalb auf die Prämisse, dass Augustinus seine theologische
Inkarnationslehre mit der Sprachtheorie unter der Fragestellung nach der adäquaten Kohärenz
von Wortzeichen und Wortsinn verknüpft. Aber für Gadamer geht es hier nicht um die totale
Präsenz der ontogenetischen Gottesschöpfung im „wahren“ Wort, sondern um den faktischen
Ereignischarakter, nämlich dasjenige, was zur Sprache kommt und sich im Wort verwirklicht.
In diesem sprachphilosophischen Zusammenhang verweist das innere Wort (verbum
interius), wie die augustinische Verbum–Lehre zeigt, auf das Denken, was „sich sagt“, und
damit auch auf die unaufhebbare Endlichkeit unserer Sprache. Das innere Wort, wie Gadamer
sagt, „indem es das Denken ausdrückt, bildet also gleichsam die Endlichkeit unseres
diskursiven Verstandes ab. Weil unser Verstand das, was er weiß, nicht in Einem denkenden
Blick umfaßt, muß er jeweils das, was er denkt, erst aus sich herausführen und wie in einer
inneren Selbstaussprache vor sich selber hinstellen. In diesem Sinne ist alles Denken ein
Sichsagen.“ (GW. 1, S. 426) Insofern liegt auf der Hand, dass unser Denken weder die reine
Kognitivität,
die
durch
die
exakte
Evidenz
des
logischen
Beweissatzes
der
Gegenstandserkenntnis zustande kommt, noch das bedeutungsidentische Reduktionsverhältnis,
das sich zwischen dem Wortzeichen und demjenigen, was bezeichnet wird, abspielt, sondern
einen akzidentellen und dialektisch prozessualen Zug aufweist. Denn das Denken als das
innere Wort erreicht seinen Vollzug durch die wörtliche Erfüllung dessen, was die vertrauten
Wahrnehmungsdaten, die in diesem Zusammenhang gebildet werden, ausführen. Der
augustinische Gedanke vom Verbum, nämlich vom wesensgleichen Verhältnis des
Wortzeichens zum inneren Denken, ist in Gadamers hermeneutischem Kontext 20 zudem
deshalb entscheidend, weil Augustinus zuerst gegen die metaphysisch–idealistische
Denktradition, die den Primat der ratio in Verbindung mit der Welt in den Vordergrund rückt,
den Logos als das Verbum verstanden hat. Gegen diese traditionelle Gewissheit der
vorschriftlichen Zuordnung des Weltganzen durch die ratio betont die augustinische Verbum–
Lehre, dass das Denken selbst der aufhellenden Kraft des Wortes bedarf, so lange das, was
19
Vgl. Johann Kreuzer, „Was verstehen wir, wenn wir verstehen? – Augustinus über Orakel, innere Wörter und
die Zierde der Verstehensgemeinschaft“, in: Philosophisches Jahrbuch, 111Jg., hrsg. v. Thomas Buchheim u.
a., München 2004, S. 274 ff.
20
Zum Stellenwert der Augustinischen Verbum–Lehre in der hermeneutischen Traditionslinie, vgl. Jean Grondin,
Einführung in die philosophische Hermeneutik, 50 ff.
280
verstanden worden ist, auch zu sagen ist. Konsequent kann gesagt werden, dass das Denken,
wie Augustinus es als verbum interius bezeichnet hat, im wesentlichen Sinn das lautlose Wort
ist und deshalb die Modifikation zur sinnlichen Verlautung des Wortes für seine Entäußerung
ertragen muss. Aber das bedeutet dennoch nicht, dass das Denken in seiner Transformation
zur sinnlichen Verlautung die vollkommene Relation zu seiner Sache gewinnt. Auch hier
zeigt sich, dass ein solch modifiziertes Wort weder ein eindeutiges Merkmal für den
Sachverhalt, noch eine direkte Kopie dessen ist, was zu bezeichnen ist.
Aus diesem Grund nimmt Augustinus’ Verbum–Lehre, aus Gadamers Sicht, die
Unterscheidung zwischen dem „inneren Wort“ und dem „äußeren Wort“ vor, die von
vornherein das stoische Denkerbe war. Diese augustinische Unterscheidung weist darauf hin,
dass das innere Wort im Prinzip das von seiner Sache gebildete, aber auch das ins äußere
Wort übergehende Denken ist. So gesehen, findet das Denken seine Vollzugsform nicht im
bereits geformten Wort, sondern der Denkvollzug liegt in dem unendlichen Versuch zum
dialektischen Nachvollzug, in dessen Prozess sich das lautlose Wort des Denkens in das
verlautete Wort übersetzt. Hinsichtlich dieser prozessualen Endlosigkeit der hermeneutischen
Wortsuche ist die ständige Übersetzung des inneren Wortes ins äußere Wort aus
hermeneutischer Sicht immer unvollkommen. So kommt das Denken nicht ganz zu seiner
Vollendung, sondern es selbst bahnt sich den unaufhörlichen Weg der ständigen Wortsuche in
der anstrengenden Bemühung um das künftig Sagbare.
In dieser Anlehnung von Gadamers hermeneutischer Sprachauffassung an die
augustinische Unterscheidung des inneren Wortes von dem äußeren Wort werden wir
Augustinus’ Grundeinsicht in das „göttliche“ Wort (verbum dei) unsere Aufmerksamkeit
zuwenden. Die augustinische Lehre hat die Fleischwerdung des Wortes, die uns aus dem
Prolog des Johannes-Evangeliums bekannt ist, aus dem Blickwinkel der trinitarischen
Inkarnation Christi hervorgehoben. Hier wird das göttliche Wort in der ontogenetischen
Schöpfungsgeschichte als die wesensgleiche Verkörperung der Gottheit verstanden. Diese
schöpferische Verkörperung Gottes in seinem Wort geschah jedoch nur einmal in einem
vollkommenen Wort, in dem die Gottheit dreieinheitlich in eins zusammengebracht wurde. In
diesem
absolut
einmaligen
Ereignis
ist
der
göttliche
Logos
das
vollkommene
Wahrheitsgeschehen, in dem die unauflösbare Distanz zwischen dem inneren Wort und dem
äußeren Wort bzw. der Unterschied zwischen dem Wortzeichen und demjenigen, was
bezeichnet wird, nicht vorkommt. Dennoch soll sich das göttliche Wort als Gottesbotschaft,
das in einer bestimmten geschichtlichen Situation in der Heiligen Schrift auftaucht, hier von
dem Wort, das schon immer „bei Gott“ war, unterscheiden. In dieser grundsätzlichen
281
Unterscheidung erarbeitet das Wort, das in sich verborgen ist, von sich selbst das
Modifikationsmoment zum sinnlich hörbaren Wort, um zu uns zu kommen, so wie das innere
Wort, um sich selbst zu sagen, der sinnlichen Verlautung des äußeren Wortes bedarf. Denn
das Moment der Selbstmanifestation des göttlichen Wortes stammt, der hermeneutischen
Sprachauffassung zufolge, aus der wesentlichen Gerichtetheit des Wortes selbst, die die
schöpferische Kraft des Wortes in sich einschließt. Dementsprechend wird bei Gadamer
deutlich, dass die Heilige Schrift nicht nur die Fleischwerdung des göttlichen Wortes durch
den verklärten Mund Christi ist, sondern auch die Predigt als Applikation des göttlichen
Wortes, die Gadamer als theologische Anwendungsleistung in Anknüpfung an das juristische
Anwendungsproblem in seinem Hauptwerk gesehen hat und die konkrete Verkündung der
Gottheit ist. Da ein solch offenbartes Wort, wie uns das Geheimnis der Gottesoffenbarung
gezeigt hat, die schöpferische Kraft der Gerichtetheit des Wortes zu seinem Grundcharakter
hat, kann man sagen, dass Gott sich in diesem Wort jeweils verkörpert und vergegenwärtigt.
Dennoch stehen wir ständig vor der Aufgabe der Auslegung, da das uns verkündete Wort im
wesentlichen Sinn von dem Wort, das im Anfang „bei Gott“ war, distanziert ist.
Aus diesem Grund können wir annehmen, dass das Wort im Prinzip mit dem Denken
„wesensgleich“ ist. In Bezug auf seinen Sachverhalt steht das Denken als das innere Wort
nicht zeitlich vor dem bereits geformten Wort, sondern geht nur logisch dem verlauteten Wort
vorweg. Denn das Denken spricht sich nicht nur durch die hörbare Verlautung des Wortes aus,
sondern bildet sich selbst auch in seinem sprachlichen Bezug auf die Sache. Das Wort ist, wie
Gadamer sagt, das „geistige Hervorgehen, das sich im Vorgang des Denkens, des Sichsagens,
vollzieht.“ (GW. 1, S. 427) In diesem Sinn leistet das Wort mit seiner wesentlichen
Gerichtetheit die kreative Bezeichnungsfunktion, das Denken zu präsentieren. Trotz des
potenziellen Sinnganzheitshorizontes der vollkommenen Selbstdarstellung des Denkens in der
hörbaren Verlautung des Wortes ist das „menschliche“ Wort jedoch stets unvollkommen, da
es uns bereits unter der geschichtlichen Begrenztheit prozessual zukommt, während das
„göttliche“ Wort ohne das zeitliche Akzidens das Universum mit einem Wort erschafft. Kein
menschliches Wort kann den gesamten Sachverhalt oder das zu Sagende im Nu vollkommen
aussagen. Gleichwohl gibt die Unvollkommenheit des menschlichen Wortes uns den
wichtigen Hinweis, dass das Denken in sein verlautbares Wort hinein wächst, so lange es
seine Wahrheit prozessual sucht. Somit wird deutlich, dass das Wort zufällig und vieldeutig
ist, so lange wie es immer schon etwas Sagbares in seinem Sachverhalt hinter sich lässt. Wenn
das Denken ohne die Sprache nicht ausgedrückt werden kann oder wenn das Denken in
seinem dialektischen Entfaltungsverlauf zur Wahrheit auf die Sprache angewiesen ist, muss
282
aus Gadamers Sicht gesagt werden, dass die Sprache, indem wir Schellings Gedanken
nachspüren, „etwas unvordenkliches“ ist.
Dass das menschliche Wort zufällig und vieldeutig ist, heißt im hermeneutischen Sinn,
dass das Wort für uns kein defizitäres, sondern ein ständig Sagbares ist. Denn die
Vieldeutigkeit des menschlichen Wortes verweist auf den Sinnüberschuss im Prozess des
Transfers des lautlosen Wortes zum vernehmbaren Wort, nämlich im Transzendieren des
verborgenen Denkens zum übersubjektiven Sinnhorizont. Sofern wir den Sachverhalt durch
die Sprache verstehen müssen und den Anderen mit der Sprache erreichen wollen, müssen wir
zunächst unseren Horizont in der bestimmten Situation gewinnen. Solch gebildete
Darstellungs– und Auslegungsweisen verleihen uns die Sinnpotenzen und erlauben uns auch
die Akzentuierung, Überhellung und Entstellung des wörtlichen Sinnes. Da die Vieldeutigkeit
unseres Wortes den möglichen Sinnraum der Sprache erweitert, ist die Annahme der
Zufälligkeit und der Vielfältigkeit unseres Wortes für uns nicht viel gefährlicher als die
dogmatische Befangenheit. Denn wenn ein erstarrter Dogmatiker glaubte, dass es nur eine
einzige Wahrheit in der Welt gäbe und er allein ihren absoluten Maßstab hätte, würde er, wie
die Geschichte von dem Kalifen gezeigt hat, in dem Fall, dass die anderen dasselbe sagen, es
für überflüssig oder in dem Fall, dass die anderen etwas anderes sagen, es für falsch und
schädlich halten. Im Gegensatz zu dieser dogmatischen Banalität führt uns die Vielfältigkeit
und Vieldeutigkeit des Wortes zum dialogischen Übersetzungsverhältnis, in dem das Wort in
der geschichtlichen Situation verwendet und damit ins andere, aber dennoch gemeinsame
Sinnbild
verwandelt
wird.
Angesichts
dessen
ist
das
Wort
im
dialogischen
Übersetzungsverhältnis auf jeden Fall virtuell und flexibel, da nicht aus den Augen verloren
werden darf, dass das Wort seinen Sinnvollzug nicht in der Summe der Buchstaben findet und
der Satz auch seinen Sinn nicht in der syntaktischen Analyse bildet. Darüber hinaus hat
Gadamers Sprachhermeneutik nicht außer Acht gelassen, dass unser Anspruch auf die
kontextuell angemessene Wortbildung im dialogischen Übersetzungsverhältnis nicht nur die
Unerreichbarkeit der vollendeten Aussage bereits voraussetzt, sondern auch das Sagbare des
Denkens in der wesentlichen Gerichtetheit des Wortes beständig vor Augen hat.
In diesem dialogischen Übersetzungsverhältnis, dem die sinnkonstitutive Funktion der
Sprache
in
Gadamers
Sprachhermeneutik
zugrunde
liegt,
hat
die
Sprache
den
„spekulativen“ Horizont: Sprache, wie Gadamer gesagt hat, ist „etwas Spekulatives“. (GW. 1,
S. 472) Im etymologischen Sinn bedeutet hier Spekulation, wie bekannt, speculum, nämlich
der Spiegel. Aber wir können die Spekulation im weiteren Sinn auch als die theoretische
Betrachtung einer bestimmten Erkenntnisform, aus hermeneutischer Sicht als eine andauernde
283
Teilhabe am Anblick der Sachbewegung bezeichnen. Wenn Gadamer in Wahrheit und
Methode den Begriff „Spekulation“ gebraucht, liegt seinem Sprachgebrauch nicht nur eine
traditionelle Auffassung zugrunde. Vielmehr macht er insbesondere auch hier Anleihen bei
Hegel. 21
An dieser Stelle müssen wir deshalb nun eine kurze Antwort auf die Frage geben, was
bei Hegel „Spekulation“ oder „spekulativ“ bedeutet. Mit seinem eigenen Anspruch, dass das
spekulative Denken für die Philosophie notwendig ist, damit die Philosophie ihre Wahrheit in
der einheitlichen Ganzheit erwerben kann, hat Hegel bereits in der Phänomenologie des
Geistes bemerkt, „daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des
Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird und der
identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse
enthält.“ (PhdG. S. 59, meine Hervorhebung) Wenn der Urteilssatz, Hegels Ansicht zufolge,
sein gegenüberstehendes Objekt zum Denken, gewissermaßen zum Satzausdruck ohne die
anderen Elemente, hinführen können muss und wenn er damit seinen Gültigkeitsanspruch
erhebt, dann wird der Urteilssatz selbst zu einem Denkprodukt, das sprachlich und reflexiv
niedergeschlagen wurde. Beim sprachlichen und reflexiven Niederschlag geht es hier auch um
die totale Entsprechung mit seinem Denkinhalt, die sich der Objektivität versichert. Da der
Urteilssatz hier der sprachlichen Bezeichnung seines realen Inhaltes zugeordnet wird, soll er
zunächst die Bedingungen des Gültigkeitsanspruches erfüllen. Damit soll jede Sprache im
Grunde eine bedeutungsidentische Referenz sein. Aus Hegels Sicht hat der Urteilssatz damit
seinen Stellenwert als einen absoluten Wahrheitssatz verloren, der von seiner direkten
Merkzeichenfunktion garantiert wurde. Mit diesem Verlust ist der Urteilssatz nur in ein
Moment der gesamten Erkenntnisverläufe, nämlich in einen gewissen Punkt des
selbstreflexiven Denkprozesses geraten. Gegen diesen formellen Urteilssatz kann das Denken
sich selbst, Hegel zufolge, im „spekulativen“ Satz, wieder in Erinnerung rufen, ja
widerspiegeln und seinen eigenen Inhalt erfahren. Denn das Denken in seiner spekulativen
Satzform wendet sich seinem inneren Inhalt zu und beginnt bereits die Selbstnegation seiner
Gefesseltheit an die Getrenntheit. Durch diese negative Zuwendung zu seiner Innerlichkeit
fasst das Denken das gegenseitig abhängige Verhältnis von Subjekt und Prädikat in seiner
Satzform auf. In diesem Sinn kann gesagt werden, dass die Spekulation „die Weise der
Selbsterfahrung des Denkens“ 22 ist. Das spekulative Denken ist deshalb bei Hegel ein wahres
21
Wie bereits angedeutet, wurde die Aufnahme der Hegelschen Philosophie in Gadamers Hermeneutik von
zahlreichen Gadamer–Kritikern verkannt. Vgl. etwa M. Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 20 ff. u. S. 80
ff.
22
Vgl. Josef Simon, „Die Kategorien im „gewöhnlichen“ und im „spekulativen“ Satz – Bemerkungen zu Hegels
Wissenschaftsbegriff“, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. III, hrsg. v. Erich Heintel, Wien/Stuttgart
284
Subjekt, das die wechselseitige Beziehung zwischen Satzsubjekt und Prädikat, präziser gesagt,
den unmittelbaren Übergang vom Satzsubjekt zum Prädikat, – hiermit wird das Prädikat in
Verbindung mit der Kopula 23 zum Allgemeinen -, und den reflexiven Übergang vom Prädikat
zum Satzsubjekt, - hier hat das Satzsubjekt zwar seine Allgemeinheit wieder gewonnen, aber
seine Wirklichkeit verloren -, erkennt. Nur durch die selbstreflexive Negationsbewegung des
spekulativen Denkens kann sich das Satzsubjekt als eine wirkliche Allgemeinheit, im
Hegelschen Sinne als der „Begriff“, auf dessen Ebene das Wesen des ganzen Satzinhalts zur
Sprache kommt, zeigen. Bei der vollkommenen Ausführung des spekulativen Satzes ist die
Dialektik bei Hegel zunächst als Spekulation bestimmt. Angesichts der absoluten
Affirmativität der Spekulation gelangt dialektische Philosophie bei ihm auch zur Metaphysik.
Davon abgesehen wird klar, dass Hegels subjektphilosophischer Denkzug durch die
reflexiv angeeignete Zurückführung auf das denkende Ich zur absoluten Selbstvermittlung des
Subjekts tendiert. Damit erweckt Hegels reflexionsphilosophischer Denkzug auch zugleich
den Anschein, dass die metaphysische Denkaffirmation im spekulativen Satz, wie angedeutet,
die homogene Vermittlung des Subjektes mit der Substanz, der Wirklichkeit mit dem Geist,
ausführlich erarbeitet. Mit anderen Worten: Das wahre Subjekt des spekulativen Satzes ist das
denkende Ich, das sich in der dialektischen Bewegung zum Unendlichen durchsetzt. So
verstanden prägt der spekulative Satz deshalb nicht mehr die gewöhnliche Satzverbindung des
Subjektes mit dem Prädikat in der umgangssprachlichen Satzform, sondern er schließt den
dem
Paradigma
des
selbstreflexiven
Selbstbewusstseins
gemäßen
Modus
der
Selbstdarstellung, in der das Subjekt sich selbst auslegt, ein. Dementsprechend meint das
Prädikat in diesem Satz nicht mehr die Eigenschaften des Subjekts, die von jedem Blickpunkt
aus je verschieden beigefügt werden können, sondern es meint die einheitliche Wesentlichkeit,
die das Subjekt in der Satzform zum Ausdruck bringen soll. So hat der spekulative Satz das
1970, S. 9 – 37, hier S. 15 und ders., „Ethik und Ästhetik des Zeichens“, in: Orientierung in Zeichen – Zeichen
und Interpretation III, hrsg. v. ders., Frankfurt a. M. 1997, S. 267 – 291. Zur Spekulativität des Anfangs der
Hegelschen Logik, vgl. Hans Friedrich Fulda, „Über den spekulativen Anfang“, in: Subjektivität und
Metaphysik – Festschrift für Wolfgang Cramer, hrsg. v. Dieter Henrich, Hans Wagner, Frankfurt a. M. 1966, S.
109 – 127.
23
Die Kopula leistet drei verschiedene Funktionen im Urteilssatz: Die Kopula „ist“ bedeutet erstens die
definitive Identifikation im logischen Satz, wie die Funktion des Zeichens „Gleich“ in der Mathematik. Sie
spielt zweitens eine Rolle als Hilfszeitwort. Hierbei ist sie deshalb keine Eigenschaft mehr. Aber in ihrem
Gebrauch, insbesondere in der Philosophiegeschichte, wird die Kopula drittens häufig als die ontologische
Eigenschaft, nämlich das Sein verstanden. Daraus folgt ein ontologisches Problem in der
Philosophiegeschichte. Wenn das Sein als die Kopula die Eigenschaft im Urteilssatz wäre, zeigt sich das Sein
einerseits als eine Bestimmung, nämlich die Qualität im Satz. Im Urteilssatz verweist das Sein kategorisch auf
die Positivität gegenüber der Negativität bzw. dem „Nicht“. Andererseits wird ‚Sein’ in der Substanzontologie
außerdem auch auf das substanzielle Eine verlegt, das allen Seienden, ja allen Eigenschaften vorweg geht. Vgl.
Josef Simon, „Verführt die Sprache das Denken? – Zur Metakritik gängiger sprachkritischer Ansätze“, in:
Philosophisches Jahrbuch, 83. Jg., hrsg. v. Hermann Kriegs u. a., Freiburg/München 1976, S. 102 ff. Seine
Frage in diesem Aufsatz richtet sich insbesondere darauf, inwiefern die Sprache auf die Gedankenbildung
Einfluss nimmt.
285
Spannungsverhältnis zwischen seinem Denkinhalt und seiner Ausdrucksform noch nicht
verloren, bevor das Denken zu sich selbst vollendet zurückkehrt. Die Spannung ist bei Hegel
vom denkenden Ich, das die zirkuläre Bewegtheit zwischen dem Inhalt und seiner Form
vollständig durchführt, negativ aufgehoben. Mit Hegels subjektphilosophischem Denkansatz
betrachtet, kommt die dialektische Bewegung der negativen Vermittlung schließlich der
subjektiven Selbstgewissheit des denkenden Ich zu. Außerhalb der selbstbezüglichen
Gewissheit des Subjektes bleibt nichts übrig. Demgegenüber wird die negative Aufhebung der
Vermittlung zur Affirmation in Hegels spekulativer Philosophie von Gadamer als die erneute
Unterwerfung der Sprache unter die Herrschaft des Denkens verstanden. Denn die
Sprachvermitteltheit hält bei Gadamer das unaufhebbare Wechselverhältnis ewig fest, indem
die Vermittlung nie zu einem Ende kommt. Beim Versuch der aktuellen Aufnahme der
Hegelschen Denkspekulation will Gadamer nicht Hegels homogenes Systemdenken
verteidigen, sondern er erhebt Einspruch gegen die Geschlossenheit der totalen Vermittlung.
Vor dem Hintergrund der systematischen Homogenität ist die Geschichte mit der Wahrheit,
das Subjekt mit der Substanz bzw. die Wirklichkeit mit dem Geist in eins vollendet
zusammengebracht. Gegen diese totale Vermittlung im Modell der Hegelschen Spekulation
hat Gadamer die existenzielle Endlichkeit der menschlichen Erfahrung als den Wesenszug des
verstehenden Subjekts immer vor Augen. Aus hermeneutischer Sicht befinden wir uns immer
in der Situation, dass die Überlieferung und unsere Selbstbestimmtheit nicht restlos reflexiv
erklärbar sind.
Wenn wir uns hier daran erinnern, dass die Welt nicht mehr dasjenige ist, was
alphabetisch zu entziffern und abzulesen ist, sondern unser Umgang mit der Welt des
sprachlich erschlossenen Horizontbildens bedarf und auf die daran angeschlossene
Wortbildung angewiesen ist, verweist der spekulative Horizont der hermeneutischen
Sprachlichkeit im Grunde zwar auf die wesensgemäße Wiederherstellung des Sachsinns in der
Welt, der sich in der Sprache darstellt und vollzieht. Aber die sprachliche Wiederherstellung
der Sachlichkeit vor dem spekulativen Horizont schließt bei Gadamer keinesfalls das
substanzontologische Kausalverhältnis ein, in dem das Urbild als die allerletzte Instanz immer
die logische und ontologische Priorität hat und sich als das so genannte letztbegründete
Wirkende zeigt. Hinsichtlich des spekulativen Horizontes der Sprache sagt Gadamer in
Wahrheit und Methode: „Was verstanden werden kann, ist Sprache. Das will sagen: es ist so,
daß es sich von sich aus dem Verstehen darstellt. Auch von dieser Seite bestätigt sich die
spekulative Struktur der Sprache. Zur–Sprache–kommen heißt nicht, ein zweites Dasein
bekommen. Als was sich etwas darstellt, gehört vielmehr zu seinem eigenen Sein. Es handelt
286
sich also bei all solchem, das Sprache ist, um eine spekulative Einheit, eine Unterscheidung in
sich, zu sein und sich darzustellen, eine Unterscheidung, die doch auch gerade keine
Unterscheidung sein soll.“ (GW. 1, S. 479, meine Hervorhebung) Dies könnten wir zunächst
mit dem Spiegelverhältnis, wie der ursprüngliche Wortsinn der Spekulation andeutet, zu
erklären versuchen. Im Spiegelverhältnis reflektiert das Spiegelbild das Gespiegelte vor
unseren Augen wieder. Hierbei führt das Spiegelbild die Augen des Betrachters wieder zum
Gespiegelten hin. Aber bei diesem Erklärungsversuch zum Spiegelverhältnis geht es, wenn
ich Gadamers Einsicht in die Spekulation der Sprache richtig verstehe, weder um die kopierte
Wiedergabe des Gespiegelten durch das Spiegelbild, noch um die Reduktion des
Spiegelbildes auf das Gespiegelte, sondern um die Repräsentationsfunktion des Spiegelbildes,
das Gespiegelte in Erscheinung zu bringen.
Wenn hier außerdem deutlich wird, dass das Urbild, nämlich das Gespiegelte im
substanzontologischen Modell des Kausalverhältnisses, als der Grund für die logische und
ontologische Beziehung für das Abbild bestimmt ist, dann ist das Abbild zu etwas
zweitrangigem, das jedoch stets vom Urbild abgeleitet wurde, geworden. Um die Seinsvalenz
zu erwerben, soll sich das Abbild nun auf das Urbild als seinen hypostasierten Bezugsgrund
reduzieren. Gegen die Feststellung der logischen und ontologischen Priorität des Urbildes,
nämlich des Gespiegelten im substanzontologischen Modell, weist die „spekulative Einheit“,
wie Gadamer sagt, auf die dialogische Vermitteltheit der Sprache hin, die uns zur Verbindung
mit der Welt und mit uns selbst bringt. Denn die Sprache, der aus hermeneutischer Sicht die
wechselseitige Gerichtetheit auf ihre Sache zugrunde liegt, erschafft ständig ihre Mitte, die
keine vollkommene Wiedergabe durch die unhintergehbare Reduktion auf das Urbild ist,
sondern das Ungesagte in der Vielfältigkeit des Wortes mithörbar macht.
Im Anschluss an die spekulative Einheit rückt Gadamer zunächst die Seinsvalenz der
Sprache als eines Darstellenden, die er mit der neuplatonischen Emanationslehre untermauert,
in den Vordergrund. Gadamers Konzept der Seinsvalenz, der Beziehung zwischen dem Sein
und dem Seienden, akzentuiert nicht den ontologischen Vorrang des Seins als ein einziges
Prinzip, sondern die permanente Selbstmanifestation des Seins in den Seienden. Hierin liegt
Gadamers Einsicht in die „ontologische Distanz“ 24 zwischen dem Sein und den Seienden. Das
24
Vor allem müssen wir m. E. feststellen, dass die Distanz, die wir bereits gesehen haben, in Gadamers
Hermeneutik das angemessene Zwischen ist, in dem das Verstehen immer stattfindet. Darüber hinaus schließt
der Begriff „Distanz“ in Bezug auf Gadamers Ontologie auch den Begriffsumfang „Differenz“ im weiteren
Sinne von Identität und Differenz ein. Somit kann man sagen, dass Gadamers Ontologie im Grunde gegen die
metaphysische Denktradition, die der Identität den logischen Vorrang zu verleihen trachtete, einen kritischen
Einwand erhebt. Gleichwohl darf hier nicht außer Acht gelassen werden, dass Gadamers Einsicht in die
ontologische Distanz anders als die postmoderne Denkströmung der Differenz ist, für die Derrida als
Hauptvertreter gilt. Denn wenn das Derridasche Differenzdenken von der emphatischen Prämisse, dass die
287
bedeutet nicht, dass viele Seiende sich mit einem Sein indifferent identifizieren sollen,
sondern dass die Vielheit der Seienden ihren eigenen Seinswert in einem unabschließbaren
Affinitätsverhältnis mit dem Sein hat, da sich der Seinssinn in der ununterbrochenen
Übertragung auf die Vielheit der Seienden freilegt. 25 So gesehen ist Gadamers Einsicht in den
spekulativen Horizont der hermeneutischen Sprachlichkeit gerade mit seiner Erarbeitung der
Ontologie des Kunstwerks in der Kunsterfahrung verbunden, die den Ausgangspunkt von
Wahrheit und Methode gebildet hat. In diesem Sinn sagt Gadamer: „Es kann sich als das, was
es ist, auch anders darstellen. Aber wenn es sich so darstellt, ist dies kein beiläufiger Vorgang
mehr, sondern gehört zu seinem eigenen Sein. Jede solche Darstellung ist ein Seinsvorgang
und macht den Seinsrang des Dargestellten mit aus. Durch die Darstellung erfährt es
gleichsam einen Zuwachs an Sein.“ (GW. 1, S. 145) Mit dieser Aussage Gadamers wird
deutlich, dass die Sprache wie ein Bild 26 ihren Seinswert aus demjenigen, was als das Sein in
seiner jeweiligen Darstellung „zur Sprache kommt“, gewinnt. Das „zur–Sprache–
kommen“ des Seins bezieht sich mithin nicht mehr auf die indifferente Identität, die durch die
Zurückführung auf ein ewig gleich Bleibendes zustande kommt, sondern auf die unendliche
Sinngestaltung in jedem Ereignis. Vor allem dürfen wir hier nicht außer Acht lassen, dass das
sprachliche Sinngeschehen in Gadamers Hermeneutik auf der Anerkennung der
unaufhebbaren Distanz zwischen dem Sein und den Seienden,
27
hier nämlich der
Differenten nicht mehr das Identische sein sollen, ausgeht, dann erweckt dies den Anschein, dass es keine
Beziehung zwischen dem Sein und den Seienden gäbe. Hier sollen die Differenten deshalb nur different sein.
Demgegenüber hält Gadamer zwar die unerschöpfbare Differenz zwischen dem Sein und den Seienden vor
Augen, aber es geht bei ihm auch um die Selbsterscheinung desjenigen, was es ist, in den Seienden. Die
ontologische Distanz bezeichnet daher die wesentliche Beziehung zwischen dem Sein und den Seienden. Vgl.
Heinz Kimmerle, Jacques Derrida – zur Einführung, 6. Aufl. Hamburg 2004, insbesondere S. 17 ff. u. S. 77 ff.
