Inhaltsverzeichnis - Sustainable Europe Research Institute

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Universität Essen
M.A. Studiengang Praktische Sozialwissenschaften
Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des
Grades eines Magister Artium (M.A.) im Studiengang
Praktische
Sozialwissenschaften,
Fach Soziologie.
Virtuelle Wissensnetze
und Nachhaltigkeitsstrategien
Europäische Willensbildung
durch ökologische Kommunikation
Vorgelegt von:
Jürgen Schäfer
Anschrift:
Waterloostrasse 41
45141 Essen
[email protected]
Datum:
19. April 2002
Inhaltsverzeichnis
1
Inhaltsverzeichnis
Abstract für eilige Leser...................................................................................3
For international readers..................................................................................5
1
2
3
4
Einleitung ...................................................................................................7
1.1
Thematische Einordnung und Aufbau der Arbeit.............................................. 7
1.2
Die Theorie der „Ökologischen Kommunikation“ ............................................ 11
1.3
Exkurs – Zur Kritik der „Ökologischen Kommunikation“ ................................. 13
Virtuelle Wissensnetze und Organisation .............................................16
2.1
Die Organisationen der Gesellschaft.............................................................. 16
2.2
Organisation und Wandel............................................................................... 18
2.3
Die virtuelle Organisation ............................................................................... 20
2.4
Wissensnetze und Wissensmanagement....................................................... 23
2.5
Wissensgemeinschaften – Keimzellen lebendigen Wissensmanagements .... 25
2.6
Von der virtuellen Organisation zur gesellschaftlich legitimierten Institution ... 27
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft...............................................30
3.1
Nachhaltige Entwicklung – Historischer Kontext ............................................ 30
3.2
Strategien und Erfordernisse ......................................................................... 33
3.3
Nachhaltige Wissensgesellschaft................................................................... 35
3.4
Die kulturell-institutionelle Dimension............................................................. 37
3.5
Wissen als Ereignis........................................................................................ 39
3.6
Steuerungsmöglichkeiten............................................................................... 41
3.7
Wissensnetze: Schnittstellen im Willensbildungsprozess ............................... 44
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen .....................47
4.1
NGOs – Phänomen der Globalisierung .......................................................... 47
Inhaltsverzeichnis
5
6
7
2
4.2
Globalisierung, Global Governance und Weltzivilgesellschaft ........................ 49
4.3
NGOs – Netzwerke der Politikverflechtung .................................................... 51
4.4
Probleme der demokratischen Legitimation ................................................... 53
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten .55
5.1
Der europäische Integrationsprozess............................................................. 55
5.2
NGOs und europäische Politik ....................................................................... 57
5.3
Lobbying und Interessengeflecht in Brüssel................................................... 60
5.4
European Governance................................................................................... 62
5.5
Europäisches Regieren – Anspruch und Wirklichkeit ..................................... 65
5.6
Subsidiarität, Kommunen und ‚Glocal Governance’ ....................................... 67
Europäische Union und ökologische Kommunikation.........................72
6.1
Ökologische Kommunikation und Umwelt NGOs ........................................... 72
6.2
Die Greening the Treaty – Kampagne............................................................ 75
6.3
Europäische Grüne und der Vertrag von Amsterdam..................................... 78
6.4
Von Amsterdam nach Göteborg – Meilensteine der Umweltintegration.......... 80
6.5
Nachhaltigkeit für die EU – Blockaden und Chancen ..................................... 83
6.6
Die politische Öffentlichkeit in Europa............................................................ 85
Bilanz und Perspektive............................................................................89
Literaturverzeichnis........................................................................................93
Anhang ..........................................................................................................102
A.1 Abbildungsverzeichnis .................................................................................... 102
A.2 Abkürzungsverzeichnis................................................................................... 102
A.3 Interview zur Greening the Treaty Kampagne................................................. 104
Abstract für eilige Leser
3
Abstract für eilige Leser
Bedingungen der Wissensgesellschaft
Als Entscheidungs- und Produktionsressource wird der Faktor Wissen zunehmend
wichtiger. Um in für die Gestaltung der Zukunft relevanten Fragen richtig entscheiden
zu können und auch in Zukunft die richtigen Entscheidungen zu fällen, ist der Zugang
zur Ressource Wissen eine primäre Bedingung. Zunehmendes Wissen und komplexe
Aufgaben stellen veränderte Anforderungen nicht nur an Entscheidungsprozesse, sondern auch an die Strukturen gesellschaftlicher Organisation zur Nutzung und Generierung von Wissen. Neues Wissen erhöht potentiell die Komplexität der Umwelt und erfordert von Organisationen Anpassungsprozesse, um mit erhöhter Komplexität umgehen zu können. Die erhöhte Komplexität und die potentiell größere Problemlösungskapazität der Wissensgesellschaft erfordert und produziert zugleich neue Formen gesellschaftlicher Organisation. Zum Teil virtuell basierte Wissensnetze setzen neue Maßstäbe der Kommunikation und der Kooperation. Die Kommunikationsrevolution des
ausgehenden 20. Jahrhunderts schuf die Voraussetzungen für neue Infrastrukturen,
die, zunächst militärisch und dann wissenschaftlich genutzt, heute breiten Teilen der
Bevölkerung – zumindest in den OECD Ländern – zur Verfügung stehen. Verschiedenste gesellschaftliche Gruppen äußern in elektronischen Foren und Plattformen ihre
Positionen. Bürgerliches Engagement erfreut sich einer neuen Form der Vernetzung.
Diese neuen Verkehrsformen bieten völlig neue Möglichkeiten auch der politischen
Partizipation. Die Zivilgesellschaft organisiert sich relativ unabhängig von Zeit und
Raum. Sie formiert und artikuliert sich nunmehr auch jenseits herkömmlich institutionalisierter Kommunikationskanäle.
Ökologische Kommunikation und Europäisches Regieren
Die globalen ökologischen Auswirkungen etwa durch das Ozonloch oder das Waldsterben sensibilisierten in den 1980er Jahren viele Menschen für ökologische Probleme.1 Die Gesellschaft alarmierte sich selbst über ökologische Gefährdungen, indem sie
1
Die Umweltprobleme erreichten eine Intensität, „die sich als nicht länger ignorierbares, störendes ‚Rauschen’ der menschlichen Kommunikation aufzwingt.“ Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen
einstellen? 3. Auflage, Opladen, S. 12.
Abstract für eilige Leser
4
begann, ökologisch zu kommunizieren. Unter anderem auch durch das Buch „Ökologische Kommunikation“ von Niklas Luhmann, das seine Gedanken zur Systemtheorie
auf ökologische Fragestellungen anzuwenden versucht und dieser Arbeit als kritisch zu
reflektierendes Theoriekonzept zugrunde liegt.
Mit dem Vertrag von Amsterdam hat die EU das Ziel der nachhaltigen Entwicklung als
eines ihrer primären Politikziele festgeschrieben. Ökologisch kommunizierende Organisationen der Zivilgesellschaft waren in ganz erheblichem Maße daran beteiligt, dem
Konzept der nachhaltigen Entwicklung seinen jetzigen Stellenwert in der europäischen
Politik zu verschaffen und sie haben mit dazu beigetragen, dass es nicht irgendwo in
den Verträgen erwähnt wird, sondern in Artikel 2 (EUV) und Artikel 6 (EGV) verankert
wurde. Die Wissensnetze der in Brüssel vertretenen europäischen Umweltverbände
starteten im Vorfeld der Regierungskonferenz zur Revision des Maastrichter Vertrages
(1996/97) die „Greening the Treaty Kampagne“. Der Erfolg der Kampagne war das
Ergebnis eines selbstorganisierten Wissensnetzes der Zivilgesellschaft und ist ein Beispiel dafür, wie sich insbesondere seit der UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro 1992
die (Selbst-)Organisation der Zivilgesellschaft verändert hat. Seither kommt gerade
zivilgesellschaftlichen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) eine mehr oder weniger zwischenstaatliche Funktion der Interessensvermittlung zu, da die Problemlösungskompetenzen der Nationalstaaten angesichts globaler und komplexer Bedingungen ihre Grenze erreicht zu haben scheint.
Konsequenzen
Als virtuelle Wissensnetze organisierte NGOs stärken die Position der Zivilgesellschaft
und können mit ihrem innovativen Potential in Willensbildungsprozesse eingreifen und
die Gestaltung und Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung entscheidend fördern.
Der Netzwerkcharakter und die große Heterogenität ihrer Mitglieder erhöhen die Reflexionspotenziale und machen sie zu Tentakeln in funktional differenzierten Gesellschaften.
Europäisches Regieren braucht für die Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung die
aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft, deren Organisationen notwendige Steuerungsimpulse erzeugen können. Als Plattformen politischer Öffentlichkeit sorgen sie für eine
entsprechende intersystemische Kommunikation und sind in der Lage, Nachhaltigkeit
kommunikativ anzuschließen und gleichzeitig mehr Demokratie zu ermöglichen.
For international readers
5
For international readers
Conditions for Knowledge-based Societies
Knowledge is growing in importance as a resource for decision-making as well as an
input for production. The approach to ‘knowledge‘ as a resource is a primary condition
for making decisions on matters relevant for the design of the future and for decisions
taken in the future. The growing volume of knowledge and complexity of problems do
not only change the requirements for processes of decision-making, but also toward
the structures of social organisation regarding the production and the application of
knowledge. New knowledge potentially raises the environment’s complexity and forces
organisations to undergo adaptation processes in order to face higher grades of complexity. Increased complexity and potentially higher capacity for problem-solving at the
same time require and provide new forms of social organisation. Networks of knowledge, partly existing on a virtual basis, create new standards for communication and
cooperation. The revolution of communications having taken place at the end of the
20th century provided the conditions for new infrastructures which, at first used by the
military and then by science, can – at least in the OECD-countries – nowadays be used
by large parts of the population. Several kinds of social groups already publicise their
positions in electronic forums and platforms.
Civic commitment is enjoying a new form of integration and networking. These new
ways of interaction provide new possibilities for political participation as well. Civil Society organises itself independent of space and time. It now constitutes and articulates
itself beyond conventionally institutionalised channels of communication.
Ecological Communication and European Governance
Global ecological effects such as the depletion of the ozone layer or the dying of forests sensitised the public to ecological problems during the 1980s.2 Society became
alarmed at the existence of ecological dangers by beginning to communicate in eco-
2
Environmental problems reached an intensity ”which forces itself upon human communication
like an interfering noise and can no longer be ignored.“ Luhmann, Niklas (1990): Ökologische
Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 3. Edition, Opladen, p. 12.
For international readers
6
logical terms. Niklas Luhmann among others also did this with his book “Ökologische
Kommunikation“ (Ecological Communication), in which he attempts to apply his concept of systems-theory to ecological questions. This book served as a basis for this
thesis, functioning as a theoretical concept critically reflected upon.
With the Treaty of Amsterdam the EU has made sustainable development one of its
primary political goals. Through ecological communication organisations part of civil
society have on a large scale helped bring the concept of sustainable development to
its present position in European politics. They contributed to the fact that it does not
appear just anywhere in the treaties, but was firmly established in article 2 (EUT) and
article 6 (ECT). The establishment of knowledge-based networks of European environmental associations in Brussels started the “greening the treaty campaign“ during
the preparations for the inter-governmental conference (IGC) on the revision of the
Treaty of Maastricht (1996/97). The success of the campaign was the outcome of a
self-organised knowledge-network of civil society and is an example for the change of
(self-) organisation of the civil society especially since the UNCED-conference in Rio
de Janeiro in 1992. Since then non-governmental organisations (NGOs) are involved in
the function of lobbying and negotiating interests on environmental issues between
nations. This is necessary as the competence of nation states for solving global environmental problems seems to have reached its limit.
Consequences
NGOs being organized as virtual networks of knowledge strengthen the position of civil
society and their innovative potential can thus be used to influence processes such as
developing an informed opinion and essentially promoting the design and realisation of
a sustainable development. The network character and high grade of heterogeneity of
their members enhance their abilities of reflection and make them work like tentacles in
functionally differentiated societies.
The active participation of civil society in the European Governance process is necessary for the generation of steering impulses and thereby the realisation of sustainable
development. While acting as platforms of the political public arena they can appropriate inter-systemic communication, they are able to convey the notion of sustainability
and allow more democracy at the same time.
Einleitung
1
Einleitung
1.1
Thematische Einordnung und Aufbau der Arbeit
7
Seit etwa Anfang der 1990er Jahre gewann der Begriff der sogenannten Globalisierung3 in der Folge großer politischer und technischer Veränderungen enorme Popularität. Er charakterisiert die Verquickung von Phänomenen, die eine neue Epoche begründet zu haben scheinen und seither die Weltordnung tiefgreifend verändern. Die
Postmoderne sei angebrochen, so MENZEL (1998: 8), und führe mit der Auflösung der
alten Ordnungsmuster zu einer neuen Unübersichtlichkeit, „in der die Welt als ein Tollhaus“ erscheine.4
Die Globalisierung, mit der Ängste als auch Hoffnungen verbunden werden, soll hier
zunächst verstanden werden als die Ausweitung und Verdichtung grenzüberschreitender Transaktionen bei gleichzeitiger Verdichtung von Raum und Zeit.5 Neue Kommunikationstechnologien, die Überwindung der in zwei Blöcke geteilten Welt und das Entstehen eines neuen Weltwirtschaftsraumes in Ost- und Südasien bieten der Finanzwelt
völlig neue Möglichkeiten der Geldanlage, des Geldtransfers und der Spekulation.
Neue Transporttechnologien ermöglichen den schnelleren Austausch von Rohstoffen
und Gütern und beschleunigen den Prozess der global positionierten und internationalen Arbeitsteilung. Die zivile Nutzung des Internet sorgte für eine Kommunikationsrevolution mit stetig im Wachsen begriffenen Datentransferkapazitäten, die den weltweiten
und sofortigen Austausch von Information und Wissen ermöglichen.
Es liegt auf der Hand, dass die durch diese Veränderungen bedingte Verdichtung sozialer Handlungszusammenhänge eine neue Qualität von Steuerungsproblemen mit sich
3
Eine erste, sehr allgemeine und dadurch „profilarme“ Definition von HÖFFE bestimmt „Globalisierung als Zunahme und Verdichtung der weltweiten sozialen Beziehungen.“ Im Weiteren
konkretisiert er die Begriffsbestimmung ausführlich: Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München, S. 13 – 25; ZÜRN beobachtet „in den letzten zwei bis drei
Jahrzehnten“ eine Verdichtung von „wirtschaftlichen Handlungszusammenhängen innerhalb
der OECD-Welt.“ Der Begriff der Globalisierung sei aufgrund der „OECD-Zentriertheit“ dieser
Veränderungen nicht angemessen. Er schlägt daher den Begriff der „gesellschaftlichen Denationalisierung“ vor: Zürn, Michael (1998): Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance. Frankfurt am Main, S. 65 ff.
4
Vgl.: Menzel, Ulrich (1998): Globalisierung versus Fragmentierung. Frankfurt am Main, S. 25.
5
Dazu gehört z. B. Kommunikation; aber auch Umweltverschmutzung: Angelehnt an die Definition gesellschaftlicher Denationalisierung von: Zürn, Michael (1998): Regieren jenseits des
Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, S. 73 – 75.
Einleitung
8
bringt. Die durch die Globalisierung wirksam werdenden Marktkräfte und die grenzüberschreitenden Auswirkungen der Entscheidungen weltweit operierender Akteure
bedürfen einer neuen Ordnungspolitik, die auf globaler Ebene über das System zwischenstaatlicher Beziehungen hinausgeht.6 Es besteht eine Tendenz zum Ökonomismus: der Verdrängung der Politik durch den Markt.7 Konsequenz daraus wäre, dass
nicht mehr Staaten, sondern Märkte die Regeln und Grenzen von Morgen definieren.
Gerade bei der Gestaltung einer neuen Ordnungspolitik ist die Zivilgesellschaft8 herausgefordert, sich an transnationalen Willensbildungsprozessen zu beteiligen. Ebenso
wie das System Wirtschaft profitiert auch die Zivilgesellschaft von den neuen technischen Möglichkeiten der Vernetzung und es entstehen neue Arenen der Meinungsbildung. Angesichts der potentiell erzeugten multidimensionalen Problemlagen erfordern
die weitreichenden Konsequenzen der Entscheidungen einzelner Akteure transnationale Legitimität. In diesem Prozess der Politikgestaltung spielen die Nicht-RegierungsOrganisationen9 (NRO; non-governmental-organisations: NGOs) zunehmend eine tragende Rolle.10 Sie vertreten die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen
6
Vgl.: Messner, Dirk; Nuscheler, Franz (1996): Global Governance. Organisationselemente und
Säulen einer Weltordnungspolitik, in: dies. (Hg.): Weltkonferenzen und Weltberichte. Ein
Wegweiser durch die internationale Diskussion. Institut für Entwicklung und Frieden (INEF),
Bonn, S. 17 ff.
7
Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 26.
8
Hier ausgehend vom Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft als Abgrenzung zum Staat nach
HEGEL: „Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das eine Prinzip der
bürgerlichen Gesellschaft, - aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch
die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt.“
Hegel, Georg W. F. (1821 / 1972): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. und eingeleitet von Helmut Reichelt. Frankfurt am Main et al, § 182, S. 168 f.;
mit aktuellem Bezug auf NGOs vgl. z. B. die Definition von KLEIN: „Zivilgesellschaft ist jene
vorstaatliche oder nicht-staatliche Handlungssphäre, in der eine Vielzahl pluraler (auch konkurrierender) Organisationen und Assoziationen ihre spezifischen Angelegenheiten autonom
organisieren und Interessen artikulieren [...].“ Klein, Ansgar (2000): Die NGOs als Bestandteil
der Zivilgesellschaft und Träger einer partizipativen und demokratischen gesellschaftlichen
Entwicklung, in: Altvater, Elmar; Brunnengräber, Achim; Haake, Markus; Walk, Heike (Hg.):
Vernetzt und verstrickt. Nicht-Regierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft.
2. Auflage, Münster, S. 322 f.
9
Zur Definition von NGOs siehe ausführlich z. B.: Roth, Roland (2001): NGO und transnationale
soziale Bewegungen: Akteure einer „Weltzivilgesellschaft“?; in: Brand, Ulrich; Demirovic, Alex;
Görg, Christoph; Hirsch, Joachim (Hg.): Nichtregierungsorganisationen in der Transformation
des Staates. Münster, S. 43 – 63.
10
Vgl.: Walk, Heike; Brunnengräber, Achim; Altvater, Elmar (2000): Einleitung, in: Altvater, Elmar; Brunnengräber, Achim; Haake, Markus; Walk, Heike (Hg.): Vernetzt und verstrickt. NichtRegierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft, S. 10 f.
Einleitung
9
(Stakeholder) und sind potentiell dazu befähigt, im internationalen Kontext losgelöst
von wirtschaftlichen oder nationalstaatlichen Interessen zu agieren.11
Auf globaler Ebene haben sich NGOs besonders auf dem Gebiet des Umweltschutzes
Gehör verschafft und verdient gemacht. Insbesondere seit dem Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 forcierten die NGOs den „Trend zur Vernetzung“12 und es begann die „Konjunktur der Supernova am Firmament globaler Politik.“13 „Am Medienhimmel ist ein
neuer Stern aufgegangen“, konstatieren W ALK / BRUNNENGRÄBER / ALTVATER
(2000: 10) und beschreiben so die Zunahme des öffentlichen Interesses an NGOs und
die damit verbundene verstärkte öffentliche Kommunikation über NGOs.
Die vorliegende Arbeit widmet sich den Einflussmöglichkeiten der NGOs als organisierte, wissensbasierte Netzwerke der europäischen Zivilgesellschaft auf Willensbildungsprozesse. Am Beispiel der Verankerung des Leitbildes der „nachhaltigen Entwicklung“14 im Vertrag von Amsterdam und der im Vorfeld der Verhandlungen umgesetzten
„Greening the Treaty Kampagne“ europäischer Umweltverbände wird dargestellt, wie
die so organisierte Zivilgesellschaft die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen unterstützen und befördern kann. In diesem Zusammenhang findet sich im Anhang das
komplette Interview mit dem Koordinator dieser Kampagne. In Kapitel zwei werden
zunächst die veränderten Bedingungen sozialer Beziehungen in einer ‚Wissensgesellschaft’ und ihre Auswirkungen auf organisationale Prozesse unter organisationssoziologischen Gesichtspunkten näher betrachtet. Kapitel drei widmet sich strukturellen Blockaden und möglichen Optionen für eine Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen in der
veränderten Organisationsumwelt der Wissensgesellschaft. Die Geschichte globaler
11
Auch wenn „sich immer einmal wieder U-Boote“ unter dem Namen NGOs versteckten, so
Weizsäcker, Ernst U. von (2001a): Zur Frage der Legitimität der NGOs im globalen Machtkonflikt. Ein einführender Beitrag, in: Brunnengräber, Achim; Klein, Ansgar; Walk, Heike (Hg.):
NGOs als Legitimationsressource. Zivilgesellschaftliche Partizipationsformen im Globalisierungsprozess. Opladen, S. 24.
12
Altvater, Elmar; Brunnengräber, Achim; Haake, Markus; Walk, Heike (Hg.) (2000): Vernetzt
und verstrickt. Nicht-Regierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft. Vorwort,
S. 7.
13
Walk, Heike; Brunnengräber, Achim; Altvater, Elmar (2000): Einleitung, S. 10.
Begriffserklärung: Wenn von nachhaltiger Entwicklung, Nachhaltigkeit, sustainable development oder Sustainability gesprochen wird, liegt diesen Begriffen die Definition des BrundtlandBerichtes (1987) zugrunde: „Dauerhafte Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse
der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können", in: Hauff, Volker (Hg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft.
Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven, S. 46.
14
Einleitung
10
Konzepte zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an politischen Willensbildungsprozessen
und die auch durch den Einfluss der NGOs veränderte Realität der Politikverflechtung
sowie die damit verbundenen Möglichkeiten und Probleme werden in Kapitel vier umrissen, bevor dann in Kapitel fünf neben Anspruch und Realität europäischen Regierens die europäische Integrationspolitik und der Einfluss von NGOs bei europäischen
Willensbildungsprozessen thematisiert werden. Die Möglichkeiten ökologischer Kommunikation in der Europäischen Union (EU) werden in Kapitel sechs reflektiert. Anhand
des „Greening the Treaty“ Prozesses werden Rolle und Auswirkungen des NGO Engagements für den Integrationsprozess von Umweltthemen in die europäische Politik
dargestellt. Kapitel sieben fasst die Erkenntnisse zusammen und bietet einen Ausblick.