25
Der Seinsvalenz des Bildes widmet Gottfried Boehm seine genauere Betrachtung. Hier geht es insbesondere
um die kreative Macht des Darstellenden in seiner unendlichen Gestaltungsmöglichkeit: „Bilder funktionieren
nicht wie starre Spiegel, die eine stets vorauszusetzende Realität wiederholen, sie sind keine Doubles. Das
plane Abbild ist der banalste, wenn auch der verbreitetste Ausdruck einer ganz leeren Bildlichkeit. Von
wirklichen Bildern erwarten wir dagegen nicht nur eine Bestätigung dessen, was wir schon wissen, sondern
einen Mehrwert, einen >>Seinszuwachs<<(Gadamer).“ G. Boehm, „Die Bilderfrage“, in: Was ist ein Bild,
hrsg. v. ders., 2. Aufl. München 1995, S. 332.
26
Wir müssen beachten, dass Gadamer später „Kunst als Aussage“ zum Titel von seinem GW. 8 gewählt hat.
Hierin liegt m. E. ein doppelter Sinn: Kunst ist einerseits sprachlich ausdrückbar. Andererseits hat die Sprache
in ihrer Seinsweise eine ontologische Verwandtschaft mit dem Kunstwerk. Mit dieser Aussage will Gadamer
deshalb nicht davon sprechen, dass Kunst an sich immer sprachlich ist und dass Sprache direkt die
bedeutungsidentische Bezeichnungsfunktion hat. Wir erleben de facto in manchen Fällen das unerwartete
Wunder bei der Begegnung mit dem eminenten Kunstwerk. Ein solch unfassbares Wunder führt uns des
öfteren zum sprachlosen Schweigen. Wenn aber auch das Kunstwerk die nicht–sprachliche Dimension,
nämlich die übersprachliche Ausdrucksform enthält, ist das Kunstwerk sprachlich besonders ansprechend,
sofern es im Grunde für uns „da“ ist. Davon abgesehen bedarf unsere Kunsterfahrung selbst auch der
sprachlichen Interpretationsweise, weil die Kunsterfahrung die hermeneutischen Verstehensvorgänge enthält.
Zur sprachlichen Sagbarkeit der Bilder, vgl. G. Boehm, „Zu einer Hermeneutik des Bildes“, S. 444 – 471.
Auch dazu, ders., „Die Wiederkehr der Bilder“, S. 11 – 38.
27
Manfred Riedel gibt uns einen Hinweis darauf, dass das Sein in Gadamers Hermeneutik stets den
transzendenten Horizont der Offenlegung der Sinnpotenzen prägt. Demzufolge sagt er: „Die so gefasste
Notwendigkeit ist für Gadamer die Macht des Überkommenen, die dem Anfang des Denkens vorausliegt.
288
Vieldeutigkeit der Sprache, basiert. Die Sprache besteht immer aus der „prinzipiellen
Unausgefülltheit der Zwischenräume“.
herausragende
Verwandlungskraft
28
zur
Mit anderen Worten: Die Sprache hat die
Gemeinsamkeitsbildung
im
unendlichen
Darstellungsprozess. Aber die Kraft und die Funktion der Sprache liegt dennoch, Gadamers
Ansicht zufolge, nicht in der zum Ende gekommenen Indifferenz, sondern in ihrer Vielheit, in
deren Bewegtheit die Sprache ihre Sinnräume erweitert und vermehrt.
Gadamers ontologische Überlegung zur Sprache vor deren spekulativem Horizont
tendiert einen Schritt weiter zum grundsätzlichen Wechselverhältnis von Einheit und Vielheit,
das seit Parmenides und Heraklit als die metaphysische Aufgabe der Philosophie gilt. 29 Da es
eine
allzu
belastende
Aufgabe
wäre,
hier
die
verschiedenen
Positionen
der
Philosophiegeschichte zu behandeln, genügt es für unseren Zusammenhang m. E., zu
beachten, wie die Vielheit der Sprache ihre Mitvollzugsfunktion in der Einheit der Sache
leistet. Von diesem Ansatz ausgehend muss zunächst gesagt werden, dass die Vielheit
aufgrund der unentbehrlichen Distanz zwischen dem Sein und den Seienden, die sich im
Grunde aus der Selbstunterscheidung des Seins ergibt, als Einheit bezeichnet werden kann, da
die menschliche Erfahrung, die durch die Sprache zum Ausdruck kommt, das wechselseitige
Übersetzungsverhältnis, nämlich die Übertragung der Einheit auf die Vielheit und umgekehrt
der Vielheit auf die Einheit, zu ihrer Grundstruktur hat. Wenn das Wissen unabdingbar an der
Sachwahrheit orientiert ist, entwickelt es sich in doppelter, aber nicht nachträglicher Weise:
Zum einen als die dihairetische Differenzierung, zum anderen als die Wiedervereinigung der
Verschiedenen. Die beiden Bestandteile des Wissens, die Differenzierung und die
Wiedervereinigung, gehören damit auch der sprachlichen Begriffsbildung an. Die
Begriffsbildung als die Vollzugsform des Wissens um die Sachwahrheit, zielt nicht auf die
direkte Subsumtion der differenten Vielheit unter die Einheit ab, sondern sie steht in der
philosophischen
Hermeneutik
immer
zwischen
der
Differenzierung
und
der
Wiedervereinigung. So bewegt sich die Einheit der dialogischen Wahrheitssuche in der
vielfältigen Erweiterung der sprachlichen Begriffsbildung.
Aus diesem Grund können wir in Betracht ziehen, dass der spekulative Sinn des
Wortes in Gadamers Hermeneutik mit den Vielen der Sprache, die sich im dialogischen
Indem sie vom Ende her jede unmittelbare >>Wiederholung<< als unmöglich ausschließt, beschränkt sie das
Denken auf das Mögliche, das ihm noch offen bleibt.“ M. Riedel, Hören auf die Sprache, S. 365 ff., hier S.
371.
28
G. Boehm, „Zu einer Hermeneutik des Bildes“, S. 462.
29
Vgl. Karen Gloy, „Vermittlungsmodell von Einheit und Vielheit – das Substanzontologische, das
selbstreferentielle bewußtseinstheoretische und das relationale wissenschaftstheoretische Modell“, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, Bd. II, Berlin 1991, S. 782 – 794, und dazu, M. Riedel, Ebd., S.
96 ff.
289
Übersetzungsverhältnis
zueinander
verhalten,
zu
tun
hat.
Im
dialogischen
Übersetzungsverhältnis ist der zu sagende Seinssinn im Prinzip verlautbar, weil die Sprache
die Offenbarungsmacht in ihrer Vieldeutigkeit hat.30 Selbst das gesagte Wort ist deshalb nicht
an die exakte Bestimmung der Aussage gebunden, sondern der Sinn des Wortes geht immer
aufgrund der vielen Sinnpotenzen über das Gesagte hinaus, sofern das Wort auf seine Sache
gerichtet ist. Um seine immanenten Sinnpotenzen freizulegen, muss das Wort sich selbst ins
Übersetzungsverhältnis, das den gebundenen Kontext bildet und damit den Wortsinn anders
und neu erweitert, einstellen. So befindet sich das gesagte Wort permanent in seinem
spekulativen Sinnhorizont der Vieldeutigkeit. Wenn wir hier die Übersetzung des anderen
Wortes auf das eigene Wort beachten, wird deutlich, dass das Übersetzungsverhältnis eine
bestimmte Haltung verlangt, da dieses die Einschätzung und die Wertschätzung unter den
begrenzten Umständen begleitet. Demzufolge bezieht sich eine angemessene Textübersetzung
beispielsweise auf die Entscheidung bei der Wahl zwischen vielen Varianten eines Wortes,
die nicht nur im lexikalischen Sinn einen Sinn bilden, sondern sich auch um den weiteren
Sinn im gesamten Kontext bemüht: Die Übersetzung macht deutlich, dass ein gesagtes Wort
oft eine Mehrdeutigkeit aufweist und dass der Übersetzer dieses Wort von Fall zu Fall in
einen neuen Wortsinn, den der verstandene Sinnkontext ihm verleiht, übertragen muss, wenn
das Wörterbuch kein angemessenes Wort anbietet und wenn es selbst im Kreis von
Muttersprachlern kein geeignetes Wort gibt. So bedarf der Vorgang der Übersetzung des
gesagten Wortes auf das eigene Wort der anstrengenden Bemühung um das betroffene Wort:
Er verlangt unsere kluge Überlegtheit, nämlich eine überlegte Einschätzung. Hierbei kann ein
Übersetzer sich vermutlich das Ziel der vollkommenen Übersetzung setzen, damit er die
gesamten Vorgänge der Übersetzung durchführt. Gleichwohl ist eine vollkommene
Übersetzung für uns ein Grenzfall, da der Unterschied zwischen dem Übersetzten und der
Übersetzung nicht mehr auffällt. Anhand der bisherigen Überlegungen können wir sagen, dass
die Gerichtetheit der Sprache auf ihr Sein sich vor dem spekulativen Horizont des
Übersetzungsverhältnisses bewegt, da unser Versuch zur sprachlichen Formulierung des
Seinsinns selbst das unaufhörliche Suchen nach dem geeigneten Wort ist. Im Verlauf der
30
Vgl. Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Tilman
Rexroth, Frankfurt a. M. 1972, S. 9 – 21. Der Übersetzer begegnet der Fremdheit und soll damit die Fremdheit
in seine Eigenheit übersetzen. Er muss die Vertrautheit mit der Fremdheit bilden und damit die Fremdheit
zugleich erhalten. So scheint die Übersetzungssituation selbst widersprüchlich zu sein, weil die Übersetzung
bereits einerseits die Aneignung der Fremdheit und andererseits die Bewahrung der Fremdheit verlangt. Eine
solche Übersetzungssituation erweckt deshalb den Anschein, dass die Übersetzung im Prinzip nicht möglich
ist. Von der Überlegung über den selbstwidersprüchlichen Anspruch des Übersetzers setzt W. Benjamin die
Übersetzbarkeit voraus, die, in seinen Worten, auf der „reinen Sprache“ (S. 13) basiert. Dementsprechend liegt
die Aufgabe des Übersetzers im Hören auf diese „reine Sprache“. Trotz der Verschiedenheit der
systematischen Ausdrucksformen kann der Übersetzer diese Sprache hören, weil Sprache im Grunde sprechen
will.
290
dialogischen Übersetzung ist diese ständige Suche ab einem bestimmten Moment
abzubrechen und das gesuchte Wort festzulegen. So gesehen ist das Moment des Abbruchs
nicht nur die Wahlentscheidung für das bestimmte Wort im unendlichen Verlauf der Suche,
sondern auch die Sinnvermehrung des Wortes.
Wenn sich die Wortsuche im kontextabhängigen Übersetzungsverhältnis, in dessen
Licht das gesuchte Wort freigelegt wird, ohne Ende weiter entfaltet, stiftet der Dialog in
Gadamers Hermeneutik nunmehr einen ausgezeichneten Erscheinungsort des spekulativen
Horizontes der Sprache, da die Sprache ihre Sinnräume hier eröffnet und damit ihren Vollzug
erreicht. Der Dialog, der selbst das Wortsuchen und das Wortfinden ist, ist immer schon das
Zusammensuchen seiner Wahrheit. Und er vollzieht im wechselseitigen Austausch auch den
prozessualen Stufenweg zum Wissen um die Wahrheit. Da sich der Dialog bereits an seinem
Ausgangspunkt das Ziel, das wir als Verständigung bezeichnen können, setzt, ist er in der
philosophischen Hermeneutik kein verwirrendes Umhertreiben, sondern er ist immer am
Wissen um die Wahrheit orientiert, da das Wissen um die Wahrheit, das als gemeinsame
Übereinstimmung in einer Sprachgemeinschaft bezeichnet werden kann, durch die gesamten
Dialogvorgänge hindurch auftauchen kann. Darüber hinaus beschränkt sich Gadamers
Einsicht ins Aufgehen der Wahrheit im Dialog, die die Platonischen Dialoge zum Vorbild hat,
nicht auf die theoretische Philosophie, sondern breitet sich auf den praktischen Bereich aus.
Denn der Dialog geht von vornherein nicht nur von der Anerkennung der Andersheit aus,
sondern zielt auch auf die Verständigung über den Anderen und über sich selbst anhand des
Leitfadens der mitkonstitutiven Funktion des Anderen. Nun finden wir die gemeinsam
gesuchte Wahrheit in der Verständigung. Dementsprechend kann gesagt werden, dass das
Wissen um die Wahrheit im Dialog bzw. die menschliche Erfahrung überhaupt im
wesentlichen auf die Andersheit des Anderen angewiesen ist, so lange die Wahrheitssuche
nicht mehr die monologische Schlussfolgerung der Beweislogik verfolgt, sondern sich in der
Teilnahme am dialogischen Zwischen der gemeinsamen Wortsuche vollzieht. So verstanden
liegt es auf der Hand, dass der Dialog von vornherein das dialektische Zusammendenken,
über das keiner von uns verfügt, ist. Der Dialog hütet uns deshalb vor der Gefahr einer
dogmatischen Sinnverführung und versichert sich der gemeinsamen Sachwahrheit, weil er in
seiner Interdependenz ständig auf die Anderen gerichtet ist.
Von den bisherigen Überlegungen aus gelangen wir m. E. zu dem Punkt, an dem wir
die zu Anfang gestellte Frage beantworten können. Wir haben gesehen, dass Gadamers
Anliegen zur Universalität der Sprache in der menschlichen Welterfahrung nicht darin liegt,
dass alles Sprache sei oder dass Sprache alles sei, wie Gianni Vattimo betont hat, dass das
291
Sein „dazu tendiert, sich in die Sprache aufzulösen, oder zumindest dort an ein Ende zu
kommen“. 31 Demgegenüber kann man sagen, dass sich der Universalitätsanspruch der
Sprache bei Gadamer nicht nur auf das hermeneutisch geschulte Bewusstsein, dass unsere
Welterfahrung immer schon in der bestimmten Situation stattfindet und sich durch die
Sprache konstruiert, sondern auch auf die mitkonstitutive Funktion der Sprache, das, was zu
sagen ist, offenbar zu machen, nämlich die Sinnpotenzen kundzugeben, bezieht. Insofern hat
die Sprache in der philosophischen Hermeneutik auch ihre Endlichkeit, wie die menschliche
Erfahrung, die wir zuvor behandelt haben, ihre Grundstruktur zur Anerkennung der
existenziellen Endlichkeit des Menschen hat. Denn die Sprache lässt, wie wir später sehen
werden, immer das zu Sagende hinter dem Gesagten, so lange wir mit der Sachwahrheit durch
die Sprache umgehen können und so lange die Wahrheit nicht substanziell vorgegeben ist,
sondern sie die dialogische Teilhabestruktur hat. Wenn die Sprache die Offenbarungsmacht
des Sachsinns hat und die Wahrheit in der dialogischen Umgangsform erscheint, prägt der
Dialog, an dem wir immer schon Anteil haben, für uns den übersubjektiven Horizont, in dem
der Logos als ein subjektiver Wahrheitsträger seine Rolle spielt.
31
Gianni Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1998, S. 141.
292
I – 2. Hören auf das Ungesagte, das wir im Gesprächsverhältnis ständig aussagen wollen
Die philosophische Hermeneutik gab, wie wir schon gesehen haben, uns den wichtigen
Hinweis, dass die menschliche Erfahrung immer schon auf die geschichtliche Sprachbildung
angewiesen ist. Gadamer zufolge ist die Sprache, an die das hermeneutische Verstehen im
Grunde angeknüpft ist, „die Konkretion des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins“. (GW. 1,
S. 393) Der hermeneutische Universalitätsanspruch der Sprache ist deshalb in Gadamers
philosophischer
Hermeneutik
nicht
nur
die
Grundlage
für
die
Erfüllung
des
Wahrheitsanspruchs unseres Denkens, sondern beinhaltet auch unsere sprachliche
Grenzerfahrung. Denn wenn sich das Denken nicht ohne die Vermittlung der Sprache zeigt
und sich nur im inneren Verkehr mit der Sprache darstellt, soll sich das Denken unabdingbar
in das sprachliche Viele übersetzen. Insofern ist das Denken das ‚Eingerücktsein in die
Wirkungsgeschichte’, was wir oben als die Grundstruktur der menschlichen Erfahrung
bezeichnet haben. (GW. 1, S. 295) Kurzum sind wir schon in ein gewohntes Sprach– und
Handlungssystem, das die Familie, die kleine Gruppe, die Gesellschaft bis zum Kulturkreis
umfasst, hineingeworfen. Deswegen steht nicht nur das Denken, sondern auch die Sprache
unter der situierten Bedingtheit, die den vorstrukturierten und mitkonstruktiven Einfluss auf
die jeweilige Denk– und Sprachbildung ausübt. Mit dieser Einsicht in die hermeneutische
Überlieferungsgeschichte des Denkens und damit auch der Sprache akzentuiert Gadamer
später die „Grenze der Sprache (1985)“, die er insbesondere in GW. 8 thematisiert hat. Dort
zeigt Gadamers Betonung der Grenze der Sprache nicht nur die geschichtliche Bedingtheit
unserer Denkbildung, sondern auch die universelle Grenzerfahrung unserer Sprache. Wenn
wir die Einsicht Gadamers ernst nehmen, müssen wir auch sagen, dass die philosophische
Hermeneutik „Metaphysik der Endlichkeit“ 32 sei. Statt einer idealistischen Verblendung des
formalistischen Methodikanspruchs, fordert uns das hermeneutische Denken der Endlichkeit
dazu auf, über die Angewiesenheit auf die Andersheit in der faktischen Lebensweise des
Menschen grundsätzlich Rechenschaft abzulegen. Da Gadamers Hermeneutik von der
Anerkennung des Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit ausgeht, muss vor allem
gesagt werden, dass die Sprache, selbst das Denken, von vornherein des Dialogs bedarf.
Für uns scheint die hermeneutische Perspektive des ineinander übergehenden
Wechselverhältnisses zwischen dem Denken und der Sprache dennoch fast widersprüchlich
zu sein, da Gadamer später die Grenze der Sprache als die Grundauffassung der
hermeneutischen Sprachlichkeit annimmt, während er in seinem Hauptwerk die universale
32
J. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 237 ff. und ders., Hermeneutische Wahrheit?, S. 195 ff.
293
Formulierbarkeit der Sprache des Denkens ins Zentrum gestellt hat. Aber wir haben bereits
gesehen, dass Gadamers Universalitätsanspruch der hermeneutischen Sprachlichkeit von
Anfang an auf die prinzipielle Aussagbarkeit unseres Denkens verweist, d. h. unsere
Sprachfähigkeit, das innere Denken zu symbolisieren und zu transformieren. Wir dürfen nicht
aus den Augen verlieren, dass Gadamers späte Einsicht in die Grenze der Sprache eine
konsequente
Denkerweiterung
ist,
die
vom
Grundanliegen
zur
hermeneutischen
Sprachauffassung in Wahrheit und Methode abgeleitet ist, dass das hermeneutische
Endlichkeitsdenken, das dialogische Zwischen von Denken und Sprache in den Vordergrund
rückt. Denn das Denken ist hier einerseits nicht mehr ein Subsumieren unter das
vorherbestimmte Allgemeine, sondern dasjenige, was ständig gesagt werden muss und was es
sagen will. Denn die Sprache konstruiert andererseits in dem Sinn das nie ganz einholbare
Sinnnetzwerk des zu Sagenden, indem das Denken immer weiter und anders sagbar ist, wenn
wir überhaupt etwas verstehen wollen und dieses Verstandene aussagen müssen. Das
dynamische Zwischen der denkenden Aussagbarkeit und der von der kontextuellen
Spracherweiterung abhängigen Denkbildung befindet sich nunmehr im ununterbrochenen
Übergang zur gemeinsamen Wortfindung, in dessen Zwischenspiel die Differenz zwischen
Denken und Sprache überprüfend erprobt und kritisch reflektiert werden kann. Im Anschluss
an das Wechselverhältnis zwischen der Denkbildung und der Spracherweiterung zieht das
Endlichkeitsdenken auch die Erfahrung von der eigenen Endlichkeit des Menschen in
Betracht. Diese Erfahrung der menschlichen Endlichkeit ermöglicht die Begegnung mit dem
anderen Endlichen, die die Grundbedingung für die dialogische Verbindlichkeit ist. Wenn
Gadamer später davon spricht, dass die Sprache in der Endlichkeit verwurzelt ist, liegt
Gadamers Sprachauffassung weder jenseits unserer sprachlichen Sinnpotenzen, noch diesseits
des sprachlich geformten Denkens, sondern sie besteht immer im Gesprächsverhältnis, in
dessen Licht die Andersheit ohne die vollständige Aneignung zu Worte kommt.
Im Anschluss an das hermeneutische Endlichkeitsdenken gehen wir zunächst davon
aus, dass das Mangelbewusstsein davon, dass uns das Wort fehlt, uns zu der unendlichen
Suche nach dem treffenden Wort im Gesprächsverhältnis veranlasst. Mit dieser
hermeneutischen Einsicht in die dialogische Wortsuche müssen wir zweitens feststellen, dass
unsere Bereitschaft zum dialogischen Verstehen immer schon die Anerkennung dessen, was
anders ist, voraussetzt, dass das dialogische Verstehen deshalb nicht mit der perfekten
Äußerung des monologischen Beweisaussagesatzes zustande kommt, sondern sich mit dem
Gespräch, in dem die wechselseitige Anerkennung gelingt, vollzieht. Darüber hinaus muss
schließlich gezeigt werden, dass das Hörverstehen im Gespräch das innere Wort vernehmbar
294
macht, weil das Hören von vornherein unsere Dialogfähigkeit zu Verfügung stellt und in
Gang setzt.
Dass wir uns im Dialog den Anderen nie ganz aneignen können, bedeutet bei Gadamer,
dass das innere Wort (verbum interius), 33 das er in Anknüpfung an Augustinus’ Verbum–
Lehre eingeführt hat, immer schon über die verschieden formulierten Sprachausdrücke
hinausgegangen ist, weil das innere Wort im wechselseitig aufeinander bezogenen
Gesprächsverhältnis geradezu dasjenige, was ständig zu sagen ist, übrig lässt. So gesehen
zeigt sich das innere Wort innerhalb des dialogischen Erfahrungsrahmens als das wesentliche
Merkmal der menschlichen Grenzerfahrung der Sprache. Daran anschließend versichert sich
Gadamers Ansatz zum inneren Wort zugleich der unaufhebbaren Bewahrung der Andersheit
des Anderen. Dementsprechend stellt Gadamers Grundsatz der Grenze der Sprache sich so dar:
„Oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb
ist sie eine hermeneutische Philosophie), daß wir nie das ganz sagen können, was wir sagen
möchten. Immer sind wir etwas dahinter zurückgeblieben, haben das nicht ganz sagen können,
was wir eigentlich wollten.“ (GW. 10, S. 274) Nun lautet Gadamers Grundthese von der
Erfahrung der Endlichkeit der Sprache, dass wir nie vollkommen sagen können, was wir
sagen wollen, d. h. dass das Gesagte das Ungesagte immer schon hinter sich lässt. Vor allem
kann gesagt werden, dass diese These der Grenze der Sprache in jedem Fall den dialogischen
Anspruch begleitet: Wir müssen das Ungesagte ständig zu vernehmen versuchen, wenn wir
das, was im Grunde zu sagen ist, verstehen wollen, weil wir nicht alles im Nu sagen können,
was wir sagen wollen. So gesehen liegt Gadamers späte Einsicht darin, dass das Gespräch
zuallererst die nötige Basis ist, damit wir den Anderen erreichen und insbesondere uns selbst
verständigen können. Im hermeneutischen Gesprächsverhältnis verursacht die prinzipielle
Unsagbarkeit des inneren Wortes keine zweifelhafte Resignation unseres unverzichtbaren
Versuchs zur verständlichen Übertragung des Denkens in die sprachliche Ausdrucksform,
sondern sie schließt bereits in ihrem eigenen Sinn das zu Sagende, nämlich das ständig anders
Sagbare, ein, das sich selbst in die geschichtliche und dialogische Sprachbildung einordnen
lässt. Somit wird deutlich, dass sich das innere Wort im unendlichen Übergang zum Wort
befindet, weil das Denken selbst die permanente Wortsuche ist.
33
Vgl. Hans–Georg Gadamer, „Die Logik des verbum interius – Hans–Georg Gadamer im Gespräch mit Gudrun
Kühne–Bertram und Frithjof Rodi, in: Dilthey – Jahrbuch, Bd. 11, hrsg. v. Frithjof Rodi, Göttingen 1998, S.
19 – 30, insbesondere S. 25, wo Gadamer sagt: „gerade auch der noch nicht vernehmbare Sinn ist Logos.“ Vgl.
dazu Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 9 – 11. Im Vorwort zu seinem Buch,
das eigentlich den Titel „Vorwörtliches“ trägt, weist er darauf hin, dass der wesentliche Ansatzpunkt der
Verfassung in Gadamers Antwort auf seine Frage liegt. Seinem Bericht zufolge hat Gadamer im Interview auf
Grondins Frage nach dem hermeneutischen Universalitätsanspruch geantwortet, dass die hermeneutische
Universalität im „inneren Wort“ sei.
295
Indem die philosophische Hermeneutik es nunmehr als ihre Hauptaufgabe ansieht, das
innere Wort aussprechbar zu machen, d. h. unser inneres Denken zum sprachlichen
Sinnhorizont zu führen, weckt das hermeneutische Endlichkeitsdenken das beständig
wachsame Mangelbewusstsein, dass uns das treffende Wort fehlt, dass wir das angemessene
Wort für dasjenige, was zu sagen ist, gemeinsam suchen und finden müssen. Denn das
Bewusstsein, dass das Ungesagte, nämlich dasjenige, was zu sagen ist, immer schon über das
Gesagte hinausragt, verlangt die unbedingte Bereitschaft, uns selbst in das dialogische Spiel
zu begeben. Da unsere Bereitschaft zum Finden des nötigen Wortes die unbedingte Annahme
des Gesagten verweigert, setzt die Bereitschaft zum Einlassen auf das Gespräch hier das
unendliche „Suchen nach dem richtigen Wort“ voraus. (GW. 8, S. 360f) Insofern zeigt sich
das wachsame Mangelbewusstsein, das das praktische Bewusstsein des Könnens, das auf dem
Bekenntnis der existenziellen Endlichkeit des Menschseins basiert, als die anstrengende
Bemühung des dialogischen Verstehens um die gemeinsame Sinnfreilegung, zu der das Wort
uns stets den Anlass gibt. Ein solches Bewusstsein ist, so Gadamer, daher „eine unbegrenzte
Offenheit für Weiterbildung, die in der Sprache liegt. Keine Sprache ist das Regelsystem, […].
Jede Sprache ist ständig auf dem Wege, sich zu verändern.“ (GW. 8, S. 357) So gesehen kann
man sagen, dass das Mangelbewusstsein, das unser gemeinsames Suchen nach dem treffenden
Wort stets motiviert, die dialogische Offenheit der philosophischen Hermeneutik meint.
Daran anschließend hat die dialogische Offenheit aus hermeneutischer Sicht eine doppelte
Bedeutung: Die Offenheit meint einerseits die Sinnoffenlegung im unaufhörlichen Versuch
der Sprachformulierung des inneren Denkens. Andererseits ist sie das ständige Offenhalten
für die Andersheit, auch wenn der dialogische Verstehensvorgang zu seinem Ziel gekommen
ist. Aus diesem Grund können wir sagen, dass unser Streben nach dem Wort endlos im Gang
ist.
An dieser Stelle kommt es darauf an, dass der Sinnumfang der Sprache bei Gadamer
eine eigene Dynamik zwischen dem inneren und dem äußeren Wort aufweist. Die dynamische
Selbstbildung der Sprache bildet den ununterbrochenen Übergangsprozess vom geformten
Wort zum zu Sagenden. Kurzum transformiert die Sprache sich selbst. Gadamer zufolge stellt
sich die innere Dynamik der Sprache nunmehr in drei Dimensionen dar (GW. 8, S. 350 ff.):
Die „vorsprachliche“, die „sprachliche“ und die „übersprachliche“. Hier weist die
vorsprachliche Dimension zunächst auf die zu sagende Sagbarkeit hin, da sie die sinnlichen
Wahrnehmungen, Leiden, Gefühle, den Willen zum Bestimmten, das innere Denken usw. mit
einschließt. Da sie sich bereits auf diesen sprachlichen Sinnhorizont, nämlich auf das, was der
Sprecher sagen will, richtet, strebt der Horizont unseres Sagenwollens mithin ständig nach der
296
sprachlichen Formulierung, d. h. nach der grundsätzlichen Sagbarkeit. Angesichts dessen
bezieht sich die sprachliche Dimension im Verlauf der menschlichen Erfahrung auf diesen
vorsprachlichen Sinnhorizont, da sich der vorsprachliche Sinnhorizont immer schon auf dem
Weg zum sprachlichen Horizont befindet, da das sprachliche Verstehen bereits auf den
vorsprachlichen Sinnhorizont angewiesen ist. Daraus folgt, dass sich die vorsprachliche
Dimension in gewisser Hinsicht als die übersprachliche zeigt, wenn beide an das zu Sagende
gekoppelt sind. Bezüglich des sprachlichen Sinnhorizontes geht jedoch die vorsprachliche
Dimension als die Materie zum Sagbaren von ihrem Wert aus, während das Übersprachliche
von vornherein immer über eine geformte Sprachdimension hinausgeht. Gleichwohl ist die
übersprachliche Dimension für uns nicht das überirdisch Unsagbare, noch das Jenseits des
Sagbaren, so lange wir sprachfähig sind. Wenn auch das Übersprachliche nicht vollkommen
zur Sprache kommt, so liegt es auf der Hand, dass wir es sagen wollen und daher das
treffende Wort dafür suchen. Das Vorsprachliche und das Übersprachliche schlagen sich
daher endlos in unserem wechselseitigen Austausch in der Sprache nieder. In diesem Sinn
liegt unsere Sprache immer zwischen dem vorsprachlichen und dem übersprachlichen
Sinnhorizont. Wenn wir dies im Sinn behaltend auf unsere geschichtliche Sprachbildung
anwenden, werden wir diese lebendige Dynamik der Sprache bestätigt finden.
Vom Gesichtspunkt der philosophischen Hermeneutik aus betrachtet, stellt die
Begriffsgeschichte unsere dynamische Wortsuche ausführlich dar. Die Bewegung der
Wortsuche und der Begriffsfeststellung ist dabei auch wechselseitig zirkulär. Die zirkuläre
Bewegtheit der geschichtlichen Begriffsbildung, mit der Gadamer sich in seinen Aufsätzen,
„Begriffsgeschichte als Philosophie (1970)“ (GW. 2, S. 77 ff.) und „Vom Wort zum Begriff
(1995)“
34
beschäftigt, hat auch den altmetaphysischen Grundsatz vor Augen: omnis
determinatio est negatio. Da jeder bestimmte Begriffsumfang seine Bedeutungsgrenze
markiert, ist die Begriffsdefinition notwendigerweise negativ. Die Negativität ist die Leitkraft
der geschichtlichen Begriffsdefinition, die nicht nur den bestimmten Begriffsumfang sprengt,
sondern auch die flexiblen Varianten an die begrenzten Haltepunkte fesselt. 35 Sofern die
34
Hans–Georg Gadamer, „Vom Wort zum Begriff – Die Aufgabe der Hermeneutik als Philosophie“, in:
Gadamer Lesebuch, S. 100 ff.