Bei der Kommunikation und Umsetzung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung
ist es von Bedeutung, die Funktionsweise der gesellschaftlichen Organisation zu verstehen, um strukturelle Blockaden zu erkennen und Reformen einzuleiten. Die dafür
nötige Abstraktion kann mit der Hilfe von Theorien ermöglicht werden. Der theoretische
Kontext der vorliegenden Arbeit ist die Theorie der „Ökologischen Kommunikation“ von
Niklas Luhmann (1927-1998) als Anwendung seiner Systemtheorie auf den Umgang
der Gesellschaft mit ökologischen Problemen.
Im folgenden Teil der Einleitung wird die Theorie zunächst kurz erläutert. Sie soll als
Orientierung dienen und die Kommunikation speziell ökologischer Probleme in Entscheidungsprozesse hinein problematisieren und somit zum Verständnis auftretender
Schwierigkeiten in Kommunikationsprozessen beitragen.
Da seine Theorie nicht nur in der Literatur zur Nachhaltigkeitsdebatte häufig auf Kritik
stößt, ist es im darauf anschließenden Exkurs notwendig, die Hauptstränge der Kritik
kurz darzustellen und die wichtigsten in der vorliegenden Literatur genannten theoretischen Alternativen zu skizzieren. Denn:
„Die Theorie funktionaler Systemdifferenzierung ist ein weitreichendes, elegantes, ökonomisches Erklärungsinstrument für positive und negative Aspekte der modernen Gesellschaft.
Ob sie auch zutrifft, ist natürlich eine andere Frage.“
LUHMANN (1990: 74)
Einleitung
1.2
11
Die Theorie der „Ökologischen Kommunikation“
Ein grundlegendes Element zur Gestaltung und Umsetzung eines Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung ist die Kommunikation dieses Prozesses. In der Theorie Luhmanns stellen aber die Kommunikationsmöglichkeiten als solche das Kernproblem
jeglicher Vermittlung dar. Als ökologische Kommunikation soll hier zunächst die Generierung und Weitergabe von Wissen mit Folgen für die Umwelt bezeichnet werden.
Grundlage für den Einstieg in die komplexe Theorie des Bielefelder Soziologen ist die
Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in funktionale Teilsysteme15, mit ihren je
eigenen spezifischen Kommunikationscodes, die „somit jene operationell geschlossenen, selbstreferentiellen Systeme bilden,“ die eine gesamtsystemische Kommunikation
verhindern.16 Es sind sogenannte autopoietisch operierende Systeme, die ihre Elemente17 und damit sich selbst durch ein Netzwerk eben dieser Elemente selbst reproduzieren. Das System schließt seine Selbstreproduktion durch intern zirkuläre Strukturen
gegen die Umwelt ab.18
„Man muß mindestens auch mit der Möglichkeit rechnen, daß ein System so auf seine Umwelt einwirkt, daß es später in dieser Umwelt nicht mehr existieren kann. Die primäre Zielsetzung autopoietischer Systeme ist immer die Fortsetzung der Autopoiesis ohne Rücksicht
auf Umwelt, und dabei wird der nächste Schritt typisch wichtiger sein als die Rücksicht auf
Zukunft, die ja gar nicht erreichbar ist, wenn die Autopoiesis nicht fortgesetzt wird.“
LUHMANN (1990: 38)
Im Falle sozialer Systeme stellt die Kommunikation als eigenständige autopoietische
Operation das Medium der Abgrenzung dar.19 „Die wichtigsten Funktionssysteme
strukturieren ihre Kommunikation durch einen binären, zweiwertigen Code, der unter
dem Gesichtspunkt der jeweils spezifischen Funktion universelle Gestaltung bean-
15
„Als Differenzierung im allgemeinen lässt sich jede Steigerung der Komplexität eines Systems
durch Untersystembildung bezeichnen. Eine funktionale Differenzierung liegt vor, wenn die
Untersysteme nicht als gleiche Einheiten nebeneinandergesetzt, sondern auf spezifische
Funktionen bezogen und dann miteinander verbunden werden.“ Luhmann, Niklas (1997): Legitimation durch Verfahren. 4. Auflage, Frankfurt am Main (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 443), S. 242.
16
Vgl.: Groß, Matthias (2001): Die Natur der Gesellschaft. Eine Geschichte der Umweltsoziologie. Mit einem Vorwort von Wolfgang Krohn. Weinheim / München, S. 210.
17
Elemente sind z. B. Kommunikationen, Handlungen, Zahlungen, Gedanken; für autopoietische Systeme sind sie aber zugleich immer Ereignisse. Vgl.: Krause, Detlef (2001): LuhmannLexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 3., neu bearbeitete und
erweiterte Auflage. Stuttgart, S. 122.
18
Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 40.
19
Ebda., S. 266 f.
Einleitung
12
sprucht und dritte Möglichkeiten ausschließt.“20 Teilsysteme mit spezifischen Codes
kommunizieren auf ihre spezifische Weise und selektieren so ihre Umweltwahrnehmung.21 Der Code des Systems Wirtschaft z. B. ist Haben bzw. Nichthaben; Geld ist
das Medium und „vermittelt ausschließlich die systemeigenen Operationen.“22 „Jedes
System muß Umweltkomplexität reduzieren – vor allem dadurch, daß es die Umwelt
selbst nur beschränkt und kategorial vorformiert wahrnimmt.“23 Die Komplexität gewinnt
an Bedeutung als Differenz zwischen System und Umwelt24. So erlangt jedes System
eine eigene Rationalität und z. B. der Begriff Natur hat in den Systemen eine Bedeutung mit jeweils unterschiedlicher Relevanz. Für das Wirtschaftssystem bedeutet Natur
Rohstoffe, für die Politik hat sie eine räumliche Funktion und für eine Religion ist sie
etwas Göttliches.25 Luhmann beschreibt das Verhältnis von System und Umwelt durch
den Begriff der Resonanz. Ein System kann nur in Ausnahmenfällen durch Faktoren
der Umwelt irritiert werden. Es kann dann aufgeschaukelt und in Schwingung versetzt
werden. „Eben diesen Fall bezeichnen wir als Resonanz.“26 D. h., dass diese Irritationen ein System in Schwingung versetzen, aber nur, wenn sie auch in das System hineingelangen. Autopoietische Systeme besitzen in ihren symbolisch generalisierten
Kommunikationsmedien unterschiedlich schwingungsfähige codierte Sensoren, die
eigenselektiv auf Umweltanreize ansprechen.27 Mit dem Begriff der „Kopplung“ bezeichnet Luhmann die Form der selektiven Beziehungen des Systems mit seiner Umwelt. Er spricht von „Kopplung“ um zu verdeutlichen, dass es „nirgends vollständige
20
Ebda., S. 75 f.
21
Und damit scheidet „eine Gemeinsamkeit von Elementen zwischen Systemen“ aus; „nicht
aber eine Gemeinsamkeit von Ereignissen, die je systemrelativ anders codiert [...] werden.“
Vgl.: Krause, Detlef (2001): Luhmann-Lexikon, S. 123.
22
Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 103.
23
Ebda., S. 33.
24
Luhmann unterschiedet in zwei Arten von Umweltbeziehungen. Zum einen die „gesellschaftsinterne Umwelt“ eines Teilsystems innerhalb des Gesellschaftssystems, die aus den anderen
Teilsystemen besteht. Zum anderen besteht für die Teilsysteme und für das System als Ganzes die natürliche Umwelt in Form von Mensch und Natur. Luhmann, Niklas (1981): Politische
Theorie im Wohlfahrtsstaat. München (Analysen und Perspektiven, Bd. 8/9), S. 57; Luhmann,
Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 22 f.
25
Vgl.: Groß, Matthias (2001): Die Natur der Gesellschaft. Eine Geschichte der Umweltsoziologie. Mit einem Vorwort von Wolfgang Krohn. Weinheim / München, S. 210.
26
Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 40.
27
Vgl.: Krause, Detlef (2001): Luhmann-Lexikon, S. 194.
Einleitung
13
Punkt-für-Punkt-Übereinstimmungen zwischen Systemen und Umwelt gibt.“ Daher
stellt das System zu seiner Umwelt nur sehr selektive Zusammenhänge her, auch weil
es „sich durch seine Grenzen immer auch gegen Umwelteinflüsse abschirmt“.28 „Wäre
diese Selektivität der Resonanz oder der Kopplung nicht gegeben, würde das System
sich nicht von seiner Umwelt unterscheiden, es würde nicht als System existieren.“29
Informationen über ökologische Probleme etwa müssen also vom System selektiert
werden. Angewandt auf Fragestellungen „der ökologischen Bedingtheit und den ökologischen Gefährdungen des gesellschaftlichen Lebens“ bedeutet das: Es sei „aufs Ganze“ und „systemtheoretisch gesehen eher unwahrscheinlich“, dass „Sachverhalte und
Veränderungen der gesellschaftlichen Umwelt in der Gesellschaft Resonanz finden.“30
Nur „wenn ökologische Problemlagen diese Doppelfilter der Codierung und Programmierung durchlaufen, gewinnen sie systeminterne Relevanz und gegebenenfalls weitreichende Beachtung – so und nur so!“31 Das bedeutet: Soll die Umwelt auf die Menschen, bzw. auf die Systeme, zurückwirken, so muss sie „kommunikativ angeschlossen
werden“ um zu bewirken, „daß sich soziale Systeme zu Problemen der Ökologie in ein
rationales Verhältnis setzen.“32
„Es mögen Fische sterben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krankheiten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen: solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine
gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Gesellschaft ist ein zwar umweltempfindliches, aber
operativ geschlossenes System. Sie beobachtet nur durch Kommunikation. Sie kann nichts
anderes als sinnhaft kommunizieren und diese Kommunikation durch Kommunikation selbst
regulieren. Sie kann sich also nur selbst gefährden.“
LUHMANN (1990: 63)
1.3
Exkurs – Zur Kritik der „Ökologischen Kommunikation“
SCHARPF (1989: 10) konstatiert eine „konsequent fortschreitende Radikalisierung, Zuspitzung und Vereinfachung des Luhmannschen Denkens.“ „Der radikale SteuerungsPessimismus“ finde „seine Begründung [...] in der funktionalen Differenzierung moder-
28
Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 41.
29
Ebda.
30
Ebda., S. 41 – 42.
31
Ebda., S. 220.
32
Ebda., S. 200.
Einleitung
14
ner Gesellschaften, [...] deren Elemente weder durch Menschen noch durch Handlungen, sondern durch Kommunikation gebildet werden.“33
Und in der Tat finden sich bei Scharpf die zentralen Elemente der Kritik an der Luhmannschen Theorie, die auch in der Literatur zur Nachhaltigkeitsdebatte immer wieder
zu finden sind. Daher muss auch hier in Kürze die Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theorie in Form eines Exkurses fortgesetzt werden.34 Jenseits der konkreten Kritik an der „Ökologischen Kommunikation“ spiegeln
sich in der Debatte die zentralen Bezugspunkte der „zwei Soziologien“35 wieder. Zum
einen die individualistisch-subjektiven Positionen der akteurszentriert-handlungstheoretischen Ansätze und zum anderen die kollektivistisch-objektiven Modelle des Funktionalismus, Strukturalismus und der Systemtheorie, die Strukturen, Funktionen und Systeme betonen. Systemtheorie und Handlungstheorie, welche „mit dem Gegensatzpaar
‚System’ versus ‚Akteur’ gekennzeichnet werden.“36
Jedoch scheinen beide Sichtweisen – für sich genommen – nicht geeignet, in realistischer Weise ein Abbild der gesellschaftlich-kulturellen Sozialisation des Menschen zu
vermitteln, „wenn man von dem interaktionistischen Denkansatz der wechselseitigen
Beeinflussung von Person und Umwelt im Handeln ausgeht.“37 Offensichtlich ist vielmehr eine Synthese beider Theoriestränge geeignet, um eine adäquate theoretische
Abstraktion zu gewährleisten. Unter anderem habe Anthony Giddens (1984 / 1995) mit
der Strukturationstheorie einen einflussreichen Versuch unternommen, diesen Gegensatz zu überwinden, so DIEKMANN / JAEGER (1996: 22). So findet Giddens Theorie in
der aktuellen Forschung zur Nachhaltigkeitsdebatte große Beachtung.38 GIDDENS
(1995: 55) geht davon aus, dass „die reflexive Steuerung des Handelns seitens des
33
34
Scharpf, Fritz W. (1989): Politische Steuerung und Politische Institutionen, in: Politische Vierteljahresschrift, 30 Jg., Heft 1, S. 10.
Vgl. z. B.: BRAUN (1993); DIEKMANN / JAEGER (1996); SCHNEIDEWIND (1998); DIEKMANN / PREI(2001); GROß (2001).
SENDÖRFER
35
Vanberg, Victor (1975): Die zwei Soziologien. Tübingen, zitiert nach: Diekmann, Andreas;
Jaeger, Carlo C. (1996): Aufgaben und Perspektiven der Umweltsoziologie, in: dies. (Hg.):
Umweltsoziologie. Opladen (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Sonderheft 36), S. 22.
36
Diekmann, Andreas; Jaeger, Carlo C. (1996): Aufgaben und Perspektiven der Umweltsoziologie, S. 22.
37
Vgl.: Siebenhüner, Bernd (2001): Homo sustinens – Auf dem Weg zu einem Menschenbild
der Nachhaltigkeit. Marburg, S. 232 f.
38
Die Strukturationstheorie ist erwähnt u. a. bei SCHNEIDEWIND (1998; 2001), SCHNEIDEWIND /
PETERSEN (1998), SIEBENHÜNER (2001) und KOPFMÜLLER ET AL (2001).
Einleitung
15
Akteurs [...] ein integraler Charakterzug des Alltagshandelns“ sei und sich nicht nur auf
das eigene Verhalten des Akteurs, „sondern auch auf das anderer Akteure“ richtet.
Somit steuern die Akteure „kontinuierlich den Fluß ihrer Aktivitäten“ und „kontrollieren
routinemäßig ebenso die sozialen und physischen Aspekte des Kontextes, in dem sie
sich bewegen.“39 Mit der „Dualität von Struktur“ bezeichnet Giddens den wechselseitigen Einfluß von Subjekt und Struktur. Strukturen als Regeln und Ressourcen organisieren soziale Systeme und bestimmen das Handeln; das Handeln wiederum kann
Einfluss nehmen auf die gesellschaftlichen Strukturen.40 Die sozialen Systeme sind
hier die reproduzierten „Beziehungen zwischen Akteuren oder Kollektiven“ und „als
regelmäßige soziale Praktiken“ organisiert. Sie werden durch Interaktionszusammenhänge produziert und reproduziert. D. h., dass erlernte Regeln – vom System bestimmt
– auf die Subjekte zurückwirken. Umgekehrt können die Subjekte Einfluss darauf nehmen, was gelernt wird.41
DIEKMANN / JAEGER (1996: 21) sind der Ansicht, Luhmanns „Ökologische Kommunikation“ als Anwendung seiner Theorie sozialer Systeme auf ökologische Fragestellungen
sei „eine recht eigenwillige Variante systemtheoretischen Denkens“ und es bleibe
„reichlich unklar, wie die Theorie ‚ökologischer Kommunikation’ mit dem in empirischen
Untersuchungen angestrebten Erfahrungswissen verknüpft werden kann.“42
„Es fällt nun auf, daß in all diesen Systemen Symbole gehandelt werden. Wie verhält es sich
aber mit solchen Systemen, die in materiellem Stoffwechsel mit der Natur stehen, wie Organismen, Technik, Landwirtschaft, industrielle Produktion? Hier findet eine stoffliche Kommunikation mit der äußeren Umwelt statt, die nicht beliebig codiert werden kann. Sie bleibt zwar
unterhalb der Totalitätsebene (was dann als Umweltstörung auftritt), doch kann ihre Lernfä43
higkeit nicht prinzipiell bestritten werden.“
„Das Umweltproblem ist der Maulwurf auf dem Feld der Systemtheorie“, so Kurt Jacobs, Rezensent der „Ökologischen Kommunikation“ (1988).44
39
Giddens, Anthony (1995): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der
Strukturierung. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main / New York, S. 55.
40
Ebda., S. 67 – 81.
41
Zur Kritik an GIDDENS wiederum siehe u. a.: Diekmann, Andreas; Jaeger, Carlo C. (1996):
Aufgaben und Perspektiven der Umweltsoziologie, S. 22.
42
Ebda., S. 21.
43
Sieferle, Rolf Peter (1987): Nachzulesen als Rezension in: Politische Vierteljahresschrift –
PVS Literatur, 28 Jg., Heft 2, S. 194.
44
Nachzulesen in: Jacobs, Kurt (1988): Rezension: Ökologische Kommunikation, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften. 30 Jg., Nr. 167-172, Berlin
1988, S. 916 – 918.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
2
16
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
Abstract: In diesem Kapitel geht es von der Systemebene zunächst zurück auf die Organisationsebene – einer Ebene der Subsysteme. Zum einen haben hier die modernen
Informations- und Kommunikationstechnologien völlig neue Formen der Kooperation
und Koordination möglicht gemacht. Virtuell basierte Wissensnetze gelten als besonders innovativ und haben eine potentiell hohe Problemlösungskompetenz. Zum anderen erfordert die zunehmende Wissensproduktion neue Formen der Vernetzung, die
gegenüber herkömmlich strukturierten Organisationsformen in der Lage sind, mit gesteigerter Komplexität umzugehen. Wissensmanagement wird zunehmend ein wichtiger Begriff in der wissensbasierten Organisation und ist hier neben den Bedingungen
für virtuelle Wissensnetze grundlegende Notwendigkeit für organisatorischen Wandel.
2.1
Die Organisationen der Gesellschaft
Organisationen sind Voraussetzung und Merkmal für funktional differenzierte Gesellschaften. Sie sind soziale Gebilde, die auf spezifische Ziele ausgerichtet sind. In der
Organisationssoziologie bezeichnet eine Organisation die „Gesamtheit aller geplanten
und ungeplanten sozialen Prozesse, die innerhalb des sozialen Systems bzw. im
Rahmen der Außenbeziehungen mit anderen organisatorischen Gebilden ablaufen
[...].“45 Das Ziel einer Organisation bestimmt seine Struktur. Es definiert Normen und
Regelungen, bestimmt Kommunikationswege, Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und
Autoritätsbeziehungen. Die Organisation ist immer auch ein Herrschaftsverband. Organisationen stabilisieren und entlasten soziales Handeln, indem sie die Kontingenz
beschränken und Komplexität reduzieren. Sie definieren Normen und bilden Strukturen
im Alltag. Als Instrumente menschlichen Zweckhandelns sind Organisationen – ausgerichtet auf die Erfüllung bestimmter Funktionen – integrale Bestandteile der jeweiligen
Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft. Dabei kommt es zur Ausbildung eigener und sehr spezieller Sinn-Zusammenhänge innerhalb der auf „spezifische
und nur für sie vorrangige“ Funktionen eingestellten Teilsysteme.
45
Ausführlich in: Zimmermann, Gunter E. (1998): Art. Organisation, in: Schäfers, Bernhard
(Hg.): Grundbegriffe der Soziologie. 5. Auflage, Opladen (= UTB für Wissenschaft 1416),
S. 261 – 264.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
17
„Dieses Formprinzip erklärt den gewaltigen Leistungs- und Komplexitätszuwachs der modernen Gesellschaft; und es erklärt zugleich die Probleme der Integration, das heißt der Resonanzfähigkeit sowohl zwischen den Teilsystemen der Gesellschaft als auch im Verhältnis
des Gesellschaftssystems zu seiner Umwelt.“
LUHMANN (1990: 74)
Der Kompetenz der Subsysteme für ihre eigenen Zwecke und innerhalb ihrer eigenen
Codes entspricht die Inkompetenz des Gesamtsystems. Die Eigenlogik der Teilsysteme führt zur Entkoppelung voneinander, sodass die mit einer ungeheuren Effizienz zu
ermöglichenden Ziele bezogen auf das Gesamtsystem kontraproduktiv wirken können.
Dieser Antagonismus war die Ursache der Nachhaltigkeitsdebatte und der Auslöser
einer Suche nach Gleichgewichten, die die erheblichen ökologischen, sozialen und
ökonomischen Nebenfolgen des wirtschaftlichen Fortschritts zu relativieren helfen.46
In den Teilsystemen „wimmelt“ es nur so von Organisationen und „organisationsfreie
Interaktionen“, die sich zudem nur einem Teilsystem der Gesellschaft zuordnen lassen
sind schwer zu entdecken.47 Organisationen existieren innerhalb der Gesellschaft als
eine besondere Form, „Gesellschaft durch verdichtete Kommunikation fortzusetzen.“48
Keine Organisation „ist in der Lage, den Zustand des jeweiligen Funktionssystems zu
determinieren [...]“, durch Organisationen können aber wichtige Variablen der Funktionssysteme durch organisierte Kommunikation verändert werden.49 „Organisationen
sind die einzigen Sozialsysteme, die regulär als ‚kollektive Akteure’ auftreten können;
die einzigen Sozialsysteme, die im Kommunikationssystem Gesellschaft ‚im eigenen
Namen’ kommunizieren können.“50 Die durch sie entstehenden Entscheidungsspielräume, „die es andernfalls nicht gäbe,“ ermöglichen es, die Irritabilität eines Systems
zu steigern.51
Für die programmatische Integration einer nachhaltigen Entwicklung kommt gerade
deshalb den Organisationen eine besondere Rolle zu. Ihr Einfluss mag bereits durch
ihre Verankerung im Gesellschaftssystem vorstrukturiert sein; die Umsetzung einer
46
Vgl.: Schneidewind, Uwe (2002): Nachhaltige Wissensgesellschaft, in: Bleicher, K.; Berthel, J.
(Hg.): Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft. Frankfurt am Main (erschienen 2001), S. 193.
47
Vgl.: Luhmann, Niklas (1994): Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien, Hans U.; Gerhardt, Uta; Scharpf, Fritz W. (Hg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift
für Renate Mayntz. Baden-Baden, S. 189.
48
Vgl.: Ebda., S. 190.
49
Ebda., S. 195.
50
Ebda., S. 191.
51
Ebda., S. 190.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
18
nachhaltigen Entwicklung erfordert dennoch weitreichende institutionelle Reformen und
setzt als eine große Herausforderung an die Organisationen genau dort an. Denn:
„Daß im Namen von Organisationen kommuniziert werden kann, lässt noch offen, was
kommuniziert wird.“52
2.2
Organisation und Wandel
WILLKE (1998) schildert die Notwendigkeit des Umbaus der „traditionell tayloristischen
Organisation“ zur „intelligenten Organisation“.53 Der gegenwärtig laufende Übergang
von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft transformiere Produkte und
Dienstleistungen zu „wissensbasierten, intelligenten Gütern.“ Grundlage für den zukünftigen Erfolg von Organisationen sei die „Wissensarbeit“, die in organisierter Form
das Wissen zu einer Produktivkraft entfalten könne und „gegenwärtig dabei ist, die herkömmlichen Produktivkräfte (Land, Arbeit, Kapital) in ihrer Bedeutung zu überflügeln.“54
Doch nicht nur eine zum Großteil wissensbasierte Ökonomie kennzeichnet die Wissensgesellschaft. „Völlig neue Formen der gesellschaftlichen Organisation und Wertschöpfung“ finden ihren Ausdruck in zeitlich und räumlich entkoppelten und virtualisierten Koordinationsprozessen, die mittels neuer Informations- und Kommunikationstechnologien für eine „erheblich Beschleunigung von Handlungen, Geschäfts- und Organisationsprozessen“ führen.55
Um die Organisationsziele unter sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weiterhin erfolgreich erfüllen zu können, müssen Organisationen ihre formale
Struktur entsprechend anpassen. SIEBENHÜNER (2001: 417 ff.) unterscheidet hier zwei
Möglichkeiten des organisationalen Anpassungsprozesses an veränderte Umweltbedingungen. Zum einen den „als ‚sozialtechnologisch’ kritisierten“ Ansatz der Organisationsentwicklung und zum anderen den partizipatorisch orientierten Ansatz des organisationalen Lernens. Organisationsentwicklung bezeichnet den Anpassungsprozess an
den gesellschaftlichen Wandel und drückt sich u. a. aus durch flache Hierarchien, „Ver-
52
Vgl.: Ebda., S. 191.
53
Willke, Helmut (1998): Systemisches Wissensmanagement, S. 1.
54
Ebda., S. 5.
Angelehnt an die Definition der Wissensgesellschaft von SCHNEIDEWIND eines „breiteren ökonomischen und gesellschaftlichen Verständnisses“; vgl. Schneidewind, Uwe (2002): Nachhaltige Wissensgesellschaft, S. 199 - 200.
55
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
19
ringerung der horizontalen Differenzierung innerhalb der Organisation zugunsten vernetzter Strukturen mit verstärkter horizontaler und vertikaler Kooperation [...].“56 Die
Dynamik der Veränderung generiert sich beim Modell der Organisationsentwicklung
aber nicht aus „der Mitte des Unternehmens selbst“.57 Die Veränderung von Strukturen
und Verhalten der Organisation ist nur durch den Einsatz gezielt ausgebildeter Spezialisten möglich und wirkt so zunächst von ‚außen’ auf die Organisation ein. Organisationsentwicklung ist meist ein vom Management ausgehender ‚top-down’ Prozess, der
„die Mitarbeiter stark in eine Ausführungsrolle drängt.“58 Grundsätzlich stellt ein organisatorischer Wandel „ein besonderes Problem“ dar, da sich evtl. die Organisationsziele
ändern und ein veränderter Sinnzusammenhang direkt auch die individuellen Interessen der Organisationsmitglieder betrifft. Ohne die Lösung der daraus entstehenden
Konflikte wird die formale Struktur der Organisation in Hinblick auf ihre Ziele dysfunktional.59 Zur Internalisierung veränderter Ziele scheint daher das Konzept des organisationalen Lernens besser geeignet, welches auf die kreativen Kräfte der Organisationsmitglieder setzt. Der kreative und selbst-organisierte Lernprozess orientiert sich weniger an konkret vorgegebenen Zielen, „sondern beinhaltet einen nicht – oder nicht vollständig – geplanten bzw. nicht planbaren Wandel“.60 Diese ‚bottom-up’ Struktur einer
lernenden Organisation zielt auf einen „permanenten Wandel der gesamten Organisation“ und gerät u. U. auch „in Konflikt mit den Zielen des Managements“.61 Übergeordnetes Ziel organisationaler Lernprozesses ist der „Wissenszuwachs auf der kollektiven
Ebene des gesamten Unternehmens“.62 SIEBENHÜNER (2001: 419) favorisiert in Hinblick auf eine nachhaltigkeitsorientierte Unternehmensführung den partizipatorischen
Ansatz des organisationalen Lernens, wenngleich sich auch Elemente der Organisati-
56
Vgl.: Zimmermann, Gunter E. (1998): Art. Organisation, S. 263.
57
Siebenhüner, Bernd (2001): Homo sustinens – Auf dem Weg zu einem Menschenbild der
Nachhaltigkeit, S. 417 f.
58
Mehr zur Definition von Organisationsentwicklung und lernender Organisation siehe: Ebda.
59
Eine Dysfunktion beschreibt diejenige Wirkung eines sozialen Elements, welche die Umweltanpassung, Integration, Zielverwirklichung und Strukturerhaltung das Systems beeinträchtigt.
Vgl.: Reimann, Bruno W. (1994): Art. Dysfunktion, in: Fuchs-Heinritz, Werner; Lautmann, Rüdiger; Rammstedt, Otthein; Wienold, Hanns (Hg.): Lexikon zur Soziologie. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Opladen, S. 154; siehe auch: Zimmermann, Gunter E. (1998):
Art. Organisation, S. 263.
60
Siebenhüner, Bernd (2001): Homo sustinens – Auf dem Weg zu einem Menschenbild der
Nachhaltigkeit, S. 418.
61
Ebda.
62
Ebda.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
20
onsentwicklung für „kurzfristiger angelegte Veränderungsprozesse“ eigneten. Die Integration der Nachhaltigkeitsziele in den organisatorischen Wandel bedeutet hier die
funktionale Anpassung von Struktur und Ziel der Organisation. Dieser Prozess erfordert neben der Steuerung der zu erwartenden Konflikte ein hohes Maß an Innovation
auf organisationaler als auch auf institutioneller Ebene.
Um Steuerungsmechanismen in einer hochkomplexen Welt zu entwickeln und anhand
neuer Ideen ganz neue Wege zu gehen, braucht es Innovationen, die von den alten
Apparaten, vor allen den Großkonzernen, scheinbar nicht effizient genug initiiert werden können. Durch den Erfolg vergangener Jahre fällt es ihnen besonders schwer, den
notwendigen organisationalen Wandel zu gestalten. Die starke Kultur des „großen
WIR“ verursacht eine ausgeprägte konsensuale Ordnung und Bindung an tendenziell
überkommene organisationale Modi.63 Die fest geschlossenen Strukturen und Kulturen
klassischer Organisationsgesellschaften sind daher „wohl kaum noch einladend (für)
freies Engagement und die Offenheit kreativen Lernens.“64 So blockiert die eigene Organisation den strukturellen Fortschritt. Organisationale Lernprozesse durchbrechen
nur langsam die festen Strukturen, deren Stabilität den Erfolg von Gestern sicherte,
den von Morgen aber nicht mehr garantiert.
2.3
Die virtuelle Organisation65
Ausdruck des organisationalen Wandels in einer zunehmend komplexen und vernetzten Umwelt sind Netzwerkstrukturen, die geeignet erscheinen, sich „geänderten Umweltbedingungen in schneller und effektiver Art und Weise“ anzupassen.66 Sie sind
zugleich Auslöser und Reaktion „einer gestiegenen Wissensvermehrung, einer erhöhten Wahlfreiheit von Individuen und Gruppen und einer damit größer gewordenen
63
Vgl.: Pankoke, Eckart; Stellermann, Rolf (2000): Werte und Wissen im Wandel. Zur kommunikativen Kultur organisationalen Lernens. Lehrforschungsprojekt im Studiengang ‚Praktische
Sozialwissenschaft’. Essen, S. 122.
64
Ebda.
65
Eine ausführliche Darstellung der Konzepte virtueller Organisationen findet sich bei: Scholz,
Christian (2000): Strategische Organisation. Multiperspektivität und Virtualität. 2., überarbeitete Auflage, Landsberg/Lech, S. 320 – 391.
66
Vgl.: Pankoke, Eckart; Stellermann, Rolf (2000): Werte und Wissen im Wandel. Zur kommunikativen Kultur organisationalen Lernens, S. 16.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
21
Komplexität von technischen und sozialen Interaktionen“67. In zunehmender Zahl kooperieren kompetente Netzwerke, hochflexibel und innovativ auch über Organisationsgrenzen hinweg und lösen als die Testlabore organisationaler Entwicklung die alten
Apparate mit ihren starren Strukturen ab und etablieren sich als neue Signalgeber einer innovativen Organisationskultur. Virtuelle Wissensnetze bezeichnen solche neuen
Organisationsformen, in welchen die Organisationsmitglieder neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Eine Zusammenarbeit in Netzwerken kennzeichnet sich
durch das Herauslösen aus Organisationsstrukturen, die i. d. R. aufgrund des hohen
Grades der erreichten Arbeitsteilung für sehr spezielle Ziele angelegt sind und die die
Reduktion von Komplexität maximieren. Die Komplexität wird durch die Zusammenarbeit in Netzwerken potentiell erhöht; insbesondere dann, wenn über Organisations- und
Sachgebietsgrenzen hinweg kommuniziert wird.
Ursprünglich bezeichnet das Wort virtuell etwas der Anlage nach als Möglichkeit Vorhandenes (Brockhaus). Abgeleitet vom lateinischen virtus = Tüchtigkeit als die Möglichkeit zu etwas in sich begreifend (Duden). Es existiert somit keine reale Eigenschaft
einer Sache, sondern eine Möglichkeit. „Virtualität spezifiziert also ein konkretes Objekt
über Eigenschaften, die nicht physisch, trotzdem ihrer Leistungsfähigkeit nach vorhanden sind.“68 Die heute gängige Bezeichnung von Virtualität ist eng verknüpft mit der
Terminologie des Computerzeitalters und hat sich seit Mitte der 1990er Jahre „zu einem intensiv benutzten Schlagwort entwickelt.“69 Virtualität findet statt im virtuellen
Raum – im Cyberspace: einer künstlich inszenierten Wirklichkeit, die als real erfahren
wird. Und tatsächlich schafft die Informationstechnologie als Konsequenz der Computerisierung für die Arbeitswelt solche computerbasierten Welten, die scheinbar entgrenzt von Zeit, Raum und Kultur als Kommunikationsplattformen dienen; die zur ‚Heimat’ der virtuellen Gemeinschaften geworden sind. Die virtuelle Organisation ist eine
Konsequenz der „Suche nach Gestaltungsformen, die räumliche, zeitliche und funktionale Grenzen flexibilisieren und [...] aufweichen.“70 In der virtuellen Organisation verschwimmen die organisatorischen Grenzen und die Bildung und Abgrenzung organisatorischer Einheiten verändert sich. Diese Organisationsform ist gleichzeitig Ausdruck
einer neuen Qualität organisatorischer Gestaltung und impliziert „eine neue Sichtweise
67
Vgl.: ebda.
68
Scholz, Christian (2000): Strategische Organisation. Multiperspektivität und Virtualität, S. 328.
69
Ebda., S. 320.
70
Ebda.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
22
auf Organisationen“, so SCHOLZ (2000: 320). Eine nicht sehr trennscharfe, aber dennoch „wegweisende Grundauffassung von virtuellen Unternehmen“, die noch immer
Bestand habe, so Scholz (2000: 324), lieferten BYRNE, BRANDT und PORT (1993:
36 ff.): „Danach ist es charakteristisch für diese Organisationsform, daß sich die involvierten Einheiten bis auf ihre Kernkompetenzen hin reduzieren, um sich dann flexibel
zu neuen Einheiten zusammenschließen.“71
Im virtuellen Raum konstituierte Organisationen und ihre Mitglieder profitieren von der
höheren Geschwindigkeit des Informationsaustausches. Ihr Ziel ist die Vernetzung und
die Vergrößerung der Wissensbasis. Virtuelle Organisationen erlangen Wettbewerbsvorteile durch geringere Kosten für die Infrastruktur, die ihrerseits als extensive Kommunikationsinfrastruktur Abstimmungsprozesse der Organisation verbessert und zu
einer „effektiveren und effizienteren Ressourcennutzung“ beiträgt.72 Die relative Ungebundenheit weitgehend losgelöst von physischen Zwängen wie etwa Gebäuden etc.
senkt nicht nur Kosten; sie ist auch Ausdruck einer größeren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.73 Virtuelle Organisationen sind strukturell dazu befähigt, Expertenwissen flexibel zusammenzuführen. Ihre Konstitution scheint besonders geeignet in wissensintensiven Bereichen wie der Informationstechnologie und in Forschung und Entwicklung. Als Plattformen für den Wissensaustausch können sie die Problemlösungskompetenz durch einen reflexiven Umgang mit multidimensionalen Problemlagen steigern sowie flexibel und schnell auf Veränderungen der Umwelt reagieren. Auch und
gerade für Non-Profit-Organisationen ist diese Form der Vernetzung von Wissensträgern eine attraktive organisationale Alternative.
Virtuelle Organisationen sind nicht länger „als Resultat eines organisationsstrukturellen
Urknalls anzusehen, sondern als Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung in einem
mehrdimensionalen Raum.“74
71
Vgl.: Byrne, John A.; Brandt, Richard; Port, Otis (1993): The Virtual Corporation, in: Business
Week v. 8.2.1993, S. 36 – 40; zitiert nach: Scholz, Christian (2000): Strategische Organisation. Multiperspektivität und Virtualität, S. 324.
72
Vgl.: Ebda., S. 337.
73
Vgl.: Ebda., S. 336 f.
74
Ebda., S. 332.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
2.4
23
Wissensnetze und Wissensmanagement
Wissen ist Macht – diese Redewendung geht zurück auf den englischen Juristen,
Staatsmann, Philosophen und Schriftsteller Francis Bacon (1561 – 1626). Im lateinischen Original heißt es bei dem bedeutenden europäischen Denker der Übergangszeit
von der Renaissance zur Neuzeit: „Ipsa scientia potestas est“. Dem lateinischen Wort
„potestas“ kommt hier eine besondere Bedeutung zu; kann es doch nicht ohne weiteres mit Macht übersetzt werden. Vielmehr beschreibt es das Vermögen – ein Potenzial
– etwas bewirken zu können.75 So interpretiert kann Wissen daher nicht zwangsläufig
mit Macht gleichgesetzt werden. Im Sinne von Bacon muss dieses Potenzial erst genutzt, das heißt richtig angewendet, richtig verteilt und richtig zugänglich gemacht –
also richtig gemanagt werden, um so zur Machtentfaltung zu verhelfen. In komplexen
Organisationen wird diese Aufgabe heute mit dem illustren Begriff des Wissensmanagements abgebildet. Illuster deshalb, weil es DAS Wissensmanagement sicherlich
nicht gibt und prinzipiell jede Organisation ein auf sie zugeschnittenes Bündel an Maßnahmen entwickeln muss, die Produktivkraft Wissen bei ihren Mitarbeitern zu bergen,
um sie für ihren Zweck nutzen zu können.76
Für das Wissensmanagement von Bedeutung ist die Unterscheidung des Wissens in
explizites und implizites Wissen.77 Implizites Wissen ist an Personen gebunden, die
nicht unbedingt wissen müssen, dass sie dieses Wissen haben und die auch nicht erklären müssen, was sie können. Explizites Wissen dagegen ist formuliertes Wissen,
„ein Wissen also, von dem der Wissende weiß und über das er sprechen kann.“78 Für
ein gelingendes Wissensmanagement ist es daher von Bedeutung, „die Übergänge
zwischen implizitem und explizitem Wissen zu gestalten und in Bewegung zu bringen“.79 Eine wissensbasierte Organisation gelangt dann zu einer Generierung innovativen Wissens, wenn diese Übergänge in organisationale Prozesse gefasst werden die
fördern, „daß individuelles Wissen artikuliert und durch Zugänglichkeit verbreitet
75
Vgl.: Stehr, Nico (2001): Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der
modernen Ökonomie. Frankfurt am Main (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1507),
S. 62 f.
76
Mehr zur Definition von Wissensmanagement siehe z. B.: Willke, Helmut (1998): Systemisches Wissensmanagement; Probst, Gilbert; Raub, Steffen; Romhardt, Kai (1999): Wissen
managen. Wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen. 3. Auflage, Wiesbaden.
77
Willke, Helmut (1998): Systemisches Wissensmanagement, S. 12 f.
78
Ebda., S. 13.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
24
wird.“80 Dies setzt organisationales Lernen überhaupt erst voraus. Wissensmanagement bedeutet also die Transformation von personalem Wissen in organisationales
Wissen und umgekehrt. Das Wissen ist nicht mehr länger in den Köpfen der Menschen
gespeichert, sondern „in den Operationsformen eines sozialen Systems.“81 Dabei ist
zum einen die systemische Erfassung von Wissensbeständen z. B. in Datenbanken
nötig; zum anderen aber auch die Gewährleistung des personalen Austausches zwischen den Organisationsmitgliedern in „communities of practice“ (personalisierte Netzwerke). So „wird implizites Wissen vom Individuum gelöst und kollektiv nutzbar gemacht.“82 Ein systemisches Lernen gelingt nur im „anspruchsvollen Kontext gemeinsamen Lernens.“ „Communities of practice“ bilden hier diese gemeinsam geteilte Erfahrungswelt.83
Wissensnetze als soziale Netzwerke bilden ein Geflecht aus sozialen Beziehungen.
Die sozialen Einheiten können Personen, Gruppen, Organisationen und Institutionen
sein.84 Der Begriff der sozialen Beziehung bezeichnet dabei die potentiell und real wiederholbaren Kontaktaufnahmemöglichkeiten zwischen Personen, Gruppen, Organisationen und anderen sozialen Gebilden.85 Diese Beziehungen sind i. d. R. von länger
dauerndem Bestand. Wissensnetze können also als das Geflecht der sozialen Beziehungen bezeichnet werden, welche „als Ganzes betrachtet das Verhalten der verbundenen sozialen Einheiten“ beeinflussen „und zur Interpretation dieses Verhaltens herangezogen werden“ können.86 Die als virtuelle Organisationen konstituierten Wissensnetze interagieren als „soziale Phänomene“ im Beziehungsgeflecht der Datennetze und ermöglichen als Wissensgemeinschaften dialogische Kommunikation und
Raum für Reflexion.
79
Ebda., S. 14.
80
Ebda., S. 15.
81
Ebda., S. 16.
82
Vgl.: Pankoke, Eckart; Stellermann, Rolf (2000): Werte und Wissen im Wandel. Zur kommunikativen Kultur organisationalen Lernens, S. 77.
83
Vgl.: Ebda., S. 72.
84
Wegmann, Jutta; Zimmermann, Gunter E. (1998): Art. Netzwerk, soziales, in: Schäfers, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, S. 251.
85
Gukenbiehl, Hermann L. (1998): Art. Beziehung, soziale, in: Schäfers, Bernhard (Hg.):
Grundbegriffe der Soziologie, S. 40.
86
Vgl.: Wegmann, Jutta; Zimmermann, Gunter E. (1998): Art. Netzwerk, soziales, S. 251.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
2.5
25
Wissensgemeinschaften – Keimzellen lebendigen Wissensmanagements
Ein Instrument des Wissensmanagements moderner Organisationen seien die Wissensgemeinschaften, so NORTH, ROMHARDT und PROBST (2000: 52–62). Als die
„Keimzellen lebendigen Wissensmanagements“ taugen sie womöglich als Instrument,
die Ressource Wissen „in den Griff zu bekommen“ und effizienter einzusetzen.87
„Wissen ist an den Menschen gebunden und Resultat von Reflektion.“88 Neues Wissen
entsteht durch Interaktion im Kontext der Zusammenarbeit und des Austausches. Die
Wahl der Kommunikationsform ist daher entscheidend für die Qualität der Interaktion.
Das persönliche Kennen der Mitglieder einer Wissensgemeinschaft erleichtert den weiteren Austausch über elektronische Medien. An Personen und Erfahrungen gebundenes implizites Wissen kann leichter durch persönliche Kommunikation ausgetauscht
werden; „je mehr explizites Wissen ausgetauscht wird, desto mehr ist die Nutzung elektronischer Medien möglich.“89
Auf der Suche nach neuen Plattformen des Wissensaustausches könnten Wissensgemeinschaften als Beispiel virtueller Organisationen eine Alternative bieten, die Problematik der potentiellen Wissensintransparenz in einer Organisation auflösen zu helfen
und Synergien durch Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Gleichzeitig dienen sie als
Foren, die Reflexivität ermöglichen und Innovationen entwickeln können. Wissensgemeinschaften können dazu dienen, Wissen zugänglich zu machen. Tauchen z. B. ähnliche Probleme an unterschiedlichen Orten auf, so bildet die Wissensgemeinschaft eine
Struktur, die den Kontakt zwischen Wissenden und Unwissenden herzustellen vermag.
Wissen ist in großen Organisationen i. d. R. breit verteilt und gestreut. Eine Förderung
von Dialogen zwischen Wissensanbietern und Wissensnachfragern kann durch Wissensgemeinschaften vorstrukturiert werden. Synergien durch Erfahrungs- und Wissensaustausch aus ungeplantem Dialog lassen die Ideen für die Geschäfte von Morgen entstehen. Zudem kann Wissen potenziert werden, indem es geteilt wird. Wissen
teilen sorgt für Anerkennung der Organisationsmitglieder und kann durch Wissensge-
87
North, Klaus; Romhardt, Kai; Probst, Gilbert (2000): Wissensgemeinschaften: Keimzellen
lebendigen Wissensmanagements, in: io Management, 69 (2000) 7/8, S. 52.
88
Ebda., S. 56.
89
Ebda., S. 60.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
26
meinschaften kultiviert werden. „Wissensteilung, Kreativität und Gemeinschaft“ als
menschliche Grundbedürfnisse fördern gleichzeitig die Motivation.90
Wissen ist Macht – Auf dem Weg vom Wissen zur Macht bergen Wissensgemeinschaften die Wissens- und Innovationspotenziale in Organisationen. Nur innovative
Strukturen scheinen unter den beschleunigten Bedingungen der Wissensgesellschaft,
in der sich die Halbwertzeit von Wissen verringert,91 geeignet, im Wettbewerb um Wissen nicht den Anschluss zu verlieren. Zusammengefasst können Wissensgemeinschaften dazu dienen, vorhandenes Wissen zugänglich zu machen, Innovationen zu ermöglichen und neues Wissen zu generieren. Diese Forderungen implizieren weitreichende
Bedingungen für das Arbeitsumfeld und die Organisationsstruktur, die kurz anhand
einer idealtypischen Definition dargestellt werden. Angelehnt an die Definition von
NORTH, ROMHARDT und PROBST (2000: 58) einer idealtypischen Wissensgemeinschaft
wird unterschieden in strukturelle Aspekte der Organisationsform und personelle Bedingungen für die Mitglieder von Wissensgemeinschaften. Strukturell bietet eine Wissensgemeinschaft ihren Mitgliedern eine Kommunikationsplattform, die Wissensaustausch fördert. Hierunter fallen Zeit und Raum für (auch informelle) Gespräche, aber
ebenso auch die Möglichkeiten zur elektronischen Kommunikation. Ferner motiviert sie
zum Teilen von Wissen und gewährleistet einen lebendigen Wissensfluss, z. B. durch
die gemeinsame Entwicklung von Ideen, um Organisationsziele erfolgreich erreichen
zu können. Wissensgemeinschaften sind räumlich und zeitlich relativ unabhängig. Die
Vernetzung ihrer Mitglieder erlaubt die Kommunikation in einem virtuellen Raum auch
über Organisationsgrenzen hinaus. Dieses strukturbildende Element erweitert hier den
Idealtyp der o. g. Autoren zur Erleichterung der Abgrenzung zu Communities of Practice (CoPs; Praxisgemeinschaften), die nicht zwangsläufig eine Wissensgemeinschaft
sind, sondern auch eine Abteilung oder Arbeitsgruppe in herkömmlich strukturierten
Organisationen bezeichnen können.92
90
Angelehnt an: ebda., S. 52.