35
Vor allem können wir hier darauf aufmerksam machen, dass Hegel in seiner Logik die Bewegung der
wechselseitigen Beziehung zwischen den Begriffen ins Auge gefasst hat. Hegels Ansicht zufolge muss der
Begriff den Prozess der Selbstentfaltung und –bildung auf jeder Stufe erledigen. Auf diese Hegelsche
Konzeption der prozessualen Begriffsbildung wirft J. Simon mit seiner zeichentheoretischen Perspektive
seinen Blick. Nun will J. Simon Hegels Begriffsbewegung in den Zeichenversionen, in deren Übergang der
Begriff sich selbst zeitlich entfaltet und modifiziert, verstehen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist ein Zeichen,
ohne die Interpretation zu verstehen, unmittelbar, aber ein Zeichen soll bei seiner Erklärung oder bei seiner
Mitteilung unentbehrlich in die anderen Zeichen übergehen. Hier ist das Zeichen vermittelt. Der Begriff als
das Zeichen skizziert deshalb den spürbaren Weg zwischen der Unmittelbarkeit und der Vermitteltheit.
Dementsprechend drückt J. Simon aus: „Der >>wahre Begriff<< ist, aus dieser Sicht, das entweder
297
definitive Bedeutungsgrenze jedes philosophischen Begriffs mit der geschichtlichen
Sprachbildung Schritt hält, kann man sagen, dass die Begriffsbestimmung nicht mehr
dogmatisch geschieht, sondern sie sich mit der geschichtlichen Situation des Sprachgebrauchs
mitbewegt: Sie befindet sich in dem uneingeschränkten Sinnnetzwerk, das sich zwischen der
umgangssprachlichen Sprachgemeinschaft und den philosophischen Begriffsgebrauchsräumen
hin und herbewegt, verbreitet und verengt.
Unter dem Motto „Nicht nur vom Wort zum Begriff, sondern ebenso vom Begriff
zurück zum Wort“ rückt Gadamer das geschichtlich dynamische Wechselverhältnis zwischen
der Wortbildung und der Begriffsbildung in den Vordergrund: „Ohne Begriff zum Sprechen
zu bringen, ohne eine gemeinsame Sprache können wir nicht die Worte finden, die den
Anderen erreichen. Der Weg geht >>vom Wort zum Begriff<< - aber wir müssen vom Begriff
zum Wort gelangen, wenn wir den Anderen erreichen wollen. Nur so gewinnen wir ein
vernünftiges Verständnis füreinander.“ 36 Von der umgangssprachlichen Sprachgemeinschaft
ausgehend, die der Muttersprachkreis prägt, können wir uns um die Bildung des nötigen
Begriffs bemühen. Im Anschluss an die lebendige Flexibilität der umgangssprachlichen
Sprachbildung hat die Begriffsbildung ihre geschichtliche Verwendungssituation, in der der
gebildete Begriff bereits mit dem umgangssprachlichen Sprachgebrauch verknüpft ist. In
diesem
wechselseitigen
Übersetzungsverhältnis
gelangt
der
gesuchte
Begriff
zur
gemeinsamen Sprache. Mit dieser Umsetzung gewinnt er auch seinen eigenen Sinnhorizont,
in dem er begrenzt verwendbar ist. Wenn sich die Sprachbildung damit auch in der ständig
uneinholbaren Dissonanz zwischen der ursprünglichen Bedeutungsintension und dem
gesuchten Wort bzw. dem bestimmten Begriff befindet, so zeigt sich doch auch, dass diese
Situation der Sprachbildung, die ambivalent zu sein scheint, in der philosophischen
Hermeneutik hauptsächlich das unverzichtbare Moment zu unserem Akt der Wortsuche
motiviert. So bildet der ununterbrochene Übergang zwischen der Begriffsbildung und der
Begriffsverwendung das Gesprächsverhältnis. In diesem Gesprächsverhältnis, wie Gadamer
sagt, „sonst nirgends, hat Philosophie ihren wahren, ihren nur ihr eigenen Prüfstein.“ (GW. 2,
S. 91) Dieser Dialogperspektive entsprechend, überträgt die philosophische Hermeneutik den
unmittelbare oder zu neuer Unmittelbarkeit hin vermittelte Verstehen der Zeichen als das gelingende
Verstehen, in dem das, was eine Person (von ihrem >>Standpunkt<< aus) sagt, einer anderen (von ihrem
anderen >>Standpunkt<< aus) >>etwas<< bedeutet, ohne dass zur gleichen Zeit noch einmal >>reflektiert<<
würde, ob das auch für beide >>dasselbe<< sei. […] Die Zeit ist die reine Form der Veränderung des
>>Standpunktes<< oder der >>Bewegung des Begriffs<< in Zeichenversionen; sie ist das reine Übergehen des
einen in den anderen Standpunkt. So ist der Begriff der Begriff eines Individuums als eines Sohnes
>>seiner<< Zeit, die sich für kein anderes Individuum als >>dieselbe<< darstellen muß wie für es selbst. Auch
die Beschreibung der Zeit wäre immer nur wieder die Darstellung seines Begriffs von ihr und ihr Geist
insofern sein eigener Geist.“ vgl. Josef Simon, „Von Zeichen zu Zeichen“, in: Fremde Vernunft – Zeichen und
Interpretation IV, hrsg. v. ders. und Werner Stegmaier, Frankfurt a. M. 1998, S. 44 – 45.
36
Hans–Georg Gadamer, „Vom Wort zum Begriff“, S. 100 und S. 110.
298
philosophischen
bzw.
theoretischen
Begriffsgebrauchsraum
auf
die
praktischen
Handlungsräume, auf deren Ebene sich der Handelnde durch die Sprache erklären muss und
damit den Anderen durch die Sprache verstehen kann. Ein Wort oder ein Satz erwirbt deshalb
seinen Sinn nur im dialogischen Kontext, der den Sozialisierungsprozess leistet.
An dieser Stelle wird deutlich, dass jeder Begriff bzw. jedes Wort kein bloß
gesprochenes oder geschriebenes Zeichen ist, sondern uns die sich kundgebenden
Sinnangebote im geschichtlichen Verwendungskontext vermittelt. Dementsprechend ist jeder
Satz aus hermeneutischer Sicht nicht mehr der ‚apodiktische’ Urteilssatz, der sich des
unhintergehbaren Grundes der Wahrheitserkenntnis durch die beweislogische Erklärung zu
versichern trachtet. Wenn wir uns hier kurz auf die Aristotelische „Apodiktik“ beziehen, so
bedarf Aristoteles’ „Apodiktik“ als der Satz des theoretischen Wissens (episteme) im Grunde
keiner Zustimmung des Anderen, d. h. sie sorgt sich nicht um die Zusage des Anderen,
während die Sokratische Gesprächsführung immer die Zustimmung des Gesprächspartners ins
Zentrum stellt und damit ihren Weg durch die mitkonstitutive Beteiligung des Anderen,
nämlich durch das Zusammengehen mit dem Anderen, bestätigt haben will. Aus
hermeneutischer Sicht ist das Verstehen des gesagten Aussagesatzes weder von der
methodisch separierten Trennlinie, die zwischen dem Erkenntnissubjekt und seinem Objekt
verläuft, noch von der widerspruchslosen Evidenz der ewig wiederholbaren Beweislogik
abhängig, sondern bewegt sich stets vor dem Sinnentwurfhorizont, auf den wir uns mit
unserem Motivationshintergrund einlassen. Jede Aussage verlangt deshalb über die
grammatikalische und semantische Bedeutung hinaus den Sinnvollzug, der immer schon
hinter dem Gesagten verborgen ist, aber sich als dasjenige, was sagen will, offenbart.
Aus dieser Perspektive hat Heidegger auch von der ‚apophantischen’ Aussage im
Unterschied zum hermeneutischen „Als“, das in der ‚vorprädikativen’ Wurzel des
fundamentalen Bezugs des ursprünglichen Verstehens auf die Welt besteht, gesprochen. Aus
Heideggers Sicht verführt uns die apophantische Aussage wie der beweislogische Urteilssatz
zu der irrtümlichen Annahme, dass jeder Satz das bezeichnete Ding exakt wiedergibt. Nun
erinnern wir uns hier an Heideggers berühmtes Beispiel vom Hammer. Der Aussagesinn, „der
Hammer ist schwer“, 37 beruht immer auf den lebensweltlichen Aussageumständen. Wenn
jemand eine solche Aussage z. B. einer wissenschaftlichen Sprachgemeinschaft vorgelegt
hätte, könnten wir meinen, dass er mit diesem Aussagesatz die physische Schwerkraft zu
erklären trachtete. Wenn ein Handwerker, der Tag für Tag mit diesem Werkzeug arbeitet, dies
gesagt hätte, könnte mit der Aussage bereits das Leiden, Gefühl, Trieb, Streben usw. seines
37
M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 157.
299
gesamten Lebenszusammenhanges gemeint sein. Der Aussagesatz ist mithin nicht auf die
theoretische Erklärung, der das Schwere als eine Eigenschaft anhaftet, beschränkt, sondern
erweitert die permanente Sinnmodifikation, die sich über die bezeichnete Satzbedeutung
hinaus ergibt, in jedem Handlungszusammenhang. Wenn wir die Aussage sprachlich
angemessen verstehen wollen, müssen wir deshalb unseren Blick immer über das Satzzeichen
hinaus auf das Ungesagte, das stets hinter dem Gesagten steht, richten.
Davon abgesehen ist der theoretische Aussagesatz, dem das Prädikat immer beigefügt
ist, seitens des Handwerkers überflüssig, noch deutlicher formuliert, geradezu lästig. Denn der
Handwerker soll vor einer solchen prädikativen Erklärung bereits mit seinem Werkzeug
umgehen können und sich in diesem alltäglichen Umgang als geschickt erweisen. Aus
hermeneutischer Sicht kann man daher sagen, dass jede Aussage in Bezug auf die
lebensweltliche Handlungsfähigkeit, nämlich auf das praktische Können, das auch das Leiden
mit der praktischen Unfähigkeit einschließt, zu tun hat, da die Aussage, „der zu schwere
Hammer“, von vornherein im Handlungszusammenhang, in dessen Verlauf sich jeder
Betroffene um seine Selbstverständigung kümmert, verwurzelt ist. Insofern bildet das
Verstehen der Aussage die sprachlich erschlossene Lebensweise des Menschen. Um den
lebensweltlichen Umgang mit der Welt richtig zu führen und die Aussage sprachlich
angemessen zu verstehen, müssen wir uns stets um das passende Wort für eine entsprechende
Situation bemühen. So gesehen wird klar, dass das hermeneutische Verstehen in den
gesamten Lebensbezügen immer schon dem Sprachlichen zugehörig ist. Die hermeneutische
Zugehörigkeit, wie das Wort selbst uns andeutet, meint hier den „Hörhorizont“ des
Verstehens, da der sorgfältige Versuch des Verstehens der Aussage nicht nur der
ununterbrochenen Wortsuche, sondern auch der Vernehmung des Sagenwollens angehört.
Außerdem ist das Hören im Gesprächsverhältnis bereits dem Anderen als dem
Gesprächspartner zugehörig. Da das Hören hier im Grunde das Zuhören dem Anderen
gegenüber ist, ist das Hören immer schon auf den Anderen gerichtet, d. h. das Hören bleibt
stets für den Anderen offen. Vor diesem dialogischen Hörhorizont kommt daher die echte
Anerkennung der ontologischen Unaufhebbarkeit des Anderen zustande. In diesem
Zusammenhang geht es bei Gadamer um das „Auf–ein–ander–Hören–können“. (GW. 1, S.
367)
Gadamers
Ansicht
zufolge
eröffnet
das
praktische
Hören–können
in
der
kommunikativen Handlungssituation nicht nur den möglichen Weg zum Verstehen der
gesprochenen Aussage, sondern schließt auch das Hören des Ungesagten ein, nämlich das
Sagenwollen mit dem ganzen Ohr, mit dessen Licht das dialogische Gemeinsame, das sich
über die gesuchte Sachlichkeit verständigt, erreichbar ist.
300
Der hermeneutische Hörhorizont setzt nunmehr die prinzipielle Verstehbarkeit in den
dialogischen Handlungsräumen in Gang. Denn das Hören auf einen Ton im Dialog ermöglicht
nicht nur das unverzichtbare Suchen nach dem richtigen Wort, sondern auch die gemeinsame
Verständigung über den Anderen und über sich selbst. Das Hören ist hier seitens des
unendlichen Versuchs der Sprachformulierung der eigenen Denkbildung das Hören auf die
innere Stimme und auch seitens der dialogischen Gemeinsamkeitsbildung das Hören darauf,
was der Andere sagen will.
38
Der hermeneutische Hörhorizont in den gesamten
Dialogvorgängen ist deshalb, wenn ich hier M. Riedel zitiere, „spekulativ, weil sich so die
Sprache selbst >>spiegelt<< und als das, was sie ist, zum Vorschein kommt. Sie bringt das
Spekulative zur Sprache: die Zwiefalt des Sagens und Sichsagenlassens, das Sprechen, das
nicht zugleich, sondern zuvor ein Hören ist, das Zuvorgehörthaben auf das Gesagte. Und er ist
geschichtlich, weil sich das Spekulative über das Gespräch mit der Überlieferung als der
Spiegelung des Einen im Vielen des Zusagenden entfaltet.“ 39 Demzufolge hat das Hören das
zeitliche Primat im dialogischen Verstehen,
40
weil das Hören immer schon die
Verstehenspotenzen des zu Sagenden eröffnet und jeder Dialogteilnehmer damit auch die
bestimmte Orientierungsspur des Gesagten heraushört. Angesichts dessen leitet der
spekulative Hörhorizont im ganzen Dialogvorgang den mitwirkenden Erwartungshorizont an,
den wir selbst entwerfen, damit wir die Sinnangebote, die wir gesagt haben und sagen wollen,
38
Zum hermeneutischen Hörverstehen des inneren Denkens in Bezug auf die ästhetische Erfahrung, vgl. Jean
Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 126 ff. Damit auch zu den Phänomenen des Zuhörens auf die innere
Stimme der Andersheit im hermeneutischen Verstehen, vgl. James Risser, Hermeneutics and the Voice of the
Other – Re–reading Gadamer’s Philosophical Hermeneutics, New York 1997, insbesondere S. 159 ff. Gegen
Derridas Kritik am „Phonozentrismus“ hat M. Riedel den spekulativen Hörhorizont im Dialogvorgang zu
verteidigen versucht. Dementsprechend sagt M. Riedel: „Das Hören begleitet und umgibt aber nicht nur unser
Sprechen, es ist mit ihm zugleich. Was kein Sich–Sprechen–Hören meint, wie es Derrida von Husserls
Phänomenologie des sprachlichen >>Ausdruck<< (der Phone) her versteht. Es meint vielmehr, dass das
Sprechen von sich aus ein Hören sei – auf die von uns gesprochene Sprache und darauf, wie sie selber
spricht.“ Manfred Riedel, Hören auf die Sprache, S. 9 – 10. Hierbei handelt es sich somit um das Hören darauf,
was die Sprache selbst sagen will. Auch zu Derridas „Phonozentrismus“, der geradezu auf dem
abendländischen „Logozentrismus“ beruht, vgl. Heinz Kimmerle, Jacques Derrida, S. 34 ff.
39
Manfred Riedel, Ebd., S. 173 – 174.
40
Wenn wir uns hier fragen, wie wir die Sprache erlernen, können wir m. E. das zeitliche Primat des Hörens im
Spracherwerb feststellen. Das wesentliche Phänomen des Spracherwerbs zeigt uns die unendliche Dynamik
zwischen der „Nachahmung“ und dem „Austausch“. Dennoch dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass die
Nachahmung im Laufe des Spracherwerbs dem Austausch immer vorausgeht, dass die Nachahmung mit
unserem Wahrnehmungsvermögen des Hörens im Lernen der Sprache verbunden ist. In diesem Sinne könnte
fast gesagt werden, dass das Sprechen–Können vom Hören–Können abhängt. Selbst wenn der innere
Denkvorgang, der stumm zu sein scheint, zur Sprache kommt, ist das Verstehen dieser sprachlichen
Ausdrucksform primär an das Hören auf die innere Stimme des Denkens gekoppelt. Demgegenüber können
wir im allgemeinen Sinn feststellen, dass die Philosophiegeschichte seit Aristoteles das Sehen als einen
primären Vorgang unter den verschiedenen Wahrnehmungsvermögen des Menschen angesehen hat. Daran
anschließend hat Aristoteles zu Beginn seiner Metaphysik gesagt: „Alle Menschen streben von Natur nach
Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich
geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des
Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen
anderen vor.“ Aristoteles, Metaphysik, 980 a.
301
sprachlich angemessen heraushören. Da das ursprüngliche Hörphänomen, wie wir oben
gesehen haben, die Angewiesenheit auf die Andersheit im Gesprächsverhältnis andeutet,
bildet das Hören des Anderen im Grunde das menschliche Zusammenleben. Das
Hörverstehen des inneren Sagenwollens im Dialog bringt nicht nur die unentbehrliche
Bereitschaft zum dialogischen Verstehen mit sich, in dessen Verlauf die verschiedenen
Meinungen zum Tragen kommen, sondern befestigt auch permanent die konstitutive Funktion
des Sprechens, die Sinngehalte, die das Wort gibt, im dialogischen Umgang mit dem Anderen
offenbar zu machen und anschließend die Gemeinsamkeit aufzubauen. In diesem Sinn sagt
Gadamer: „Wer auf den anderen hört, hört immer auf jemanden, der seinen eigenen Horizont
hat. Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie zwischen den Völkern oder zwischen
den Kulturkreisen und Religionsgemeinschaften. Überall stehen wir vor dem gleichen
Problem: Wir müssen lernen, daß im Hören auf den anderen der eigentliche Weg sich öffnet,
auf dem sich Solidarität bildet.“ (GW. 8, S. 347)
Dadurch, dass das ursprüngliche Hörphänomen von vornherein auf dasjenige, worauf
es gerichtet ist, gewissermaßen auf die offene Zugehörigkeit zum Anderen, hinweist, skizziert
das Hören im dialogischen Wechselverhältnis die innere Denkspur, die das Sprechen aufweist.
In der dialogischen Verstehensstruktur ermöglicht das Hören nicht nur die Verständigung
über den Anderen, sondern es ist auch ein Hören auf sich selbst. Das Hören prägt im Grunde
das Modell der hermeneutischen Selbsterkenntnis, da das Hören auf das innere Denken im
gesamten Dialogvorgang nicht nur dasjenige, was der Andere sagen will, sichtbar macht,
sondern auch immer mit dem Hören auf das eigene Innere gekoppelt ist. So verstanden liegt
der dialogische Hörverstehenshorizont im stets ineinander übergehenden Dazwischen von der
Anerkennung der Andersheit des Anderen und der vom Heraushören der Differenz
erschlossenen Bildung des Sinnzusammenhangs. Hiermit wird klar, dass die ewige Suche des
dialogischen Hörverstehens nach der gemeinsamen Mitte zwischen der Anerkennung und der
Aneignung von sich selbst der reflexive Vorgang des Hörens ist. Denn wenn das Sprechen
überhaupt ein sich auslegendes Zeigen, d. h. dasjenige, was wir im sorgfältigen
Sprachgebrauch sagen wollen, ist, ist das Hören des Sprechens unmittelbar das Hören darauf,
was wir nie ganz verloren haben, was wir nicht vergessen dürfen. So hört das Hören im
dialogischen Austausch zwischen dem Reden und dem Gegenreden die Differenzen und
gleichzeitig
sich
selbst
heraus.
Damit
wird
deutlich,
dass
der
dialogische
Hörverstehenshorizont in der philosophischen Hermeneutik den aufschlußreichen Weg zum
internen Vollzug der Selbsterkenntnis in der zirkulären Bewegung zwischen der sprachlichen
302
Grenzerfahrung und der anstrengenden Verfolgung der hinterlassenen Spur der Sprachsuche
geht.
303
I – 3. Dialog als Urphänomen des Denkens: Woran orientiert sich die dialogische
Gesprächsführung?
Der Dialog als die dynamische Bewegung von Sprechen und Hören geht von der
wechselseitigen Anerkennung der Andersheit aus und zielt damit auch auf die
gemeinschaftliche Verständigung ab. Aus hermeneutischer Sicht ist der Dialog im Grunde mit
den gesamten Lebensbezügen des Menschen verbunden und sorgt damit für eine
zwischenmenschliche Verbindlichkeit, die auf der notwendigen Bereitschaft zum dialogischen
Verstehen basiert. So kommt die wechselseitige Anerkennungsbeziehung als Grundbedingung
für die Gesprächsführung zu ihrem Stellenwert. Von diesem Ausgangpunkt eines inwendigen
Wechselverhältnisses
aus
vollzieht
sich
im
Dialog
zudem
die
permanente
Anerkennungsbewegung. Dialog ist die Bewegung des Anerkennens, da jeder Dialog nicht nur
die wechselseitige Annahme des Anderen als Gesprächspartner voraussetzt, sondern in den
jeweiligen Vorgängen auch an die anerkennende Billigung des Gesprächspartners appelliert.
Aus diesem Grund spricht Gadamer davon, dass das Gespräch die „Vollzugsform“ der
Sprache sei. Die Sprache kommt durch das dialogische Zusammenspiel von Sprechen und
Hören zustande, nämlich von Fragen und Antworten. Aus Gadamers Sicht steuert die
dialogische Anerkennungsbeziehung nicht nur den zwischenmenschlichen Umgang, sondern
strukturiert auch das umsichtige Gespräch mit dem Text und der Welt, sofern die menschliche
Erfahrung in ihrer wesentlichen Kontur auf die Andersheit angewiesen ist. Daher kann man
sagen, dass die Gesprächsführung unser unverzichtbarer Versuch zum intersubjektiven
Antworten auf den Appell und den Anspruch durch die Anderen darstellt. Aus diesem
dialogischen Sinnzusammenhang heraus, in dem wir uns bereits befinden, wird außerdem klar,
dass die dialektische Bewegung des Anerkennens der Andersheit immer schon den reflexiven
Rückblick auf sich selbst innerhalb des interdependenten Rahmens der gegenseitigen
Wechseleinwirkung begleitet. Zu diesem verflochtenen Sinnnetzwerk der prozessualen
Selbstausbildung kommt der Dialog der Selbsterkenntnis hinzu.
Von den bisherigen Überlegungen ausgehend, können wir sagen, dass Sprache in
Gadamers Dialoghermeneutik weder definitiv noch vorbestimmt ist, sondern sich immer
wieder sich anredend und sich sprechend darstellt, d. h. dass Sprache ständig auf ihre
Sachlichkeit im konventionell überlieferten Kommunikationskreis gerichtet ist und dass das
Hören, das mit dem Sprechen zusammen das Grundelement des Gesprächs bildet, im ganzen
Dialogverlauf auch nicht das in sich verschlossene Vorbeihören, sondern immer offen auf den
Anderen gerichtet ist, nämlich auf das Hören der unaufhebbaren Andersheit. Diese
304
dialogische Replikstruktur des ewigen Rollentauschs von Sprechen und Hören wird durch das
dialektische Zusammenspiel von Frage und Antwort in Gadamers Wahrheit und Methode
wiederhergestellt. Angesichts dessen dürfen wir hier Gadamers kompositorisches Anliegen
des Abschnittes „Der hermeneutische Vorrang der Frage“ in seinem Hauptwerk nicht außer
Acht lassen, weil er mit diesem Abschnitt zwischen den beiden Teilen, nämlich zwischen der
Geschichtlichkeit und der Sprachlichkeit eine Brücke schlagen wollte: In Gadamers Wahrheit
und Methode hat die Dialektik von Frage und Antwort eine kompositorische Schlüsselstellung.
Sie bildet den Übergang vom II. Teil „Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verstehen in
den Geisteswissenschaften“ zum III. Teil „Ontologische Wendung der Hermeneutik am
Leitfaden der Sprache“, anders formuliert, von der Analyse der Geschichtlichkeit der
menschlichen Erfahrung zum sprachlichen Sinngeschehen im Gesprächsverhältnis. Somit
stellen wir fest, dass das hermeneutische Verstehen des geschichtlich überlieferten Textes in
Gadamers Hermeneutik das Gesprächsverhältnis, in dem der Interpret von seinem
Interpretandum befragt wird, damit zugleich seine Frage stellt und die Antwort auf seine
Frage im Text herauszufinden versucht, auf die Grundlage der traditionellen Überlieferung
stellt. Aus Gadamers Perspektive besteht das Lesen eines Textes deshalb von vornherein
immer in einem Frage–Antwort–Verhältnis, so lange wie das Lesen das Heraushören einer
bestimmten Antwort, die immer vom gelesenen Text aus geht, ist und so lange wie jeder
Lesevorgang als Suche auf eine Antwort immer wieder zu der gestellten Frage zurückkehrt
und damit zugleich den Ausgangspunkt für eine neue Fragestellung bildet.
In diesem hervorragenden Abschnitt bezieht sich Gadamer mit Platons Dialogdenken
auf Collingwoods Einsicht ins logische Schema von Frage und Antwort. Hier liegt Gadamers
Anliegen zum Rekurs auf Collingwood 41 insbesondere darin, dass „die Vollzugsweise der
Dialektik“, wie Gadamer gesagt hat, „das Fragen und Antworten, oder besser, der Durchgang
alles Wissens durch die Frage“ sei. (GW. 1, S. 369) Seiner Konzeption der
Dialoghermeneutik entsprechend, versucht Gadamer einerseits Hegels monologische
Dialektik wieder zurück ins lebendige Dialogfeld zu bringen und andererseits die dialektische
Aussagestruktur in Platons Dialog wiederherzustellen. 42 Kurzum tendiert Gadamers Intention
41
Vgl. Robert Schnepf, „Der hermeneutische Vorrang der Frage – Die Logik der Fragen und das Problem der
Ontologie“, in: Gadamer verstehen, S. 302 ff.
42
Vgl. Rüdiger Bubner, „Dialog und Dialektik oder Plato und Hegel“, in: Zur Sache der Dialektik, S. 128 ff.
Dort scheint Hegels Dialektik ein moderner Versuch zu sein, den methodischen Weg zum richtigen Umgang
mit der Aussage im geschichtlichen Begriffsbildungslauf herauszufinden. Wenn auch Hegel, Bubner zufolge,
seine Dialektikkonzeption von Platons Dialogdenken ausgehend erarbeitet, ist Platons Dialog für ihn deshalb
einer äußeren Reflexion zugehörig, weil Platons Dialog den endgültigen Sachbezug aus den Augen verliert.
Hiermit markiert Hegels Idee der eigenen Methodik nunmehr die entscheidende Scheidelinie von Platons
Dialog, die in der gedanklichen Differenz zwischen der Vollständigkeit und der Unvollständigkeit liegt. In
Bezug auf seine überlegte Einschätzung von Hegels Methodenidee der Dialektik bemerkt Bubner: „Das eigene
305
hier zum dialektischen Dialog, nämlich zur „Dialogik“, die stets von der Sprache ausgeht.
Demzufolge hat Gadamers Aufnahme der Einsicht Collingwoods in seine Dialoghermeneutik
damit zu tun, dass jede Aussage in dem logischen Schema von Frage und Antwort besteht.
Diesbezüglich sagt Collingwood: „Was man gewöhnlich meint, wenn man eine Aussage
>>wahr<< nennt, ist meiner Auffassung nach folgendes: a) Die Aussage gehört zu einem
Frage–Antwort–Komplex, der als Ganzes im eigentlichen Sinne des Wortes >>wahr<< ist; b)
innerhalb dieses Komplexes ist sie eine Antwort auf eine bestimmte Frage; c) die Frage ist
dabei das, was wir gewöhnlich eine annehmbare oder gescheite Frage nennen, sie ist keine
dumme Frage, d. h. in meiner Terminologie, >>sie erhebt sich<<; d) die Aussage ist die
>>richtige<< Antwort auf diese Frage.“ 43 Konsequenterweise zeigt sich in Gadamers
Dialoghermeneutik, dass jeder Aussagesatz eine gesuchte Antwort auf die bestimmte Frage ist.
Nun müssen wir im Dialogverlauf davon ausgehen können, dass Aussage, Geste, Miene usw.
bereits eine Antwort auf unsere Frage sind. Um die jeweils gegebene Antwort zu verstehen,
müssen wir deshalb die Frage im Vorhinein bereits verstanden haben, weil jede Antwortform,
nämlich Aussage, Geste, Miene usw. auf den Fragehorizont als Motivationshintergrund
angewiesen ist. So gesehen liegt auf der Hand, dass wir keinesfalls den Dialog verweigern
können, nachdem wir uns auf den Dialogvorgang eingelassen haben. Denn selbst die
Verweigerung im Dialog ist bereits eine Antwort. Trotz dieser Aufnahme der Einsicht
Collingwoods von Seiten Gadamers, gibt es aber einen Unterschied zwischen den beiden
Philosophen. Gadamer distanziert sich, wie wir bereits gesehen haben, kritisch von jedweden
metaphysischen Gedankengängen, während Collingwood durch das logische Schema von
Frage und Antwort einen gangbaren Weg zum metaphysischen Denken, der vor allem in der
Denktraditionslinie des britischen Neohegelianismus steht, zu skizzieren trachtet. Außerdem
orientiert sich Gadamers Betonung auf dem Fragehorizont nicht an der logischen Analyse des
möglich wahren Aussagesatzes, sondern er rückt das Verstehen des Fragesinns in den
Vordergrund, weil die Frage immer schon nicht nur der Antwort zeitlich vorausgeht, sondern
auch die mögliche Antwortrichtung anzeigt. Für unseren Zusammenhang geht es deshalb
nicht darum, ob ein Aussagesatz eine „wahre“ Antwort ist, sondern vor allem darum, die
Frageintention, die sämtliche Aussagen in den gesamten Dialogvorgängen ermöglicht,
verständlich zu machen, weil die Angemessenheit einer Antwort bereits vom Verstehen des
Fragesinns abhängig ist.
Methodenverständnis versperrt Hegel den Zugang zur Struktur eines Gedankengangs im Medium lebendiger
Rede.“ (S. 132)
43
R. G. Collingwood, Denken – Eine Autobiographie, übers. v. Hans–Joachim Finkeldei, Einl. v. Hans–Georg
Gadamer, Stuttgart 1955, S. 39.