91
Zur Verfallszeit des Wissens vergleiche z. B.: Degele, Nina (2000): Informiertes Wissen. Eine
Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft. Frankfurt am Main / New York, S. 43.
92
Vgl. ebda., S. 55; sowie: Wenger, Etienne C. (1999): Communities of practice: Learning,
meaning and identity. First paperback edition, Cambridge, insbes. S. 72 ff.; obwohl HENSCHEL seine Definition einer CoP insofern ausweitet, dass ihre Mitglieder sehr wohl verschiedenen Organisationen angehören können, siehe: Henschel, Alexander (2001): Communities
of Practice. Plattform für individuelles und kollektives Lernen sowie den Wissenstransfer. Dissertation: Universität St. Gallen, S. 50.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
27
Mitglieder von Wissensgemeinschaften zeichnen sich aus als Menschen,
!
die ein Thema vollständig durchdringen wollen
!
die sich alle als Lehrer und Schüler verstehen
!
die sich einem Thema ganz öffnen
!
die ihre wahren Überzeugungen und Erfahrungen äußern
!
die offen über Fehler und Misserfolge reden
!
die genügend Raum und Zeit für das Teilen dieser Erfahrungen zur Verfügung haben
!
die sich gegenseitig schützen
!
die nicht an bestehenden Konzepten festhalten, sondern bereit sind, alles neu zu überdenken
!
die einander zuhören und versuchen, ein gegenseitiges Verständnis zu erreichen
! die mit ihrem Wissen nicht in wirtschaftlichen Wettbewerb treten wollen
Als Beispiel aus der Praxis wird in diesem Zusammenhang die Linux Gemeinde immer
wieder genannt. Diese ‚open source’ Gemeinschaft beschäftigt sich mit der Weiterentwicklung eines Betriebssystems für Computer, dessen Quellcode für jedermann frei
zugänglich ist.
2.6
Von der virtuellen Organisation zur gesellschaftlich legitimierten Institution
„Virtuelle Organisationsformen stehen erst am Anfang der Institutionalisierungsphase“,
so Scholz (2000: 331). Ihre zunehmende Institutionalisierung als besonders für wissensintensive Prozesse geeignete Kommunikationsplattform wäre daher als Konsequenz zunehmender Wissensarbeit in einer Wissensgesellschaft anzunehmen.
Die vorindustriellen Institutionenlehren begründeten Institutionen als eine Erscheinung
der „übergeordneten Macht, die in dieser Welt für Ordnung, Gestalt und Form sorgt.“93
Zu den Institutionen zählten der Ackerbau, die Ehe,94 und natürlich Kirche und Staat,
die als „die Schwerter Gottes“ legitimiert waren und eine „außerordentliche Würde“
genossen. Übergeordnet als Zuchtmeister oder als Heilsweg waren Staat und Kirche
Institutionen – von oben gegründet – und dem moralischen Wesen Mensch und all
93
Jonas, Friedrich (1966): Die Institutionenlehre Arnold Gehlens. Tübingen (= Soziale Forschung und Praxis; Bd. 24), S. 2.
94
Vgl.: Hegel, Georg W. F. (1821 / 1972): Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 350, S.
298; § 203, Anmerkung, S. 181.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
28
seinen Schwächen verordnet.95 Auch heute noch prägen Institutionen das Zusammenleben in der Gemeinschaft. Sie sind soziale Einrichtungen, die auf Dauer bestimmen,
„‚was getan werden muß’.“96 Sie sorgen für Strukturen, definieren Regeln und bestimmen Ziele. Der Begriff ist in der Soziologie auch heute noch ein nicht eindeutig geklärtes Konzept.97 Esser (2000: 2) definiert Institutionen zunächst als „eine Erwartung über
die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen.“ Institutionen grenzen sich ab von Organisationen, „in denen soziale Regeln zwar angewandt
werden, die aber nicht allein daraus bestehen.“ Organisationen sind für einen bestimmten Zweck menschlichen Handelns eingerichtete soziale Gebilde. Institutionen repräsentieren dagegen die in den Erwartungen der Akteure verankerten und sozial verbindlich geltende Regeln des Handelns. Institutionelle Regeln „sind der Kern aller gesellschaftlichen Strukturen“.98 Institutionen sind der Versuch des Menschen, sich vor der
Überkomplexität der Welt zu schützen um durch individuelle Orientierung und kollektive
Ordnung Alltagsprobleme lösen zu können. In einer funktionalistischen Perspektive
sind Institutionen die Problemlösungen, die sich durchgesetzt haben, um die zentralen
Aufgaben der Gesellschaft zu erfüllen.
In Hinblick auf neu entstandenen Problemdimensionen ist der institutionelle Wandel
eine notwendige Bedingung, damit institutionelle Rahmenbedingungen auch in Zukunft
Sinn machen. „Institutioneller Wandel ist die Änderung einer bereits bestehenden institutionellen Ordnung.“99 Wird die Organisation von Nutzenproduktion ineffizient oder die
Interessen der Menschen an der Geltung der Institution widersprüchlich, führt dies zu
einer Änderung institutioneller Ordnung. Sozialer Wandel äußert sich auch in der Umund Neugründung von Institutionen; in der Neudefinition ihrer normativen Wirkung zur
Beschränkung der Beliebigkeit und Willkür sozialen Handelns und der Definition von
Pflichten als Resultante und Steuerungsinstanz des Handelns.100
Organisationen und Institutionen sind Bestandteile und Ausdruck kultureller Evolution
und es ist anzunehmen, dass sich durch neue Kommunikationskulturen Organisations-
95
Jonas, Friedrich (1966): Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, S. 2.
96
Lipp, Wolfgang (1998): Art. Institution, in: Schäfers, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, S. 148.
97
Vgl.: Esser, Hartmut (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 5: Institutionen. Frankfurt am Main / New York, S. 1.
98
Ebda., S. 6 f.
99
Ebda., S. 367.
Virtuelle Wissensnetze und Organisation
29
strukturen und damit verbunden auch die Institutionen verändern werden. Institutioneller Wandel geht von der „Basis“ aus; ist also ein „bottom-up“ Prozess.101 Neu entstehende Organisationen und Institutionen sind u. a. das Ergebnis einer neuen Kultur der
Kommunikation; aber auch einer neuen Kultur des Problembewusstseins und Problemverständnisses sowie der Notwendigkeit, multidimensionale Problemlagen angemessen bewältigen zum können.
Die Institutionalisierung, d. h. „die Einrichtung und Absicherung einer institutionellen
Ordnung mit Geltungsanspruch“102, hier: von virtuellen Organisationen, wird legitimiert
durch „[...] die auch subjektive Geltung der Institution bei den Akteuren als verbindliches und anerkanntes Modell des Handelns.“103
100
Lipp, Wolfgang (1998): Art. Institution, S. 148 ff .
101
Vgl.: Esser, Hartmut (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 5: Institutionen, S. 367.
102
Ebda., S. 38.
103
Ebda., S. 9.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
3
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
30
104
Abstract: Das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung ist eine Antwort auf globale und
multidimensionale Problemlagen. Klimaerwärmung, der Nord-Süd Konflikt, die digitale
Spaltung der Welt, der Umwelt- und Ressourcenverbrauch und die ungerechte Verteilung von Wohlstand stellen zentrale Herausforderungen für eine neue Weltordnungspolitik dar. Die Wissensgesellschaft und ihre Organisationskultur eröffnen für die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung völlig neue Möglichkeiten und Chancen. Die
Zukunftsfähigkeit – oder Nachhaltigkeit – erfordert ebenso wie die Umsetzung der
Nachhaltigkeitsziele nachhaltige Organisationsstrukturen zivilgesellschaftlicher Beteiligung und eine durch veränderte Rahmenbedingungen institutionalisierte Kultur politischer Auseinandersetzung.
3.1
Nachhaltige Entwicklung – Historischer Kontext
Die Geschichte des Begriffes Nachhaltigkeit geht bis in das frühe 18. Jahrhundert zurück. Der sächsische Oberberghauptmann von Carlowitz soll ihn – darauf deutet zumindest die Häufigkeit der Erwähnung dieser Quelle – erstmals im Jahre 1713 in seiner
Abhandlung „Sylvicultura Oeconomica“ gebraucht haben.105 Er gebrauchte ihn, um das
Prinzip einer nachhaltigen Forstwirtschaft zu bestimmen, dass nur soviel Holz in einem
bestimmten Zeitraum geschlagen werden darf wie auch nachwachsen kann. Die
Grundidee beschreibt also ein Erhaltungsziel, von den Erträgen einer Substanz zu leben und nicht die Substanz selbst aufzuzehren.106 Anfang des 20. Jahrhunderts gewann das Prinzip an Bedeutung in der Fischereiwirtschaft und in den 1940er Jahren
auch in den Wirtschaftswissenschaften.107 „Darüber hinaus fand es in der Folgezeit
allerdings keine Anwendung, nicht für Umwelt- und Ressourcen- und auch nicht für
104
Mehr zur Definition des Begriffs Wissensgesellschaft siehe u .a.: Stehr, Nico (2001): Wissen
und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, S. 117 – 131.
105
Vgl.: Kopfmüller, Jürgen; Brandl, Volker; Jörissen, Juliane; Paetau, Michael; Banse, Gerhard;
Coenen, Reinhard; Grunwald, Armin (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet.
Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin, S. 20.
106
Ebda., S. 21.
107
Ausführlicher in: Ebda., S. 21.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
31
intergenerative Verteilungsfragen.“108 Nicht nur in der Literatur des 19. Jahrhunderts
wurde die Frage gestellt: „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ (Leo Tolstoi, 1828 –
1910); auch die klassische Nationalökonomie befasste sich in der Zeit der beginnenden Industrialisierung mit den ökonomischen und sozialen Folgen von Besitzgier,
Wachstum und Naturverbrauch. Der britische Philosoph und Nationalökonom John
Stuart Mill (1806 – 1873) erkannte in seinen „Principles“ (1848), dass eine dem Primat
des Wachstums folgende Ökonomie die schonungslose Nutzung von Ressourcen sowie die Zerstörung natürlicher Lebensräume zur Konsequenz haben müsse.109 Der
vom Wachstum abhängige Fortschrittsbegriff ist aber seiner Natur nach endlich, da die
ökologischen Grenzen ein unendliches Wachstum verhindern. Daher liege „am Ende
des sogenannten Fortschrittzustandes der stationäre Zustand“, so Mill. In dieser späten
Stufe des menschlichen Fortschrittes stehe nicht mehr die Akkumulation von Kapital
und die bloße Zunahme der Produktion im Mittelpunkt menschlichen Handelns. Auch
der Konsum von (überflüssigen) Gütern, die außer als Schaustellung des Reichtums
„nur wenig oder gar keine Freuden“ verschafften, wird obsolet. In seinen Vorstellungen
eines stationären Zustandes von Kapital und Vermögen identifiziert Mill gleichzeitig die
soziale Ungleichheit als ein Verteilungs-, und nicht als ein Wachstumsproblem, welches mit dem Paradigma Fortschritt = Wachstum nicht zu lösen sei. Denn, so fährt er
fort:
„der beste Zustand für die menschliche Natur ist doch der, daß keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht, und niemand Grund zu der Furcht hat, daß er durch die Anstrengungen anderer, die sich selbst vorwärts drängen, zurückgestoßen werde.“ MILL (1921: 391 f.)
Mills Hoffnung, seine Nachwelt möge sich mit dem Ruhezustand zufrieden geben, „[...]
lange, bevor eine Notwendigkeit sie zwingt, sich mit ihm zufrieden zu geben“, wurde
nicht erfüllt und seine Idee einer Ökonomie des stationären Zustandes blieb Vision.110
108
Ebda.
109
Mill, John Stuart (1921): Grundsätze der politischen Ökonomie mit einigen ihrer Anwendungen auf die Sozialphilosophie. Nach der Ausgabe letzter Hand (7. Auflage 1871) übersetzt
von Wilhelm Gehrig und durchgesehen von Dr. Johannes Müller-Weimar. Zweiter Band, Jena
(= Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister; Band 18), S. 394 – 395.
110
Siehe hierzu das Kapitel über den stationären Zustand in den „Principles“: ebda., S. 387 –
396; mehr zur aktuellen Diskussion um eine „Steady State Ökonomie“ findet sich z. B. in:
Omann, Ines; Nordmann, Axel (2000): Gutes Leben statt Wachstum des Bruttosozialprodukts,
in: Boeser, C.; Schörner, T.; Wolters, D. (Hg.): Kinder des Wohlstands - Auf der Suche nach
neuer Lebensqualität. Mit einem Vorwort von Hans-Peter Dürr. Frankfurt am Main, S. 176193; einen ausführlichen Einblick in die Theoriegeschichte der Nachhaltigkeit bietet: Luks,
Fred (2001): Die Zukunft des Wachstums. Theoriegeschichte, Nachhaltigkeit und die Perspektiven einer neuen Wirtschaft. Marburg.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
32
Etwas mehr als 100 Jahre später wurden die Folgen der von Mill skizzierten Fortschrittslogik zu einer existenziellen Bedrohung für die Zukunft der Menschheit und der
globalen Ökosysteme. Der fortwährende Kampf menschlicher Wesen gegeneinander
und die Stimulation menschlicher Tatkraft durch den Kampf um Reichtum als eine
„notwendige Stufe für den Fortschritt der Zivilisation“111 überdauerten länger als gedacht. Die mit diesen Verhaltensmustern und Wertvorstellungen verbundenen Akkumulations-, Produktions- und Konsumgewohnheiten offenbarten jetzt die Widersprüche
zwischen Ökonomie und Ökologie. Mit dem Erscheinen des ersten Berichts des Club
of Rome mit dem Titel "Die Grenzen des Wachstums" im Jahre 1972 wurde erstmalig
einer ganzen Generation bewusst gemacht, dass die Ausbeutung der Erde, sowie sie
der Mensch betreibt, ihre Grenzen haben muss.112
Es vergingen 15 Jahre, bis im Jahre 1987 der Brundtland-Bericht der Weltkommission
für Umwelt und Entwicklung den Begriff einer „dauerhaften Entwicklung“ definierte, aus
dem sich das Konzept der Nachhaltigkeit entwickelte.113 Steigender Konsum und Ressourcenverbrauch, die gegenwärtigen ökologischen Probleme sowie der Nord-Süd
Konflikt erfordern spätestens seither eine neue Politik des langfristigen Denkens und
neue Verteilungs- und Governance- Mechanismen, die auf globaler Ebene Wohlstand
produzieren, für soziale Gerechtigkeit und für ein ökologisches Gleichgewicht sorgen
können. Der Brundtland-Bericht gilt als ein wichtiger Meilenstein in diesem Prozess
und hat seit seinem Erscheinen zu einer vermehrten Produktion von dafür relevantem
Wissen gesorgt.
111
Mill, John Stuart (1921): Grundsätze der politischen Ökonomie mit einigen ihrer Anwendungen auf die Sozialphilosophie, S. 391.
112
Der Club of Rome wurde im Frühjahr 1968 von europäischen Managern, Wissenschaftlern
und Politikern in Rom gegründet. Ihr Ziel war es, ein tieferes Verständnis für die komplizierten
Wechselwirkungen globaler politischer, kultureller, wirtschaftlicher und ökologischer Systeme
und der daraus resultierenden Probleme zu wecken. Siehe hierzu den vielbeachteten ersten
Bericht des Club of Rome: Meadows, Dennis; Meadows, Donella; Zahn, Erich; Milling, Peter
(1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit.
Stuttgart.
113
Siehe: Hauff, Volker (Hg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der
Weltkommission für Umwelt und Entwicklung.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
3.2
33
Strategien und Erfordernisse
Es sind drei Säulen oder Dimension, auf die sich das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung stützt. Ein Konzept für eine nachhaltige Entwicklung soll im Wesentlichen zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Interessen vermitteln um die strukturell erzeugten Ungleichgewichte als Resultat funktional differenzierter Gesellschaften
auszugleichen.114
Auf der Ebene der politischen Programmatik erfreut sich das Leitbild der nachhaltigen
Entwicklung „weltweit breiter gesellschaftlicher Zustimmung.“115 Es bleibt jedoch zunächst ein Konsens der kleinsten gemeinsamen Nenner. Angesichts der globalen
Probleme erscheint es vernünftig, gemeinsam für den Schutz der Umwelt zu plädieren,
sich für soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit auszusprechen und damit verknüpft auch ökonomisch profitieren zu wollen. Jedoch gibt es abseits der Bekenntnisse
zur Nachhaltigkeit „wenig Einverständnis über die Werte, von denen nachhaltige Entwicklung durchdrungen sein sollte.“116 Diese Kontroverse wird auch begründet durch
den Einfluß normativ-moralischer Aspekte im Konzept selbst, deren Gewichtungen und
Interpretation wesentlich von den Interessen, Wertvorstellungen und moralischen
Grundhaltungen gesellschaftlicher Akteure zu Entwicklungsfragen abhängen.117
Nachdem die Notwendigkeit zu einer nachhaltigen Entwicklung allgemein akzeptiert
scheint, richten sich daher die Fragen nunmehr nach dem „Wie“ ihrer Umsetzung.118
Dabei werden in Hinblick auf die ökologische Dimension sowohl Effizienz- als auch
Suffizienzstrategien diskutiert. Effizienzstrategien setzen vor allem auf technisch induzierte Lösungen für bessere „Input-Output-Bilanzen“, während die Suffizienzstrategien
grundsätzlich eine Abkehr „vom Denken in materiellen Wohlstandskategorien“ in den
Vordergrund stellen.119 Ein weiteres Problem der Integration von Nachhaltigkeitszielen
114
Siehe Kapitel 2.2 in dieser Arbeit.
115
Kopfmüller, Jürgen; Brandl, Volker; Jörissen, Juliane; Paetau, Michael; Banse, Gerhard;
Coenen, Reinhard; Grunwald, Armin (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet.
Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren, S. 13.
116
Redclift, Michael R.; Skea, James F. (1996): Globale Umweltveränderungen: Der Beitrag der
Sozialwissenschaften, in: Diekmann, Andreas; Jaeger, Carlo C. (Hg.): Umweltsoziologie,
S. 388.
117
Vgl.: Kopfmüller, Jürgen; Brandl, Volker; Jörissen, Juliane; Paetau, Michael; Banse, Gerhard;
Coenen, Reinhard; Grunwald, Armin (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet.
Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren, S. 29.
118
Vgl.: Ebda., S. 33.
119
Vgl.: Ebda.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
34
ist ihre Operationalisierung. Begründete Nachhaltigkeitsregeln müssen formuliert werden und in Form von Indikatoren messbar gemacht werden. Um Regeln zu formulieren
und ihre Akzeptanz zu sichern bedarf es jedoch eines breiten Konsens und der Anerkennung dieser Regeln. Nachhaltige Entwicklung impliziert in der Tat weitreichende
gesellschaftliche Veränderungen, die „nicht ohne tiefgreifenden Wandel der dominanten Produktions- und Konsumptionsmuster“, einer „Neuorientierung von Planungs- und
Entscheidungsprozessen“ und ebenfalls nicht ohne neue Verteilungs- und Governance- Mechanismen bewältigt werden können.120 Das Konzept der Nachhaltigkeit ist ein
langfristig angelegtes Projekt und seine Umsetzung erfordert integrierte Lösungsansätze und strukturelle Veränderungen, die sich nicht nur in der Umsetzung der einen oder
der anderen Strategie erschöpfen werden. „Denn nur wenn sich technische Innovationen und sozialer Wandel wirksam ergänzen, können die Umweltprobleme, die sich
heute im lokalen wie globalen Maßstab stellen, gelöst werden.“121
In diesem Prozess des vorauszusetzenden sozialen Wandels spielen die Organisationen der Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Funktionale Ziele der Organisationen
können durch Inhalte des Nachhaltigkeitskonzeptes beeinflusst werden, sodass sie
ihre Strukturen und Wertvorstellungen entsprechend anpassen müssen. Dies macht
Organisationsstrukturen in doppeltem Sinne nachhaltig. Zum einen bezogen auf die
erfolgreiche Umsetzung der Organisationsziele unter den Bedingungen der Nachhaltigkeit zur eigenen Existenzsicherung und zum anderen durch die Effekte der Umsetzung so veränderter Organisationsziele auf die gesamte Gesellschaft. Organisationen
werden so zum Mittel des Zwecks Nachhaltigkeit und können dafür sorgen, dass sich
nachhaltige Strukturen institutionell verfestigen und sich in den Institutionen der Gesellschaft fortpflanzen. Die Vernetzungskultur neuer Organisationsformen könnte so für
eine entsprechende Kopplung der Systeme sorgen und wäre ein wichtiges Stabilitätskriterium für das Erkennen objektiver ökologischer Gefahren. So könnten Wissensnetze institutionelle Konfigurationen darstellen, „die nicht nur die partikularen Resonanzen
erhöhen, sondern auch dazu beitragen, die gesellschaftsinternen Grenzen selektiver
Informationsverarbeitung zu überschreiten.“122
120
Vgl.: Ebda.
121
Diekmann, Andreas; Jaeger, Carlo C. (1996): Aufgaben und Perspektiven der Umweltsoziologie, S. 24.
122
Kopfmüller, Jürgen; Brandl, Volker; Jörissen, Juliane; Paetau, Michael; Banse, Gerhard;
Coenen, Reinhard; Grunwald, Armin (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet.
Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren, S. 305.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
3.3
35
Nachhaltige Wissensgesellschaft
„Etwa alle zwölf Jahre verdoppelt sich die Menge wissenschaftlicher Informationen. Der aktuelle Wissensbestand ist heute 16-mal so groß wie vor 50 Jahren; in noch einmal 50 Jahren wird er 256-mal so groß sein“ (müssen).