306
Aus diesem Grund werden wir im folgenden insbesondere auf drei Punkte achten
müssen: Gadamers Dialoghermeneutik akzentuiert erstens das Primat der Frage im
ineinander übergehenden Gesprächsverhältnis. Demzufolge leitet der Fragehorizont nicht nur
die ständige Sinnstoßrichtung des Gesprächs, sondern übt auch den Vorgang des reflexiven
Wiedererinnerns aus, auf dem das Moment der Selbsterkenntnis basiert. In der Anknüpfung
an das Frage–Antwort–Verhältnis wendet Gadamer zweitens Platons Dialogdenken seine
Aufmerksamkeit zu. Hier zeigt sich, dass Platons sokratischer Dialog dem Gesprächspartner
durch die Verwirrung der Selbstgewissheit Anlass zum eigenen Denken gibt. Der Dialog als
dynamische Bewegung von Frage und Antwort gelangt in Gadamers Hermeneutik schließlich
zu der dialektischen Selbsterkenntnis in der Anerkennung der Andersheit. Gadamers
Dialoghermeneutik zufolge spiegelt der Dialogvorgang keine totale Zurückführung auf die
substanzielle Subjektivität wieder, sondern begleitet einen reflexiven Rückzug auf sich selbst,
der die Andersheit des Anderen, ohne Appell an die gewisse Substanz, stets mitkonstruiert.
Wenn wir an dieser Stelle der Formulierung der Gadamerschen Dialoghermeneutik
entnehmen können, dass jede Aussage im Grunde eine Art der Antwort ist, dürfen wir auch
nicht außer Acht lassen, dass alle Ausdrucksformen das Modell der Aussage in sich enthalten.
Die Aussage als ein jeweils möglicher Antwortversuch darf deshalb nicht verkürzt verstanden
werden. Aus Gadamers Sicht ist nicht nur ein geschriebener Text, sondern auch das lebendige
Sprechen und das Handeln eine Aussage als Antwort auf eine bestimmte Frage. Da das
dialogische Verstehen nunmehr auf dasjenige, was geschrieben, gemeint und getan wird,
bezogen ist, besteht das Verstehen aus hermeneutischer Sicht im Verstehen solcher
Äußerungen. Um diese Äußerungen zu verstehen, müssen wir aber zuerst ihren
Motivationshintergrund verstehen, weil jede Aussage ihre Motivationsgeschichte beinhaltet.
Hinsichtlich dessen bemerkt Bultmann: „Ein Verstehen, eine Interpretation, ist – das ergibt
sich – stets an einer bestimmten Fragestellung, an einem bestimmten Woraufhin,
orientiert.“ 44 Insofern setzt das Verstehen der geschriebenen, gemeinten oder gemachten
Aussage im hermeneutischen Gesprächsverhältnis vor allem das Verstehen der Frage, die jede
Aussage motiviert, voraus. Denn nur wenn die Frageintention des Fragenden deutlich wird,
kann entschieden werden, ob eine vorgegebene Aussage als die angemessene Antwort auf die
Frage annehmbar ist oder nicht. Aus Gadamers Sicht stiftet die Bereitschaft zum Fragen den
Erwartungshorizont
44
des
möglichen
Sinngehaltes.
Das
Verstehen
der
Frage
im
Rudolf Bultmann, „Das Problem der Hermeneutik“, in: Seminar: Philosophische Hermeneutik, 2. Aufl., hrsg.
v. Hans–Georg Gadamer u. Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1979, S. 242. An anderer Stelle hat er zudem
gesagt: „Echtes Verstehen wäre also das Hören auf die im zu interpretierenden Werk gestellte Frage, auf den
im Werk begegnenden Anspruch, […].“ (S. 252) Zu Bultmanns Einfluss auf Gadamer in seiner Studienzeit,
vgl., Jean Grondin, „Gadamer und Bultmann“, in: Gadamer verstehen, S. 186 ff.
307
Gesprächsverhältnis öffnet mithin den Weg zum dialogischen Verstehen. Somit kann man
sagen, dass das dialogische Verstehen, wie Gadamer sagt, „des Aufbrechens der Sache durch
die Frage [bedarf]“, d. h. dass es die ununterbrochene Antwortsuche in der Sinnorientierung
der Frage ist. (GW. 1, S. 369) Da jede gesuchte Antwort auf einen bestimmten Fragesinn
angewiesen ist, steht die Antwort nicht vorher fest, sondern bewegt sich mit der
sinnkonstruktiven Modifikation des Fragehorizontes mit.
Auch wenn Gadamers Begriff „Vorrang der Frage“ an dieser Stelle als Betonung der
Priorität des Frageverstehens in der gegenseitig aufeinander wirkenden Gesprächssituation
verstanden werden kann, will Gadamer mit seiner Hervorhebung nicht dem Privileg des
Fragenden, hinter dem wir den subjektphilosophischen Zug entlarven können, im
Gesprächsverhältnis entsprechen, sondern den Schwerpunkt auf die allgemeine Fragesituation,
die das dialogische Verstehen stets leitet, legen. Im hermeneutischen Gesprächsverhältnis
werden wir nicht nur vom zu Verstehenden befragt, sondern wir müssen auch die Frage
innerhalb des von uns gestifteten Fragehorizontes finden, bevor eine Aussage als erwünschte
Antwort angenommen werden kann. In Gadamers Dialoghermeneutik ist das Verstehen der
Frage gegenüber der Beantwortung deshalb „das Offenlegen und Offenhalten von
Möglichkeiten“. (GW. 1, S. 304) Mit anderen Worten: Das Fragen, das Fragenkönnen im
dialogischen Wechselverhältnis führt uns nicht nur einen möglichen Antworthorizont vor
Augen, sondern erschließt uns auch das Verstehen der Frage, das als ein entscheidender
Sinnträger im gesamten Dialogverlauf mitschwingt. (GW. 1, S. 381) Darüber hinaus schließt
das Primat der Frage die praktische Haltung gegenüber dem Anderen in dem Sinn mit ein,
dass das dialogische Verstehen im ununterbrochenen Austausch zwischen Frage und Antwort
die ontologische Angewiesenheit auf die Andersheit voraussetzt. Insofern ist das
Fragenkönnen von vornherein auch das Verstehen der Frage, das mit dem Hören auf
dasjenige, was zu sagen ist und was der Andere sagen will, zustande kommt. Denn das
dialogische Verstehen bewegt sich aus hermeneutischer Sicht mit der unaufhörlichen
Übernahme der Frage in die eigene Frage mit, nämlich einerseits mit dem Versuch zur
Herausarbeitung der Frage hinter der vorgegebenen Aussage, andererseits mit der unendlichen
Suche nach einer Antwort innerhalb des von uns gestellten Fragehorizontes. Gadamers
Formulierung, dass die Frageintention vor dem Antwortverständnis verstanden werden muss,
stellt deshalb die mindeste Voraussetzung für die angemessene Beantwortung in der
hermeneutischen Gesprächssituation dar, da der Fragehorizont immer schon eine bestimmte
Sinnrichtung anstößt und sowohl der mögliche Antworthorizont als auch die Offenheit des
Fragenkönnens variabel sind.
308
Der Fragehorizont skizziert nunmehr die sinnkonstitutive Dynamik des gesamten
Gesprächsverlaufes, da er den Sinnkontext, der uns fehlt, bildet und den Sachverhalt, der
hinter der zu verstehenden Aussage liegt, anzeigt. Eine sinnvolle Fragestellung markiert
deshalb nicht nur den begrenzten Sinnraum des potenziellen Antworthorizontes, sondern sie
macht auch den positiven oder negativen Sinn einer zu verstehenden Aussage, nämlich den
Motivationszusammenhang, sichtbar, zu dem sich die Aussage verhält, wogegen sie
Einwände hat oder woran sie sich orientiert usw. Selbst die einfachste Seinsfrage, nämlich
„was ist“, ist bereits mit dem immanenten Sinngebilde, das in der kontextabhängigen
Fragesituation zur Sprache kommt, verknüpft, sofern jede Frage von vornherein die
Erwartung an eine Antwort beinhaltet. Da jede Fragestellung immer schon „die bestimmte
Umgrenzung durch den Fragehorizont“ einschließt, setzt die Erwartung an eine angemessene
Antwort den wechselseitigen Spielraum des Gesprächs in Gang. (GW. 1, S. 369) Die
Erfüllung der Erwartung, die in der Dialogsituation als Ziel gesetzt wird, entscheidet sich
schließlich in Abhängigkeit von der voran gegangenen Frageintention. Insofern wird deutlich,
dass die dialogische Bewegung der Fragestellung das ständige Hervorbrechen einer Aussage
im jeweiligen Gesprächslauf provoziert und damit dem Antwortenden zugleich die
Möglichkeit der reflexiven Überprüfung seiner eigenen Aussage eröffnet. Denn die Frage
ermöglicht mit ihrer wesentlichen Offenheit nicht nur den möglichen Antworthorizont,
sondern eröffnet auch die Möglichkeit des permanenten Nachfragens. So gesehen stammt die
hermeneutische Offenheit des dynamischen Fragehorizontes im gesamten Dialoglauf, wie
bereits erwähnt, aus dem intensiven Blickwinkel von Gadamers Dialoghermeneutik auf die
existenzielle Endlichkeit des Menschen, in deren Licht die Ganzheit der praktischen
Lebensbezüge von vornherein zustande kommt. Angesichts dessen muss vor allem gesagt
werden, dass der Vorrang der Frage vor der gemachten Aussage von nun an die praktische
Haltung für die unaufhebbare Andersheit und das unvorhersehbare Ergebnis im Gespräch in
den Vordergrund stellt. Die Frage, die wir uns selbst stellen, zielt daher nicht auf die
Erarbeitung eines Maßstabes für das Antworten-Können
45
ab, sondern lässt die
„Fragwürdigkeit“, um die es bei der menschlichen Existenz geht, hinter sich.
45
Wenn man hier bemerkt, dass nur eine ‚sinnvolle’ Frage den Umriss des möglichen Antworthorizonts skizziert,
wird man sich insbesondere fragen müssen, ob eine Frage, auf die es keine treffende Antwort gäbe, keine
Frage ist oder wie eine sinnvolle Frage sich von einer unsinnigen unterscheiden könnte. Diesbezüglich könnte
man vermutlich das Unterscheidungskriterium durch die Reduktion der Frage auf das Problem der richtigen
Beantwortung herzustellen versuchen. Aber manche wesentlichen Fragen, z. B. die Frage nach der Freiheit,
nach dem Gottessein oder nach der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit usw., befinden sich hingegen immer im
unauflösbaren Antwortsuchgang. Zur Analytik der Frage nach der sinnvollen Fragestellung, vgl., Thomas
Schwarz Wentzer, „Das Diskrimen der Frage“, in: Hermeneutische Wege, S. 219 ff.
309
Dass mit dem Verstehen der Frage in Gadamers Dialoghermeneutik schließlich
gemeint ist, sich selbst zu fragen, beinhaltet die nie endgültig auflösbare Nachfragbarkeit. Die
Nachfrage, nämlich die Rückfrage nach der gemeinten Vorstellung, hat ihren eigenen
Sinngehalt in der unabschließbaren Bewegung des dialogischen Verstehens. Denn die
Nachfrage schließt von vornherein die Reaktion auf die gegebenen Antwortvorschläge mit ein.
Aus diesem Grund übt sie sich auch in der Bejahung und der Verneinung, im Zweifel am
vorgelegten Aussagesatz oder in der Versicherung des Aussagesatzes usw. So kommt es im
Dialogverlauf öfter zu einer Nachfrage als zu einer bestimmten Antwort. Dementsprechend
stiftet der Fragehorizont ein offenes und symmetrisches Verhältnis zwischen der Affirmation
und der Negation, weil jede Frage eine Ja–Nein–Stellungnahme innerhalb des potenziellen
Antworthorizontes verlangt und in diesem Sinne ein unabgeschlossenes Behauptungsmoment
gewinnt, während jeder beweislogische Aussagesatz, der den von sich selbst betonten
Wahrheitsanspruch im Auge behält, im Grunde die Affirmation bevorzugt. Wenn das
Behauptungsmoment im dem gegebenen Antwortsatz vorausgehenden Fragehorizont nicht
bereits bestände, wäre es unmöglich, dass wir im Dialogverlauf einen gegebenen Aussagesatz
als eine sinnrichtende Behauptung annehmen. Darüber hinaus leitet die ununterbrochene
Bewegung von Fragen und Nachfragen den reflexiven Vorgang an, an dem alle
Dialogteilnehmer teilnehmen. Das Hervorbrechen der Nachfrage im Dialoglauf zwingt den
Antwortenden zur kritischen Überprüfung seiner Aussage und zum retrospektiven Versuch
der Mitteilung seiner Verstehensweise, ja seiner Meinung. Die immer offen bleibende
Nachfragbarkeit, die sich mit dem Geben der Antwort mit bewegt, führt auch den Fragenden
auf die gestellte Frage reflexiv zurück. Mit dem Hören der Antwort ruft sich der Fragende
seine ursprüngliche Frage in Erinnerung und reagiert damit auf die gegebene Antwort auf
seine Frage. Indem sich der Fragehorizont von vornherein immer auf das Fragwürdige bezieht,
er stets kritisch die erworbene Geltung hinterfragt und indem die kritische Nachfrage nach
dem Vorgegebenen nicht nur Zweifel weckt, sondern auch die Gewinnung eines anderen und
neuen Sinnhorizontes anstrebt, etabliert der Fragehorizont im dialogischen Verstehensvorgang
das selbstkritische Reflexionsfeld. 46
46
Zum reflexiven Dialogakt am Leitfaden des Fragehorizontes, vgl. Josef Simon, „ Von Zeichen zu Zeichen“, S.
38. Hier bemerkt er: „Ich vermittelt mich mit mir und den anderen, >>für<< die ich mein Verstehen äußere,
weil mir an ihrem Verstehen gelegen ist, in einem Akt, und es muß sich jeweils zeigen, ob sie mich verstehen
und ich darin auch mit mir selbst vermittelt bin. Es erscheint als gelungen, wenn sie meinen Versuch der
Darstellung dessen, was ich mir vorstelle, von sich aus unmittelbar (d. h. ohne weitere Frage nach
>>Bedeutungen<< der Zeichen dieser Darstellung) und insofern >>leicht<< zu verstehen scheinen. Erst ihre
Rückfrage nach >>der<< Bedeutung, die eine Differenz im Verstehen zur Sprache bringt, bringt mich (wieder)
zur >>Reflexion<< meiner Vorstellung >>auf mich<<.“
310
An dieser Stelle fassen wir die bisherigen Überlegungen des Fragephänomens im
Dialogverhältnis zusammen. Die Frage eröffnet mit ihrer Sinnrichtungskraft zunächst den
Erwartungshorizont auf die angemessene Antwort. Zweitens befindet sie sich immer in einer
unabschließbaren Dynamik, weil jede Frage befragt und immer wieder hinterfragt wird. Im
Anschluss an die dialogische Selbstverständlichkeit erreicht der Fragehorizont schließlich
seinen Vollzug im reflexiven Rückzug auf sich selbst.
Darüber hinaus ist die Logik von Frage und Antwort, wie Gadamer in Anlehnung an
Platons Dialog sagt, nunmehr die Dialektik (=dialegesthai), die aus dem ursprünglichen
Begriffssinne auf den „richtigen Umgang mit der Rede im Gespräch“ 47 verweist und die
deshalb ihre Vollzugsform im lebendigen Dialog findet. Somit ist der dialektische Dialog,
nämlich die Dialogik bei Gadamer, „die Kunst des Fragens und des Suchens der Wahrheit“,
weil sie immer schon mit ihrem Sachverhalt zu tun hat, d. h. die Sachangemessenheit, die von
vornherein durch die Dialogsituation bedingt ist, verlangt. 48 Um einen gelungenen Dialog
vom misslungenen zu unterscheiden, benötigt der Dialog keinen äußeren Dritten, sondern
stellt von seinem eigenen Verfahrensgang her den nötigen Maßstab auf. Somit wird deutlich,
dass der einzige Kontrollbereich des Dialogs die gemeinsam gesuchte Verständigung, die
vom Gespräch selbst erzwungen wird, ist. Wenn die gemeinsam gesuchte Verständigung der
nötige Maßstab für den gelungenen Dialog ist, kommt die Wahrheit, die im Verlauf des
Gesprächs ständig mitspielt, Gadamers Dialoghermeneutik zufolge, mit der sachgemäßen
Übereinstimmung des Gesprächspartners zum Vorschein, weil der Logos sich selbst in diesem
Miteinanderreden durchsetzt. Hierbei skizziert die Durchsetzung des Logos im gesamten
Dialogverlauf den schrittweisen Prozess der gemeinsamen Wahrheitssuche. Da uns der Dialog
als dia–logos einen ausgezeichneten Ort der Selbstdarstellung des Logos verleiht, basiert das
Aufgehen der Wahrheit im Dialog auf der gemeinsamen Verständigung über die Dialogsache.
Deshalb kann man sagen, dass der Dialog einen potenziellen Sinnhorizont für die
Selbsterscheinung der Wahrheit stiftet.
Beim Rückgriff auf Platons Dialog besteht Gadamers Hauptanliegen darin, dass das
Aufgehen der Wahrheit die dialogische Teilhabestruktur am Logos aufweist. Die
Teilhabestruktur als die Grundstruktur der menschlichen Erfahrung, wie wir bereits gesehen
haben, ist im Grunde der Ursprung unseres praktischen Tuns, nämlich das primäre
Teilnehmen am Dialog für die unentbehrliche Wahrheitssuche, weil sich der Logos selbst
47
48
Rüdiger Bubner, „Dialog und Dialektik oder Platon und Hegel“, S. 124.
Zu Gadamers Versuch der Ausarbeitung der Gemeinsamkeit zwischen dem Dialog und der Dialektik, vgl.,
Petra Plieger, Sprache im Gespräch – Studien zum hermeneutischen Sprachverständnis bei Hans–Georg
Gadamer, Wien 2000, S. 62 ff.
311
immer auf dem dialogischen Übergangsweg zur Wahrheit befindet. 49 Indem der Dialog im
herkömmlichen Sinn das denkende Teilhaben am Logos selbst, nämlich das Durchschreiten
des Logos, ist, bildet das Sich-Einlassen auf das Gespräch bei Gadamer unseren
unverzichtbaren Erwartungshorizont an das Wahrheitsgeschehen im Wechselverhältnis. Das
motiviert unser Bestreben, der Mitteilung des Logos unseres Gesprächspartners durch das
dialogische Mitdenken zuzuhören. Kurzum ist die Teilnahme am Dialog im Grunde das
Verweilen bei dem Logos. Da der Dialog selbst einen entscheidenden Sinnraum der
Selbstmitteilung des Logos darstellt und wir in dieser Hinsicht mit dem Logos verbunden sind,
verlangt die dialogische Übung als ununterbrochene Wahrheitssuche auch eine ethische
Haltung. Um die Wahrheit, die sich am Leitfaden des Logos orientiert, zu finden, müssen wir
als Dialogteilnehmer unbedingt den Anderen als unseren mitkonstruktiven Gesprächspartner
annehmen, damit die Andersheit des Anderen anerkannt und daran anschließend die
Bedingtheit unserer eigenen Perspektive offenkundig wird. Denn einer von uns besitzt nicht
allein den Logos, sondern der Logos befindet sich immer im zwischenmenschlichen Dialog.
Wenn sich der Dialog mit dem Logos mitbewegt, kann man sagen, dass der Dialog selbst den
dialogischen Handlungsraum, in dem die gemeinsame Wahrheitssuche stattfindet, errichtet
und die ethische Grundlage enthält.
Somit wird deutlich, dass sich das Gespräch als Überprüfer sämtlicher Aussagen
erweist. Denn das Gespräch ist, wie bereits erwähnt, ein kritisches Erprobungsfeld, auf dem
die
verschiedenen
Meinungen
ausgetragen
und
überprüft
werden.
Die
kritische
Selbstüberprüfung des Gesprächs wird nicht durch die subjektive Absicht kanalisiert, sondern
sie verfolgt die dynamische Bewegung der gemeinsamen Gesprächssache im geschichtlichen
Verlauf vom gegenseitigen Widerspruch zur Verständigung über den Anderen und über sich
selbst, da die gesamten Gesprächsvorgänge die Struktur des unendlichen Suchens nach dem
treffenden Wort aufweisen und sich ein solch gesuchtes Wort bereits in die virtuellen
Lebensbezüge der Gesprächssituation einlagert. So lässt sich jede Aussage als Darstellung
einer Meinungsverschiedenheit im Gespräch durch das aufeinander Hören auf einen anderen
Sinnhorizont übertragen. In diesem dialogischen Übertragungsverhältnis konfrontiert sie sich
mit der zweifelnden Nachfrage und der Widerrede. Die Konfrontation mit der Widerrede des
Gesprächspartners
zwingt
deshalb
jeden
Gesprächsteilnehmer
zum
selbstkritischen
Reflexionsrückzug auf den Sachverhalt des Gesprächs und damit zum wiederholten Versuch
49
Zu Gadamers Anknüpfung an Platons Dialogdenken in den traditionellen Forschungslinien, von
Schleiermacher über Natorp und Hartmann bis Stenzel, vgl. Mirko Wischke, Die Schwäche der Schrift – Zur
philosophischen Hermeneutik Hans–Georg Gadamers, Köln 2001, S. 119 ff. Von Platons Kritik an der Schrift
im 7. Brief ausgehend, versucht er hier insbesondere auf diese Frage zu antworten, warum der Logos selber
seine Grenze betrifft, womit der Fluchtpunkt in die Logoi (die lebendige Rede) angesprochen wird.
312
des Herausfindens des verfehlten Wortes, der sich der lebendigen Bewegung der sachlichen
Gesprächssituation Schritt für Schritt annähern wird. Somit kann man sagen, dass sich die
gesamten Gesprächsvorgänge selbst als kritische Überprüfungswege erweisen, die die
Unaufhebbarkeit der Andersheit ständig im Auge behalten.
Nun hat der Dialog damit seinen Stellenwert als basaler Sinnganzheitshorizont, vor
dem sich der Logos durchsetzt, vor dem sich die gemeinsame Wahrheitssuche erfüllt. In
Gadamers Dialoghermeneutik zeigt sich der Dialog deshalb als „das ursprüngliche
Urphänomen der Philosophie“, nämlich des Philosophierens, 50 weil das Gesprächsverfahren
uns immer zur eigenen Denkbildung führt. Wenn wir an dieser Stelle auf die
Philosophiegeschichte blicken, stellen wir fest, dass die diskursiven Auseinandersetzungen
zwischen den verschiedenen Positionen in der gesamten Philosophiegeschichte diese Kraft
des Dialogs, das Denken immer weiter anzuregen und zu erzeugen, skizzieren. Die
Philosophie wiederholt im Laufe ihrer Denkentwicklung immer wieder die Frage nach der
Idee der Wahrheit, die stets als normative Bestimmung in der Geschichte fungierte. Insofern
bildet das geschichtlich überlieferte Denkerbe hier nicht nur die elementare Basis für die
gegenwärtigen Philosophie, sondern auch der Versuch zur umfassenden Darstellung der
philosophiegeschichtlichen Denkentfaltung, selbst der Umgang mit einem Philosophietext,
führt uns zu der nie endenen Suche nach der Antwort auf die anfängliche Frage der
Philosophie. Mit der Erkenntnis, dass sich die Philosophiegeschichte im dialogischen
Wechselverhältnis, das in jeder anderen Geschichtslage vertikal und horizontal zustande
kommt, darstellt, anders formuliert, dass die Philosophie in der Dialogform die entscheidende
Kraft, sich selbst endlos weiter zu korrigieren und zu variieren, findet, legt Gadamer nunmehr
sein Augenmerk auf Platons sokratische Dialoge, die der Geburtsort der Philosophie sind.
Gadamers Ansicht zufolge zielt Platons Dialog darauf ab, nicht nur den zeitgenössischen
Dialogteilnehmer, sondern auch den Leser in die lebendige Denkbewegung im Dialog mit
einzubeziehen, damit jeder Teilnehmer die Dialogbewegung verfolgen und sein eigenes
Denken ausbilden kann. Im Anschluss an den philosophiegeschichtlichen Rückgriff auf
Platons Dialoge, ist es Gadamers Hauptanliegen, den Dialog als die anfängliche
„Urgestalt“ der Philosophie zu bezeichnen, nämlich des menschlichen Denkens überhaupt,
uns also den grundsätzlichen Spielraum bietet, in dem wir nicht nur nach der philosophisch
gesuchten
Antwort,
sondern
auch
nach
einer
vielschichtigen
Denkweise
im
umgangssprachlichen Austausch suchen, in dem die wesentliche Meinungsverschiedenheit
zur Sprache kommt. Dementsprechend heißt es bei Gadamer: „Das hermeneutische Urmodell
50
Vgl. Ebd. S. 124 ff.
313
ist das Gespräch, und dieses steht unter der Leitidee der Erzielung von Verständigung. Das
braucht natürlich nicht immer zu Einverständnis zu führen. Es kann auch verständnisvoller
Austausch von Gründen und Gegengründen sein. Aber auch dann noch ist ein tragendes
Einverständnis dabei vorausgesetzt. Denn das Resultat der Verständigung ist insofern positiv,
als sich dadurch die Überbrückung von Gegensätzen, Vermittlung und Kompromiß anbahnen
können.“ 51
Wir sollten vor allem im Auge behalten, dass Platons sokratischer Dialog von der
Frage nach der Sachwahrheit ausgeht und die Spur der geschichtlichen Suche nach der
Wahrheit hinter sich lässt. Indem der Dialog bei Gadamer die Vollzugsform der Sprache ist
und die Sprache, wie bereits erwähnt, der ausgezeichnete Ort des Erscheinens der
Sachwahrheit ist, 52 ist die Wahrheit, zu der das dialogische Verstehen stets steht, nicht
diejenige, die vollkommen aufgehoben und einverständlich festgestellt werden kann, sondern
dasjenige, was im dialogischen Wechselverhältnis ständig wieder zu fragen und zu sagen ist.
Ähnlich wie Platons Dialog, ist die Wahrheit der Dialogsache bei Gadamer das gesetzte Ziel,
das jeder Dialogteilnehmer anstrebt. In diesem Zusammenhang betont er die mitkonstruktive
Funktion des Gesprächspartners im gemeinsamen Akt der Wahrheitssuche: „Die erste
Bedingung für die Kunst des Gesprächs ist, sich jeweils des Mitgehens des Partners zu
versichern. […] Ein Gespräch führen heißt, sich unter die Führung der Sache stellen, auf die
die Gesprächspartner gerichtet sind. Ein Gespräch führen verlangt, den anderen nicht
niederzuargumentieren, sondern im Gegenteil das sachliche Gewicht der anderen Meinung
wirklich zu erwägen.“ (GW. 1, S. 373) Somit kann man sagen, dass die Wahrheit nicht mehr
etwas unhinterfragbares, sondern das gemeinsam zu Suchende ist, das den kontextabhängigen
Anspruch auf Übereinstimmung mit dem Gesprächspartner im gesamten Dialogvorgang
erhebt. Ein solcher hermeneutischer Wahrheitsbegriff, der im Dialogverlauf immer mitspielt,
hat mit Platons Erkenntnis der Wahrheit, nämlich „a–letheia“, 53 die sich stets auf die
Sokratische Frage richtet, zu tun. Dabei stellen wir fest, dass das Wort „lethe“ im griechischen
Wahrheitsbegriff „aletheia“ vorkommt. Somit kann man sagen, dass die a–letheia, wie das
51
Hans–Georg Gadamer, „Emilio Betti und das idealistische Erbe“, S. 97 (meine Hervorhebung). Hier sagt er
weiter: „Das habe ich am Modell des Dialogs zu tun versucht, und wie ich meine, im Rückgang auf
ursprüngliche Phänomene menschlich–gesellschaftlicher Existenz auszuweisen gesucht.“
52
Vgl. Reiner Wiehl, „Dialog und philosophische Reflexion“, in: Neue Hefte für Philosophie – Dialog als
Methode, (Heft 2/3), Göttingen 1972, S. 41 – 94. Vor allem im Ausgangspunkt sagt er: „Der Dialog erscheint
also teils als der ausgezeichnete Ort, an dem „Wahrheit sich ereignet“ oder ereignen kann, teils als
ausgezeichneter Grund möglicher Wahrheitsbestimmung, teils schließlich als ein hoher Wert, als eine
Wahrheit an sich.“ (S. 41 – 42)
53
Zu Heideggers Wahrheitsfrage in der hermeneutischen Traditionslinie in Bezug auf den griechischen
Wahrheitsbegriff aletheia, vgl. Ad Verbrugge, „Aletheia und die Frage nach der Wahrheit“, in: Gadamer
verstehen, S. 324 – 337 u. Hans Ruin, „Einheit in der Differenz – Differenz in der Einheit – Heraklit und die
Wahrheit der Hermeneutik“, in: Hermeneutische Wege, S. 87 – 106.
314
Wort bereits andeutet, dasjenige, was nicht vollkommen erhellt ist, was jedoch auch nicht
ganz vergessen ist, meint. Somit können wir diesen Wahrheitsbegriff aletheia, den Heidegger
mit Unverborgenheit übersetzt hat, auch als dasjenige verstehen, was wir uns ständig in
Erinnerung rufen müssen, weil sie halb anwesend und halb vergessen, ja verloren ist. Die
aletheia, die der Dialog als seine Aufgabe ansieht, ist weder Dialogsubjekt, noch Dialogobjekt,
sondern drückt sich immer in der Bewegung der Dialogsache, die bereits in der
Dialogsituation enthalten ist, aus. So verstanden ist die aletheia, nach deren Bedeutung
Heidegger fragt, geradezu dasjenige, was keine Verborgenheit zulässt bzw. was mit
Heideggers Worten immer schon entborgen ist. Infolge dieser Einsicht Heideggers in den
ursprünglichen Sinn der Wahrheit wird die aletheia in Gadamers Dialoghermeneutik als
Dialogsache verstanden, nach der wir im Dialog suchen und streben sollen, weil sie nur für
uns vergessen ist. Die Dialogsache, nach der die Frage im Dialog wieder neu gestellt wird,
leitet außerdem die gesamten Dialogvorgänge, weil sie den orientierenden Wegweiser in den
jeweiligen Dialogsituationen darstellt.