ZIMMER (2000: 45)
HEGMANN (2000: 19) meint in diesem Zusammenhang, man solle „deshalb eher von
einer Unwissens- als von einer Wissensgesellschaft sprechen.“123 Tatsache ist jedoch,
dass die sogenannte Wissensgesellschaft große Mengen an Wissen produziert. Durch
neue Möglichkeiten der Informationstechnologie verbreitet sich dieses Wissen zudem
schneller als früher. „Wissen ist die einzige Ressource, welche sich durch Gebrauch
vermehrt“.124 Gebrauch von Wissen statt Verbrauch von Ressourcen sorgt für Innovationen, die eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch beschleunigen können, um so dem von Mill, der diesen Produktionsfaktor noch nicht berücksichtigte, erträumten Idealzustand näher zu kommen. Wissen könnte dabei als
Machtfaktor und als ‚neutrale’ Ressource die alte Wachstumslogik zu durchbrechen
helfen und die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung beschleunigen.
Ein Indiz für die positiven Auswirkungen der Wissensgesellschaft könnte der Primärenergieverbrauch in Deutschland sein. Während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1991 und 1999 in Deutschland real um annähernd 11 Prozent zunahm, sank der
Primärenergieverbrauch (PEV) total um ca. 3 Prozent – die ‚Energie-Effizienz’ ist also
erheblich gestiegen und der Ressourcenverbrauch im Energiesektor hat sich vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt.125 Zu Verdanken ist dies sicherlich auch den Innovationen alternativer Energieerzeugung sowie Effizienzsteigerungen durch Kraft-Wärme
Kopplung etc. Gleichzeitig aber ist der PEV im weltweiten Vergleich von 1990 bis 1997
um mehr als 10 Prozent gestiegen.126
Die Wissensgesellschaft führt aber bei weitem nicht „automatisch in ein gesellschaftliches und ökologisches Paradies“. Die „vermeintlich materielose“ Wissensgesellschaft –
123
Hegmann, Horst (2000): Die Konsequenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts
für die normative Demokratietheorie, in: Simonis, Georg; Martinsen, Renate; Saretzki, Thomas (Hg.): Politik und Technik. Analysen zum Verhältnis von technologischem, politischem
und staatlichem Wandel am Anfang des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden (= Politische Vierteljahresschrift; Sonderheft 31/2000), S. 19.
124
Probst, G.; Raub, Steffen; Romhardt, K. (1999): Wissen managen. Wie Unternehmen ihre
wertvollste Ressource optimal nutzen, S. 17.
125
Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2000) (Hg.): Zahlen und Fakten.
Energie Daten 2000. Nationale und internationale Entwicklung. Bonn, S. 11.
126
Ebda., S. 38.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
36
symbolisiert z. B. durch das papierlose Büro – produziert erhebliche Mengen an Computerschrott und schleppt einen gewaltigen „ökologischen Rucksack“.127 Die aus der
technischen Weiterentwicklung und unter Einsatz von Wissen ermöglichten Innovationen etwa in der Heimelektronik- und Computerbranche sorgen für immer neuere Produkte und schnellere Produktzyklen, die zwar die jeweiligen Geräte immer kleiner und
leistungsfähiger machen, die aber auch in größeren Stückzahlen produziert und verkauft werden können und verkauft werden. Ähnliche Entwicklungen sind im Automobilsektor zu beobachten, wo die Ausstattungen und Motorleistungen immer üppiger werden. Ein wichtiger Beitrag zur Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung ist es daher,
diese ‚Rebound-Effekte’ einzudämmen und Ideen zu entwickeln für eine “Ecological
Information Society“ (Eco-Info-Society, EIS).128
Um eine Nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft erfolgreich zu verankern wird die
große Herausforderung sein, strukturbildende Maßnahmen zu entwickeln, die die Voraussetzungen für die Generierung und Weitergabe von definiertem und zielorientierten
Wissen schaffen können. Diese Maßnahmen betreffen nicht nur die Leitlinien von Forschungsprogrammen; sie sind genauso relevant für die Umsetzung in der Bildungspolitik. Die Herausforderungen unter den Bedingungen einer nachhaltig zu gestaltenden
Wissensgesellschaft erfordern dort, wo es nötig wird, überdies die strukturelle Überwindung funktional differenzierter Teilsysteme und die Überführung in eine neue Kultur der
Kooperation und Kommunikation. Die komplexen Rahmenbedingungen einen Nachhaltigen Wissensgesellschaft erfordern von den Organisationsmitgliedern, über ihren „Tellerrand“ hinaus zu schauen. Die Vernetzung von Wissensträgern auch über Organisationsgrenzen hinweg zu Wissensgemeinschaften vermag es dann, die Innovationspotenziale so zu aktivieren, dass sie zwar der Erreichung der Organisationsziele dienlich
sind und trotzdem – im institutionellen Rahmen eingebunden – auch einen Teilsysteme
übergreifenden Nutzen haben. Zweifellos könnten sie so auch dazu beitragen, notwendige soziale und institutionelle Innovationen zu entwickeln. Ein weiter gefasstes – und
nicht nur technisches – Innovationsverständnis böte die Grundlage dafür, „äußere Restriktionen zu überwinden, die eine Nachhaltige Entwicklung heute noch blockieren.“129
Für SCHNEIDEWIND (2002: 203) ist eines jedoch klar: „Eine Nachhaltige Wissensgesell-
127
Vgl.: Schneidewind, Uwe (2002): Nachhaltige Wissensgesellschaft, S. 191.
128
Quelle: www.seri.at/eis; zuletzt aufgerufen am 11. November 2001.
129
Schneidewind, Uwe (2002): Nachhaltige Wissensgesellschaft, S. 199.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
37
schaft wird sich nicht von selbst einstellen. Sie braucht die aktive Gestaltung durch
Akteure in Unternehmen, Politik und Gesellschaft.“
„Es wird weithin angenommen, dass wir die Zeugen der Geburt der wissensgestützten Gesellschaft sind, in der die wirtschaftliche und soziale Entwicklung weitgehend von verschiedenen Wissensformen und von der Erzeugung, dem Erwerb, der Nutzung und Wiederverwertung von Wissen abhängt.“
CABRERA (2001: 34)
Weiterhin kann angenommen werden, dass die soziale und wirtschaftliche Entwicklung
weder auf die ökologische Dimension noch auf institutionelle Reformen verzichten
kann, wenn wir unsere Existenz und die zukünftiger Generationen erhalten wollen. Daher ist es nicht nur wichtig, dass Wissen generiert und ausgetauscht wird, sondern es
ist vor allem wichtig, welches Wissen produziert wird.
Eine Wissensgesellschaft nachhaltig zu gestalten erfordert daher:
„die Suche nach Organisationsformen moderner Gesellschaften, die unter Rückgriff auf die
Möglichkeiten neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) viele der zu beobachtenden ökologischen und sozialen Nebenfolgen moderner Industriegesellschaften zu
beherrschen fähig sind.“
SCHNEIDEWIND (2002: 192)
3.4
Die kulturell-institutionelle Dimension
Die kulturell-institutionelle Dimension der Nachhaltigkeit soll hier verstanden werden
als die Basis für Veränderungen der Organisationsumwelt und ihre Auswirkungen auf
institutionelle Rahmenbedingungen als gültige Orientierung des Handelns. Eine Bezeichnung als vierte Dimension der Nachhaltigkeit würde ihrer Bedeutung nicht gerecht; vielmehr ist sie eine abstrakte Notwendigkeit um dem Anspruch einer nachhaltigen Entwicklung gerecht zu werden und unbedingte Voraussetzung ihrer Implementierung. Kulturell-institutionelle Innovationen und Reformen sind der Ausgangspunkt für
die Fragen zur Integration von Nachhaltigkeit.
Nachhaltige Entwicklung als normativ-moralisches Konzept äußert sich auf der Werteebene und ihre Umsetzung verändert potentiell die Organisationsziele. Die Integration
des Leitbildes wird so zu einer notwendigen Organisationsfunktion. Aufgabe organisationaler Lernprozesse ist die Eingliederung der Werteebene in die Organisation. In diesem Lernprozess gewinnt die Übereinstimmung der Organisationsmitglieder mit den
Organisationszielen und den damit verbundenen Sinnzusammenhängen an Bedeutung, die sich direkt auf die Motivation der Mitglieder auswirken. Besonders in Organi-
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
38
sationen des Dritten Sektors verlieren „die klassischen Kontrollmedien Geld und
Macht“ an Einfluß und weichen einer wertorientierten sozialen Motivation.130 Die Kultur
der Organisation repräsentiert die „Sinnpotenziale der Motivation“ und ermöglicht
institutionelle Identifikation.131 Sinn als „die von uns selbst ins ‚Dickicht der Lebenswelt’
geschlagenen Perspektiven“ konstruiert sich durch die Kultur „unserer kommunikativen
Kontexte und Kompetenzen“. Kommunikationstheoretisch wird Kultur daher verstanden
als die „Kommunikation von ‚Sinn’.“132 Wissen kann Werte verändern. Werte können
Sinn verändern. Durch Interaktion und Reflexion, Dialoge und Diskurse entwickelt sich
der „handlungsleitende und gemeinschaftsbildende Sinn“ und verändert die Kultur
menschlicher und gesellschaftlicher Re-Produktion.133
Umweltbewusstsein als Wert scheint in den meisten westlichen Ländern relativ stark
verankert. Gleichzeitig ist die Korrelation der Umwelteinstellungen mit alltäglichen Verhaltensweisen nur gering. Eine Analyse von Umfragen aus den 1980er und 90er Jahren zeigt, dass das Umweltproblem immer dann als besonders wichtig erscheint, „wenn
es – in Verbindung mit anderen gesellschaftspolitischen Problemen – auf einer separaten Rating-Skala erhoben wird.“ Befragt man allerdings die Personen nach einer
Rangordnung der wichtigsten Probleme, so „kann es mitunter vorkommen, daß das
Umweltproblem auf der Dringlichkeitsskala weit nach hinten abrutscht.“134 PREISENDÖRFER
/ FRANZEN (1996: 221) schließen daraus, „daß das Umweltproblem leicht Ge-
fahr läuft, angesichts scheinbar dringenderer, aktueller Probleme aus dem Blickfeld der
Bevölkerung zu verschwinden.“ Ebenfalls „bedeutend niedriger“ fällt die Zustimmung
der Befragten für den Umweltschutz aus, wenn damit Kosten oder etwa ein niedriger
Lebensstandard verbunden wären.135 RENN vertritt (1996: 28) die Ansicht, dass es die
wesentliche Aufgabe der Sozial- und Kulturwissenschaften sei, „die Reflexion über die
kulturellen Ziele und über die Mittel der Naturveränderung sowie die Hilfestellung bei
der Abwägung von Zielkonflikten“ zu ermöglichen.
130
Pankoke, Eckart; Stellermann, Rolf (2000): Werte und Wissen im Wandel. Zur kommunikativen Kultur organisationalen Lernens, S. 105.
131
Vgl.: Ebda.
132
Vgl.: Ebda., S. 101 ff.
133
Vgl.: Ebda., S. 116.
134
Vgl.: Preisendörfer, Peter; Franzen, Axel (1996): Der schöne Schein des Umweltbewusstseins. Zu den Ursachen und Konsequenzen von Umwelteinstellungen in der Bevölkerung, in:
Diekmann, Andreas; Jaeger, Carlo C. (Hg.): Umweltsoziologie, S. 219 ff.
135
Ebda., S. 222.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
39
Kultur ist ein Prozess, sich eine durch Arbeit gestaltete Umwelt zu schaffen. „Die kulturelle Gestaltung der Natur setzt aber die Existenz von Leitbildern und Vorstellungen
über Ursachen und Wirkungen voraus. Beides ergibt sich im sozialen Prozeß der
Wertbildung und der Wissensgenerierung.“136 „[...] Unsere Art, Umweltprobleme zu
formulieren, als auch unsere Handlungen zur Abwehr oder Linderung solcher Probleme“ sind im Wesentlichen soziale Prozesse.
REDCLIFT / SKEA (1996: 387 f.) stellen fest, „[...], daß wir, solange wir die Umweltprobleme mit unseren heutigen Werten zu lösen versuchen, höchstwahrscheinlich aus dem
wachsenden Wissen über die globale Umwelt wenig Nutzen ziehen werden.“
Organisationen wie Umweltverbände oder ökologische Forschungsnetzwerke als die
institutionalisierten kulturellen Produkte der Auseinandersetzung mit Umweltproblemen
thematisieren aber mit zunehmendem Einfluss die ökologischen Auswirkungen und
repräsentieren so einen auch durch neues Wissen ausgelösten Wertewandel.137
3.5
Wissen als Ereignis
STEHR (2001: 119) begreift Wissen als konstitutiven Mechanismus einer Gesellschaft,
deren Identität durch Wissen bestimmt sein wird.138 Wissen gewinnt eine zunehmende
Bedeutung als Produktivkraft im Produktionsprozess; aber auch „als Ressource und
Basis sozialen Handelns“.139 Die Potentiale von Wissen und seine Auswirkungen als
gestaltendes Element erhalten so ihre gesellschaftstheoretische Relevanz.
Das Abstraktum Wissen wird definiert zunächst als Abgrenzung von Zeichen, Daten
und Informationen. „Die Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen werden häufig als
Anreicherungsprozeß dargestellt.“140 W ILLKE (1998: 7 ff.) unterscheidet Daten und In-
136
Renn, Ortwin (1996): Rolle und Stellenwert der Soziologie in der Umweltforschung, in: Diekmann, Andreas; Jaeger, Carlo C. (Hg.): Umweltsoziologie, S. 31.
137
Vgl.: Redclift, Michael R.; Skea, James F. (1996): Globale Umweltveränderungen: Der Beitrag der Sozialwissenschaften, S. 381.
138
Stehr, Nico (2001): Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, S. 219.
139
Stehr, Nico (1994): Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften.
Frankfurt am Main, S. 39; zitiert nach: Degele, Nina (2000): Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft, S. 37.
140
Probst, Gilbert; Raub, Steffen; Romhardt, Kai (1999): Wissen managen. Wie Unternehmen
ihre wertvollste Ressource optimal nutzen, S. 36 ff.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
40
formationen dadurch, dass Daten, „durch Einbindung in einen ersten Kontext von Relevanzen, die für ein bestimmtes System gelten“, zu Informationen werden.141 Wissen
ist aggregierte und verarbeitete Information – eine Information höherer Ebene142 – und
„entsteht durch den Einbau von Informationen in Erfahrungskontexte, die sich in Genese und Geschichte des Systems als bedeutsam für sein Überleben und seine Reproduktion herausgestellt haben.“143 Somit ist Wissen als Struktur und Prozess analysierbar. Wissen als Struktur „umfasst kognitive Bestände, die allerdings nicht personal gebunden sein müssen. In dieser Perspektive bildet Wissen die Ressource für soziales
Handeln.“144 Systemtheoretisch ist Wissen nicht nur die Grundlage (Ressource), sondern zugleich auch „Mittel (Form) der Kommunikation, also der Operationsweise der
Gesellschaft.“145 Die Gesellschaft ist alles kommunikativ Erreichbare. Damit ist jede
Mitteilung von Informationen und Wissen an Kommunikation gebunden.
LUHMANN (1987: 203) unterscheidet den Kommunikationsprozess als Synthese der
Kategorien Information, Mitteilung und Verstehen. Grundsätzlich kann also neues Wissen als selektierte Information durch die Auswahl geeigneter Medien und der Entscheidung des Empfängers, wie diese Nachricht zu behandeln ist, in ein System gelangen.146 Es geht hier nicht um die bloße Übertragung von Informationen, sondern vielmehr um die Emergenz der Kommunikation, so DEGELE (2000: 45).
Für den Nachhaltigkeitsdiskurs ist der Umgang mit Informationen und Wissen unter
den Bedingungen der Generierung und Selektion von neuem Wissen daher insofern
von Bedeutung, da dieser Umstand zu einer Sicht zwingt, dass Wissen nur durch einen
Kommunikationsprozess gesellschaftlich wirksam werden kann.147 Wissensbestände
müssen aktiviert werden, um eine Bedeutung zu erlangen.148
141
Willke, Helmut (1998): Systemisches Wissensmanagement, S. 8.
142
Vgl.: Degele, Nina (2000): Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten
Gesellschaft, S. 46.
143
Willke, Helmut (1998): Systemisches Wissensmanagement, S. 11 f.
144
Vgl.: Degele, Nina (2000): Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten
Gesellschaft, S. 40.
145
Ebda.
146
Vgl.: Ebda.
147
Vgl.: Ebda., S. 45.
148
Vgl.: Ebda.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
41
Soziale Kontexte und ihre entsprechenden Verwendungszusammenhänge sorgen dafür, dass sich Akteure Wissen aneignen.149 Wissen als kommunikativer Sachverhalt ist
somit ein Vermittlungsfaktor zwischen Wissensträgern und Gesellschaft und gleichzeitig Ergebnis und Grund von Irritationen. Wissen entsteht durch Überraschungen und
Enttäuschungen als Reaktion auf Irritationen und ist ein Ergebnis direkter und indirekter struktureller Kopplungen im Gesellschaftssystem.150 Wissensbasierte Operationen
durchdringen die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion. „Wissen bewirkt etwas in der Welt.“151
Wissen als Kommunikation wird zum Ereignis – einem temporalisierten Element autopoietischer Systeme als Einheit der Differenz eines Vorher und Nachher.
3.6
Steuerungsmöglichkeiten
Die Steuerungsproblematik ist eng verknüpft mit der Frage nach den gesellschaftlichen
Akteuren, die einen für die Umsetzung der Nachhaltigkeit notwendigen „institutionellen
Wandel initiieren und vorantreiben“ können.152 Ohne ein „erhebliches Maß an Steuerungsfähigkeit“ können die Veränderungen für eine zukunftsfähige Gesellschaft nicht
realisiert werden.153 Steuerung im politikwissenschaftlichen Kontext bezeichnet zunächst die Fähigkeit zur „konzeptionell orientierten Gestaltung der gesellschaftlichen
Umwelt durch politische Instanzen.“154 Neben dem Staat (Macht, Recht) zählte u. a.
Luhmann „auch das Geld zu den generalisierten Kommunikations- bzw. Steuerungs-
149
Vgl.: Ebda., S. 44.
150
Vgl.: Ebda., S. 41.
151
Vgl.: Ebda., S. 48.
152
Schneidewind, Uwe; Feindt, Peter H.; Meister, Hans – P.; Minsch, Juerg; Schulz, Tobias;
Tscheulin, Jochen (1997): Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit: Vom
Was zum Wie in der Nachhaltigkeitsdebatte, in: Gaia 6 (1997), No. 3, S. 185.
153
Vgl.: Kopfmüller, Jürgen; Brandl, Volker; Jörissen, Juliane; Paetau, Michael; Banse, Gerhard;
Coenen, Reinhard; Grunwald, Armin (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet.
Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren, S. 307.
154
Mayntz, Renate (1997): Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodologische Überlegungen. Frankfurt am Main / New York (= Schriften des Max-PlanckInstituts für Gesellschaftsforschung Köln; Bd. 29), S. 189.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
42
medien“, und rückte den „Markt als eine alternative Steuerungsform ins Zentrum der
Aufmerksamkeit.“155
Ohne Zweifel scheint in den letzten 25 Jahren „ein tiefgreifender Formwandel der staatlichen Aufgabenerfüllung stattgefunden“ zu haben.156 Das bedeutet, dass der Staat
dabei nicht seine Bedeutung verliert, sondern dass er veränderte Rollen einnimmt. „Politik als Ausdruck für die ‚Lösung gesellschaftlicher Probleme’“ bleibt nicht auf den Staat
beschränkt, „sondern vollzieht sich heute auf diversen Akteurebenen und in verschiedenen Akteurkoalitionen“157; gekennzeichnet durch ein stark binnendifferenziertes politisch-administratives System und einer „Vielzahl von korporativen Akteuren in den
meisten gesellschaftlichen Regelungsfeldern“.158 Hierbei nimmt der Staat die Rolle eines Vermittlers und Moderators zwischen den Akteuren ein. SCHNEIDEWIND ET AL
(1997: 186) machen dafür im Wesentlichen zwei Gründe aus: Zum einen „die Angewiesenheit des Staates auf die Informationen der gesellschaftlichen Akteure“ und zum
anderen die Notwendigkeit, „diese zu aktiven eigenen Leistungen und Verhaltensänderungen zu motivieren“. „Der große Trend ist als Übergang von der zentralen Steuerung
hin zur Hilfe zur Selbststeuerung beschrieben worden.“159
Luhmann, der mit seiner Systemtheorie die kollektivistische Position besonders betont,
gesteht (zumindest) „den Individuen keinen eigenen, außerhalb der Funktionsprinzipien
der sozialen Systeme liegenden Gestaltungsspielraum“ zu.160 Und auch nicht dem politischen System. Betreffend den „output“ des politischen Systems geht er davon aus,
dass für politisches Entscheiden im Wohlfahrtsstaat nur Recht und Geld als Wirkungs-
155
Eine „dritte wichtige Steuerungsform“ ist die „Gemeinschaft oder Solidarität“ und weiterentwickelt die „soziale Steuerung“. Vgl.: Ebda., S. 189.
156
Schneidewind, Uwe; Feindt, Peter H.; Meister, Hans – P.; Minsch, Juerg; Schulz, Tobias;
Tscheulin, Jochen (1997): Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit: Vom
Was zum Wie in der Nachhaltigkeitsdebatte, S. 185; vgl. dazu auch Mayntz, Renate (1997):
Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodologische Überlegungen, S. 283 f.
157
Schneidewind, Uwe; Feindt, Peter H.; Meister, Hans – P.; Minsch, Juerg; Schulz, Tobias;
Tscheulin, Jochen (1997): Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit: Vom
Was zum Wie in der Nachhaltigkeitsdebatte, S. 183.
158
Mayntz, Renate (1997): Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodologische Überlegungen, S. 275.
159
Schneidewind, Uwe; Feindt, Peter H.; Meister, Hans – P.; Minsch, Juerg; Schulz, Tobias;
Tscheulin, Jochen (1997): Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit: Vom
Was zum Wie in der Nachhaltigkeitsdebatte, S. 186.