Indem Platons Dialog, Gadamers Ansicht zufolge, die Wahrheit nicht als ein
unhintergehbares Vorbestimmtes, sondern als ein „Einleuchtendes“, mit deren Licht nicht nur
jeder Dialogteilnehmer, sondern auch der Leser die Frage stellen und die Antwort suchen
kann, beschreibt, bildet die Frage nach dem wesentlichen Sinn der Wahrheit, die die
Philosophie von vornherein gestellt hat, den Ausgangspunkt des Dialogs. Insofern bewegt
sich die philosophische Wahrheitsfrage als die zu erfüllende Aufgabe nicht nur mit der
Dialogform ständig mit, sondern vollzieht sich auch im dialogischen Suchprozeß. So gesehen
nimmt der Dialog die ursprüngliche Grundstruktur des Philosophierens in den Blick, dass jede
Wahrheitsfrage in der bestimmten Dialogsituation wieder nachgefragt werden kann und die
jeweils gemeinsam gesuchte Antwort auf die gestellte Frage zustande kommen muss. Aus
Gadamers Sicht beginnt die Philosophie daher mit dieser Platonischen Dialogform, d. h. sie
findet ihre kontinuierliche Triebkraft in diesem dialogischen Austausch zwischen dem Reden
und dem Gegenreden, zwischen dem wiederholten Nachfragen und dem unendlichen Suchen
nach der Antwort. Nun kann und muss ein solcher philosophischer Anfang immer dann
wiederholt werden, sobald wir die Frage zu stellen und die gemeinsame Antwort zu finden
versuchen. Den dialogischen Grundcharakter der philosophischen Wahrheitssuche bereffend,
bemerkte Gadamer schon in seiner früheren Habilitationsschrift „Platos dialektische Ethik
(1931)“: „Denn daß dies Vervielfachen des Einen eine positive Möglichkeit des Logos ist, das
lehrt die Tatsache der Verständigung durch den Logos. Es gibt eine in der Sachaufweisung
fortschreitende Rede, die ständig etwas als ein anderes anspricht, dem in ihr gelegenen
315
Widerspruch des Einen und Vielen zum Trotz.“ (GW. 5, S. 16) Demzufolge kann hier im
Prinzip gezeigt werden, dass jede philosophische Frage, z. B. die Frage nach dem Anfang, die
nach dem Grund oder die nach dem Sein des Seienden, im dialogischen Wechselverhältnis
neu gestellt werden kann und dass die gesuchte Antwort mit einer jeweils anders gestellten
Frage wiederum neu und anders abzuwägen ist. Kurzum entwickelt sich das philosophische
Problem im geschichtlich bedingten Dialoggang stets anders und neu. Insofern ist der
philosophische Anfang überall da, wo der Dialog im Gang ist, d. h. wo die Frage nach dem
Anfang gestellt wird. Aus diesem Grund wird der Dialog, in dem der Logos ständig
mitschwingt, von Gadamer als ein dauerhafter Motor der Philosophie betrachtet, weil das
bereits Gesuchte mit der zweifelnden Fragestellung immer wieder neu gesucht werden muss
und die vorher marginalisierten Varianten durch die Nachfrage wieder in unsere dialogischen
Gedanken integriert werden müssen. Somit ist der Dialog, Gadamers Ansicht zufolge, tätig in
seiner bedingten Lage; das Aufgehen der Wahrheit ist die Tätigkeit des Dialogs. Denn der
Dialog bildet nicht nur das Sinnnetzwerk, in dem wir der Sachwahrheit begegnen, sondern
auch den Handlungsraum, in dem wir uns verständlich machen und uns mit dem Anderen
verständigen.
Im Anschluss an Gadamers Einsicht ins hermeneutische Wahrheitsgeschehen im
andauernden Dialogvorgang müssen wir hier die Frage stellen, wie sich das dialogische
Denken entwickelt und wie das Denken seiner Selbsterkenntnis zugute kommt. Wir haben
bereits gesehen, dass sich Gadamer nicht nur von der naturwissenschaftlichen Idee der
Objektivität, sondern auch von der philosophischen Konzeption der Subjektivität in der
Neuzeit kritisch distanziert hat. Somit liegt auf der Hand, dass das hermeneutische
Selbstverstehen nicht als die substanzielle Entität, sondern als dasjenige, was sich selbst in der
zirkulären Bewegtheit zwischen dem Selbstbezug und dem Fremdbezug entdeckt, verstanden
wurde. Das „Sich–Verstehen“, auf das jeder Verstehensakt von vornherein abzielt, war die
Selbsterkenntnis in Bezug auf den Anderen in seiner unaufhebbaren Andersheit, wie Hegels
berühmte Formel „die Selbsterkenntnis im Anderssein“ zum Ausdruck bringt. Von da aus darf
man nicht außer Acht lassen, dass Gadamer mit seinem nachdenklichen Anliegen zum
wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein keinesfalls die mitspielende Individualität im
Verstehensakt zur Seite geschoben, sondern seinen Einwand lediglich gegen die
Substanzialität in der Rückkehr zur subjektiven Selbstgewissheit gerichtet hat, d. h. die
versteinerte Auffassung vom Subjekt im modernen Denken abzumildern gedachte. Aus dieser
Perspektive ist daher festzuhalten, dass der Verstehensakteur, der sich selbst versteht,
permanent unter dem Einfluss der unerschöpflichen Andersheit seines Anderen steht.
316
Bevor wir den authentischen Orientierungscharakter des Denkens an der reflexiven
Selbsterkenntnis im Dialogvorgang behandeln, müssen wir einen kurzen Blick auf Platons
Anamnesis–Lehre, 54 die einen entscheidenden Einfluss auf Gadamers Konzeption der
reflexiven Selbstentdeckung im dialogischen Wechselverhältnis hat, werfen. Denn Gadamer
stellt in Anlehnung an Platon die Grundstruktur der Wiedererkenntnis der dialogischen
Selbsterkenntnis ins Zentrum. Dennoch will ich hier den Diskussionsrahmen auf Gadamers
Denkverbindung zu Platons Anamnesis–Lehre beschränken, weil Platons Erkenntnis der
Wiedererinnerung, die er insbesondere im Dialog Menon konzipiert hat, im gedanklichen
Zusammenhang mit der eigenen Erkenntnislehre seiner Ideenlehre steht. Die aletheia ist
nichts unterirdisches, nichts, was völlig in den Bereich der Vergessenheit gefallen wäre,
sondern sie zeigt sich in unserer unaufhörlichen Erinnerung daran, was vergessen ist. Im sich
ununterbrochen wiederholenden Dialogfeld der gemeinsamen Wahrheitssuche skizziert die
Wiedererinnerung deshalb die unendliche Zirkulationsbewegung zwischen dem Erinnern und
dem Vergessen des Erinnerten. Wenn sich das Denken mit dem zeitlichen Voranschreiten des
Dialogs entfaltet und sich dabei auf das Wissen um sich selbst bezieht, hat das Denken,
Gadamers Ansicht zufolge, einen vorreflexiven Horizont, der durch den prozessualen
Dialogvorgang in den reflexiven Bezugspunkt ständig wieder und anders einbezogen werden
muss. Dementsprechend ist ein solch präreflexiver Sinnhorizont im Dialog deshalb nicht nur
der Reflexionsgegenstand des Denkens, sondern auch dasjenige, was das Denken im
gesamten Dialog bewusst machen und sich ständig in Erinnerung rufen muss. Im Anschluss
an diese irreduzible Rekonstruktion des Denkens im dialogischen Phänomen der
Wiedererinnerung kann nunmehr gesagt werden, „daß das philosophische Erkennen ein
Moment des in ihm Erkannten wird. Unter dieser Voraussetzung vertieft sich das
Wiedererkennen im Dialog zu der unvollendbaren, sich unterbrechenden und wieder erneut
anhebenden Kontinuität eines nie endenden Gesprächs.“ 55 Nun werden wir sagen können,
dass das Vergessen in diesem Zusammenhang nicht ein verhängnisvolles Geratensein in die
abgründige Annulliertheit, sondern nur den momentanen Verlust des bereits Bekannten meint
und dass das Erinnern hiermit auch nicht auf unser intellektuelles Vermögen zur
vollkommenen Fassbarkeit verweist, sondern den Sinnhorizont der Wiederbelebung des
Gedächtnisverlustes bildet. Dieser Ansicht zufolge hat die Wieder–erinnerung – indem das
Wieder hier die Vergegenwärtigung der jeweiligen Sinnerneuerung unter jedem Umstand
54
Zu Gadamers Verhältnis zu Platons Anamnesis–Lehre, vgl. Charles Scott, „Überlieferungen jenseits von
Bildern und gestohlenen Erinnerungen“, S. 3 – 33 und Nicholas Davey, „Mnemosyne und die Frage nach dem
Erinnern in Gadamers Ästhetik“, in: Hermeneutische Wege, S. 35 – 62.
55
Mirko Wischke, Die Schwäche der Schrift, S. 178.
317
beinhaltet, ist das Wieder von vornherein das zeitlich prozessuale Geschehen – den Charakter
der unendlichen Suche danach, was sich hinter dem gesagten Wort im Dialog befindet. Im
Dialogvorgang kommt die Wiedererinnerung zwischen dem Erinnern und dem Vergessen des
Erinnerten durch das in der bestimmten Situation konstruierte Sinnbild zustande, das sich
durch das Sprechen und das Denken vollzieht. So führt der Erinnerungsvorgang seinen
geschichtlichen Prozess im Dialogverlauf durch. In diesem Prozess stellt sich die
Wiederbelebung des Gedächtnisverlustes im komplexen Kreuzweg zwischen der Aussage und
dem Gedanken dar. Wenn der Dialogteilnehmer diesen Erinnerungsvorgang im Dialog ernst
nimmt, ist der prozessuale Vorgang, der von vornherein zum Denkvollzug tendiert, für ihn
spürbar und das Sinngebilde des bereits Erkannten kann zum Vorschein kommen.
In seinem Dialog hat Platon uns zudem gelehrt, dass der Lernprozess zum Wissen um
die Ideen, die für uns in Vergessenheit geraten sind, aber an der Präexistenz unserer Seele
teilnehmen, sich auf dem Weg der Wiedererinnerung an die bekannten Erkenntnisinhalte
durch den Gesprächspartners im Dialog befindet. Angesichts dessen ist das Lernen im Dialog
als das Erkennen des Vergessenen keine einseitige Vermittlung von Erkenntnisfakten,
sondern der unumgängliche Verlauf der bewussten Rückführung auf dasjenige, was vorher
war, uns aber momentan fehlt, durch das dialogische Verfahren, durch das der Erzieher
Beihilfe leistet. 56 Dieser Vorgang der Wiedererinnerung im dialogischen Lernprozess führt
uns über das Vergessensein (lethe) hinaus zu den ursprünglichen Präexistenzen, nämlich zu
den Ideen hin und motiviert hiermit zugleich unsere Gedankengänge. Daran anschließend
bezieht sich die Wiedererinnerung, die mit der theoretischen Anschauung die Erkenntnis von
den Ideen zu erwerben trachtet, im Zusammenhang mit Platons Erkenntnistheorie auf die
Ideen als einen wesentlichen Erkenntnisurgrund, während das dialogische Verfahren zum
Selbstwissen für Platon auf der grundsätzlichen Ebene der Wiedererinnerung ausgeführt wird.
Gegen Platons Auffassung, in der die Wiedererinnerung in seiner Erkenntnismetaphysik mit
der vollkommenen Rückkehr zur urbildlich unwandelbaren Ideenwelt zu Ende kommt, stellt
Gadamer den geschichtlich uns stets überlieferten Sprach– und Kulturhintergrund dar, der
hier als die wesentliche Grundlage der Wiedererinnerung verstanden wird. Aus Gadamers
Sicht ist die Wiedererinnerung als ein Reflexionsvorgang im dialogischen Verfahren keine
vollständige Rückführung auf die ewige Ideenwelt, sondern das Sich-Einlassen auf die
Überlieferungsereignisse und die sich–verstehende Bewusstmachung vor dem geschichtlich
überlieferten und deshalb gemeinsamen Hintergrund. Es wird deutlich, dass die dialogische
56
Zur pädagogischen Leistung des Dialogs, Hans–Georg Flickinger, „Gesellschaft, Pädagogik, Umwelt“, in:
Kritik und Praxis . Zur Problematik menschlicher Emanzipation – Wolfdietrich Schmied–Kowarzik zum 60.
Geburtstag, hrsg. v. Heinz Eidam, Frank Hermenau u. Dirk Stederoth, Kassel 1998, S. 282 – 293.
318
Bewegung der reflexiven Wiedererinnerung an das Vergessene aus hermeneutischer Sicht
immer schon auf dem überlieferten Sprach– und Kulturhintergrund basiert und stets auf die
überindividuelle Wir–Dimension abzielt. Dementsprechend sagt Gadamer: „Gedächtnis ist
der schwarze, ansteigende Strahl, es ist nicht die breite Flut des geistigen Besitzes, die sich
angesammelt hat. Und in der Tat ist es nicht angesammeltes Wissen, sondern dieser aus dem
Dunkel des Unbewußten kommende Strahl, in dem sich das Ich bildet. Ich, das sich selbst
anredet, >>klimmt<< an ihm zutage, das heißt, das Gedächtnis, das innere Wissen von sich
selbst, steigt nicht einfach an wie die aus der ersten anderen Lebensquelle breit strömende
Flut der Sinne, sondern das Ich arbeitet sich mühsam, Schritt vor Schritt, in die Helle des
seiner selbst bewußten Ich empor. Am Ende wird es sich selbst zum Du. Das ist der Anfang
des Selbstbewußtseins.“ (GW. 9, S. 418) In diesen Sätzen Gadamers geht es uns vor allem um
das „Du“. Dieses Du, zu dem der Reflexionsvorgang schrittweise näher kommt, verweist
einerseits, wie wir von den reflexionsphilosophischen Denkzügen gelehrt wurden, auf das
vergegenständlichte Ich. Andererseits ist für uns vorstellbar, dass Gadamers Einsicht in das
allgemeine Ich, dass wir alle unmittelbar „Ich“ seien, hinter diesem Du verborgen bleibt. Nun
müssen wir darauf achten, dass die Bewusstmachung des Ich, die wir als einen unaufhörlichen
Denkvollzug verstehen können, das Finden des Ich sowie des Du im kollektiven WirBewusstsein, nämlich die Selbstentdeckung in der dialogischen Wir–Dimension, ist.
Auch wenn die Wiedererinnerung im dialogischen Verfahren selbstreflexive Züge hat,
führt der dialogische Reflexionsvorgang in Gadamers Dialoghermeneutik keine vollkommene
Widerspiegelung des Selbst durch, die in der selbsteinsichtigen Rückkehr zu sich selbst
kommt, sondern bewegt sich immer vor dem vorreflexiven Hintergrund, der reflexiv nie
restlos erklärbar ist und steht von vornherein einer Gemeinsamkeitsbildung gegenüber, in der
wir solidarisch zusammenbleiben. Mit Gadamer betrachtet gab es bereits die präreflexiven
„Vorgestalten“ (GW. 6, S. 116 – 128) 57 , die die notwendige Bedingung für die dialogische
Reflexionsbewegung bilden. Beim Umschwung auf das Dialogfeld ist die Wiedererinnerung
nicht mehr zum subjektiven Reflexionsvollzug gekommen, sondern lässt die übersubjektiven
Transzendenzen
erscheinen,
die
den
beständigen
Anstoß
zum
schrittweisen
Reflexionsübergang in der dialogischen Verbindlichkeit geben und das gemeinsame
Miteinandersein ermöglichen. Insofern ist der Reflexionsvorgang in der geschichtlichen
57
Hier wendet Gadamer über die subjektphilosophische Reflexivität im Idealismus hinaus seine
Aufmerksamkeit den Seelenteilen im griechischen Denken zu. Aus Gadamers Sicht hat die Seele drei
elementare Teile, „die Einheit der Seele“, „die Seele als Selbstbewegung“ und „die Bewegung des Geistes“,
die die Vorstruktur des Reflexionsvorganges ausmacht. Die reflexive Selbstbezüglichkeit, die wir das sich zu
den Teilen der Seele Verhaltensein nennen können, wird nunmehr das Bewusstmachen unter den sich
auseinander entzweiten Teilen der Seele. Das reflexive Bewusstmachen wird mithin in der zirkulären
Bewegung zwischen diesen nie ganz einholbaren Seelenteilen deutlich.
319
Dialogsituation mit der sich schrittweise modifizierenden Unterscheidung, die immer schon
mit der vorreflexiven Wir–Dimension, 58 die nicht auf die reflexive Selbsteinsicht reduziert
werden kann, verbunden. Da der Reflexionsvorgang die Wiedererinnerung an das
Vergessensein und an sich selbst im dialogischen Verwandlungsweg zum menschlichen
Zusammensein ist, geht er immer schon von der vorreflexiven Grundlage, wie z. B.
Gewohnheiten, Bräuchen, Institutionen, Zugehörigkeit zum sprachlichen und kulturellen
Kreis usw., aus. Deshalb verdankt er seinen Vollzug als reflexiver Rückzug auf sich selbst
dem selbstvergessenen Dialog, weil das Sich-Einlassen auf den Dialog von vornherein das
Moment der Erschütterung der bewussten Selbstgewissheit in der Begegnung mit dem
Anderen in seiner Andersheit ist, d. h. die ununterbrochene Selbstumsetzung auf die
vorreflexive Solidaritätsgrundlage. Die reflexive Selbstbezüglichkeit betont nunmehr keinen
Vorrang des reflexiv isolierten Selbstbewusstseins vor der präreflexiven Wir–Dimension,
sondern liegt stets zwischen der reflexiven Selbstausbildung und der vorreflexiven Wir–
Dimension.
Sofern das Denken im dialogischen Reflexionsvorgang, in dem wir uns selbst bewusst
und verständlich machen, zu sich selbst kommt, sofern sich das Denken nicht im monologisch
verschlossenen Kreis der Reflexionsbewegung des Subjekts dreht, sondern die innere
Reziprozität zwischen dem Fragen und dem Suchen der Antwort, zwischen der Bejahung und
der Verneinung aufweist, können wir feststellen, dass das Denken selbst dialogisch und der
Denkvollzug selbst das Sprechen ist. In diesem Sinn spricht Gadamer in Anknüpfung an
Platon davon, dass das Denken „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst“ 59 sei. In
Gadamers Augen hält das Denken keinesfalls am apriorischen Kategorienverhältnis fest,
sondern führt den selbstkritischen Reflexionsvorgang im Dialogverhältnis durch. So bildet
sich das Denken selbst auf dem reflexiven Dialogfeld der unendlichen Selbstüberprüfung aus.
Insofern müssen wir bedenken, dass das Denken immer schon zur eigenen Denkbildung im
wechselseitigen Dialogverhältnis steht. Einen solchen musterhaften Dialogweg zur eigenen
Denkbildung finden wir in der sokratischen Gesprächsführung, die die mäeutische Methode
58
Vgl. Hans Bernhard Schmid, „Wir–Identität: reflexiv und vorreflexiv“, in: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie, Bd. 53, Berlin 2005, S. 365 – 376. Seine These lautet: „Reflexive Identifikation mit dem
Kollektiv ist keine hinreichende, notwendige Bedingung für Wir–Identität.“ (S. 367, S. 368) Unter dieser
These hat er die Reflexivität der kollektiven Identitätsbewusstseinsbildung behandelt. Die reflexive
Identifizierung des Kollektivbewusstseins steht nicht unter einer monologischen, einseitigen Wirkung, sondern
immer in der intentionalen Reziprozität, nämlich in der dialogischen Wechselbeziehung, die nie ganz
abgeschlossen werden kann.
59
Platon, Der Sophist, in: Platons Werke, Bd. 6, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt 1970, 263 e.
320
als seine Haltung im Dialog anlegt. 60 Durch die sokratische Gesprächsführung erfahren wir,
dass der authentische Gesprächsaustausch das Denken des Gesprächspartners weder
instrumentalisiert, noch niederschlägt, sondern freilegt, nämlich zur Sprache bringt. Indem die
sokratische Gesprächsführung nicht auf die einseitige Kundgebung abzielt, sondern den
internen Übergang über die Verwirrung der unmittelbaren Gewissheiten hinaus zum eigenen
Denken durchsetzt, hat Sokrates im Dialog immer noch seinen Platz als therapeutischer
Erzieher, der seine Schüler zum Philosophieren bringt, ihnen Denkanstöße gibt. Im Anschluss
an die praktische Leistung der sokratischen Gesprächsführung zum Philosophieren kann man
sagen, dass die eigene Denkbildung als der selbstkritische Reflexionsvorgang im
Dialogverlauf immer auf das Denken des Anderen, nämlich auf die Andersheit des Anderen,
angewiesen ist. Denn das Denken soll sich selbst im Dialog aussagen und die Aussage des
Denkens soll auch durch die gegenseitige Konfrontation mit der Nachfrage, der Verneinung,
nämlich der Reaktion des Gesprächspartners, immer wieder zu Wort kommen.
Um das eigene Denken weiter zu bilden und die gebildeten Gedanken mitzuteilen,
müssen wir ständig im Dialog bleiben. Im Dialog erfahren wir, dass der Dialog einerseits die
Grenze unseres eigenen Denkens markiert und andererseits die Überschreitung jeder Grenze
durch den unendlichen Gedankengang zur Wahrheitssuche motiviert. Hinsichtlich der dialog–
dialektischen Denkbewegung, ganz hegelianisch, bemerkt Gadamer: „Das Ganze heißt im
Gespräch sein.“ (GW. 8, S. 349) Dennoch liegt bei Gadamer auf der Hand, dass das Ganze
keine totale Vermitteltheit als das in sich Verschlossene bedeutet. Demgegenüber weist das
Ganze in Gadamers Dialoghermeneutik formell auf den umfassenden Sinnraum des
Gesprächs und inhaltlich auf den gewobenen Sinnhorizont der ununterbrochenen
Weiterbildung des Denkens im Gespräch hin. Der Dialog ist deshalb der ontologische
Sinnganzheitshorizont, in dem wir uns stets befinden. Das bedeutet: Der Dialog ist die
existentielle Seinsweise des Menschen; die Ganzheit als die ontologische Grundlage für das
menschliche Miteinandersein ist an die beständige Offenheit für die Andersheit gekoppelt.
Denn das Gespräch stiftet nicht nur das komplexe Sinnnetzwerk der Selbstaussage alles
möglich Denkbaren, sondern lässt uns auch unserer existenzielle Endlichkeit bewusst werden.
Das Gespräch ist nicht abgeschlossen, sondern lebendig.
An dieser Stelle fällt auf, dass das einzige Ergebnis des sokratischen Gesprächs immer
das Wissen um Nichtwissen war. Wenn sich das sokratische Gespräch die eigene Denkbildung
zum Ziel gesetzt hat, wenn das eigene Denken damit auf das Wissen um sich selbst verweist,
60
Vgl. Leonard Nelson, „Die sokratische Methode“, S. 21–72 u. Dieter Birnbacher, „Philosophie als sokratische
Praxis – Sokrates, Nelson, Wittgenstein“, in: Das sokratische Gespräch, hrsg. Dieter Birnbacher und Dieter
Krohn, Stuttgart 2002, S. 140 – 165.
321
besteht die dialogische Selbsterkenntnis nicht mehr in der Vollendung eines transzendentalen
Ichs, das alles in die regulativen Kategorien einordnet, sondern ist zuallererst das Wissen um
die eigene Grenze. Denn das dialogische Selbstwissen ist kein unteilbares Bewusstsein um
sich selbst, sondern impliziert das ständige Bewusstmachen davon, dass es von vornherein auf
seine Andersheit angewiesen ist. Dementsprechend nimmt das dialogische Selbstwissen, das
gemeinsam gesucht wird, auch die offene Haltung für die Unaufhebbarkeit der Andersheit des
Anderen in Anspruch. Von dieser Überlegung zum Ergebnis des sokratischen Gesprächs
ausgehend, bemerkt Gadamer schon in seiner Frühschrift: „Am Ende des Gesprächs steht
somit
die
ironische
Ratlosigkeit.
Sie
ist
scheinbar
das
einzige
Resultat
des
Verständigungsversuchs und in der Tat die erste Homologie. Diese Homologie des
Nichtwissens ist aber die erste Voraussetzung für die Gewinnung eines echten Wissens. […]
die Gemeinsamkeit des Nichtwissens und die Gemeinsamkeit des Wissenmüssens, d. h. die
Einsicht in die Notwendigkeit, einen echten, begründbaren Anspruch auf Wissen erheben zu
können.“ (GW. 5, S. 44) Für uns geht es hier zunächst um den echten Dialog. Denn das
Nichtwissen im echten Dialog verweist uns nicht auf die irrtümliche Verführung, sondern
etabliert die Grundlage für unsere Gemeinsamkeitsbildung, in deren Verlauf die unersetzbare
Andersheit nicht aufgehoben, sondern stets bewahrt wird. Darüber hinaus verursacht das
gemeinsame Wissen um das Nichtwissen im echten Dialog nicht die ohnmächtige Resignation,
sondern garantiert das ununterbrochene Weitersuchen nach der verstehbaren Wahrheit, weil
sich dieses Nichtwissen nicht nur auf das hermeneutische Bewusstsein um die Endlichkeit
bezieht, sondern auch darauf verweist, dass das selbstbezügliche Wissen die Abhängigkeit
vom Anderen zu seiner Grundstruktur hat. Aus diesem Grund ist die anerkannte Bewahrung
der Andersheit und die angeeignete Selbstverständigung in Gadamers Dialoghermeneutik
nicht widersprüchlich, sondern bildet einen unentbehrlichen Bestandteil der zirkulären
Weiterbildung des Denkens. Hierbei handelt es sich deshalb nicht um die endgültige
Auflösung der Selbstwidersprüchlichkeit zwischen der Aneignung und der Anerkennung,
sondern um die Angemessenheit im dialogischen Umgang mit der unangeeigneten Andersheit.
Denn die dialogische Selbsterkenntnis als das Bewusstsein um die eigene Endlichkeit tendiert
von vornherein zur Gemeinsamkeit im unendlichen Verständigungsversuch.
Dass Gadamer insbesondere die sokratische Weisheit in Platons Dialog in den
Vordergrund rückt, zeigt seine Einsicht in die hermeneutische Distanz. Aus hermeneutischer
Sicht schafft die Distanz im Dialog den möglichen Verständigungsraum, ja die potenzielle
Rahmenbedingung für die dialogische Verständigung über den Anderen und über sich selbst.
So ermöglicht sie die Annahme des unaufhebbaren Anderen in der Bewahrung seiner
322
Andersheit. Da die dialogische Verständigung auf keinen Fall auf die vollständige
Übereinstimmung mit der unersetzbaren Individualität abzielt, sondern den ununterbrochenen
Übergangsweg von der Verständigung über den Anderen zur reflexiven Selbsterkenntnis
darstellt, befindet sich der echte Dialog als unser unendlicher Verständigungsversuch immer
in angemessener Distanz. In Gadamers Augen ist eine vollständige Übereinstimmung mit dem
Gesprächspartner aufgrund der Unaufhebbarkeit seiner Individualität von vornherein
widersprüchlich. Wenn es für Gadamer die Möglichkeit eines solchen Einverständnisses gäbe,
dann wäre das dialogische Einverständnis nicht von einem subjektiven Dialogteilnehmer,
sondern nur von der Dialogsache, über die jeder Teilnehmer seine individuelle Meinung zum
Ausdruck bringt, abhängig. Aus diesem Grund kann man sagen, dass der Dialog im Grunde
ein ausgezeichneter Ort ist, in dem die verschiedenen Meinungen aufeinander übertragen
werden können. Nun zwingt uns der Verständigungsversuch im Dialog, zum Hören der
verschiedenen Meinungen des Dialogpartners. Außerdem führt uns der Dialogvorgang zu dem
Wissen, dass der potenzielle Sinnraum der dialogischen Verständigung ständig in der Distanz
zum Anderen liegt. Die Andersheit im Dialog ist weder ein Hindernis auf dem Weg zur
dialogischen Verständigung, noch etwas, das es zu überwinden gilt, um die Erfüllung des
Dialogziels zu vollenden, sondern vielmehr ein unentbehrliches Element, das im
Dialogvorgang immer bestehen bleibt. Denn die Anerkennung der Andersheit ist nicht nur die
Voraussetzung für den Dialog, sondern zeigt auch das ursprüngliche Dialogphänomen des
unendlichen Verständigungsversuchs, in dessen Verlauf die reflexive Selbsterkenntnis sich
permanent mitbewegt. Auf dieser notwendigen Distanz zwischen dem reflexiven Selbstbezug
und der bewussten Anerkennung der Andersheit basiert die dialogische Bewegung. Daran
anschließend wird gezeigt, dass der Andere in seiner Andersheit auch die mitkonstruktive
Rolle zum reflexiven Rückzug auf sich selbst im Dialog spielt.
Gadamers Formulierung, dass die dialogische Verständigung immer im Kontext der
Angewiesenheit auf die Verständigung über den Anderen steht, d. h. über das Verstehen des
Anderen hinaus zur Selbstverständigung gelangt, betont auch das wesentliche Recht auf
Widerrede des Anderen im dialogischen Verlauf der reflexiven Selbsterkenntnis. Aus
hermeneutischer Sicht zeigt sich, dass der dialogische Reflexionsvorgang auf die Begegnung
mit dem Anderen bezogen, nämlich mit der Verneinung des Anderen verbunden ist, weil der
Einspruch des Anderen gegen die eigene Perspektive im Dialog die reflexive Innwendung
motiviert, weil die Widerstandsleistung des Anderen im Dialog den eigenen Standpunkt in
Erinnerung ruft. Die Widerrede im Gespräch lässt einen deshalb nicht nur die unaufhebbare
Individualität des Anderen erfahren, sondern lässt ihn vielmehr zu seinem internen
323
Reflexionsvorgang kommen. 61 Insofern verfügt die hermeneutische Selbsterkenntnis, die sich
immer im Gespräch, sozusagen in der Konfrontation mit dem anderen Standpunkt vollzieht,
über eine reflexive Rückzugsstruktur, auch wenn sie, wie bereits erwähnt, über keine
selbsteinsichtige Vollkommenheit der reflexiven Rückführung auf die subjektive Entität
verfügt. Die hermeneutische Selbsterkenntnis kommt dadurch zustande, dass der Andere als
Gesprächspartner seine unersetzbare Andersheit freilegt, nämlich seine verschiedenen
Meinungen zum Ausdruck bringt. Dementsprechend stellen wir fest, dass die reflexive
Selbsterkenntnis, Gadamers Dialoghermeneutik zufolge, einen Anstoß impliziert, der von der
Andersheit des Anderen kommt. Sofern die hermeneutische Selbsterkenntnis ihren
Reflexionsvorgang im Dialog ausführt, anders formuliert, das „denkende Ich“ immer schon
im dialogischen Wechselverhältnis mit dem Anderen steht, hält der Reflexionsvorgang uns
den vom Anderen motivierten Anspruch auf das Selbstwissen, den wir permanent suchen, vor
Augen. Da die selbstkritisch erweckte Selbsterkenntnis im Dialog immer von der Andersheit
des Anderen abgeleitet ist und zudem nicht zum in sich verschlossenen Selbst kommt,
sondern sich in der ständigen Weiterbildung befindet, benötigt sie, um sich selbst weiter
auszubilden, die unaufhebbare Andersheit des Anderen.