160
Siebenhüner, Bernd (2001): Homo sustinens – Auf dem Weg zu einem Menschenbild der
Nachhaltigkeit, S. 232.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
43
formen zur Verfügung stehen. „Alle anderen Wirkungsmittel, etwa direktes Einwirken
auf Überzeugungen und Motive des Bürgers, treten demgegenüber zurück.“161 Die
Kommunikationsmedien Geld und Macht der jeweiligen Teilsysteme „wirken als Handlungsauslöser selbst dann, wenn es um ein Verhalten geht, daß der Mensch, anthropologisch gesehen, von sich aus nie ausführen würde.“162 In Hinblick auf mögliche politische Steuerung bedeute die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme
zugespitzt, dass die Gesellschaft „über keine Zentralorgane verfügt. Sie ist eine Gesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum. [...] Die moderne Gesellschaft ist ein System
ohne Sprecher und ohne innere Repräsentanz.“163
So konstatiert auch MAYNTZ (1997: 286):
„Auf der Ebene des Gesamtsystems findet keine Steuerung statt, sondern lediglich Strukturbildung und Strukturwandel. Das bedeutet, daß es zwar Steuerung in der funktionell differenzierten Gesellschaft gibt, aber keine politische Steuerung der Gesellschaft.“
Ist es eine Schwäche in der Theorie Luhmanns, dass das politische System nicht als
Steuerungszentrale über die anderen Systeme anerkannt wird, sondern nur als ein
System wie jedes andere auch; ja vielleicht sogar anderen dominanten Systemen untergeordnet ist? Oder ist diese Analyse vielmehr eine Herausforderung? Bei aller Kritik
am Luhmannschen Steuerungspessimismus164 ist gerade dieser „für die Nachhaltigkeitsdebatte von größter Wichtigkeit“:
„Denn ohne die Beantwortung der von der Systemtheorie aufgeworfenen Fragen ist nicht
einsehbar, wie eine realistische Gestaltung von Institutionen erfolgen könnte, die einerseits
erfolgreich den Weg in eine nachhaltige Entwicklung eröffnet, ohne andererseits zentralistische (und letztendlich der Gefahr totalitärer Mechanismen ausgesetzten) Strukturen zu
schaffen.“
KOPFMÜLLER ET AL (2001: 308; Fußnote)
In Hinblick auf die Gestaltungskraft von Organisationen könnten sich die Möglichkeiten
der Steuerung etwas aufhellen. LUHMANN (1994: 195) bezeichnet eine gesellschaftliche
Funktion von Organisationen als „Verdichtung von strukturellen Kopplungen zwischen
Funktionssystemen“. Strukturelle Kopplung bezeichnet hier die kausalen, nicht operativen Interdependenzen zwischen System und Umwelt. Die Auswirkungen kausaler In-
161
Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 151.
162
Ebda., S. 20 f.
163
Ebda., S. 22.
164
Vgl. z. B.: SCHARPF (1989: 10-21); MAYNTZ (1997: 274); siehe auch Kapitel 1.3.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
44
terdependenzen – bspw. Umweltprobleme – können durch Organisationen verstärkt
werden. Diese „mehrsprachigen Organisationssysteme“ können sich „dank eigener
Autopoiesis (und nur so!) durch mehrere Funktionssysteme irritieren lassen“.165 Er bezweifelt trotzdem, dass durch solche „Sensibilitäten“ Steuerungschancen verbessert
werden könnten. Erklärungen zur zukünftigen Politik etwa oder Eingriffe in den Finanzmarkt wirken als Steuerungsereignisse.166 „Und da die Ereigniseffekte rascher
wirken als die intendierte Änderung der Bedingungen künftigen Handelns, macht die
Steuerung die Steuerung selbst oft obsolet.“167 Dennoch: LUHMANN (1994: 196) gesteht
den Organisationen zu, als Impulsgeber wirken zu können.
„Systeme bestehen aus Operationen, das heißt aus Ereignissen. Im üblichen Steuerungskonzept denkt man nur an die Änderung der Bedingungen künftigen Handelns, also der
Strukturen, der Programme, der Parameter. Man müsste zusätzlich mehr auf die Einführung
dieser Änderungen achten, das heißt: auf Steuerung als Ereignis.“
LUHMANN (1989: 8)
Die Chancen der Wissensgesellschaft könnten darin begründet sein, mit Wissen – als
Ereignis kommuniziert, Steuerungseffekte auszulösen. Der Steuerungsimpuls Ereignis
Wissen ist so zu verstehen als eine System-Umwelt-Differenz. Relevantes Wissen
könnte dann dazu beitragen, die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu erhöhen.
3.7
Wissensnetze: Schnittstellen im Willensbildungsprozess
Die gesellschaftlichen Teilsysteme lassen sich aufgrund ihrer selbstreferentiellautopoietischen Reproduktion grundsätzlich „nicht durch externe Einwirkung steuern.“
Eine wechselseitige Perturbation der verschiedenen Funktionssysteme, „deren interne
Verarbeitung Veränderungen auslöst“, tritt an die Stelle von Steuerung, bzw. muss zum
Gegenstand der Steuerung werden.168 Begreift man nun die „inhaltliche Funktionsbestimmung der Politik“ als Management der teilsystemischen Interdependenzen, kann
165
Luhmann, Niklas (1994): Die Gesellschaft und ihre Organisationen, S. 196.
166
Vgl.: Luhmann, Niklas (1989): Politische Steuerung: Ein Diskussionsbeitrag, in: Politische
Vierteljahresschrift, 30 Jg., Heft 1, S. 8.
167
168
Ebda., S. 8.
Vgl.: Mayntz, Renate (1997): Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und
methodologische Überlegungen, S. 271.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
45
das Steuerungsdefizit abgebaut und „die fehlende Aufmerksamkeit der autonomen
Subsysteme für ihre Umwelt kompensiert“ werden.169
Der Formwandel staatlicher Aufgabenerfüllung durch die Mitwirkung korporativer Akteure an Gestaltungsprozessen ist ein Ausdruck des Managements gesellschaftlicher
Interdependenzen. Der Begriff des Korporatismus bezeichnet zunächst die unterschiedlichen Formen der Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen. Die politische Reorganisation von Gesellschaft durch korporatistische Ordnungsmodelle und Realisierungsversuche findet ihre Ausdruck u. a. in
Prozessen der Selbstorganisation der Zivilgesellschaft mit vernetzten Strukturen gegenseitiger Konsultationen und partizipativer Entscheidungsformen. Eine dritte Governanceform, die der sozialen Steuerung, vermittelt in Gestalt von Netzwerken und Verhandlungssystemen zwischen Staat und Markt.170 Die Organisationen der Zivilgesellschaft eröffnen als Verhandlungspartner des Staates kooperative Formen der Problembearbeitung und spielen bei dem Formwandel eine große Rolle.
WILLKE (1998: 375) fände es „in der Tat merkwürdig“, würden die tiefgreifenden Veränderungen beim Umbau der Industrie- zu einer Wissensgesellschaft nicht die Suprastrukturen betroffener Gesellschaften erfassen. Als Suprastrukturen bezeichnet er die
„institutionellen Verfestigungen, Regelsysteme, Steuerungsregime, kulturellen Orientierungen und (die) kollektiven Identitäten sozialer Systeme.“171 Die klassischhierarchischen Strukturen der Systemsteuerung verändern sich durch eine Abflachung
der Hierarchien hin zu Heterarchien. Die hochspezialisierte Arbeitsteilung weicht „einer
eher ganzheitlichen und integrierten Aufgabenbewältigung durch Projektteams, temporäre Arbeitsgruppen, autonome Geschäftseinheiten oder lose gekoppelte Netze von
Experten.“172 Macht und Geld verlieren durch diese Prozesse an Einfluß als Steuerungsmedien. „Die kostbarste und knappste Ressource des neuen Steuerungsregimes
ist Wissen und Expertise.”173
Der gegenwärtig stattfindende Transformationsprozess der Lösung vom Nationalstaat
mit einem klassischen Verständnis staatlicher Aufgaben und in Deutschland mit einem
169
Ebda., S. 273.
170
Mehr zu den Begrifflichkeiten ‚Netzwerke’ und ‚Verhandlungssysteme’ vgl.: Ebda., S. 277 f.
171
Willke, Helmut (1998): Systemisches Wissensmanagement, S. 375.
172
Ebda.
173
Ausführlicher in Ebda., S. 375 ff.
Nachhaltigkeit und Wissensgesellschaft
46
„institutionellen Setting“, das sich zur Überwindung der Herausforderungen der 1950er
und 60er Jahre herausgebildet hat174, hin zu einer Integration in die Europäische Union mit supranationalen Strukturen und veränderten Steuerungsregimes führt zwangsläufig zu Verunsicherungen und (zumindest in der Übergangszeit bis zur Neukonstitution) zu demokratischen Defiziten. SCHNEIDEWIND ET AL (1997: 184) konstatieren “die
Wiederkehr der demokratischen Frage”. Zum einen durch die „allmähliche Entfremdung“ der Bürger vom politischen Leben und zum anderen durch einen Verlust an
Steuerungskapazität demokratische legitimierter nationaler Regierungen “im Zuge der
ökonomischen Globalisierung.” Aktivierte Selbstorganisationspotenziale jenseits staatlichen Handelns können die Umsetzung einer Politik der Nachhaltigkeit fördern. Diese
Ansätze zielen auf eine Stärkung der Beteiligungsrechte der Bürger als Ausgangspunkt
jedes politischen und gesellschaftlichen Engagements, um so der zunehmenden Politikverdrossenheit entgegenzuwirken, die auch auf die mangelnde Beteiligung der Bürger an politischen Willensbildungsprozessen zurückgeführt wird.175
In der Tat ist es eine große Herausforderung für die Wissensgesellschaft, demokratische Prozesse zu gestalten – und für das Verständnis von Nachhaltigkeit ist Demokratie eine Grundfeste. Die moderne Kommunikationstechnologie erschließt völlig neue
Demokratiepotenziale. Die als eDemocracy oder eGovernment bezeichneten Ideen
können für mehr Transparenz sorgen und die Bürger effektiver in Willensbildungs- und
Entscheidungsprozesse involvieren. Vor allem auf kommunaler Ebene können so
durch die unmittelbare Nähe zu den Ergebnissen politischer Entscheidungen Effekte
erzielt werden, die das Interesse an politischen Prozessen begründen und stabilisieren
helfen.
174
Vgl.: Schneidewind, Uwe; Feindt, Peter H.; Meister, Hans – P.; Minsch, Juerg; Schulz, Tobias; Tscheulin, Jochen (1997): Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit: Vom
Was zum Wie in der Nachhaltigkeitsdebatte, S. 183 f.
175
Vgl.: Ebda., S. 189 f.;
wenngleich – dieser Einwand muss erlaubt sein – nicht die Frage nach Politikverdrossenheit
gestellt werden müsste sondern vielmehr nach Parteienverdrossenheit. Angesichts von
Spendenaffären und Korruptionsskandalen ist eine Abkehr von Politik identifiziert mit dem
Parteiensystem nicht verwunderlich, da die Parteien wichtige Akteure in der Politiklandschaft
sind. Dass Bürger an Politik interessiert sind, zeigt unter anderem der Zulauf zu den NGOs
(und belegt somit die These von SCHNEIDEWIND ET AL). NABU und BUND z. B. verzeichnen
zusammen ca. 600.000 Mitglieder; Tendenz steigend (Quelle: taz Nr. 6518 vom 9.8.2001, S.
8; www.bund.net); und auch das Attac Netzwerk umfasst weltweit bereits 55.000 Mitglieder,
4.000 davon in Deutschland (Quelle: Attac Deutschland (Hg.) (2002): Eine andere Welt ist
möglich. Hamburg.); während traditionell institutionalisierte Organisationen wie Parteien und
Gewerkschaften einen Mitgliederschwund zu verzeichnen haben.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
4
47
Zivilgesellschaft und Nicht-RegierungsOrganisationen
Abstract: Die Zivilgesellschaft organisiert sich mit steigender Tendenz in NGOs. Globale Konzepte wie die Idee des Global Governance unterstützen diese Prozesse ausdrücklich. Im Wesentlichen aus der sozialen Bewegung der frühen 1960er und 70er
Jahre kommend haben sich Funktion und Aufgaben der NGOs in den 1990er Jahren
verändert. Insbesondere Umwelt-NGOs sorgten seit der Rio Konferenz 1992 für einen
NGO-Boom und eine veränderte Realität der Politikverflechtung. Der Einfluss der
NGOs auf die Politikgestaltung ist losgelöst von traditionellen, nationalstaatlichen Willensbildungsprozessen und wirft auch Fragen nach der demokratischen Legitimation
ihrer Akteure auf.
4.1
NGOs – Phänomen der Globalisierung
Der von der UN eingeführte – weit gefasste – Begriff der NGOs versammelt alle Organisationen, die Nicht-Regierung sind. Darunter zählen Lobbygruppen, Gewerkschaften,
Umweltorganisationen und Industrieverbände. Es gibt eine Vielzahl von Definitionsversuchen, um das NGO Phänomen zu fassen.176
NGOs sollen hier verstanden werden als unabhängig von Regierungen und nichtprofitorientierte Organisationen, die sich freiwillig und aufgrund gemeinsamer Überzeugungen zusammengeschlossen haben. Es sind Gruppen in der Tradition der ‚neuen
sozialen Bewegung’ mit umwelt-, entwicklungs-, friedens- und menschenrechtspolitischem Hintergrund. Also keine Gewerkschaften, Industrielobbyverbände o. ä..
NGOs als zivilgesellschaftliche Institutionen haben ihren Ursprung in der sozialen Bewegung. Im Umfeld der „‚partizipatorischen Revolution’ mit dem Schwergewicht auf
‚unkonventioneller’ politischer Beteiligung, die seit den 1970er Jahren Bürgerinitiativen
176
Krüger, Sabine (2001): Netzwerke für eine nachhaltige Gesellschaft? Zur Realität sozialökologischer Bündnisse zwischen Gewerkschaften und NGOs, in: Brunnengräber, Achim;
Klein, Ansgar; Walk, Heike (Hg.): NGOs als Legitimationsressource. Zivilgesellschaftliche Partizipationsformen im Globalisierungsprozess, S. 215; siehe u. a. auch ausführlich zur Problematik der Definition: Roth, Roland (2001): NGO und transnationale soziale Bewegungen: Akteure einer „Weltzivilgesellschaft“?, S. 44 f.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
48
und neue soziale Bewegungen gedeihen ließ, [...]“ seien die NGOs entstanden, so
ROTH (2001: 49). NGOs, wie wir sie heute kennen, mit dem stilbildenden Element der
aktiven Mitgliedschaft auf lokaler Ebene (z. B. Amnesty International, gegründet 1961),
entstanden zunehmend seit den 1960er Jahren.177
In das ‚Yearbook of International Organizations’ z. B. werden nur NGOs aufgenommen,
die besondere Bedingungen erfüllen. Dort gelten NGOs als international operierende
(d. h. in mehr als drei Ländern) Organisationen mit individuellen oder kollektiven Mitgliedschaften, die ihre Basis auf lokaler Ebene haben. Die NGOs müssen formal organisiert und unabhängig sein; sich ferner auszeichnen durch regelmäßige Aktivitäten
und Repräsentationsorgane. Als Beispiele seien hier Greenpeace, Amnesty International, Friends of the Earth oder der WWF genannt, die sich für die Lösung globaler Probleme engagieren.178 Für solche transnationalen Netze als Akteure der sozialökologischen Kooperation scheint der Netzwerkbegriff durchaus angemessen. „Netzwerke werden als besondere Steuerungsform angesehen, die gemeinsames Handelns
verschiedener Akteure koordinieren und moderieren.“179
Manche dieser auch transnationalen Organisationen wie Greenpeace oder der BUND
sind schon in die Jahre gekommen. Wenn vom NGO-Boom die Rede sei, so W ALK /
BRUNNENGRÄBER (2000: 120), seien dabei auch nicht die Organisationen selbst gemeint. Es sind vielmehr „die Reaktionen auf die Globalisierung und die Anpassungsprozesse an globale Bedingungen, die in dem Kürzel NGOs zum Ausdruck kommen“.
ROTH (2001: 49) sieht im NGO-Wachstum einen Zusammenhang mit dem Wachstum
anderer Akteure wie etwa der transnationalen Konzerne. „NGOs sind offensichtlich nur
ein Element unter anderen im komplexen Prozeß der Globalisierung.“
Einer Veränderung der Suprastrukturen der Gesellschaft also, deren Akteure sich den
Gegebenheiten anpassen müssen, um die Aufgaben der Zukunft bewältigen zu können. Für die Generierung und Weitergabe von dafür relevantem Wissen sind organisationale Lernprozesse und Innovationen eine wichtige Bedingung.
Für EDWARDS (1997: 235 f.) zählt das Lernen als eine „essential component of organizations effectiveness in all sectors. [...] All NGOs aspire to be 'learning organizations'”.
177
Vgl.: Ebda, S. 49.
178
Vgl.: Ebda., S. 45.
179
Krüger, Sabine (2001): Netzwerke für eine nachhaltige Gesellschaft? Zur Realität sozialökologischer Bündnisse zwischen Gewerkschaften und NGOs, S. 217.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
49
Lernen ist die Grundlage und eine „key component [...] for accountability, dissemination
and influence“; alles Eigenschaften, deren Bedeutung für die NGOs mit zunehmender
Verflechtung in internationale Willensbildungsprozesse wichtiger werden. Er kommt zu
dem Ergebnis: „[...] what matters most is that NGOs do learn, that they always try to
learn more effectively, and that they do not stop learning even when they think they
have found the answers.“180
4.2
Globalisierung, Global Governance und Weltzivilgesellschaft
Die Auswirkungen der Globalisierung werden oft als Bedrohung empfunden und sie
implizieren Steuerungsbedarf. Global operierende Konzerne produzieren dort, wo das
Lohnniveau am günstigsten ist. Kapital wird dort angelegt, wo es die meisten Zinsen
bringt. Die enormen Transaktionsgeschwindigkeiten bezeichnen den „Turbokapitalismus“, dessen Marktkräfte soziale Aspekte in den Hintergrund drängen, den Sozialstaat
in Frage stellen und den Nord-Süd-Konflikt durch eine Umverteilung zugunsten westlicher und zu Lasten der armen Länder verschärft – auch dann oder gerade deshalb,
wenn der Globalisierungsprozess OECD-zentriert ist. In einer globalisierten Welt haben
die politischen wie wirtschaftlichen Entscheidungen einzelner Akteure, seien es Staaten oder Konzerne, internationale Konsequenzen und die Legitimation dieser Entscheidungen ist dadurch in Frage gestellt. Ausdruck der Globalisierung sind Strukturen, die
sich aus nationalstaatlichen Kontexten herauslösen. Transnational operierende NGOs
verdeutlichen diesen Prozess. Gleichzeitig beeinflussen diese Veränderungen z. B.
durch neue Produktions- und Konsumptionsmuster, Reisen und einer vielfältigen Berichterstattung in den Medien auch das individuelle und kollektive Bewusstsein. So
entsteht auch eine Globalisierung von Problemlagen, die die Notwendigkeit der Problembearbeitung aus ihren nationalstaatlichen Kontexten herauszulösen vermag und ein
globales Verantwortungsbewusstsein möglich macht.
Auf globaler Ebene gründete sich 1992 in Genf die Commission on Global Governance
(CGG) „in dem Glauben, dass die internationalen Entwicklungen eine einmalige Möglichkeit geschaffen hatten, um durch eine verstärkte globale Kooperation die Heraus-
180
Edwards, Michael (1997): Organizational learning in non-governmental organizations: What
have we learned?, in: Public Administration and Development, Vol. 17, Issue 2 1997, New
York, S. 248.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
50
forderungen der Friedenssicherung, der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung
und einer Verbreitung der Demokratie besser bewältigen zu können.“181 Der Begriff
Global Governance war geboren als ein Versuch, die nach dem Zerfall der alten Weltordnung entstandenen Unsicherheiten durch eine „neue Weltordnung“ zu dezimieren.
Der Bericht der Kommission aus dem Jahre 1995 mit dem Titel „Our Global
Neighbourhood“ (Nachbarn in einer Welt182) galt als ambitiöser Versuch, „[...] ein neues
Konzept von Politik zu entwerfen.“183 Es versteht sich als ein Vorhaben, das „[...] Handlungskompetenzen auf lokale, regionale und globale Organisationen zur Lösung von
Problemen (verteilt), die Nationalstaaten nicht mehr im Alleingang lösen können.“ Verkürzte nationale Problemwahrnehmungen sollen durch eine Verdichtung der internationalen Zusammenarbeit überwunden und durch verbindliche Kooperationsregeln, „[...]
die auf eine Verrechtlichung der internationalen Kooperationen abzielen“ gestützt werden. Ziel ist das „Bewußtwerden gemeinsamer Überlebensinteressen“ und eine am
Weltgemeinwohl orientierte Politik. Demokratisierung, Abbau von Entwicklungsunterschieden und die wirtschaftliche Verflechtung sollen die internationale Kooperationsfähigkeit verbessern. Die einseitige Macht- und Interessenpolitik eines Landes oder einer
Wirtschaftsunion zur Mehrung eigener Vorteile wird durch dieses idealistische Konzept
in Frage gestellt.184
Eine demokratische Weltzivilgesellschaft185, in der die Chancen gleich verteilt sind,
benötigt ein hohes Maß an zivilgesellschaftlicher Partizipation. Zivilgesellschaftliche
Institutionen dienen als Korrekturinstanzen der Politikgestaltung, „da staatliche Institutionen in vielen Politikfeldern nicht mehr über die notwendige Handlungsautonomie
verfügen.“186
181
Übersetzt aus dem Englischen: „[…] belief that international developments had created a
unique opportunity for strengthening global co-operation to meet the challenge of securing
peace, achieving sustainable development, and universalizing democracy.” Quelle: Webseite
der CGG: http://www.cgg.ch/TheCommission.htm; zuletzt aufgerufen am 7. April 2002.
182
Titel der deutschen Übersetzung.
183
Messner, Dirk; Nuscheler, Franz (1996): Global Governance. Organisationselemente und
Säulen einer Weltordnungspolitik, S. 18.
184
Ebda., S. 20 – 21.
185
Mehr zur Definition u. a. in: Klein, Ansgar (2000): Die NGOs als Bestandteil der Zivilgesellschaft und Träger einer partizipativen und demokratischen gesellschaftlichen Entwicklung,
S. 322 ff.
186
Messner, Dirk; Nuscheler, Franz (1996): Global Governance. Organisationselemente und
Säulen einer Weltordnungspolitik, S. 24.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
51
Als „Keimzellen der internationalen Zivilgesellschaft“ haben die NGOs Zugang zum
globalen Konsultationsprozess und werden von den Regierungen als Berater in die
Entscheidungsfindung miteinbezogen.187 Sie dienen als der gesellschaftliche Unterbau
der Global Governance Idee.188
4.3
NGOs – Netzwerke der Politikverflechtung
Im Jahre 1992 fand in Rio de Janeiro die UNCED-Konferenz statt. Vor allem umweltund klimapolitisch aktive NGOs wirkten bei dem Gipfel aktiv mit und forcierten spätestens seither den Trend zu einer Kooperationsform, die inzwischen als Vernetzung bezeichnet wird.189 Bei der Vernetzung „handelt es sich um auf Dauer gestellte oder auch
nur temporäre, lockerere und daher höchst flexible Formen der Kooperation zwischen
nicht-staatlichen Organisationen und Akteuren aus Politik und Wirtschaft.“190 Diese
Vernetzung verflechtet unterschiedliche Ebenen der Politikgestaltung, unterschiedliche
Problemfelder und unterschiedliche Akteure miteinander und bietet so im günstigsten
Fall die Möglichkeit besserer und effektiverer Entscheidungs- und Steuerungsprozesse.191
Nach dem Ende des kalten Krieges standen zunehmend andere Themen auf der globalen Agenda.192 U. a. neue Kommunikationstechnologien und ein durch die Friedensund Umweltbewegung bereits seit den 1980er Jahren entstandenes – die Grenzen des
Nationalstaates sprengendes – Bewusstsein, bildeten ein Ereigniskonglomerat, das die
Sensibilisierung für die globalen Auswirkungen lokaler Handlungen erst ermöglichte.