Nun kann man sagen, dass die wiedererweckte Selbsterkenntnis für Gadamer bereits in
der Sphäre des Wir bzw. im dialogischen Zusammenleben liegt, weil die Reflexion im
Gespräch, hermeneutisch gesehen, als ein „selbstvergessenes“ Mitwissen, das nicht von der
einseitigen Subjektleistung, nämlich von der unmittelbaren Selbstbeziehung, sondern vor
allem vom ununterbrochenen Verhältnis zum Anderen, z. B. der familiären Intimbeziehung,
dem Freundeskreis oder der gesellschaftlichen Verbundenheit usw. ausgeht, bezeichnet
werden kann. Kurzum skizziert der hermeneutische Reflexionsvorgang im Dialog keinesfalls
den isolierten Kreislauf des verschlossenen Selbst, sondern die Gemeinsamkeitsbildung, in
deren Verlauf wir uns selbst verständigen. So ist die selbstkritisch wiedererweckte
Selbsterkenntnis
61
in
Gadamers
Dialoghermeneutik
das
gemeinsam
erworbene
Vgl. Rüdiger Bubner, Dialektik als Topik, Frankfurt a. M. 1990, S. 10 ff. Mit der These, „daß der Vollzug
einer Reflexion im gekennzeichneten Sinn und die Bereitschaft zum Eintritt in einen Dialog strukturell ein und
dasselbe sind“ betont er, wenn ich hier verkürzt darstelle, dass der Dialog selbst ein Reflexionsakt sei. (S. 15)
Denn für ihn bedeutet die Reflexion im Prinzip keinen unmittelbaren Bezug zum Sachgehalt. Der
Reflexionsakt wie der reale Dialogverlauf beziehen sich deshalb auf die Einstellung aller Beteiligten, die sich
dem realen Sachbezug auf verschiedene Weise anzunähern versuchen. Aus diesem Grund ist die Widerrede
des Gesprächspartners, nämlich der andere Gesichtspunkt mitkonstitutiv, weil die Konfrontation mit dem
Anderen, sowohl das Moment der Reflexion als der Motor des Gesprächsvorgangs, keine Behinderung der
weiteren Denkbildung ist, sondern immer schon die Möglichkeit eröffnet, die geprägten Positionen in die
anderen wieder mit einzubeziehen. In diesem Sinne fügt er weiter hinzu: „Hinter dem Erheben der Gegenrede
des Dialogpartners ebenso wie hinter dem Eingehen auf alternative Gesichtpunkte im eigenen Nachdenken
steht die grundsätzliche Möglichkeit, dass solche Alternativen überhaupt existieren. […] Konkurrierende
Positionen reduzierten sich auf verbale Variationen des einen, einzig gültigen Zugangs zur Sache.“ (S. 19)
324
Zusammendenken mit dem Anderen. Dementsprechend kommt Gadamers Anliegen zur
hermeneutischen Selbsterkenntnis im Dialogfeld, das sich im Grunde gegen das
subjektsphilosophische Ideal über die Substanzialität der subjektiven Reflexionsbewegung
wendet, insbesondere mit den folgenden Sätzen zum Ausdruck: „Verstehen und
Missverstehen spielt zwischen Ich und Du. Schon die Formulierung >Ich und Du< bezeugt
aber eine ungeheure Verfremdung. So etwas gibt es ja gar nicht. Es gibt weder >das< Ich
noch >das< Du, es gibt ein Du–Sagen eines Ich und es gibt ein Ich–Sagen gegenüber einem
Du; aber das sind Situationen, denen immer schon Verständigung vorhergeht. Zu jemandem
Du–Sagen – wir wissen es alle – setzt ein tiefes Einverständnis voraus. Da trägt schon etwas,
was dauerhaft ist.“ (GW. 2, S. 223, meine Hervorhebung) Wenn unsere Selbsterkenntnis ihren
Reflexionsvorgang, nach Gadamers Konzeption, tatsächlich im Dialog vollzieht und sich
deshalb immer schon im unentrinnbaren Zusammensein mit dem Anderen befindet, dann ist
das Ich nur ein sich mitbewegender Bezugspunkt der selbstkritischen Reflexionsbewegungen
ohne die substanziellen Züge, die im Prinzip von der irrtümlichen Vorstellung des
grammatischen Personalpronomens „ich“ abgeleitet zu sein scheinen. Im Anschluss an diesen
Einwand
Gadamers
gegen
die
moderne
Subjektivität
können
wir
auch
der
dialogphilosophischen Idee von Martin Buber unsere Aufmerksamkeit zuwenden; wenn ich
hier zitiere: „Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich–Du und das Ich
des Grundworts Ich–Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden. […] Ich sein
und Ich sprechen sind eins.“ 62 In diesem Zusammenhang müssen wir darauf achten, dass das
Ich im wesentlichen kein Subjekt des Dialogs ist. Wenn „ich“ im Dialog den reflexiven
Rückzug auf sich selbst bildet, so besagt dies vom dialogphilosophischen Standpunkt aus nur
die Wiedererinnerung an den präreflexiven Bekannten, die im Grunde den entscheidenden
Fundus der zwischenmenschlichen Lebensbezüge gestaltet. Im Dialog ist „ich“ ohne seine
substanziellen Züge deshalb nur der Sagende und zugleich der Hörende, der sich selbst erst in
seiner prozessualen Selbstausbildung herausschält.
Sofern der Reflexionsvorgang im Grunde dialogisch ist, sofern die Selbsterkenntnis
von vornherein auf die Unaufhebbarkeit der Andersheit bezogen ist, muss hier gezeigt werden,
dass der Dialog selbst praktisch ist. Denn die dialogische Selbsterkenntnis geht von der
Annahme der Andersheit, ja vom Sich-Einlassen auf das Gespräch aus und die Begegnung
mit dem Anderen stiftet damit zugleich den dialogischen Handlungsraum, in dem wir den
62
Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995, S. 4. Vorher sagt er auch folgendes: „Wenn Du gesprochen wird, ist
das Ich des Wortpaars Ich–Du mitgesprochen. Wenn Es gesprochen wird, ist das Ich des Wortpaars Ich–Es
mitgesprochen. Das Grundwort Ich–Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Das Grundwort
Ich–Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.“ (S. 3) Daran anschließend würde es vermutlich
lauten, dass „Ich“ im Dialog vor seiner Isoliertheit immer schon gemeinsam ist.
325
Anderen zu erreichen und zu vernehmen versuchen. In dieser dialogischen Begegnung mit
dem Anderen, die von vornherein die Bereitschaft zum Verstehen des Anderen umfaßt,
besteht auch die unbedingte Anerkennung der Andersheit, die die grundsätzliche
Voraussetzung für den ununterbrochenen Dialogverlauf prägt. Der Dialog skizziert daher die
zwischenmenschliche Anerkennungsbewegung und in diesem oszillierenden Zwischen
entfaltet er sich selbst gleichzeitig endlos. Da „Im Gespräch sein“ nunmehr die
zwischenmenschlichen Lebensbezüge meint, bezeichnet das Urphänomen des Dialogs sich im
wesentlichen Sinne als das Ethische. Insofern impliziert der Dialog von Anfang an ethische
Implikationen, die den praktischen Anspruch auf die Einhaltung aller Betroffenen erheben.
Darüber hinaus legte Gadamer, wie bereits gezeigt, sein Augenmerk bereits während
seiner frühen Schaffenszeit auf die ethische Grundlage im Dialog, mit der wir uns als nächstes
beschäftigen werden, da es hier insbesondere um Aristoteles’ Phronesis mit Rückgriff auf
Platons Dialog gehen wird. In Gadamers Augen kommt Aristoteles’ Phronesis grundsätzlich
in Platons Dialog zustande, sofern sowohl die Phronesis als auch der Logos nicht vorgegeben
sind, sondern gemeinsam gesucht werden sollen. Somit wird die sokratische Urfrage in
Platons Dialog, nämlich was gut sei für das menschliche Leben, ständig wiederholt, ja
lebendig hinterfragt. Die Frage nach dem Guten, die uns seit Sokrates permanent gestellt wird,
kann so beschrieben werden, dass sie sich mit der menschlichen Denkgeschichte
ununterbrochen mitbewegt und dass die jeweils gesuchte Antwort auf die Frage keine
unhinterfragbare
Endgültigkeit
darstellt,
sondern
sie
den
offen
gebliebenen
Erwartungshorizont, nämlich die stets sich wiederholende Nachfrage unter den bestimmten
Situationen begleitet. Der Grund für diese Unabschließbarkeit folgt von vornherein aus der
menschlichen Existenzlage, die bereits in der unauflösbaren Spannung zwischen dem
ständigen Bedürfnis nach dem Guten, nämlich dem guten Leben, und der existenziellen
Zeitknappheit des eigenen Lebens steht. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses erwartet die
menschliche Handlung in der Tat von ihrem Willen aus das Gute und kommt ihrem
Verwirklichungshorizont in jedem Augenblick diesem Ziel näher. Insofern ist für sie die
Prozessualität, die vom vorgegebenen Zeitverlauf abhängt, charakteristisch. Aus diesem
Grund zwingt das Bewusstsein um die existenzielle Endlichkeit, was Gadamers
Dialoghermeneutik emphatisch betont, uns zur ständig wiederholenden Fragestellung nach
dem Guten, auf die wir die Antwort zusammen suchen müssen.
326
II. Die dialogische Ethik im Gesprächsverhältnis
II – 1. Aristoteles’ phronesis in Bezug auf den Platonischen Dialog
Aufgrund der bisherigen Überlegungen zu Gadamers Gedankengang von der hermeneutischen
Sprachlichkeit zum ursprünglichen Urphänomen des Dialogs, können wir uns davon
überzeugen, dass das dialogische Verstehen praktisch und ethisch ist. Aus hermeneutischer
Sicht ist das menschliche Verstehen deshalb praktisch, weil dies immer in der Begegnung mit
der Andersheit des Anderen stattfindet und dieses Bezogensein auf die Andersheit den
Betroffenen zum umsichtigen Umgang mit dem Anderen zwingt. Sofern das Verstehen in
seine Andersheit, die uns im geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmen
begegnet, mit einbezogen ist, kann das Verstehen nur durch praktische Umsicht und
Überlegung gelingen, in deren Spielraum der thematisierte Sachverhalt gemeinsam behandelt
wird. Hieraus eröffnet sich die hermeneutische Situation, die unentbehrlich des gemeinsamen
Gesprächs bedarf. Im Anschluss an seine Einsicht, dass die menschliche Erfahrung überhaupt
im umsichtigen Umgang mit dem Anderen, mit dem geschichtlich Überlieferten und mit der
Welt gemacht wird, rückt Gadamers Dialoghermeneutik die kreative und konstruktive Macht
der Sprache ins Zentrum, wenn davon die Rede ist, dass die Welt sprachlich verfasst und dass
das Gespräch die Vollzugsform der Sprache sei. Denn der Wortsinn, den die Welt uns
gegeben hat, ist von vornherein nicht nur auf seine Sache, sondern auch auf den Anderen
gerichtet, um ihn zu erreichen. Mit anderen Worten: Die Sprache in der Gesprächsbeziehung
teilt dem Anderen ihren immer schon gemeinsamen Sachverhalt mit. Auf jeden Fall bewegt
das Miteinandersprechen sich deshalb nicht im einseitigen Verhältnis zwischen Sender und
Adressaten, wie z. B. eine Übermittlung von Informationen, sondern ein echtes Gespräch
verlangt die mitwirkende Teilnahme und die gemeinsame Suche des Anderen in seiner
unaufhebbaren Andersheit. So schließt das souveräne Eintreten ins Gespräch bereits die
bewusste Akzeptanz gewisser Spielregeln und die Annahme des Anderen in seiner Andersheit
als Gesprächspartner ein. Da der ständige Versuch, den Anderen ernst zu nehmen und seine
unaufhebbare Andersheit zu vernehmen, dem Gespräch als Sprechen zu und mit dem Anderen
zugrunde liegt, stellt sich das Gespräch als eine ethische Verhaltensweise zwischen den
Dialogteilnehmern dar. Wenn die Ethik zudem nicht das wissenschaftliche Wissen, das die
Neugier befriedigt, sondern die Lebensorientierung, d. h. die zwischenmenschliche Haltung in
der alltäglichen Lebenswelt zum Thema macht, gründet das dialogische Verstehen in
Gadamers Hermeneutik auf einem ethischen Fundament. Denn die erste Bedingung für das
327
Gelingen des Gesprächs ist die Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit. Das Gespräch
in seinem Verlauf macht also die ihm eigenen ethischen Konnotationen, die sich aus dem
dialogischen Wechselverhältnis ergeben, spürbar.
Damit liegt auf der Hand, dass die Bereitschaft zum Zuhören eine der
Grundvoraussetzungen für den Gesprächsverlauf ist. Das Zuhören in unserem Zusammenhang
ist gleichbedeutend mit dem unabschließbaren Offensein für die Andersheit des Anderen. Es
erweist sich, dass das Zuhören im Gespräch immer schon das Hören auf den Anderen ist und
ein sich offen haltendes Bezogensein auf die Andersheit einschließt. Das Hören auf den
Anderen meint deshalb, der Andersheit des Anderen zuzuhören, also die Bemühung, diese
Andersheit ernst zu nehmen. Insofern ist das Zuhören immer schon auf die Andersheit des
Anderen, die im Sprechen mitklingt, ausgerichtet. Eine solche hermeneutische Zugehörigkeit
weist, Gadamers Ansicht zufolge, aber nicht darauf hin, dass ich mich im Gespräch dem
Gesichtspunkt des Anderen bedingungslos unterwerfe, sondern darauf, dass ich mich aus
meiner eigenen Perspektive auf die Sache, um die es geht, in den Standpunkt des Anderen als
meinen Gesprächspartner hineinversetze. Wenn Gadamer in seiner Hermeneutik betont, dass
das dialogische Verstehen im wesentlichen Sinn auf die Andersheit des Anderen angewiesen
ist, dass das Ungesagte, das wir im Grunde sagen wollten, in der sinnerschließenden Leistung
des Zuhörens vernehmbar ist, liegt sein Grundanliegen darin, zu zeigen, dass das solidarische
Aufeinanderbezogensein als grundsätzliche Seinsmöglichkeit des Menschseins in dem
Versuch, auf den Anderen zu hören, immer schon wirksam ist. Ein Gespräch enthält daher die
ethische Orientierung, die die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt, bereits in sich.
Indem das Gespräch den gemeinsamen Sinnhorizont impliziert, in den der Mensch mit dem
Anderen permanent eingebunden ist, wird seine ethische Grundlage nicht, wie Habermas
meint, durch einen moralischen „Universalgrundsatz“ begründet und erklärt, sondern in ihm
selbst ausgebildet. 63 Dementsprechend schreibt M. Riedel: „Was hinter dem einzigartigen
63
An dieser Stelle müssen wir uns zunächst Aristoteles’ metaphorische Aussage „Ein Stein im Brett“ in
Erinnerung rufen. Diese Aussage schließt in seinem Denkzusammenhang auch an den Satz an, dass der
Mensch von Natur aus ein zoon politikon sei, d. h. dass der Mensch von vornherein in seine Gesellschaft
eingeboren ist. Dementsprechend können wir bemerken, dass der Mensch bereits seine institutionalisierten
Sitten vor der deduktiven Ableitung des obersten Prinzips kennt. Aristoteles betont deshalb emphatisch, dass
der Mensch, der ohne die gesellschaftlichen Ordnungen, ja die gemeinschaftlichen Gestalten ist, „entweder
weniger als Mensch und so das Tier oder mehr als der Mensch und so der Gott“ ist. Vor diesem Hintergrund
betrachtet ist der isolierte Mensch kein Mensch mehr. Aristoteles, Politik, in: Aristoteles Philosophische
Schriften, Bd. 4, übers. v. Eugen Rolfes, Darmstadt 1995, 1253 a 1 – 8. Dazu auch, Joachim Ritter, Metaphysik
und Politik, Frankfurt a. M. 2003, S. 91. So verstanden liegt die Möglichkeit des Ethischen nicht in der idealen
Konstruktion des Handlungsprinzips, sondern immer schon im menschlichen Leben, weil der Mensch in das
bestehende Ethos, das die ethische Handlung anleitet, einbezogen ist. Darüber hinaus distanziert sich
Habermas selber kritisch von seinem frühen Anspruch auf die Letztbegründung der Legitimität der Rechte, die
an Apels Strategie angeknüpft waren. Trotz dieser selbstkritischen Überlegung ist immer noch fraglich, wie
die noch rationalere Begründung ohne die Letztbegründungsnot überhaupt möglich ist und ob sein
328
Selbstbezug der Phronesis aufscheint, ist die akroamatische Dimension des Logos, des
Hörenkönnens auf das rechte Wort als ein Vermögen der ethischen Tugend, worauf die
Phronesis angewiesen bleibt.“ 64 Darüber hinaus führt das dialogische Verstehen, das sich aus
der unabschließbaren Bewegung zwischen dem wechselseitigen Sprechen und Hören bildet,
aus hermeneutischer Sicht zu einem inneren Reflexionsvorgang, der von der unaufhebbaren
Andersheit des je Anderen motiviert ist. Dieser hermeneutische Rückzug auf sich selbst im
Gesprächverhältnis ist jedoch weder eine bloß sich wiederholende Rückkehr zum
Vergangenen oder zum Vorhandenen, noch die Rückführung auf ein isoliertes Ich, das in der
neuzeitlichen Subjektphilosophie das Chaos vollkommen scheint ordnen zu können, sondern
im Grunde die Erfahrung, in der ich meiner selbst bewusst werde und zugleich die offene
Fortsetzung, die von der Erfahrung der Andersheit endlos in Gang gesetzt wird. So findet sich
das Menschsein in der sich veränderten Gesprächssituation selbst und sein ethisches Handeln
immer wieder neu.
Nun dürfen wir nicht vergessen, dass Gadamer sich in seinem gesamten
Gedankengang und seiner Theorieentwicklung mit der Ethikfrage beschäftigt hat. 65 Aus
Gadamers Sicht muss klar gemacht werden, dass die Hermeneutik keine theoretische
Wissenschaft ist, die die methodische Erläuterung der technischen Auslegungskünste zu
ihrem Schwerpunkt hat. Sie bestimmt sich selbst vielmehr über eine „Kunstlehre“ der
Textauslegung als praktische Philosophie. Aufgrund dieser Einsicht wählte Gadamer als Titel
seines Aufsatzes ohne eine weitere Bestimmung „Hermeneutik als praktische Philosophie“.
Hier schreibt er: „Hermeneutik ist Philosophie, und als Philosophie praktische Philosophie.“ 66
Gadamer versucht deshalb, die Wurzeln seines Denkansatzes in der dialogischen Ethik
konsequent weiter herauszuarbeiten und das hermeneutische Verstehen als die ontologische
Grundstruktur der menschlichen Erfahrung mit den ethisch–moralischen Ansprüchen der
praktischen Lebenswelt, vor allem im Rahmen der Analyse der Phronesis in Aristoteles’
Praktischer Philosophie, zu verbinden. Diesbezüglich wurde bereits oben gezeigt, dass das
menschliche Verstehen aus hermeneutischer Sicht immer schon dialogisch und ethisch ist,
weil es im Verstehen des Anderen in seiner Andersheit gründet, in diesem Sinn die
Universalgrundsatz für die legitime Kommunikationshandlung hier nicht ein unhintergehbares Letztes als das
oberste Prinzip ist. J. Habermas, Erläuterung zur Diskursethik, S. 116 – 118 u. S. 130 ff.
64
M. Riedel, Hören auf die Sprache, S. 162.
65
Hier können wir feststellen, dass die vorwurfsreiche Unterschätzung, dass Gadamer nach der Debatte mit Apel
und Habermas über die ideologiekritischen Reflexionspotenzen die ethische Grundlage in seiner Perspektive
vom dialogischen Verstehen wieder findet, nicht Gadamers Dialoghermeneutik trifft. Diese Behauptung
kommt m. E. deshalb zustande, weil sie Gadamers gesamten Gedankengang außer Acht lässt. Diesbezüglich
beispielsweise, vgl. Richard J. Bernstein, Beyond objectivism and relativism – science, hermeneutics and
praxis, Uni. of Pennsylvania Press: Philadelphia 1983, etwa S. 182 ff.
66
H. – G. Gadamer, „Hermeneutik als praktische Philosophie“, S. 143.
329
Anerkennung des Anderen als Gesprächspartner voraussetzt und im Gespräch mit dem
Anderen nicht nur den Gesprächspartner, sondern gerade auch sich selbst versteht. Hinter
diesem Anliegen Gadamers, die Hermeneutik in Aristoteles’ Phronesis einzubetten, verbirgt
sich auch die kritische Erkenntnis der Grenze des modernen Wissenschaftsbegriffs, der
zufolge die kalkulierte Überlegtheit als ein Musterbild des wissenschaftlichen Wissens, die
rigorose Markierung des Begriffsumfangs, die im lebendigen Sprachgebrauch stattfindet,
weder die zwischenmenschliche Bezugnahme in der praktischen Lebenswelt, noch die
unvorhersehbaren
Folgen
der
menschlichen
Praxis
in
den
variablen,
flexiblen
Lebenszusammenhängen berücksichtigt.
Diese hermeneutische Wendung zur praktischen Philosophie lässt sich besonders
anhand von Gadamers beiden Arbeiten aus den frühen dreißiger Jahren belegen, die unter
Heideggers Einfluss stehen 67 – nicht nur Ontologie: Faktizität der Hermeneutik, sondern auch
Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Sie verweisen auf die Ethikfrage in Platons
sokratischen Dialogen und deren Verbindung mit Aristoteles’ Phronesis. In seiner
Habilitationsschrift „Platos dialektische Ethik“ (GW. 5, 1931) stellt sich Gadamer die
Aufgabe, Platons Dialogphilosophie mit der Dialektik weiterzudenken und, wie er sagt, „die
Einheit von Dialog und Dialektik“ ins Auge zu fassen. (GW. 5, S. 14) Die Antwort auf die
Frage, worauf sich Gadamers damaliges Anliegen, die Einheit des Dialogs mit der Dialektik
zu denken, beziehe, wird gegeben, wenn wir unsere Aufmerksamkeit Gadamers Fragestellung
im Vorwort zu seiner Habilitationsschrift zuwenden. Hier fragt Gadamer sich selbst, „in
welchem Sinne platonische Dialektik das Problem der Ethik stellt und überhaupt stellen kann.
[…] ob und wie platonische Dialektik >Ethik< ist, wird gefragt.“ Auf diese Frage antwortet
Gadamer mit der These, dass „die Theorie der Dialektik bei Plato die Theorie der sachlichen
Möglichkeit des Dialogs“ ist. (GW. 5, S. 158) Gadamers Bezugnahme auf die Aristotelische
Phronesis liegt, wie die These bereits enthält, die Einsicht zugrunde, dass sich die Phronesis
durch die sokratische Ethikfrage, nämlich durch das Fragen nach dem Guten in Platons
Dialog, konkretisieren und verwirklichen könne und ihre Vollzugsform in diesem
dialogischen Vorgang bestehen könne, den die Frage nach dem Guten anleitet. Hierbei zeigt
67
In seiner phänomenologischen Interpretation, die von Anfang an für die Berufung nach Marburg ungefähr im
Jahr 1922 verfasst wurde, hat Heidegger Phronesis als eine umsichtige Einsicht, mit der sich das menschliche
Dasein immer um das Gute sorgt, verstanden. Für ihn ist die menschliche Handlungsweise deshalb die
Sorgestruktur, nämlich die jeweilig bestimmte Sorge für das Gute. Aufgrund dieser Sorgestruktur gewinnt das
menschliche Dasein in seiner faktischen Lebenswelt die bestimmte Neigung zur Welt, sobald es der Welt
begegnet. Mit dieser Einsicht in die lebendige Handlungsstruktur der Lebendigen schreibt er weiter folgendes:
„Die aletheia praktike ist nichts anderes als der jeweils unverhüllte volle Augenblick des faktischen Leben im
Wie der entscheidenden Umgangsbereitschaft mit ihm selbst, und das innerhalb eines faktischen
Besorgensbezugs zur gerade begegnenden Welt.“ M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation zu
Aristoteles, S. 55.
330
sich vor allen Dingen, dass Gadamer mit dieser gedanklichen Verbindung zwischen dem
Dialog und der Dialektik die ontologische Debatte zwischen Platon und Aristoteles über „das
Verhältnis des Seins zum Guten“, die durch Aristoteles Kritik an Platons Ideenlehre ausgelöst
wurde, überwinden wollte. 68 Hinter dieser Aristotelischen Platonkritik steht deshalb das
ontologische Problem, dass das Sein des Seienden als das Eine, das Erste, von dem aus alles
Seiende abgeleitet werden kann, in seiner Vielfältigkeit nur gezeigt werden kann, wenn dieses
von allem Seienden abgelöste Sein benannt werden kann. Kurzum geht es vor allem um das
Verhältnis des Einen zu dem Vielen, in dessen Licht wir den philosophiegeschichtlich
andauernden Streit aufspüren können.
Um Gadamers obige Problemlage zu präzisieren, möchte ich hier kurz und skizzenhaft
in Aristoteles’ Platonkritik einführen. Hierbei will ich nicht die zahlreichen Aspekte
Aristoteles’, die in seinen Texten verstreut sind, behandeln, sondern mich insbesondere auf
Aristoteles’ Argumentation im I. Buch von Die Nikomachische Ethik beschränken, in dem
seine Kritik an Platons Idee des Guten abgehandelt wird. 69 Dort stellt Aristoteles m. E. die
Hauptlinie seiner Argumentation mit folgendem Satz dar: „Auch wenn ein Gutes existiert, das
eines ist und allgemein ausgesagt wird, oder das abgetrennt und an und für sich besteht, so ist
es doch klar, daß dieses Gute für den Menschen weder zu verwirklichen noch zu erwerben
ist.“ 70 In Aristoteles Augen scheint Platons Idee des Guten, die im Prinzip von allen
verschiedenen Erscheinungsformen des Guten abgelöst ist und unter die die Verschiedenheit
aller verschiedenen Erscheinungsformen des Guten subsumiert wird, den Realitätsbezug,
nämlich die realen Lebensbezüge, verloren zu haben. Denn das Gute stellt sich, so Aristoteles,
in jeder zwischenmenschlichen Handlungssituation verschieden und in jedem Fall anders dar.
Da Aristoteles hiermit sein Augenmerk zunächst auf den praktischen Bereich im
lebensweltlichen Handlungsraum, nämlich vor allem auf die Frage nach dem menschlichen
Handlungssinn wirft, bedeutet für ihn Platons Idee des Guten als Seinsprinzip, dass damit alle
anderen Erscheinungsformen des Guten überflüssig sind. Denn Platons Konzeption der
Unterordnung aller Variationen des Guten unter eine einzige Idee des höchsten menschlichen
Guten besteht von vornherein aus der unerträglichen Abtrennung des Guten an sich von den
konkreten einzelnen Variationen des Guten, die den Handlungsvollzug mit einschließen, der
von den verschiedenen Erscheinungsformen des Guten angestrebt wird. In diesem
68
Vgl. M. Riedel, Hören auf die Sprache, S. 96 ff., hier S. 107. Auch ders., „Zwischen Plato und Aristoteles –
Heideggers doppelte Exposition der Seinsfrage und der Ansatz von Gadamers hermeneutischer
Gesprächsdialektik“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Jg. 11, hrsg. v. J. Simon, Stuttgart 1986, S. 1
ff.
69
Vgl. Helmut Flashar, „Die Platonkritik (I. 4)“, in: Aristoteles Die Nikomachische Ethik, hrsg. v. Otfried Höffe,
Berlin 1995, S. 63 ff.
70
Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, I. Buch, 1096 b 32 – 35.
331
Zusammenhang schreibt Aristoteles einige Sätze zuvor noch schärfer: „Ein Gutes also, das
gemeinsam wäre und als eine einzige Idee aufgefaßt werden könnte, existiert nicht.“ 71
Darüber hinaus bezieht sich Aristoteles’ argumentativer Einwand gegen Platons Idee
des Guten auch auf dessen Lehre von den Kategorien. Hier handelt es sich um das Verhältnis
der ersten Kategorie zu den anderen Kategorien, nämlich um den ontologischen
Zusammenhang des absoluten Guten, das um seiner selbst willen angestrebt wird, mit den
relativen Varianten des Guten, die nur als ein einzelnes Mittel zur Zweckerfüllung ihren Platz
fänden. Denn wenn das höchste menschliche Gute überhaupt wirklich und real wäre, sollten
alle anderen auf dieses Gute bezogen sein. Ohne den Wirklichkeitsbezug gäbe es, wie
Aristoteles gesagt hat, ein solches höchstes Gutes nicht mehr. Mit Aristoteles lässt sich also
sagen, dass das Gute in Platons Ideenlehre nur ein formaler Allgemeinbegriff sein kann, der
grundsätzlich der theoretischen Wissenschaft angenähert werden kann und bei ihm nur in der
Ersten Philosophie behandelt und bewiesen wird, wenn dieses Gute als eine ethische
Kategorie den nötigen Bezugspunkt zu den realen Handlungsräumen nicht impliziert und
lediglich das Gute als eine von vielen verschiedenen Kategorien darstellt. Im letzten Fall ist
das Gute keine Arche mehr, von der her alle anderen abgeleitet werden. Aristoteles’ Ansicht
zufolge liegt der Grund hierfür darin, dass nur die allen zugrunde liegende Substanz das erste
und höchste Seinsprinzip ist, auf das sich alle anderen Kategorien beziehen: Das Gute als eine
bestimmte Kategorie wäre nur dasjenige, was jedem Satz prädikativ beigefügt werden kann.
Betrachtet man Aristoteles’ kritische Argumentation gegen Platons Ideenlehre insgesamt,
wird uns gezeigt, dass wir, um das Gute selbst beim Wort zu nehmen, die angemessene
Antwort auf zwei Fragen zu suchen haben, nämlich was das Gute ist und wie darüber
gesprochen werden kann. An dieser Stelle können wir feststellen, dass Gadamers in seiner
Habilitationsschrift gestellte Frage innerhalb eines in der Philosophiegeschichte dauerhaft
umstrittenen Diskussionsrahmens steht. Und wenn wir Gadamers gesamten Gedankengang
von seinen sorgfältigen Abhandlungen in den dreißiger Jahren über Wahrheit und Methode zu
den späten Aufsätzen ins Auge fassen, stellen wir auch fest, dass Gadamers Sprachontologie,
die sich selbst als den spekulativen Sinnganzheitshorizont der Sprache bezeichnet, in der die
Sprache das Eine im Vielen-Sagenden unaufhörlich sucht, mit der genannten philosophischen
Problemlage zu tun hat.
Wenn Gadamer Aristoteles’ Praktischer Philosophie, insbesondere der Phronesis,
seine Aufmerksamkeit zuwendet, geht es ihm, abgesehen von der oben behandelten
Platonkritik, um die von Aristoteles selbst vorgenommene Unterscheidung zwischen
71
Ebd., 1096 b 23 – 25.
332
theoretischer und praktischer Philosophie. Denn diese Aristotelische Trennung der
theoretischen von der praktischen Philosophie beinhaltet einen entscheidenden Bezug auf
Sokrates’ Weisheit des Nichtwissens, wonach es im Grunde einen nicht auflösbaren
Widerspruch zwischen dem Wissen und der Wirklichkeit gibt. Im Anschluss an Aristoteles
Einsicht arbeitet Gadamers Dialoghermeneutik noch mit einem weiteren Gegensatz, dem
zwischen phronesis, episteme und techne. Wenn Aristoteles auch in seiner Ethik Platons Idee
des Guten im Prinzip abgelehnt hat, gesteht er de facto doch ein, dass man auch von einem
Guten, das mit den verschiedenen Varianten des Guten übereinstimmt, - obgleich dies eine
Gute, wie wir sahen, nur mit dem theoretischen Wissen (episteme) auszudrücken ist -, reden
können muss, damit man die verschiedenen Erscheinungsformen des Guten in die bestimmten
Handlungssituationen einordnen und herausarbeiten kann.
Davon abgesehen ist es für unseren Zusammenhang entscheidend, darauf zu achten,
dass das theoretische Wissen, das vom Urteilssatz abhängig ist, keinen praktischen Bezug hat,
weil es nicht dialogisch, sondern monologisch ist. Infolgedessen bedarf z. B. die
Aristotelische Apodiktik, die in den Schlussfolgerungsverfahren des theoretischen Wissens
begründet ist, im Prinzip keiner Zustimmung des Anderen. Sie sorgt sich nicht um die
Zustimmung des Gesprächspartners, so lange das beweislogische Verfahren nur um sich
selbst kreist, während sich die Sokratische Gesprächsführung immer um die Zustimmung des
Gesprächspartners sorgt, sie sich damit zugleich in ihrem prozessualen Gang der aktiven
Beteiligung des Anderen vergewissern und mit dem Anderen zusammengehen will. Denn der
Dialog selbst will das Eine und damit zugleich das Viele im Wechselverhältnis zum Anderen
zusammenschauen und –denken. Aus dieser Perspektive führt Gadamer von nun an drei
verschiedene Wissensweisen des Menschen ein: Im Gegensatz zum praktischen Wissen
(phronesis), das theoretische (episteme) und das technische Wissen (techne). Dem
theoretischen
und
dem
technischen
Wissen
gemeinsam
ist
eine
übergeordnete
Herrschaftsstruktur, da beide die Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine betreiben.
Deshalb sind beide lehrbares und lernbares Wissen. Uns wird vor allem gezeigt, dass für das
theoretische Wissen, das die Mathematik zu seinem Muster hat, die Genauigkeit, die ohne
eine
kontextuelle
Abhängigkeit
von
der
konkreten
Situation
unveränderliche
Wiederholbarkeit und deshalb die absolute Vollkommenheit der Erkenntnis ermöglicht,
charakteristisch ist und dass das technische Wissen eine Kenntnis der Verfügbarkeit des
nützlichen Herstellens ist und damit in dem zweifelsfreien Wissen um die Anwendbarkeit der
allgemein gesetzten Regeln in jedem konkreten Fall gründet.
333
Im Vergleich zum theoretischen und technischen Wissen ist die Phronesis hingegen
als das Wissen darum, was der Mensch in der jeweils bedingten Handlungssituation zu tun hat,
unlehrbar und unlernbar, weil ein solches praktisches Wissen die Besinnung auf das Gute, mit
anderen Worten, die freiwillige Wahlentscheidung für das Beste 72 unter sich ständig
verändernden Handlungssituationen bedeutet. Da unser praktisches Wissen weder die fix
objektivierbare Dingwelt, die das technische Wissen zu seinem Gegenstand hat, noch das
theoretisch beweisbare Unveränderliche, an das das wissenschaftliche Wahrheitswissen
kontinuierlich gefesselt ist, sondern immer schon die geschichtlich begrenzte Lebenssituation
der Lebendigen als seine potenzielle Verwirklichungsbedingung hat, steht dieses Wissen von
vornherein nicht unter der kausalen Kette geplanter Zielverfolgung. Man könnte sagen, dass
die Zielsetzung des menschlichen Handelns, die von Anfang an den Handelnden motiviert,
von unserem Willen geplant ist. Es liegt auf der Hand, dass das menschliche Leben, das
immer schon sein praktisches Wissen in die praktische Lebenswelt übersetzt, vom ständigen
Wechsel der jeweiligen Lebensabschnitte und Erfahrungen abhängig ist und sich nicht in
einer aneinander geketteten Folge gewiss geplanter Ziele erschöpft. Vielmehr fordert die
menschliche Handlungssituation uns häufig auf, mit unserem praktischen Wissen auf das
Unerwartete angemessen zu reagieren und dafür nicht nur den besten Handlungszweck,
sondern auch das beste Handlungsmittel zum Handlungsvollzug auszuwählen.
Aus diesem Grund wird in Gadamers Dialoghermeneutik auch deutlich, dass das
praktische Wissen nicht nur das kluge Vorwissen (prudentia), sondern auch vor allem das
eigenartige Wissen sei. Nun sagt Gadamer in seinem frühen Aufsatz „Praktisches Wissen“:
„[…] Selbstwissen muß ein eigenes Werk haben, wenn es Wissen sein soll. […] Alles Wissen
ist Wissen von etwas, als einem Anderen seiner selbst. Wissen seiner selbst aber soll nicht nur
Wissen von anderen Wissenschaften, sondern auch von ihm selbst sein, und Wissen nicht nur
dessen, was man weiß, sondern auch, was man nicht weiß.“ (GW. 5, S. 235) Im Anschluss an
die zitierten Sätze können wir hier feststellen, dass Gadamer von Anbeginn an das praktische
Wissen als das „Selbstwissen“, nämlich das Wissen um sich selbst verstanden hat. Damit wird
deutlich, dass das Wissen um sich selbst das sokratische Wissen des Nichtwissens ist, in dem
72
Uns ist bereits bekannt, dass Gadamer selber Aristoteles VI. Buch von Nikomachische Ethik, in dem
hauptsächlich die Phronesis behandelt wurde, übersetzt hat. Hier hat er uns auch den annehmbaren Vorschlag
unterbreitet, dass der altgriechische Begriff arete nicht bloß als die Tugend, sondern als die
„Bestheit“ verstanden werden könne. Denn die Griechen dachten, dass alle sachlichen oder lebendigen
Naturwesen von Natur aus in ihrer eigenen Seinsweise ihre eigene Bestheit innehaben und um ihrer selbst
willen den besten Zustand erstreben. Das Messer hat z. B. seine eigene Bestheit. Vor diesem Hintergrund
betrachtet, fällt auf, dass das lateinische Wort virtus, das von dem Begriff der „Tugend“ herkommt, im
wesentlichen auf die Männlichkeit, gewissermaßen die männliche Stärke, verweist. Als Tapferkeit im Krieg
gilt deshalb insbesondere ein tugendhaftes Tun. Gegen diese Einseitigkeit könnte man zur Zeit vermutlich
auch den Vorwurf erheben, dass sich dieses nur auf die männliche Tugend bezieht. Aristoteles, Nikomachische
Ethik VI, hrsg. und übers. von H. – G. Gadamer, Frankfurt a. M. 1998, S. 3.
334
das hermeneutische Bewusstsein, das bei Gadamer als das Bewusstsein von der eigenen
Grenze bezeichnet wird, verwurzelt ist. 73 In Gadamers Augen kulminiert das praktische
Wissen nicht in der Spitze der hergestellten Fertigkeit und der technischen Geschicklichkeit,
sondern dieses Wissen befindet sich, wie das Denken die zirkuläre Bewegung von Wort
(onoma) und Begriff (logos) aufweist, immer in der ununterbrochen wechselseitig aufeinander
wirkenden Harmonie von logos (Rede) und ergon (Tat). Insofern ist das praktische Wissen
„ein suchendes Wissen“ 74 , das nur im Handlungsvollzug erwerbbare Wissen. Dabei ist
zunächst unwichtig, ob dies Handeln gelungen oder nicht gelungen ist.
In der Tat können wir uns hier davon überzeugen, dass keiner von uns eine
Handlungsfolge vorhersehen, vorhersagen oder gar beherrschen kann, weil die menschliche
Handlung das Verhältnis des Menschen zum Menschen zu ihrer Grundlage hat. Das
praktische
Wissen
Klugheitsüberlegung,
als
die
Handlungswegweiser
uns
bestimmte
hat
nicht
Informationen
nur
mit
über
der
eine
rationalen
bestimmte
Handlungssituation gibt, sondern auch mit der „praktische[n] Vernünftigkeit“ 75 zu tun,
worunter Gadamer einerseits die kluge Entscheidung für das beste Mittel zum guten Zweck,
andererseits das Festhalten des Sinns für das Rechte und das Gute im konkreten Fall versteht.
Insofern ist die Praxis, die permanent vom praktischen Wissen begleitet wird und damit die
sorgfältige Anwendung der gewonnenen Handlungsprinzipien auf den konkreten Fall leistet,
das lebendige Handeln der Lebendigen, kurzum das menschliche Leben selbst, das sich in der
ethisch institutionalisierten Gemeinschaft zu vollziehen strebt und immer schon eine
Beziehung auf den „letzten Zweck“ als dem „Gut–Leben“ 76 in der eigenen Lebensweise hat.
Deshalb sagt Aristoteles in dem von Gadamer übersetzten Text: „Aus dem Gesagten ist also
klar, daß es unmöglich ist, im eigentlichen Sinn tugendhaft zu sein ohne Vernünftigkeit, und
daß es ebenso unmöglich ist, vernünftig zu sein, wenn Ethos, das heißt die sittliche Tugend
fehlt.“
77
Damit wird deutlich, dass das praktische Wissen als handlungsleitende
Orientierungsinstanz seine Handlungsprinzipien nicht aus einer zugrunde liegenden
Transzendenz, sondern vom Ethos (z. B. Gewohnheit, Bräuche, Institutionen usw.) ableitet, so
lange es auf die Verwirklichung und die Konkretisierung seines eigenen Zwecks, nämlich des
guten Lebens gerichtet ist. Da die Praxis, die vom praktischen Wissen angeleitet wird, immer
73
Vgl. Otto Pöggeler, „Die ethisch–politische Dimension der hermeneutischen Philosophie, in: Probleme der
Ethik, hrsg. v. Gerd–Günther Grau, München 1971, S. 45 ff. Bescheiden schrieb er in diesem Aufsatz, dass
Gadamer „die Aristotelische Analyse des sittlichen Wissens oder der praktischen Klugheit als Modell einer
Analyse des hermeneutischen Bewusstseins“ betrachtet hat. (S. 50)
74
Mirko Wischke, Die Schwäche der Schrift, S. 192.
75
Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, S. 19.
76
Manfred Riedel, „Über einige Aporien in der praktischen Philosophie des Aristoteles“, in: Rehabilitierung der
praktischen Philosophie, Bd. I, hrsg. v. ders., Freiburg 1972, S. 87.
77
Aristoteles, Ebd. S. 57.
335
schon die Tugend als den Sinn ihres Handelns annimmt, ist sie das „beständige Am–Werk–
Sein“ 78 im in die ethischen Institutionen eingebundenen Leben des Menschseins. Anders
gesagt, ist sie im Grunde die unaufhörliche Suche nach dem Guten, die von der praktischen
Vernunft geleitet wird. Vor allem dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass das praktische
Wissen ein sich selbst ausbildendes Wissen ist, das aus dem Spannungsverhältnis zwischen
dem im gelungenen Handlungszweck gewonnenen Wissen und dem auf das auszufüllende
Handlungsziel bezogenen Wissen erwächst.
An dieser Stelle ist nun daran zu erinnern, dass das praktische Wissen in Gadamers
philosophischer Hermeneutik das dialogische Verstehen ist, weil das hermeneutische Wissen
ebenso wie das praktische Wissen die unaufhörliche Suche nach dem Wahrsein (aletheia),
Gutsein (agathon) und auch Schönsein (kalon) zu seiner Grundstruktur hat. So verstanden
zeigt sich, dass das Gespräch, insbesondere Platons Dialog als dessen hervorragendes Muster,
das von der sokratischen Frage geleitet wird, was gut für das menschliche Leben sei, das sich
selbst verwirklichende und konkretisierende Sinnnetzwerk des praktischen Wissens prägt. In
Gadamers Augen wohnt zum einen das ‚Ethische’, nämlich der ethische Impuls, der uns
ständig wieder nach dem Guten die Frage stellen lässt als ein gemeinsamer Ursprungssinn der
menschlichen Handlung, dem Gespräch inne, in dem das praktische Wissen seinen Ort hat.
Da das praktische Wissen im Gespräch die unendliche Suche nach dem Guten zu seinem
Leitprinzip hat, ist das Gute des Guten in diesem Gespräch nicht nur ein transzendentaler
Horizont der Sinnerwartung, der in der hierarchischen Gütertafel als „oberstes“ Prinzip gilt, 79
sondern auch das realisierbare Muster, auf das wir unseren Blick werfen und unter dessen
Licht wir das Gute in dieser konkreten Situation bewusst machen und gewinnen können. Zum
anderen bewegt sich das Gespräch in Gadamers Dialoghermeneutik mit dem Ethos, das weder
begründungsbedürftig, noch begründungsfähig ist, sondern an das die Begründungsnot immer
78
79
M. Riedel, Ebd. S. 93.
Das Gute als die angemessene Antwort auf die Frage, was gut ist, ist de facto immer von der bestimmten
Fragesituation abhängig, weil die Frage selbst hier den konkreten Lebensbezug hat. Wir können dafür das
folgende Beispiel anführen: Essen oder Trinken gegen Hunger oder Durst wäre ‚gut’ und Kleidung als Schutz
vor Hitze und Kälte für einen Obdachlosen wäre ‚gut’. So sind die Güter in jeder Situation von der Sicherheit
des Leibes, des Lebens bis zur sozialen Anerkennung, zur politischen Autonomie verschieden und umfassend.
Aber diese Güter ordnen sich nicht in die vertikalen Werturteile ein, sondern sie haben immer zugleich an dem
Guten teil. Vgl. Martha C. Nussbaum, „Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des
aristotelischen Essentialismus“, S. 208 ff. und Angelika Krebs, „Werden Menschen schwanger? – Das >>gute
menschliche Leben<< und die Geschlechterdifferenz“, in: Was ist ein gutes Leben? , hrsg. v. Holmer Steinfath,
Frankfurt a. M. 1998, S. 237 ff. Vor allem berichtet Nussbaum in ihrem Aufsatz über die pädagogische
Funktion des Gesprächs zwischen den Entwicklungshelfern und den Dorfbewohnern in den
Entwicklungsländern. Die erziehungsfähige Kraft des Gesprächs ist effektiver als die sachliche Erklärung.
Denn die Gesprächsstruktur baut eine Verlässlichkeit zwischen den Menschen auf und legt die Anerkennung
der allgemeinen Menschlichkeit fest. In diesem Sinne bedarf die gegenwärtige Diskussion der Menschenrechte
auch des hermeneutischen Dialoghorizontes. Diesbezüglich, vgl. Hans–Georg Flickinger, „Im Namen der
Freiheit – Über die Instrumentalisierbarkeit der Menschenrechte“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie,
Berlin 2006, S. 841 – 852.
336
gekoppelt ist. Gadamers Anknüpfung des Gesprächsphänomens an den Ethos verweist uns auf
die hermeneutische Grundannahme, dass das hermeneutische Verstehen den praktischen
Lebenssinn im alltäglichen Verhältnis des Menschen zum Menschen im Auge behält und in
diesem Sinne ohne eine weitere adjektivische Bestimmung praktische Verständigung ist, die
als ein gesellschaftstheoretischer Begriff gebraucht wird. Das dialogische Spiel des
wechselseitigen Gebens und Nehmens beruht auf einem ethischen Fundament, weil es nicht
nur von der Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit ausgeht, sondern auch die
Bewegung des Anerkennens ausdrücklich vollzieht: Mit einem Wort, dieses dialogische Spiel
ist selbst die „Bewegung des Anerkennens“.
Die Frage nach dem Guten fordert nunmehr die Frage heraus, wie der Handelnde das
Gute halten und um das Gute wissen kann. Denn der Mensch kann ohne das Wissen um das
Gute nicht gut handeln. Bevor wir etwas tun, müssen wir zwar um das Gute wissen, weil
unsere Handlung in der bestimmten Handlungssituation mit Hilfe dieses Wissens um das Gute
zum Guten gelingen soll. Damit ist jedoch nicht garantiert, dass das Wissen um das Gute das
menschliche Handeln zum Guten hinleitet. Das Wissen um das Gute garantiert nicht die
ethische Handlung. Denn es liegt auf der Hand, dass ein professioneller Moraltheoretiker, der
das sittliche Moralgesetz in- und auswendig kennt, eine ethische und gute Handlung in einer
konkreten Handlungssituation nicht selbstverständlich erfüllt und ausübt. Mit anderen Worten:
Um gut und ethisch zu handeln, müssen wir ständig versuchen, immer wieder um das Gute zu
ringen. Dennoch ist das in einer bestimmten Situation erworbene Wissen um das Gute nicht
der einzige Garant für die gute Handlung in einer sich selbst ständig verändernden
Handlungssituation. Wenn wir uns nun selbst nach unserem guten Leben fragen, stehen wir
vor der Aufgabe, über unser Handeln zu urteilen. Da eine solche Frage den Lebenssinn im
Ganzen betrifft, ist sie für unser Leben von entscheidender Bedeutung. Dennoch liegt die
Möglichkeit der Beantwortung dieser Frage immer jenseits unseres Lebens, weil die
Beurteilung unseres ganzen Lebens erst am Ende des Lebens möglich ist und selbst der
Endpunkt unseres Lebens noch immer einen Teil dieses Prozesses darstellt. Das Gute befindet
sich also vor dem Horizont des ethischen Fragens: Das Gute, nämlich ein gutes Leben, kann
nie endgültig festgestellt werden, sondern wir müssen das Gute endlos suchen. Da die Frage
nach dem Guten nach dem eigenen Lebenssinn fragt, ist sie auch entscheidend dafür, auf
welches Leben wir hoffen können, welches Leben wir leben wollen oder sollen. Demzufolge
ist die Frage nach dem Guten in meinem Leben, in der familiären Intimbeziehung, im
Freundeskreis und in dem gesellschaftlichen Rahmen, in den ich schon immer hineingeworfen
und hineingewachsen bin, eingeschrieben. Die Hoffnung auf das mögliche gute Leben als die
337
Wahlmöglichkeit unter bestimmten Rahmenbedingungen bezieht sich deshalb auf die
ernsthafte Sorge um sich selbst und damit zugleich um die Anderen in der gesamten
Lebensgeschichte. So gesehen, wird deutlich, dass die Frage nach dem Guten ein
zukunftsgerichteter Sinnhorizont für alle Menschen ist.
Uns ist bereits bekannt, dass Aristoteles seine Ethik mit diesem Satz beginnt: „Jede
Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu
erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles
strebt.“ 80 So gesehen ist die Tatsache selbstverständlich, dass der Mensch von Natur aus um
seiner selbst willen das Gute anstrebt. Gleichwohl wählen wir auch eine Lebensform in einer
konkreten Situation und verleihen dieser gewählten Lebensform von vornherein einen eigenen
Lebenssinn. Vor diesem Hintergrund betrachtet zwingt uns die Wahl einer Lebensform, den
Grund dafür zu benennen, noch verschärfter, zu rechtfertigen, warum man diese Lebensform
wählen soll und auch welche Lebensform unter den verschiedenen Formen sinnvoll und gut
sein kann. Denn wir entscheiden uns für eine bestimmte Lebensform im unendlichen
Kreislauf zwischen einem genusssüchtigen Leben und einem moralischen, sittlichen Leben.
Unsere Suche nach dem guten Leben spielt sich in der dialogischen Bewegung zwischen
Frage und Antwort ab, die im Grunde vom ethischen Fragehorizont immer wieder und anders
erschlossen werden. Das Sich-Einlassen auf das Gespräch, das durch den ethischen
Fragehorizont, noch genauer, durch das eigene Bedürfnis nach dem Guten, nach dem das
menschliche Leben strebt, bestimmt ist, lässt uns nicht nur die Begegnung mit dem Du
erfahren, das der Andere meiner selbst ist, sondern führt uns zu der selbstüberprüfenden Frage
nach dem eigenen Lebenssinn und fordert eine offene Haltung des Anerkennens eines
möglichen anderen guten Lebens. Da das Ergebnis eines solchen Gespräches genauso wenig
wie die Handlungsfolge vorhersagbar oder vorhersehbar ist, d. h. da das Gespräch, das an
unserem Handlungswissen der Phronesis orientiert ist, keine endgültige Antwort gibt, steht
das gemeinsame Suchen nach dem Guten immer im dialogischen „Zwischen“, einer
potenziellen Polarität. Insofern tendiert die zwischenmenschliche Suche nach dem Guten in
der dialogischen Dynamik zwischen dem Geben und dem Nehmen zum Finden des „Mitte–
Halten–Könnens“, nämlich des „mittleren Zustandes“, das im Prinzip deshalb endlos gesucht
werden soll, weil die Mitte selbst, mit der ständigen Veränderung der Handlungssituation
Schritt haltend, immer neu und anders zu bestimmen ist. 81
Sofern der Mensch um seiner selbst willen das Gute anstrebt, kann er freilich im
praktischen Verwirklichungs- und Konkretisierungsverlauf seines Willens zum Guten in der
80
81
Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übers. v. Olaf Gigon, I. Buch, I. Kap. 1094 a 1 – 1094 a 4.
Vgl. Gernot Böhme, Ethik im Kontext, Frankfurt a. M. 1997, S. 143 – 147, hier S. 145.
338
konkreten Handlungssituation auch Fehler machen, weil jede Handlung unerwartete Folgen,
die er nicht absehen konnte oder wollte, haben kann. Der Handelnde hat daher keine andere
Wahl, als das unbehagliche Handlungsresultat zu ertragen. Er kann diesem unfreiwilligen
Handlungsakt nicht entrinnen, weil das Ergebnis immer schon geschehen ist, noch bevor er es
hatte ahnen können. Aus diesem Grund fordert die menschliche Handlung uns auf,
Verantwortungsbewusstsein für Fehler und Schuld zu zeigen, d. h. auch für die Konsequenzen,
die sich aus den Handlungen ergeben und die der Mensch niemals mit Absicht tut,
verantwortlich zu sein. Wir werden dazu aufgefordert, uns im Handlungsverlauf darüber
Rechenschaft abzulegen, dass wir auf dem Handlungsfeld Fehler machen können. Daran zeigt
sich, dass das praktische Wissen, das die unabschließbare Suche der menschlichen Praxis
nach dem Guten anleitet, die Selbstverantwortung des Handelnden als ethische Kategorie
umfaßt. Um autonom und vernünftig handeln zu können, muss man sich um seiner selbst
willen ein Handlungsziel setzen und das Handlungsmittel zur Zielerfüllung freiwillig wählen,
dafür jedoch zugleich auch die Verantwortung übernehmen.
Die Praxis des Dialogs beinhaltet diese ethische Kategorie, weil der ethische
Fragehorizont, nämlich das Fragen nach dem Guten als treibender Motor der
Gesprächsführung fungiert. Die Frage nach dem Guten, die die Dialogvorgänge leitet, hat für
den Fragenden im Erwartungshorizont hinsichtlich einer angemessenen Antwort ihren
Stellenwert und sie wird für den Befragten zur ethischen Pflicht der Beantwortung. Mit
anderen Worten: Der Befragte hat das Recht, die Antwort auf seine Art und Weise zu geben,
damit zugleich aber auch die Pflicht, die Frage zu beantworten. Der ethische Fragehorizont im
ununterbrochenen Wechselspiel zwischen Geben und Nehmen bildet den Erwartungshorizont
aus. Ich muss auf die unerwartete Herausforderung des Anderen angemessen reagieren
können, d. h. der Fragehorizont ist der Horizont, innerhalb dessen ich das Antworten des
Anderen erhoffe. Der Fragehorizont begründet deshalb die ethische Verantwortung, einerseits
die Antwort auf die Frage zu geben und andererseits sich selbst fragen zu lassen und zu fragen.
Somit könnte man sagen, dass diese ethische Kategorie in der Praxis des Dialogs keine
zwanghafte Pflicht, sondern ein Anspruch ist, der ständig von jedem Dialogteilnehmer selbst
erhoben wird. Nachdem wir uns auf das Gespräch eingelassen haben, müssen wir dem
Anderen zuhören, d. h. die Aussage des Anderen ernst nehmen und zugleich auf die
unvorhersehbare Herausforderung des Anderen mit der permanenten Anerkennung seiner
Andersheit angemessen zu reagieren trachten. Somit ist die menschliche Handlungsfreiheit
von vornherein begrenzt.
339
Das Wissen darum, dass Du nur ein Anderer meiner selbst bist, d. h. dass der Andere
mein Gesprächspartner ist, dem ich mitzuteilen und den ich zu erreichen versuchen muss,
bildet, wie wir bereits in der vorherigen Überlegung zum ursprünglichen Dialogphänomen
gesehen haben, den zugrundeliegenden Ausgangspunkt des Gesprächs. Dass man den
Anderen als seinen Gesprächspartner annimmt, nämlich das unmittelbare Gegenüber
grenzenlos anerkennt, ist die einzige „Bedingung der Möglichkeit“ des Gesprächs. Darüber
hinaus stellt das Gespräch als ein unendliches Wechselspiel zwischen Geben und Nehmen,
zwischen Frage und Antwort, in seinem Vollzug die Bewegung des Anerkennens dar. Denn
das Sprechen und das Hören als die Grundelemente des Gesprächsverlaufs bewegen sich im
Grunde entlang der Anerkennung des Rechts des Anderen, gegen meine Argumente
Einwände erheben zu können. Vor allem zeigt das Hörphänomen im Gesprächsverhältnis, die
Bereitschaft, sich etwas sagen zu lassen. Bereit zu sein, sich etwas sagen lassen, bildet zwar
die Basis für das eigene Recht, das, was ich sagen will, auf jeden Fall zu Wort kommen zu
lassen, verpflichtet aber zugleich jeden Dialogteilnehmer zur ethischen Verantwortung des
Zuhörens. Da das Gespräch in seiner ursprünglichen Gestalt keine monologische
Selbstbeantwortung der eigenen Frage ist, sondern die gemeinsame Übernahme der
Verantwortung für das Fragen fordert, besteht der Gesprächsverlauf darin, den
Gesprächspartner sprechen zu lassen, nämlich dessen Recht im Gespräch zu stärken. Vor
diesem Hintergrund betrachtet verleiht das Gespräch keinem von uns das Privileg, den
Anderen zu derselben Einsicht zu zwingen und ihn argumentativ niederzukämpfen. Vielmehr
erkennt das Gespräch das Widerstandsrecht des Anderen an, meine Perspektive zu verweigern.
Diese Anerkennung des Widerstandleistens des Anderen führt uns nicht nur zum Anspruch
auf das Zuhören, sondern gibt uns auch, wie bereits erwähnt, den entscheidenden Impuls zum
reflexiven Rückzug auf uns selbst, nämlich auf unseren ursprünglichen Fragehorizont. An
dieser Stelle wird uns in Gadamers Dialoghermeneutik gezeigt, dass die Anerkennung des
Anderen in seiner Andersheit die erste Voraussetzung für das zwischenmenschliche
Zusammenleben ist, nämlich die Anerkennung, dass der Andere im Gespräch auch das Recht
hat, seine Andersheit zu Wort zu bringen. Zweitens folgt aus der ethischen Grundlage der
weiteren Gesprächsführung, dass das Gespräch letztlich das Verwirklichungsfeld ist, auf dem
sich die Bewegung des Anerkennens vollständig entfalten kann. So gesehen ist das Gespräch,
in dem sich der Anspruch auf Anerkennung des Anderen erfüllt, ohne die ethische
Konnotation nicht denkbar, weil die Anerkennung im Gesprächsverlauf von vornherein die
ethische Verantwortung für das Sprechen–lassen und für das Zuhören bzw. für das
Fragestellen und Antwortgeben voraussetzt.
340
Aus Gadamers Sicht ist zudem klar, dass sich das „Ethische“ seit Sokrates in dem
harmonischen Zusammenspiel der Phronesis und des Ethos niederschlägt. Sofern der Mensch
von Natur aus das Ethische, nämlich das Gute anstrebt, macht er sich auch seine
Angewiesenheit auf den Anderen und auf den geschichtlichen und kulturellen Hintergrund
bewusst. Er ist sich dessen bewusst, dass er allein kein Mensch sein kann. Aus diesem Grund
lernt er auch, dass er, um ethisch zu sein, notwendig der Ergänzung durch den Anderen bedarf.
Das dialogische Anerkennungsverhältnis, in dessen Verlauf wir die Antwort auf die Frage
nach dem Guten suchen, konstruiert nicht nur das Sinnnetzwerk des menschlichen
Zusammenseins,
sondern
bildet
auch
die
ethische
Grundlage
des
menschlichen
Zusammenlebens. Das ethische Prinzip, das den Gesprächsverlauf immer beeinflußt, ist
deshalb dasjenige, „Sich–betreffen–Lassen von dem, was den anderen betrifft“. 82 Insofern
stützt sich das Gespräch, das von der Frage nach dem Guten geleitet wird und die
gemeinsame Bereitschaft zur Suche nach dem wechselseitigen Anerkennungsbezug umfaßt,
immer schon auf die ethische Grundvorstellung, die uns eigen ist.
Mit seiner Erkenntnis der dialogischen Suche nach dem Guten in Platons Dialektik
verlagert Gadamers Rekurs auf Aristoteles Phronesis den Schwerpunkt auf den Begriff der
„Freundschaft“ im VIII. Buch von Die Nikomachische Ethik. Gadamer knüpft an Aristoteles
an, wenn in seinem Aufsatz „Freundschaft und Selbsterkenntnis (GW. 7, 1985)“ von der
Freundschaft die Rede ist. Denn die Freundschaft offenbart seiner Ansicht nach die
vereinigende Kraft des Gesprächs. Sofern sich das Fragen nach dem Guten auf den
Erwartungshorizont der Antwort bzw. auf die Verantwortung für das Antwortgeben bezieht,
ist die Suche nach dem Guten, wie wir schon sahen, unentbehrlich für das gemeinsame
Suchen, d. h. die unruhige Fragestellung bedarf der Teilnahme des Anderen. Mit einem Wort:
Die Suche nach dem Guten führt uns unmittelbar zu der Begegnung mit dem Nächsten. Eine
Freundschaft zu schließen, nämlich den Anderen als einen Freund zu finden, heißt hier das
ursprüngliche Einbezogensein in die übersubjektive Wir–Dimension, nämlich „eine reale
Einbettung in das Gefüge der miteinander lebenden Menschen.“ (GW. 7, S. 405) Im
Anschluss an die gemeinsame Lebensweise zwischen Freunden geht es auch um das
vertrauenswürdige Ratschlaggeben, das sich im Prinzip innerhalb der Gesprächsform abspielt.