„Global Denken – Lokal Handeln“ wurde zum geflügelten Wort der Agenda 21 Bewegung als Ergebnis der Weltklimakonferenz in Rio im Jahre 1992. In Rio wurde deutlich,
187
Ebda., S. 25.
188
Vgl.: Roth, Roland (2001): NGO und transnationale soziale Bewegungen: Akteure einer
„Weltzivilgesellschaft“?, S. 43.
189
Vgl.: Altvater, Elmar; Brunnengräber, Achim; Haake, Markus; Walk, Heike (Hg.) (2000): Vernetzt und verstrickt. Nicht-Regierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft.
Vorwort, S. 7.
190
Ebda.
191
Vgl.: Brunnengräber, Achim; Walk, Heike (2000): Die Erweiterung der Netzwerktheorien:
Nicht-Regierungs-Organisationen verquickt mit Markt und Staat, in: Altvater, Elmar; Brunnengräber, Achim; Haake, Markus; Walk, Heike (Hg.): Vernetzt und verstrickt. Nicht-RegierungsOrganisationen als gesellschaftliche Produktivkraft, S. 67.
192
Vgl.: Ebda., S. 66 – 67.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
52
dass sich „eine zunehmend international vernetzte, aber noch schwach entwickelte
‚Zivilgesellschaft’, die sich in NRO organisiert“, von der lokalen bis zur globalen Ebene
in die Politik einmischt.193 Solche netzwerkförmigen „Kommunikationsprozesse entstehen aufgrund von turbulenten Interdependenzen ‚globaler’ Probleme“.194 Mit Interdependenzen bezeichnet Luhmann die Beziehungen zwischen funktional ausdifferenzierten Teilsystemen, die als Irritationen der Systemumwelt, vermittelt durch strukturelle
Kopplungen, für Resonanz sorgen können.195 Die UNCED-Konferenz in Rio könnte ein
Ausdruck dieser Interdependenzen darstellen.
Die 1990er Jahre waren das Jahrzehnt der Weltkonferenzen. Zu den Ergebnissen der
Globalisierung von Problemlagen zählen der Weltkindergipfel (1990, New York), die
Konferenz für Umwelt und Entwicklung (1992, Rio), die Menschenrechtskonferenz
(1993, Wien), die Weltbevölkerungskonferenz (1994, Kairo), der Weltsozialgipfel (1995,
Kopenhagen), die Weltfrauenkonferenz (1995, Peking), Habitat II (1995, Istanbul) und
der Welternährungsgipfel (1996, Rom).
Seit der Rio-Konferenz 1992 erlebte die Einbeziehung von NGOs in die Konferenzkonzeption ihren Durchbruch und führte zu einer neuen Qualität der NGO-Partizipation.196
„Die Konferenz löste eine regelrechte Aufbruchstimmung in der lokalen, nationalen und
internationalen Politikarena aus“, verhalf den NGOs zu ihrem internationalen Aufstieg
und war Ausdruck ihrer zunehmenden Bedeutung in politischen Willensbildungsprozessen.197 Dabei ist der Zugewinn an Einfluss der NGOs das Resultat – ein spin-off –
des Globalisierungsprozesses an sich.198
193
Messner, Dirk; Nuscheler, Franz (1996): Global Governance. Organisationselemente und
Säulen einer Weltordnungspolitik, S. 16.
194
Brunnengräber, Achim; Walk, Heike (2000): Die Erweiterung der Netzwerktheorien: NichtRegierungs-Organisationen verquickt mit Markt und Staat, S. 69.
195
Vgl.: Krause, Detlef (2001): Luhmann-Lexikon, S. 146.
196
Vgl.: Wahl, Peter (2000): Mythos und Realität internationaler Zivilgesellschaft. Zu den Perspektiven globaler Vernetzung von Nicht-Regierungs-Organisationen, in: Altvater, Elmar;
Brunnengräber, Achim; Haake, Markus; Walk, Heike (Hg.): Vernetzt und verstrickt. NichtRegierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft, S. 295.
197
198
Walk, Heike; Brunnengräber, Achim; Altvater, Elmar (2000): Einleitung, S. 10 f.
„Spin-off“ = unintendiertes Nebenprodukt oder Folgewirkung von sozialen, wirtschaftlichen
und technologischen Entwicklungen. Vgl.: Wahl, Peter (2000): Mythos und Realität internationaler Zivilgesellschaft. Zu den Perspektiven globaler Vernetzung von Nicht-RegierungsOrganisationen, S. 295.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
4.4
53
Probleme der demokratischen Legitimation
NGOs nehmen stellvertretend die Partikularinteressen anderer war, die nicht zwangsläufig am Allgemeinwohl orientiert sind.199 Sie üben kein ihnen formell übertragenes
Mandat aus und sind prinzipiell niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig.200 Das
Handeln der NGOs ist aber sehr stark abhängig von der Zustimmung der Öffentlichkeit
– und bei großen Organisationen von der Zustimmung der lokalen Basis. Diese Tatsache impliziert eine informelle, aber mitunter höchst wirksame gesellschaftliche Kontrolle
und zwingt die NGOs, ihre Akzeptanz immer wieder neu zu begründen und öffentlich
zu rechtfertigen.201 Die NGOs sind somit auf die Akzeptanzsicherung durch die Medien
angewiesen. Professionelle Medienarbeit dient hier neben der Legitimation der Existenz auch dem Versuch, die Verhandlungsprozesse in ihrem Sinne zu beeinflussen.202
„Insbesondere größere NGO [...] legen auf die Akzeptanz [...] in der (medialen) Öffentlichkeit [...] in der Regel einen größeren Wert als auf vereinsinterne Demokratie.“203
NGOs sind der Notwendigkeit ausgesetzt, „erhebliche finanzielle Mittel akquirieren zu
müssen, um an der internationalen Politik teilnehmen zu können“; nicht zuletzt auch,
um die notwendigen personellen Kapazitäten und die mediale Präsenz zu finanzieren.204 Problematisch ist die Abhängigkeit der Repräsentanz aufgrund ökonomischer
Zwänge und der damit verbundenen ökonomischen Legitimation. Schwächere Gruppen, die die notwendigen finanziellen Ressourcen nicht aufbringen können, bleiben
damit evtl. vom Partizipations- und Entscheidungsprozess ausgeschlossen.
BRUNNENGRÄBER / W ALK (2000: 70 f.) vertreten die Ansicht, dass „im Zuge der Internationalisierung des NGO-Handelns [...] die Basisanbindung und Protestmobilisierung als
Ressource der Einflussnahme an Bedeutung“ verliere. Das würde den Entzug der basisdemokratischen Legitimation auf lokaler Ebene bedeuten. Außer Zweifel stehe je-
199
Messner, Dirk; Nuscheler, Franz (1996): Global Governance. Organisationselemente und
Säulen einer Weltordnungspolitik, S. 25.
200
Gebauer, Thomas (2001): “… von niemandem gewählt!“ Über die demokratische Legitimation von NGO, in: Brand, Ulrich; Demirovic, Alex; Görg, Christoph; Hirsch, Joachim (Hg.):
Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates. Münster, S. 99.
201
Ebda.
202
Brunnengräber, Achim; Walk, Heike (2000): Die Erweiterung der Netzwerktheorien: NichtRegierungs-Organisationen verquickt mit Markt und Staat, S. 70.
203
Gebauer, Thomas (2001): “… von niemandem gewählt!“ Über die demokratische Legitimation von NGO, S. 101.
204
Brunnengräber, Achim; Walk, Heike (2000): Die Erweiterung der Netzwerktheorien: NichtRegierungs-Organisationen verquickt mit Markt und Staat, S. 70.
Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungs-Organisationen
54
doch, so MESSNER / NUSCHELER (1996: 25), „daß die Überlagerung und Ergänzung von
Aktivitäten von Parlamenten, staatlichen Institutionen und privaten Organisationen zu
deren wechselseitiger Demokratisierung beitragen können.“
NGOs sind nicht im klassischen Sinne durch freie und geheime Wahlen demokratisch
legitimiert wie etwa die Volksvertreter in den Parlamenten. Die Frage nach ihrer Legitimität „könnte ein ganzes politisches Lehrgebäude der modernen Demokratie entwickeln!“, so VON W EIZSÄCKER (2001a: 24). Durch den Formwandel des Staates und angesichts multidimensionaler Problemlagen erlangen NGOs aber auch neue Funktionen. Sie vertreten schließlich auch die Belange der Zivilgesellschaft. In diesem Prozess der ‚Entstaatlichung’ ist es tatsächlich zweifelhaft, ob die demokratische Legitimität der NGOs mit den Kategorien andersartig strukturierter Politikprozesse aus der
Vergangenheit in Frage gestellt werden darf. Zumal sich durch die Globalisierung nicht
mehr nur das Legitimationsproblem der NGOs stellt, „sondern auch das Legitimitätsproblem einer Weltordnung, die Millionen von Menschen und weite Teile der Umwelt
auf die Verliererstraße schickt.“205
NGOs als Korrekturinstanzen der Politik können die beschränkte Wahrnehmung von
Problemlagen durch ihr Engagement und Wissen mit ihren konstitutionellen und organisationalen Besonderheiten reduzieren. Die institutionelle Einbindung von NGOs in
internationale Konsultations- und Willensbildungsprozesse sorgt für eine erhöhte Problemlösungskompetenz. Auch Philipp Schepelmann, Europaexperte am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und seinerzeit Koordinator der „Greening the Treaty
Kampagne“, ist der Auffassung, „dass die Organisationen der zivilen Gesellschaft ein
wichtiges demokratisches Korrektiv darstellen.“ Angesprochen auf den Einfluss der
nicht legitimierten Akteure konstatiert er für die „demokratische Landschaft in Brüssel“
einen „herben Verlust“, wären NGOs vor Ort nicht mehr an politischen Willensbildungsprozessen beteiligt.206
205
Weizsäcker, Ernst U. von (2001a): Zur Frage der Legitimität der NGOs im globalen
Machtkonflikt. Ein einführender Beitrag, S. 26.
206
Interview und Fragebogen zum Thema: Die Verankerung des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung als Politikziel der Europäischen Union im Vertrag von Amsterdam und insbesondere
zur „Greening the Treaty Kampagne“ europäischer Umweltverbände im Vorfeld der Vertragsverhandlungen zur Revision des Maastrichter Vertrages. Mit Philipp Schepelmann, Wuppertal
Institut für Klima, Umwelt, Energie. Wuppertal, 10. Dezember 2001, S. 107. Das Interview ist
vollständig nachzulesen im Anhang A.3, S. 104 – 110 in dieser Arbeit.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
5
55
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
Abstract: Der seit den 1980er Jahren verstärkt vorangetriebene europäische Integrationsprozess löst nationalstaatliche Strukturen zugunsten supranationaler Formen auf.
Seit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von Maastricht 1992 werden
zugleich die Regionen zu einer aktiven Politikgestaltung aufgefordert. Beide, zunächst
widersprüchlich scheinende Prozesse sind Ausdruck des Übergangs hin zu neuen
Formen des Regierens. NGOs gewinnen dabei, neben den traditionell in Brüssel ansässigen Lobbyisten, zunehmend an Einfluß. U. a. mit dem Weißbuch „Europäisches
Regieren“ setzt die Union neue Maßstäbe für zukünftige Gestaltungsprozesse und die
Rolle der Institutionen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen dabei oft weit auseinander.
5.1
Der europäische Integrationsprozess
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges war die Konzeption der Europäischen
Gemeinschaft ein wesentliches Strukturelement der Zusammenarbeit der europäischen
Staaten. Mit dem EGKS Vertrag von 1953207 begann zunächst die sektorale Integration
der Montanindustrie. Diese erste supranationale Organisation begründete sich auf der
Verquickung wirtschaftlicher Interessen, diente vor allem der politischen Stabilität und
festigte die Notwendigkeit transnationaler Kooperation.
„Dabei sollte nicht vergessen werden, daß Motor der europäischen Integrationsidee der Gedanke der Friedenssicherung und nicht rein wirtschaftliche Erwägungen war, der in der Präambel zum EGKS-Vertrag auch an erster Stelle genannt wird (Erhaltung des Friedens, Beitrag zu einem organisierten und lebendigen Europa und Erhaltung und Hebung des Lebensstandards).“
EUROPÄISCHE UNION: DER W IRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS (1999: 30)
Mit den Römischen Verträgen wurden 1957 die Wirtschaftsgemeinschaft und die Atomgemeinschaft (EWG; EAG) gegründet. Ziel der EWG war die Realisierung einer
Zollunion, die bis Ende der 1960er Jahre schrittweise umgesetzt wurde.
207
Unterzeichnung am 18. April 1951 in Paris durch die sechs Staaten Deutschland, Frankreich,
Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg. Trat am 23. Juli 1953 in Kraft.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
56
Nach dem zweiten ‚Ölschock’ kämpften die Länder Europas Anfang der 1980er Jahre
mit wirtschaftlicher Stagnation und hoher Arbeitslosigkeit. Deutschland und Frankreich
– namentlich Helmut Kohl und Francois Mitterand – machten sich die Überwindung der
als „Eurosklerose“ bekannt gewordenen wirtschaftlichen Stagnation zu ihrer Aufgabe.208 Das europäische Integrationsprojekt war in dieser Zeit primär ökonomisch motiviert, um „die Unternehmer ‚nach Europa zurückzuholen’“ und durch den Abbau von
Handelshemmnissen die Wirtschaft zu beleben. Der nicht automatisch ablaufende Integrationsprozess „wurde von expliziten und bisweilen höchst kontroversen politischen
Entscheidungen der beteiligten Regierungen vorangetrieben.“209 Im Sinne der neoliberalen Wirtschaftsphilosophie wurde das europäische „Deregulierungsprojekt“ ermöglicht, um die Aktivitäten der Anbieterseite zu stimulieren.210 Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 wurde die „Harmonisierung“ des Marktes, d. h., der
freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital vorangetrieben und
die Vollendung des Binnenmarktes bis 1992 angestrebt und in den Verträgen von
Maastricht (1992) auch verwirklicht.
Die bei der Entwicklung des Binnenmarktes entstehende Dynamik blieb aber nicht auf
den ökonomischen Sektor beschränkt. Der ökonomische Integrationsprozess warf zunehmend soziale Fragen auf und es kam zur „Herausbildung eines sozialpolitischen
Mehrebenen-Systems“, dass die Integration auf soziale Aspekte ausweitete.211 Die
Beschäftigung mit Sozialpolitik auf europäischer Ebene sei aber nicht den „Ambitionen
europäischer Verwaltungseliten“ zu verdanken, so LEIBFRIED (2000: 82), sondern „ein
Ergebnis von ‚Spillovers’ beim Aufbau des Binnenmarktes.“
Der Begriff des Spillover bezeichnet externe Effekte; auch Externalitäten, und beschreibt hier im Rahmen des EU Integrationsprozesses die Auswirkungen des Übergangs von einer ursprünglich rein funktionalen Integration in eine politische Integration.
Bei der Vollendung des Binnenmarktes – „also eines nicht-sozialpolitischen Systems“ –
208
Vgl.: Streeck, Wolfgang (1999): Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und
europäischer Union. Frankfurt am Main, S. 67.
209
Scharpf, Fritz W. (1999): Regieren in Europa: effektiv und demokratisch? Frankfurt am Main,
S. 47.
210
Vgl.: Streeck, Wolfgang (1999): Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und
europäischer Union, S. 71.
211
Vgl.: Leibfried, Stephan (2000): Nationaler Wohlfahrtsstaat, Europäische Union und ‚Globalisierung’. Erste Annäherungen, in: Allmendinger, Jutta; Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hg.):
Soziologie des Sozialstaats. Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und
aktuelle Entwicklungstendenzen. Weinheim / München, S. 82.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
57
bezeichnet ein ‚Spillover’ einen Prozess, durch zunehmenden Druck durch die Vollendung des gemeinsamen Marktes auf die Institutionen der EU, in einem anderen Sektor
– hier: sozialpolitisch, tätig zu werden. „Die innere Dynamik der vollen Verwirklichung
des Binnenmarktes treibt diese Entwicklung an.“212 Für soziale Systeme bedeuten Spillover eine Vereinheitlichung von Zielsetzungen durch „Übernahme der Zielsetzungen
eines Subsystems, die über seinen Rahmen hinausweisen, durch andere Subsysteme.“213 Dies impliziert Interdependenzen zwischen den Subsystemen, deren Auswirkungen zu einer immer engeren Interessenverflechtung führen und der Steuerung bedürfen. Durch politische Integration als eine Folge funktionaler Kooperation. STREECK
(1999: 87) kritisiert daher zurecht, dass sich eine ‚Gegenbewegung’ der politischen
Kontrolle der Marktkräfte nicht „automatisch“ einstellt, „[...] und schon gar nicht notwendig auf glückliche Weise.“
„Wo sozialpolitischer Optimismus nicht durch die Annahme eines bereichsübergreifenden
Automatismus supranationaler Integration gerechtfertigt werden kann, wird letzterer
manchmal implizit oder explizit durch eine unterstellte Logik kapitalistischen wirtschaftlichen
Eigeninteresses ersetzt.“
STREECK (1999: 88 f.)
Da es nicht nur darauf ankommt, dass Integration gesteuert wird, sondern auch wie
und in welche Richtung sie gesteuert wird, kommt den NGOs in der veränderten Landschaft europäischer Willensbildungsprozesse eine besondere Rolle zu, in der sie als
Korrekturinstanzen der inhaltlichen Begleitung von Spillover-Prozessen dienen können.
5.2
NGOs und europäische Politik
Durch die Ausweitung der Politikbereiche hat die Europäische Kommission (im Folgenden auch Kommission genannt) zusätzliche Aufgaben übernommen. „Dies hatte zur
Folge, daß die Zahl der innerhalb und außerhalb Europas tätigen NRO stetig anstieg
und sich diese NRO weiteren Arbeitsfeldern zuwandten.“214 Typisch für diesen Trend
sind einzelstaatliche NGOs, die europäische Verbände und Netze ins Leben rufen oder
212
Ebda.
213
Krause, Detlef; Rammstedt, Otthein (1994): Art.: spill-over, in: Fuchs-Heinritz, Werner; Lautmann, Rüdiger; Rammstedt, Otthein; Wienold, Hanns (Hg.): Lexikon zur Soziologie, S. 634.
214
Europäische Union: Die Kommission (2000): Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen. Diskussionspapier der
Kommission. Brüssel, KOM(2000) 11, S. 2.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
58
sich bereits den in Brüssel ansässigen europäischen Netzwerken anschließen. Die
Kommission nimmt diesen Prozess zur Kenntnis und ist dazu bereit, die „partnerschaftliche Zusammenarbeit“ mit den NGOs fortzusetzen und auszubauen. Denn: „NRO gelten zunehmend als wichtiger Bestandteil der Zivilgesellschaft und als wertvolle Stützen
eines demokratischen Regierungssystems.“215 Gleichzeitig stellt sie aber fest, dass die
dafür erforderlichen „Strukturen und Verfahren“ nicht genügend weiterentwickelt wurden.216 Entsprechend reagierten die Europäische Kommission und der Wirtschafts- und
Sozialausschuss (WSA) in jüngster Zeit mit Diskussionspapieren und Stellungnahmen
zum Thema der organisierten Zivilgesellschaft.217 Dies geschieht aus der Notwendigkeit heraus, den Veränderungen auch der Globalisierung Rechnung zu tragen, „Akteure zu identifizieren und den Aktionsrahmen für konkrete Vorschläge in einem institutionellen Umfeld abzustecken“, um strukturelle Reformen in Gang zu setzen.218
Die Kommission stellt schätzungsweise „derzeit jährlich über 1 Mrd. € direkt für NROProjekte zur Verfügung.“ Die größten Anteile haben Projekte der Entwicklungszusammenarbeit und der Menschenrechte, der Demokratie und der humanitären Hilfe (ca.
400 Mio. €), dem Sozialwesen (ca. 70 Mio. €), dem Bildungssektor (50 Mio. €) und des
Umweltbereichs der EU. „Die Kommission hat damit einen entscheidenden Beitrag zur
Förderung von NRO geleistet, die in zunehmendem Maße von der europäischen Öffentlichkeit unterstützt werden.“219 So wurde z. B. im Juni 2001 das zweite „Aktionspro-
215
Ebda., S. 5.
216
Ebda., S. 2.
217
Vgl.: EUROPÄISCHE UNION: DER W IRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS (1999); EUROPÄISCHE
UNION: DIE KOMMISSION (2000); EUROPÄISCHE UNION: DER W IRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS, UNTERAUSSCHUSS „DIE KOMMISSION UND DIE NRO“ (2000).
218
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (1999): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. Brüssel, 1999/C 329/10, S. 30.
219
Europäische Union: Die Kommission (2000): Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen. Diskussionspapier der
Kommission, S. 2.;
Das gesamte Budget der Europäischen Union beträgt für das Jahr 2002 98,6 Mrd. €. (Quelle:
http://europa.eu.int/comm/dgs/budget/budgcomm/index_de.htm; zuletzt aufgerufen am 8. April
2002). Zum Vergleich: Das Budget des Haushaltes der Bundesrepublik Deutschland umfasst
für das Jahr 2002 die Summe von 247,5 Mrd. €. (Quelle: www.bundesregierung.de; zuletzt
aufgerufen am 8. April 2002).