Diese
menschliche
Verhaltensweise
der
Freundschaft
zeigt
uns,
dass
wir
im
Gesprächsverhältnis die Frage des Anderen und die Verantwortung für das Antwortgeben
ernst nehmen. Diese Ernsthaftigkeit, die das dialogische Suchen bereits in sich enthält, richtet
nun den gemeinsamen Blick auf das zu findende Gute. So wird gezeigt, dass das Gespräch,
82
So hat Gernot Böhme in seinem Buch Solidarität definiert, ebd. S. 142.
341
das sich ständig auf dem Feld des Ethischen vollzieht, die wesentliche Grundstruktur
desjenigen prägt, was der Mensch von Natur aus mit sich selbst und mit dem Anderen erfährt.
Somit kann man auch sagen, dass die Gesprächsführung, die von Anfang an die gemeinsame
Suche nach dem Guten betreibt, die individuelle und auch gesellschaftliche Gemeinsamkeit
bildet, auf der das menschliche Zusammenleben basiert. Nun sagt Aristoteles: „Vollkommen
ist die Freundschaft der Tugendhaften und an Tugend Ähnlichen. Diese wünschen einander
gleichmäßig das Gute, sofern sie gut sind, und sie sind gut an sich selbst. […] Ihre
Freundschaft dauert, solange sie tugendhaft sind.“ 83 Kurzum, die ethische Verbindlichkeit, die
sich mit und durch das Gespräch vollzieht, entspricht der Freundschaftsbeziehung.
An dieser Stelle erstreckt sich der dialogische Fragehorizont des Ethischen, Gadamers
Ansicht zufolge, über das Fragen nach dem einzelnen guten Leben hinaus auf die
gesellschaftliche Frage, was gut für die Gemeinschaft und auch für den Staat sei, auf die
Politik. Das Gespräch über das Wissen um das Gute hat zwar bereits auf die unentbehrliche
Harmonie der Phronesis mit dem Ethos hingewiesen, der gesellschaftliche und interkulturelle
Handlungsraum aber, in dem die herkömmlich erworbenen Moralvorstellungen miteinander
konfrontiert werden, erzeugt das Bedürfnis nach Dialog, das aus der menschlichen Frage nach
dem Guten immer wieder neu erwächst. Denn der Konflikt erhebt von vornherein den
Anspruch auf den Dialog. Hier hat die ethische Praxis des Dialogs als praktische Philosophie
in Gadamers Dialoghermeneutik mit dem gesellschaftstheoretischen Bereich, mehr noch, mit
der Politik zu tun. Gadamer hat daher Aristoteles’ Ethik als Übergang zur Politik verstanden:
„In ihr (Ethik oder praktische Philosophie, KBL) ist nicht nur die Besinnung und die Ordnung
des Lebens des einzelnen in der Gesellschaft eingeschlossen, sondern gerade auch die
Ordnung der gesellschaftlichen Einrichtungen selber, die das Zusammenleben der Menschen
im gesellschaftlichen Gefüge regeln. Die praktische Philosophie umfaßt also neben der Ethik
auch die sogenannte Politik und meint beides, wenn sie >praktische Philosophie< heißt.“ (GW.
7, S. 382) 84 Wenn wir uns hier an Gadamers Aussage „Hermeneutik als Praktische
Philosophie“ erinnern, können wir feststellen, dass die Dialoghermeneutik nicht nur eine
Ethik, die sich auf den einzelnen Handelnden bezieht, sondern auch die Politik, die das
öffentliche Gemeinschaftsleben unter den Menschen bestimmt, umfaßt. Unter diesem Aspekt
83
84
Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, VIII. Buch, Kap. 4, 1156 b 7 – 12.
Aristoteles selbst hat in seiner Ethik den notwendigen Übergang von der Ethik zu Politik angekündigt. Es ist
bekannt, dass Hegel seine Rechtsphilosophie an Aristoteles’ Aspekt angeknüpft hat. Unter dem Einfluss beider
Philosophen hat Joachim Ritter festgestellt: „Die praktische Philosophie ist als >Ethik< Politik.“ Zu
Aristoteles’ Selbstankündigung, vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, X. Buch, Kap. 10, insbesondere
1181 b 13 – 24 und auch zudem, Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, S. 110.
342
betrachtet können wir auf die praktische Anwendung in der theologischen und juristischen
Hermeneutik näher eingehen.
Wenn ich hier kurz die praktische Anwendungsfunktion der hermeneutischen
Erfahrung, das Ethische zu verwirklichen und zu konkretisieren, vorweg skizziere, dann ist
die grundsätzliche Anwendungsstruktur immer an das anerkennende Wechselverhältnis
zwischen Ich und Du bzw. zwischen Ich und Wir gebunden. Denkt man an die moderne Idee
der Freiheit, spielt das sittliche System, hegelianisch gesagt, eine entscheidende Rolle im
Verwirklichungs– und Konkretisierungsprozess der individuellen Freiheit. Denn das
Freiheitsprinzip kann sich nur in der Anerkennung des Du und durch die Anerkennung des
Freiheitssystems realisieren. Eine demokratische Gesellschaft, der im Prinzip die faktische
Freiheit aller Mitglieder zugrunde liegt, sollte die Besinnung auf die gesellschaftlichen
Ordnungen und das Moralbewusstsein jedes frei handelnden Mitgliedes voraussetzen und auf
die engagierte Bereitschaft dieses Mitgliedes vertrauen können, die gesellschaftlichen
Normen zu befolgen. Doch die Verwirklichungsmöglichkeit der individuellen Freiheit liegt
nur in der anerkannten Garantie durch die sittlichen Institutionen, nämlich im
gesellschaftlichen Rechtsystem. Jedes Mitglied kann nur dann seine Freiheit verwirklichen,
wenn sich das gesellschaftliche System auf diesem Freiheitsprinzip gründet. Damit wird
deutlich, dass die Freiheit eine eingeschränkte Freiheit ist, die als ethische Bestimmung des
hermeneutischen Geistes immer im Vordergrund steht. Somit wird deutlich, dass die
praktische Anwendung als das Verwirklichungsmoment der individuellen Freiheit immer
schon auf den Anderen und auf die überindividuelle Wir–Dimension angewiesen ist.
343
II – 2. Praktische Applikation als die Vollzugsform des dialogischen Verstehens
Mit Gadamers früher Einsicht in Aristoteles’ Phronesis können wir uns nun seinem
Denkansatz zur dialogischen Ethik zuwenden, so wie er besonders in der späten engen
Bindung an die hermeneutische Problematik der praktischen Anwendung in Wahrheit und
Methode entwickelt wird. Gadamers Grundauffassung der Hermeneutik, dass das menschliche
Verstehen immer auf das reziproke Verhältnis zwischen Ich und Welt, Ich und Du bzw. Ich
und Wir angewiesen ist, weist von vornherein darauf hin, dass sich das Verstehen nicht im
bloßen Auslegungsakt, der im hermeneutischen Verfahren die perspektivische Subjektivität
des Interpreten aufhebt, sondern durch die praktische Anwendungsleistung vollzieht. Dass
sich das Verstehen durch das Auslegen vollzieht, bedeutet, dass das Auslegen bereits das
dialogische Übersetzungsverhältnis enthält, in dessen Kreislauf sich der Sinngehalt, den der
Andere uns anbietet, in unser eigenes Wort überträgt und umgekehrt, dass sich unser
Standpunkt zugleich ins Sinnfeld der Andersheit des Anderen überträgt. Insofern ist das
Auslegen, Gadamers Ansicht zufolge, in der praktischen Anwendungsstruktur verankert.
Demzufolge kann man sagen, dass das dialogische Verstehen mit der praktischen Applikation
seinen Vollzug erreicht und somit die ethische Verhaltensweise zwischen den Beteiligten in
den Vordergrund stellt. Mit dieser Erkenntnis des wesentlichen Anspruchs des
hermeneutischen Verstehens auf die ethische Praxis, behandelt Gadamer das hermeneutische
Anwendungsproblem in seinem Hauptwerk. Dort trägt das Kapitel, zu dem die drei
Abschnitte gehören, den Titel „Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems“.
Hier kündigt Gadamers Aussage von der „Wiedergewinnung“ an, dass die Anwendung
innerhalb des Diskussionsrahmens der traditionellen Hermeneutik als ein mehr oder weniger
prekäres Element des Verstehensaktes galt. Aus diesem Grund stellt Gadamer das
Anwenden, 85 das von der traditionellen Hermeneutik zur Nebensächlichkeit geworden war,
als einen Grundbestandteil des hermeneutischen Verstehens wieder in den Vordergrund.
Damit fasst Gadamers Dialoghermeneutik den ethisch–politischen Themenbereich ins Auge,
der philosophiegeschichtlich der praktischen Philosophie angehört. Die hermeneutische
Anwendung als lebendige Handlung zur Verwirklichung und Konkretisierung des
85
In der überlieferten Linie der traditionellen Hermeneutik hatten die zwei Kompetenzen, das Verstehen
(subtilitas intelligendi) und das Auslegen (subtilitas explicandi), bereits ihren Stellenwert. Erst in der
pietistischen Hermeneutik wurde die dritte Kompetenz, das Anwenden (subtilitas applicandi), von J. J.
Rambach hinzugefügt. Aber eine unter den drei Kompetenzen, nämlich die Anwendung, ist bei Gadamer nicht
die Methode zur objektiven Auslegungskunst, in deren Licht der Interpret über den Textsinn verfügen kann,
sondern erweist vielmehr den hermeneutischen Freigeist, dass die Sachwahrheit unter der bedingten Situation
verstehbar ist. Vgl. GW. 1, S. 312.
344
Lebensvollzugs hat im Grunde mit dem praktischen Wissen um die situationsbedingte
Kontextgebundenheit zu tun.
In Gadamers Dialoghermeneutik ist das Verstehen das Anwenden, weil sich sowohl
das Verstehen als auch das Anwenden in demselben dialogischen Übersetzungsverhältnis
bewegt. Die Vollzugsform des dialogischen Verstehens liegt in der praktischen Anwendung
des Handlungsgesetzes auf den konkreten Fall oder des zu verstehenden Textsinnes auf den
bestimmten Kontext. Das Verstehen ist, wie Gadamer sagt, deshalb „immer schon
Anwenden“. (GW. 1, S. 314, meine Hervorhebung) Da die hermeneutische Anwendung die
Konkretisierung des überlieferten Sinngehaltes, nämlich die ethische Integration der
gewohnten Institutionen in den gegenwärtigen Handlungssinn anvisiert, ist die mögliche
Anwendungsleistung, durch die das Verstehen ermöglicht werden soll, auf die betroffene
Situation beschränkt. Das Anwendungsmoment, das von seinem situativen Zusammenhang
abhängt, findet also immer einen neuen Rahmen. Demzufolge hat die Situationsbedingtheit
der praktischen Anwendung, die Gadamer als die Vollzugsweise des Verstehens bezeichnet,
eine Verwandtschaft mit Aristoteles’ Gedanken der Phronesis in dessen praktischer
Philosophie, so wie er in Gadamers frühem Denkansatz zur Ethik verwurzelt war. Das
praktische Wissen ist, wie oben erwähnt, immer auf die jeweilig veränderten
Handlungssituationen bezogen, so wie die hermeneutische Anwendung immer an einen
bestimmten Kontext gebunden ist.
Im Anschluss an seinen Rekurs auf Aristoteles’ Ethik hebt Gadamer die praktische
Anwendungsleistung im hermeneutischen Verstehensverfahren vor allem gegenüber der
Position des intellektuellen Moralbewusstseins hervor, die die „Kognitivität“ und auch die
„Formalität“ der Handlungsnormen 86 in den Vordergrund stellt. Ein solcher ethischer
Intellektualismus
des
aufklärungszeitlichen
Freigeistes
instrumentalisiert
auch
die
menschliche Vernunft, weil alle Handlungsgesetze hierbei vom menschlichen Intellekt ohne
Rücksicht auf dessen Gebrauchsgrenzen abgeleitet werden zu können scheinen. Dort soll
dann dasjenige, was gut oder normativ in der menschlichen Handlungsweise ist, immer am
kognitiv gewonnenen und formal begründeten Maßstab gemessen werden, das vom
menschlichen Intellekt bestimmt wird. Aus Gadamers Sicht hingegen ist das praktische
Wissen, das die menschliche Handlung unter der Perspektive der entscheidenden
Fragestellung nach dem Guten für sein gesamtes Leben anleitet, im Grunde das
Anwendungswissen, das nur in Bezug auf die bestimmte Handlungssituation erworben
werden kann. Denn wenn das Gesetz des Handelns die menschliche Handlung zum Ethischen,
86
Zur Normengeschichtlichkeit gegen Habermas’ Universalgrundsatz, vgl. den Exkurs zur Ethos–Ethik in dieser
Arbeit.
345
gewissermaßen zum Normativen, anleitet, wird sich dies in der sich permanent verändernden
Handlungssituation zeigen. Und umgekehrt soll es sich in der bedingten Auseinandersetzung
mit dem gegenwärtigen Handlungskontext erschließen und konkretisieren. Nun wird in
Gadamers Dialoghermeneutik emphatisch gezeigt, dass die Handlungsnormen nicht mehr das
Unhintergehbare sind, das vom menschlichen Intellekt konstruiert ist, sondern sich selbst
immer nachzufragen und neu anzuwenden haben.
Die Kritik der philosophischen Hermeneutik am Intellektualismus normativer
Handlungsprinzipien hat unter anderem mit der überzogenen Akzentuierung des kognitiven
und kreativen Verständnisses in der juristischen Hermeneutik zu tun. Mit seinem
epistemologischen Denkansatz zum Verstehensvollzug im Auslegen von juristischen Texten
stellt E. Betti das Primat der Kognitivität des hermeneutischen Verstehens ins Zentrum. So
glaubte er, dass wir das Handlungsgesetz, z. B. auf der Seite des Rechtsinterpreten das
Gesetzbuch, kognitiv auswendig verstehen müssen, bevor wir die praktische Anwendung des
Handlungsgesetzes auf den konkreten Fall in unserer geschichtlich eingeschränkten
Handlungssituation ausüben können. 87 Dieser kognitiven Denkweise setzt Gadamer seine
Gegenposition entgegen: „Applikation ist keine nachträgliche Anwendung von etwas
gegebenem Allgemeinen, das zunächst in sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall,
sondern ist erst das wirkliche Verständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für
uns ist.“ (GW. 1 S. 346) So verstanden kann man sagen, dass das wirkliche Verstehen in
Gadamers Dialoghermeneutik die Anwendung ist, noch emphatischer, dass das Verstehen und
das Anwenden bei Gadamer immer gleichzeitig geschieht: Die Gleichzeitigkeit als der
Ereignischarakter des hermeneutischen Verstehens meint keine simultane Kopie, sondern die
zeitliche Jeweiligkeit des Verstehens, die das „spekulative“ Hören des Sprechens in jeder
Gesprächsphase mitkonstruiert. Da sich das dialogische Verstehen immer schon in der
praktischen Anwendung vollzieht, wird gezeigt, dass die geschichtliche Anwendung der
Handlungsnormen ein sich selbst überprüfender und konkretisierender Verstehensprozess ist.
Sowohl ein richterliches Plädoyer hinsichtlich der Tat, als auch ein interpretatorisches
Verständnis des Rechtshistorikers, hat bei Gadamer nunmehr dieselbe Anwendungsstruktur
der juristischen Hermeneutik. Wenn ein Rechtshistoriker ein vergangenes Rechtssystem mit
Hilfe eines alten Gesetzbuches verstehen will, versetzt er sich, wie wir schon sahen,
unabdingbar mit seinem eigenen Verständnis in das zu verstehende Vergangene. Auf diese
Weise wird der Sinngehalt, der sich hinter dem prozessualen Verstehensweg zum sich
erhellenden Verstehensvollzug bewegt, erschlossen. Dass er selbst in das verständliche
87
Vgl. Emilio Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, S. 58 ff.
346
Wechselverhältnis zum überlieferten Textsinn eintritt, bedeutet, dass das Verstehen nicht vom
Objektivitätsideal her, das den eigenen Sinnanspruch des Interpreten ohne den geschichtlichen
Hintergrund des menschlichen Handlungsgesetzes auszuschließen versucht, geschieht,
sondern bereits an einen bestimmten Kontext gebunden ist. Genau so darf der Richter, um das
Gesetz richtig anzuwenden, nicht die „kongeniale“ Revision über die Urheberabsicht
vollständig auszuführen versuchen, sondern die richterliche Gesetzanwendung selbst bildet
den praktischen Anwendungszusammenhang und überprüft sich selbst anhand des bestimmten
aktuellen
Verwendungskontextes.
So
ist
jeder
Richterspruch
als
jeweilige
Gesetzesanwendung immer schon in seine bestimmte Anwendungssituation eingebunden. In
die bestimmte Situation eingebunden zu sein, bedeutet aus hermeneutischer Sicht, dass man
eine beschränkte Sichtweise hat, die wir im allgemeinen den eigenen Standpunkt nennen. Aus
hermeneutischer Sicht muss der Richter deshalb im Hinblick auf die Verurteilung
notwendigerweise eine eigene Perspektive bilden. Vor diesem eigenen Horizont bleibt dem
Richter nichts verborgen, sondern er bringt den Rechtssinn auf seine eigene Weise zum
Ausdruck. Der Geltungsanspruch des Handlungsgesetzes hängt also nicht vom universal
gesetzten Werturteil, sondern von der Anwendungssituation ab, in der das Gesetz sich selbst
verwirklicht und konkretisiert. 88 Was das Gesetz rechtmäßig gelten lässt, befindet sich nicht
in der dogmatischen Einseitigkeit der Textinterpretation, sondern immer im unabschließbaren
Spannungsverhältnis zwischen der Gesetzestreue und der praktischen Anwendung des
Gesetzes auf den konkreten Fall.
Die Frage, was eine normative Handlung ist, wird uns, Gadamers Ansicht zufolge,
nicht von einer abstrakten Idealkonstruktion gestellt, sondern zielt auf die existenzielle
Betroffenheit ab, nämlich auf die lebensweltliche Konfrontation mit der konkreten
Handlungssituation, die die menschliche Bereitschaft zum ethischen Handeln verlangt. Sofern
die Handlungsnormen als handlungsorientierende Wegweiser ihren Geltungsanspruch in der
Begegnung mit der eigenen Situation erfüllen, kann man sagen, dass die Normen nicht in
einer idealen Deduktion festgestellt werden, sondern sich aus der geschichtlichen
Überlieferungslinie entwickeln. Hier spielen die Normen als leitende Handlungsrichtlinien
des menschlichen Handelns, in dessen Licht jeder Handelnde seinen Willen und seine
88
Diese Dynamik der praktischen Gesetzanwendung betreffend schreibt J. Ritter in seinem Buch: „Wo es um die
Zusammenhänge des menschlichen Lebens und seiner Praxis geht, da genügt der reine Begriff nicht; was es ist
und was es sein kann, muß sich an ihm selbst zeigen und in seinem Zusammenhang zur Sprache kommen. […]
Die ethische Theorie muß hermeneutisch an die Vieldeutigkeit und Mehrsinnigkeit des menschlichen Daseins
anknüpfen, weil nur so Begriffe gewonnen werden können, deren Gültigkeit sich auf das, was ist, bezieht, dies
zugleich voraussetzt und stehen läßt. Wir besitzen vollendet ausgebaute ethische Systeme, sieht man aber von
ihrer Höhe zurück auf die Wirklichkeit des Menschen, wie sie ist, dann fragt man sich, was die Begriffe des
Systems mit ihr zu tun haben.“ J. Ritter, Metaphysik und Politik, S. 63 – 64.
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Interessen bildet und konkretisiert, ihre eigene Rolle. Dass jeder Handelnde seiner betroffenen
Situation entsprechend angemessen handeln kann und damit das Beste zu suchen trachtet,
bedeutet aus hermeneutischer Sicht, dass jede menschliche Handlung bereits den sittlichen
Kontext enthält, in dessen Kreis wir miteinander verkehren. So gesehen besteht die normative
Handlung, auf die jeder Handelnde um seiner selbst willen abzielt, in der angemessenen
Zielkonkretisierung unter den kontingenten Handlungsrahmenbedingungen. Und die Normen,
die in den herkömmlichen Sittengesetzen, Gewohnheiten, tragenden Institutionen und
Bräuchen usw. zum Ausdruck kommen, bewähren sich in einer solchen geschichtlichen
Auseinandersetzung mit der kontingenten Situation. Die geschichtliche Entfaltung der
Handlungsnormativität ist aber kein kontinuierlicher Fortschritt, der den Fortgang von Anfang
zu Ende vollständig leitet, sondern eine unendliche Weitergabe in einer Wiederholung des
authentischen Anspruchs auf das ursprünglich Ethische. Denn die menschliche Handlung ist
um ihrer selbst willen zwar auf das Gute gerichtet, kann aber unter keinen Umständen den
abgeschlossenen Endzweck erreichen. Um das Gute zu erreichen, sollte sich jeder Handelnde
in einer bestimmten Handlungssituation, die ihm permanent unauflösbare Aufgaben bietet,
dem beabsichtigten Handlungsziel stellen und dabei stets die Frage nach der Ethik im
Hinterkopf haben. Hier geht es nicht um die technische Verfahrensexaktheit, sondern um das
menschliche Handlungsurteil, 89 das sich auf dem Weg der inhaltlichen Konkretisierung des
ethischen Anspruchs, auf das Gute gerichtet bildet. Da die von Anfang an gestellte Frage, was
die normative Handlung sei, damit auf das menschliche Handlungsurteil unter den
kontingenten Umständen grundsätzlich angewiesen ist, kann es keine Wertneutralität geben, 90
die in jeder Erfüllung der praktischen Anwendungsaufgabe deduktiv abgeleitet würde. In
Gadamers Augen liegt der Grund für das menschliche Handlungsurteil nicht im abstrakten
Resultat
der
Deduktion,
sondern
im
ethischen
Anspruch
auf
die
angemessene
Zielkonkretisierung unter den kontingenten Umständen, der mit dem Sich-Einlassen auf das
Gespräch mit dem Anderen erhoben wird. Hier fasst der Mensch das Ethische permanent ins
Auge und kann das Menschsein in seinem solidarischen Zusammenleben verwirklichen.
Aufgrund der bisherigen Überlegungen liegt auf der Hand, dass sich jeder Handelnde
mit seinem eigenen Willen zum Guten ein Handlungsziel setzt, das Handlungsmittel zur
bestimmten Zielerfüllung auswählt und dass uns der Handlungswegweiser, der den
89
Zur hermeneutischen Anwendungsproblematik in Bezug auf Kants Urteilskraft, vgl. Manfred Riedel,
„Imputation der Handlung und Applikation des Sittengesetzes – Über den Zusammenhang von Hermeneutik
und praktischer Urteilskraft in Kants Lehre vom ‚Faktum der Vernunft‛ “, in: Allgemeine Zeitschrift für
Philosophie, hrsg. v. J. Simon, Stuttgart 1989, S. 27 – 50.
90
Zur „Unparteilichkeit“ unter den Moralbegründungsproblemen in der kommunikativen Ethik, vgl. Ernst
Tugendhat, Problem der Ethik, Stuttgart 2002, S. 87 – 108.
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situationsgebundenen Konkretisierungsprozess zum Handlungsziel anleitet, mit der
Überlieferung des Ethischen gegeben ist. Damit erfährt nicht nur jeder einzelne Handelnde
das Ethische im Umgang mit seiner eigenen Handlungssituation, sondern das Ethische,
nämlich
die
Handlungsnorm,
bildet
sich
selbst
immer
in
der
geschichtlichen
Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Moralanspruch aus. Eine solche Bildung der
ethischen Orientierungen befindet sich immer schon in einer Struktur von Geschichtlichkeit,
in der es Gewinn- oder Verlusterfahrungen gibt. Dass wir die richtige Handlungs- und die
ethische Verhaltensweise, die die richtige ethische Einschätzung über die konkreten
Handlungsbedingungen voraussetzt, erwerben können, verlangt von uns nicht die
rücksichtslose
Anwendung
eines
festgelegten
Handlungsgesetzes,
sondern
unsere
ununterbrochene Suche nach dem Guten, d. i. eine langzeitige Erfahrung und die reflexive
Selbstausbildung im retrospektiven Handlungsurteil. Somit können wir sagen, dass die
ethische Selbstbildung des Menschseins eine geschichtliche Kontextgebundenheit hat und
immer in der zirkulären Wechselbeziehung zwischen Ich und Du und zwischen Ich und Wir
besteht. Jeder einzelne Handelnde versetzt sich selbst, um das Ziel zu verwirklichen, in seinen
Handlungsraum und begegnet darin dem unmittelbaren Gegenüber als seinem Partner, weil
sich das lebensweltliche Sinnnetzwerk als die Rahmenbedingung für die Zielkonkretisierung
erweist. Da jeder einzelne Handelnde, der auf das Gute in seinem Handeln und seiner
Wahlentscheidung für das richtige Mittel abzielt, bereits im dialogischen Verhältnis zum
anerkannten Anderen steht, bedarf die gemeinsame Suche nach dem zu erreichenden
Handlungsziel andererseits der Anerkennung der Autorität der Überlieferten, auf der unser
gemeinsamer Handlungsspielraum als die überindividuelle Wir–Dimension basiert. So
gesehen kann man sagen, dass uns die ethische Selbstbildung, die sich in ihrer geschichtlichen
Einbindung
entfaltet,
das
doppelte
Anerkennungsverhältnis
zeigt:
Einerseits
die
Anerkennungsbewegung zwischen Ich und Du auf der anerkannten Wir-Dimension,
andererseits die Anerkennung der allgemeinen Wir-Dimension durch den handelnden
Einzelnen.
Wenn die Handlungsnormativität, in der das menschliche Handlungsurteil unter den
sich eigenständig bildenden Handlungskontexten steht, nicht das abstrakte Ergebnis der
deduktiven Reflexion der „praktischen Vernunft“ ist, sondern, Gadamers Ansicht zufolge,
sich im wechselseitigen Anerkennungsverhältnis, um das unser Suchen nach dem Guten kreist,
ausdrückt, bildet sich die Handlungsnormativität, die ununterbrochen gemeinsam gesucht
wird, nun im reziproken Gesprächsverhältnis zwischen mir und dem Anderen. Denn sowohl
das Gespräch mit dem Gesprächspartner, als auch das unaufhörliche Geben und Nehmen hat
349
eine leitende Kraft, in deren Licht sich jeder Beteiligte von den naiven Bestrebungen
distanzieren kann und sich den Spielregeln unterwirft, d. h. das Gute verfolgt. Je ernsthafter
wir uns daher auf den dialogischen Spielraum einlassen und den sprachlichen und tätigen
Ausdrucksformen des Anderen zuhören, desto mehr machen wir nicht nur den Anderen,
sondern uns auch über uns selbst verständlich. Noch deutlicher gesagt, verlangt der Eintritt in
den dialogischen Spielraum von vornherein die unentbehrliche Ernsthaftigkeit aller
Beteiligten. 91 Die ethische Verantwortung dafür, was man sich selbst und dem Anderen in
einer solchen Gesprächsbeziehung verständlich machen muss, fordert uns auf, den Anderen
immer ernst zu nehmen. Mit dieser Einsicht in die dialogische Ethik sagt Gadamer: „Wer
einsichtig ist, ist also bereit, die besondere Situation des anderen recht gelten zu lassen, und
daher ist er auch am meisten zur Nachsicht oder zur Verzeihung geneigt.“ (GW. 1, S. 329)
Dementsprechend können wir hier zu behaupten wagen, dass Gadamers Denkansatz zur
dialogischen Ethik im Prinzip eine ethisch–politische Philosophiekonzeption impliziert. Denn
das Gespräch, das bereits unter der Frage nach dem Guten steht, ermöglicht nicht nur die
ethische Verständigung über sich selbst und den Anderen, die in dem Bewusstsein der
gemeinsamen Zugehörigkeit gründet, sondern versichert sich auch des gesellschaftlichen
Zusammenlebens, in dem die menschliche Seinsmöglichkeit aktualisiert und konkretisiert
wird. Dass man den Anderen in seiner authentischen Andersheit verstehen muss, ist der
hermeneutische Moralanspruch, auf den das menschliche Zusammenleben angewiesen ist.
Demzufolge beruht auch das dialogische Verstehen des Anderen immer schon auf der
ethischen Einsicht in das gesellschaftliche Gemeinsame. Schließlich kann man sagen, dass
sich die Anerkennung als ethische Bedingung für die menschliche Solidarität in dieser
dialogischen Verständigung über sich selbst und über den Anderen vollzieht.
91
Vgl. Gernot Böhme, Ethik im Kontext, S. 150 ff.
350
Ein kurzer Ausblick
Anhand der bisherigen Überlegungen sahen wir, dass der hermeneutische Denkansatz zum
dialogischen Sinnvollzug den praktischen Vorrang der menschlichen Vernunft beweist und
damit die ethische Grundlage im lebensweltlichen Umgang mit dem Anderen zum Vorschein
bringt. Wenn die Ethik als Lehre vom guten Leben und von der rechten Verhaltensweise
zwischen den Menschen zu sehen ist, wenn sich das sittliche Verhalten von nun an im
kontextbezogenen Sozialleben, d. h. in den sozialen Rahmenbedingungen der menschlichen
Lebenssituation vollzieht, bedarf die Ethik unabdingbar der Hermeneutik, die an der
wesentlichen Existenzform der Menschen als Verstehende ansetzt. Dieser hermeneutische
Ansatz erhebt daher gegen den ethischen Formalismus den Einwand, dass der inhaltsleere
Sollsatz die beweislogische Abstraktion von der Besonderheit der lebensweltlichen
Handlungssituationen unerlässlich macht. Der Ansatz weist auch die Bodenlosigkeit des
Appells an die Universalgrundsatzbegründung zurück, weil der Sollsatz die Allgemeinheit
notwendigerweise von jedem konkreten Besonderen absondert. Im Verhältnis zum
Handlungspartner erfahren wir, dass die begründeten Handlungsmaximen häufig dem jeweils
spezifischen Handlungsfall nicht entsprechen. Daran anschließend wird letztendlich gezeigt,
dass der formal bewiesene Sollsatz in Bezug auf die sich unendlich verändernde
Lebenssituation ohnmächtig ist. Denn er kann im Grunde die Frage nicht beantworten, wie die
ethischen Ansichten in den praktischen Handlungsraum umgesetzt werden. Infolgedessen hat
Gadamers Dialoghermeneutik die Auffassung in den Mittelpunkt gestellt, dass der Dialog den
einheitlichen Vollzugshorizont des zwischenmenschlichen Anerkennens stiftet. Aus diesem
Grund muss gezeigt werden, dass das menschliche Verstehen von der bedingungslosen
Annahme der unaufhebbaren Andersheit ausgeht und im Vollzug der Anerkennung der
Andersheit zustande kommt. Hierbei zieht der Dialog die praktische Verständigung nach sich,
da sich jeder Beteiligte im Sich-Einlassen seiner eigenen Einstellungen bewusst ist.
Die hermeneutische Dialogperspektive erlaubt uns auch, festzustellen, dass das
Gespräch eine therapeutische Kraft hat. Das psychotherapeutische Ges
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