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
59
gramm zur Förderung von im Umweltschutz tätigen NGOs“ abgesegnet und erstreckt
sich, mit 32 Mio. € ausgestattet, über einen Zeitraum von fünf Jahren.220
Auch die Kommission beteiligt sich an den Definitionsversuchen für NGOs. Im Wesentlichen sind diese demnach nicht profitorientiert, arbeiten auf freiwilliger Basis, weisen
einen gewissen Grad an Formalität auf, sind politisch und wirtschaftlich unabhängig
und „verfolgen aufgrund ihrer Wertvorstellungen uneigennützige Ziele. [...] NRO sind
operativ tätig und/oder treten als Anwalt einer guten Sache auf.“ Es geht der Kommission also vor allem um die im Dritten Sektor angesiedelten Organisationen.221
So konstatiert der EU WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS (1999: 32 f.) eine Beteiligung der Bürger in einer „lebendigen Demokratie“ auch durch die Vertretung in Interessengruppen und Bürgerinitiativen. „In diesem Fall sind die Bürger Mitglied in Vereinigungen, die sich ein spezialisiertes und basisbezogenes Wissen“ über einen Bereich
verschaffen. Durch die Teilnahme an öffentlichen Kommunikationsprozessen wirkten
diese Organisationen „an der Bildung einer gemeinsamen Vorstellung von Gemeinwohl
mit. Diese Art der Bürgerbeteiligung entspreche dem Begriff der ‚Zivilgesellschaft’.“ Die
organisierte Zivilgesellschaft als „Schule für Demokratie“ könne man „als einen Ort des
kollektiven Lernens bezeichnen.“ Für die Zukunft sei das deshalb wichtig, da sich in
nicht zentral steuerbaren komplexen Gesellschaften die „Probleme nur durch die aktive
Beteiligung der Bürger lösen“ lassen. Voraussetzung für eine „intelligente Demokratie“
mit einem „kontinuierlichen gesellschaftlichen Lernprozeß“ seien Freiräume für Experimente und „pluralistische Diskusrforen.“222 Diese Rahmenbedingungen gelten auch in
Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeiten für Politik, wo es insbesondere auf Wissen
ankommt. Als Akteure der organisierten Zivilgesellschaft in diesem Prozess werden
auch die NGOs identifiziert. „Der Dialog zwischen der Kommission und den NRO sowie
deren Konsultation durch die Kommission sind Teil des demokratischen Entschei-
220
Quelle: Europäische Union: Die Kommission (2001c): Kommunikation mit der Bürgergesellschaft, in: Bulletin der Europäischen Union Nr. 6/2001. Webseite der Online Edition:
http://europa.eu.int/abc/doc/off/bull/de/200106/p104043.htm; zuletzt aufgerufen am 8. April
2002.
221
Und nicht um Gewerkschaften oder Industrielobbyverbände etc. Vgl.: Europäische Union:
Die Kommission (2000): Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der
Kommission und Nichtregierungsorganisationen. Diskussionspapier der Kommission, S. 4 f.
222
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (1999): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, S. 33.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
60
dungsprozesses der EU-Organe.“ Besonders auch das Europäische Parlament und die
beiden Ausschüsse „haben seit langem enge Kontakte zu NRO.“223
5.3
Lobbying und Interessengeflecht in Brüssel
Das Laboratorium „European Governance“ verdeutlicht alle Probleme einer die herkömmlichen Arenen politischer Willensbildung verlassenden und die Grenzen der Nationalstaaten überschreitenden Politikgestaltung. Neben der Kritik an der Bürokratisierung und den Legitimationsdefiziten der „Eurokratie“ existieren zahlreiche Widerstände
gegen die europäische Integration.224 Die Dominanz von Hegemonen und der Verlust
von nationalen Identitäten etwa bereiten den Boden für ernstzunehmende Partikularinteressen, die in den Integrationsprozess eingebunden werden müssen. Im Umfeld der
europäischen Politik existieren zahlreiche Gruppen aus allen Politikfeldern und Bereichen der verschiedenen Gesellschaften – natürlich auch mit positiven Interessen an
der Gemeinschaftsbildung –, die die europäischen Willensbildungsprozesse mitgestalten und beeinflussen.
Im Allgemeinen bezeichnet man den Versuch der Beeinflussung von Entscheidungsträgern durch Dritte als Lobbying.225 Durch EU-Recht ist der Dialog zwischen Kommission und Interessensvertretern institutionalisiert und erlaubt Letzteren ein aktives herantreten an die Kommission.226 Die Zahl der Interessengruppen ist sehr hoch. Bei einem Besuch in Brüssel oder Strassburg sei es möglich, so GREENWOOD (1997: 2), jede
nur vorstellbare Interessengruppe vorzufinden: von multinationalen Konzernen über
Gewerkschaften zu Handwerkern und Konsumentenvertreten, von Autofahrern, Vogelschützern bis hin zu Biertrinkern. Die Kommission, fährt er fort, habe herausfinden lassen, dass etwa 3000 Interessengruppen mit 10.000 Personen in Brüssel vor Ort Ein-
223
Europäische Union: Die Kommission (2000): Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen. Diskussionspapier der
Kommission, S. 9.; die Organe – lat. = Werkzeuge – der EU werden bestimmt in Art. 7 EGV
(1): Europäisches Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof, Rechnungshof. (2) Der Rat und
die Kommission werden von einem Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie einem Ausschuss der Regionen mit beratender Aufgabe unterstützt.
224
Messner, Dirk; Nuscheler, Franz (1996): Global Governance. Organisationselemente und
Säulen einer Weltordnungspolitik, S. 26.
225
Vgl.: Fischer, Klemens H. (1997): Lobbying und Kommunikation in der Europäischen Union.
Berlin / Wien, S. 35.
226
Ebda., S. 35 f.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
61
fluss zu nehmen versuchen; davon etwa 500 europäische und internationale Verbände.227 Neuere Zahlen gehen sogar schon von bis zu 15.000 Lobbyisten in Brüssel
aus und machen die belgische Metropole zur zweiten Welthauptstadt des Lobbying
nach Washington.228
FISCHER (1997) unterschiedet die Beeinflussung europäischer Willensbildungsprozesse
in hoheitliches und nicht-hoheitliches Lobbying. Hoheitliches Lobbying ist demnach der
Versuch, „mitgliedstaatliche Interessen“ zu formulieren und in den Entscheidungsprozess einzubinden. Nicht-hoheitliches Lobbying dagegen werde „von Gruppierungen
betrieben, die dem privaten Sektor zuzurechnen sind [...].“229 Der Einfluss und das
Bestreben der NGOs nach Mitbestimmung geht jedoch aufgrund ihrer Struktur und der
gestalterischen Legitimation über das bekannte Lobbying hinaus. Durch ihre Zwitterfunktion und des Anspruchs, aufgrund der mangelnden nationalstaatlichen Problemlösungsfähigkeiten auch Anliegen zu vertreten, bei welchen Partikularinteressen und
Staatsinteressen miteinander verwebt sind, ist die Definition des Lobbying aufgrund
ihrer Funktion und Einflussnahme für NGOs nicht mehr hinreichend.
Auch für die Kommission gelten die NGOs „zunehmend als wichtiger Bestandteil der
Zivilgesellschaft und als wertvolle Stützen eines demokratischen Regierungssystems.“230 Dabei ermöglicht sie teilweise bereits einen strukturierten Dialog mit den Vertretern der NGOs auch der europäischen Umweltverbände. Zweimal im Jahr treffen die
Vertreter der „größten gesamteuropäischen Umweltschutz-NRO (‚Gruppe der Acht’)“
mit dem Generaldirektor der Generaldirektion Umwelt zusammen, um über das Arbeitsprogramm der Generaldirektion und deren Verhältnis zu den NRO zu diskutieren.
Dabei besteht die Gelegenheit, „alle im zurückliegenden Halbjahr aufgetretenen Probleme“ zu erörtern.231
227
Zahlen von 1992, in: Greenwood, Justin (1997): Representing Interests in the European
Union. London / New York, S. 3.
228
Clamen, Michel (2000): Le Lobbying et ses secrets. Guide des techniques d'influence. 3e
édition, Paris; zitiert nach: Latsch, Gunther (2002): Brüsseler Imperialismus, in: Experiment
Europa. Ein Kontinent macht Geschichte. Spiegel special Nr. 1/2002, S. 136.
229
Fischer, Klemens H. (1997): Lobbying und Kommunikation in der Europäischen Union, S. 36.
230
Europäische Union: Die Kommission (2000): Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen. Diskussionspapier der
Kommission, S. 5.
231
Ebda., S. 10.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
62
Allerdings werden die NGOs im harten politischen Alltag – fernab von richtungsweisenden Vorstellungen zukünftiger Strukturen – „nur teilweise so betrachtet, dass sie
eine demokratische Funktion erfüllen.“ Eine Mehrzahl der Entscheidungsträger im Parlament, in der Kommission und den Regierungsorganisationen „sehen zumindest die
ECOs (Environmental Citizens Organisations) als eine Lobbying-Gruppe wie jede andere auch, obwohl die ECOs keine kommerziellen Interessen vertreten.“232
5.4
European Governance
Der NGO-Boom verursacht durch die Globalisierung von Problemlagen fördert die offensichtlich nicht mehr ausreichenden Problemlösungskompetenzen der Nationalstaaten zu Tage.233 So muss nicht mehr nur die demokratische Legitimation der NGOs kritisch hinterfragt werden. Vielmehr offenbart sich auch eine Legitimationskrise der Nationalstaaten, die u. a. dadurch verdeutlicht wird, dass von den NGOs der praktische
Beitrag zur Lösung der Probleme eher erwartet wird als von nationalen Regierungen.234
Der EU-Einigungsprozess wird in diesem Zusammenhang zu einem kontinentalen
Spiegelbild der gegenwärtigen globalen Integrationsbemühungen. Die zu beobachtenden Entwicklungen bezeichnen eine Übergangsphase aus alten Ordnungsstrukturen in
neue Formen der transnationalen Kooperation. Charakteristisch für diese Übergangsphase ist die Legitimationskrise der Nationalstaaten und die Existenz eines noch nicht
gelösten Demokratiedefizits auch aufgrund dieser evolutionären Entwicklungen hin zu
einer neuen Ordnungspolitik. So konstatieren MESSNER / NUSCHELER (1996: 26), die
EU könne als „fortgeschrittenes Laboratorium für die Fähigkeit zu Global Governance
verstanden werden.“235 Europäische Sichtweisen lösen nationalstaatliches Denken ab
232
Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 107.
233
„Die beliebte These, nationale Regierungen könnten immer weniger die nur im Weltmaßstab
lösbaren Probleme bewältigen, ist sogar zirkulär; genuin globale Aufgaben lassen sich nicht
regional lösen.“ Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 14.
234
Vgl.: Altvater, Elmar; Brunnengräber, Achim; Haake, Markus; Walk, Heike (Hg.) (2000): Vernetzt und verstrickt. Nicht-Regierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft.
Vorwort, S. 7.
235
Die Kommission sieht die EU selbst als Impulsgeberin im Global Governance Prozess: „Der
erste Schritt, den die Union unternehmen muss, ist die erfolgreiche Reform der Governance
im eigenen Hause, damit sie um so überzeugender für einen Wandel auf internationaler Ebene eintreten kann.“ Europäische Union: Die Kommission (2001b): Europäisches Regieren. Ein
Weissbuch. Brüssel, KOM(2001) 428, S. 34.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
63
und befördern das Gemeinschaftsbewusstsein. Die Abtretung von Teilsouveränitäten
erfolgt zugunsten einer erhöhten Problemlösungsfähigkeit durch gemeinsames Handeln.236 Im „Laboratorium Europa“ experimentieren auch die NGOs an der neuen Architektur.
„Die Kommission hat die Reform europäischen Regierens, also dessen, was als Governance bezeichnet wird, Anfang 2000 zu einem ihrer vier strategischen Ziele erklärt.“237 Mit ihrem Weißbuch – der Grundsatzerklärung zur politischen Strategie –
vom 25. Juli 2001 legte die Europäische Kommission ein umfassendes Papier zur Reform europäischen Regierens vor. In Hinblick auf die Zukunft Europas müsse die Union
beginnen, ihre Institutionen anzupassen, die innere Kohärenz zu stärken und für
Transparenz zu sorgen. Trotz des europäischen Legitimationsproblems bei den Bürgern, symbolisiert durch Brüsseler Bürokratismus und einer verbreiteten Skepsis gegenüber der „komplexen Maschinerie“ Europa, erwarten die Bürger auch Antworten der
EU z. B. auf Fragen der Globalisierung, Umweltprobleme oder der Arbeitslosigkeit.238
Mit dem Weißbuch schlägt die Kommission vor, die politische Entscheidungsfindung
der EU zu öffnen „und mehr Menschen und Organisationen in die Gestaltung und
Durchführung der EU-Politik einzubinden.“ Denn obwohl die Union über ein zweifaches
demokratisches Mandat verfüge, (Vertretung der Bürger durch das Europäische Parlament (EP); Vertretung der Regierungen durch den Ministerrat), sei die Stimmung in
der Bevölkerung schlecht.
„Trotz alledem fühlen sich viele Europäer dem Wirken der Union entfremdet. Dieses Gefühl
besteht nicht nur gegenüber den europäischen Organen, sondern generell gegenüber allen
politischen Institutionen in und außerhalb der Union.“
EUROPÄISCHE UNION: DIE KOMMISSION (2001b: 9)
Die Kommission stellt fest, dass die Menschen schlicht zuwenig über Europa wissen.
Sie wissen nicht wer welche Entscheidungen trifft und was die eine Institution von der
236
Messner, Dirk; Nuscheler, Franz (1996): Global Governance. Organisationselemente und
Säulen einer Weltordnungspolitik, S. 26.
237
Europäische Union: Die Kommission (2001b): Europäisches Regieren. Ein Weissbuch, S. 3;
die vier Ziele sind: - Förderung neuer europäischer Entscheidungsstrukturen; - ein stabiles
Europa mit einer stärkeren Stimme in der Welt; - eine neue wirtschafts- und sozialpolitische
Agenda und höhere Lebensqualität für alle. Vgl.: Prodi, Romano (2000): 2000-2005 : Umrisse
des neuen Europas. Rede des Präsidenten der Europäischen Kommission vor dem Europaparlament. Straßburg, 15. Februar 2000 (= Speech 00/41), S. 4.
238
Europäische Union: Die Kommission (2001b): Europäisches Regieren. Ein Weissbuch, S. 3.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
64
anderen unterscheidet.239 Ziel einer Reform muss sein, durch eine verstärkte Einbindung aller Akteure für größere Offenheit zu sorgen und das Verhältnis zur Zivilgesellschaft interaktiver zu gestalten. Die fünf politischen Grundsätze des „guten Regierens“
sind: Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz als notwendige Grundlage für die Reformbemühungen.240 Es bedarf einer verstärkten Konsultations- und Dialogkultur und der Beteiligung der Bürger an Konsultationsprozessen. Die
Kommission stützt sich auf fast 700 Ad-hoc Gremien zur Beratung. Daher ist es kein
Wunder, dass gegenwärtig „nicht genügen Klarheit darüber“ herrscht, „wie die Konsultationen ablaufen und auf wen die Institutionen hören.“241 Die Kommission strebt eine
Form des Willensbildungsprozesses an, der von der Gestaltung bis zur Durchführung
auf „Rückkoppelung, Netzwerken und Partizipation auf allen Ebenen beruht.“242 Dabei
sollen moderne Kommunikationsmittel helfen und für mehr Partizipation und Transparenz sorgen.243 „Partizipation heißt nicht Institutionalisierung von Protest. Partizipation
bedeutet vielmehr wirkungsvollere Politikgestaltung auf der Grundlage frühzeitiger
Konsultationen und der Erfahrungen der Vergangenheit.“244 Bereits 1999 machte der
WSA den Vorschlag zur Schaffung einer geeigneten Organisationsstruktur „Organisierte Zivilgesellschaft“. Dazu zählt auch ein veränderter Umgang mit der „nicht ausreichenden Verwertung von Beiträgen der Gruppenexperten, die oft beträchtliches Niveau
aufweisen“; zum einen um den Wissenstand der Ausschussmitglieder zu bereichern
und zum anderen um diese Expertise einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.245 Das NGOs ihr Fachwissen in politische Entscheidungsprozesse einbringen,
weiß auch die Kommission zu schätzen denn die Kenntnis dieses Wissens ermöglicht
es, „gegebenenfalls ihre Politik anzupassen oder Änderungen an der Verwaltung ihrer
Projekte vorzunehmen.“246 Dabei gewinnen Wissensmanagementprozesse an Bedeu-
239
Ebda., S. 10.
240
Vgl.: Ebda., S. 13 + S. 42.
241
Ebda., S. 22.
242
Ebda., S. 14.
243
Ebda., S. 15.
244
Ebda, S. 21.
245
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (1999): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, S. 36.
246
Europäische Union: Die Kommission (2000): Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen. Diskussionspapier der
Kommission, S. 6.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
65
tung für einen angestrebten verantwortungsvolleren Umgang mit Wissen und Expertise.247 Ebenfalls erkennt die Kommission die Bedeutung transnationaler Netze für die
Europäische Integration an:
„Diese Netze verknüpfen Unternehmen, Gemeinschaften, Forschungszentren sowie Regional- und Kommunalbehörden miteinander. Sie bieten eine neue Grundlage für die Integration innerhalb der Union“.
EUROPÄISCHE UNION: DIE KOMMISSION (2001b: 23)
5.5
Europäisches Regieren – Anspruch und Wirklichkeit
Die Reformgedanken der Kommission greifen die modernen Konzepte der Organisationsentwicklung auf, wollen dem Formwandel der Politik durch die Anpassung der supranationalen Strukturen Rechnung tragen und reflektieren sehr präzise den gesellschaftlichen Wandel. Die Ideen der Kommission zum ‚Europäischen Regieren’ sind
„sicherlich ‚state of the art’ und man findet kaum etwas Fortschrittlicheres.“248
Es gibt durchaus unterschiedliche Auffassungen innerhalb der EU und die Positionen
z. B. des Wirtschafts- und Sozialausschusses sind nicht immer deckungsgleich mit der
Auffassung der Kommission. Während der WSA nur in beratender Funktion wirken
kann ist die Kommission als „Hüterin der Verträge“ die „Herrin des Verfahrens“. Als
Vertreter der Zivilgesellschaft sieht sich der Wirtschafts- und Sozialausschuss aber
geradezu prädestiniert. Und sicherlich sind viele Positionen des Papiers zum Thema
„Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“ aus dem Jahre 1999 zum einen in das Kommissionspapier aus dem Jahre
2000 zum „Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission
und Nichtregierungsorganisationen“ als auch in das 2001 vorgelegte Weißbuch zum
Europäischen Regieren eingeflossen. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss sieht seine Funktion u. a. als Vertreter und Forum der organisierten Zivilgesellschaft auf Gemeinschaftsebene; als ein institutionalisiertes Gremium, dessen Mitglieder „unmittelbare Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft“ sind und „in ihrer Gesamtheit jenes
Netzwerk an kommunikativen Handlungen“ repräsentieren, „die als ‚Lebenswelt’ die
247
Ebda., S. 6 + S. 25.
248
Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 109.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
66
notwendige Aktionsbasis der Zivilgesellschaft bilden.“249 „Der Ausschuss ist der institutionelle Ort der Begegnung der organisierten Zivilgesellschaft.“250 Die Kommission benannte jedoch in der Vergangenheit lediglich sich selbst und das Europäische Parlament „als Orte des Dialogs mit dem Bürger“ – der Ausschuss blieb unerwähnt.251 Mit
der Änderung des Art. 257 EGV im Vertrag von Nizza (2000) hat sich dies insofern
verändert, als dass der WSA nicht mehr „aus Vertretern der verschiedenen Gruppen
des wirtschaftlichen und sozialen Lebens“ besteht (alt), sondern „aus Vertretern der
verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bereiche der organisierten Bürgergesellschaft“ (neu). Die Erwähnung seiner Funktion im Weißbuch in Zusammenhang mit der
Einbindung der Zivilgesellschaft sieht für den WSA eine „proaktivere Rolle“ vor und
stärkt seine Position im Rahmen der angestrebten Aufwertung der Partizipationsmöglichkeiten.252 Von den Mitgliedern im WSA vertritt zumindest einer der 24 Mitglieder aus
Deutschland die Umwelt NGOs253 und eine der neun Fachgruppen beschäftigt sich
auch mit Fragen des Umweltschutzes, Gesundheitswesens und Verbrauchs.254 Dennoch stellt sich der bereits mit den Römischen Verträgen 1957 ins Leben gerufene und
zur Zeit 222 Mitglieder zählende WSA trotz allem selbstreferentiellen Lob zurecht
selbst die Frage, ob seine aktuelle Mitgliederstruktur tatsächlich „den gesellschaftlichen
Wandel der letzten 40 Jahre [...] widerspiegelt.“255 So strebt der Ausschuss denn auch
an, andere Akteure der Zivilgesellschaft in den Dialog mit einzubeziehen.256
249
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (1999): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, S. 34 f.
250
Ebda., S. 36.
251
Ebda., S. 34.
252
Vgl.: Europäische Union: Die Kommission (2001b): Europäisches Regieren. Ein Weissbuch,
S. 19 f. + S. 13.
253
Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 107.
254
Zbinden, Martin (1999): Die Institutionen und die Entscheidungsverfahren der Europäischen
Union nach Amsterdam. Bern, S. 107.
255
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (1999): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, S. 35.
256
Vgl.: Ebda., S. 36.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
67
Doch „die Bürger Europas sind skeptisch gegenüber programmatischen Ankündigungen aus Brüssel geworden. Es gilt daher, die Schere zwischen Worten und Taten zu
schließen.“257
Sie sind zurecht skeptisch, wie die Studie von HÉRITIER (2001: 4) beweist. Die Untersuchung vor dem Hintergrund der im Weißbuch benannten neuen Formen von Governance, namentlich einer Konsultations- und Dialogkultur und der Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen, ist ernüchternd. Von 926 gezählten Entscheidungen im Zeitraum von Januar 2000 bis Juli 2001 sind nur 99 unter den Bedingungen neuer Formen des Regierens zustande gekommen. Der Großteil davon in der
Sozial- und Umweltpolitik. 258
5.6
Subsidiarität, Kommunen und ‚Glocal Governance’
Der 1992 im Vertrag von Maastricht erstmals erwähnte Ausschuss der Regionen (AdR)
wurde 1994 ins Leben gerufen. Ebenso wie der WSA hat der AdR 222 Mitglieder, die
die Interessen der Länder, Regionen und Gemeinden vertreten.259 Der AdR ist u. a.
Ausdruck der institutionellen Verfestigung des mit dem Vertrags von Maastricht in die
EU-Politik eingeführten Prinzips der Subsidiarität260, das eine „bürgernahe“ Politik sicherstellen soll.
„Als staatsethisches Prinzip verstanden, billigt die Subsidiarität dem Staat zwar eine grundsätzliche Legitimität zu, schränkt aber seine Kompetenzen zugunsten nichtstattlicher Institutionen kräftig ein.“
HÖFFE (1999: 129)
Als Subsidiarität wird das Prinzip verstanden, dass die untere Ebene im Rahmen eines
„politischen und sozialen Ordnungsprinzip“ prinzipiell Vorrang vor der höheren Ebene
hat, die erst aktiv wird, „wenn die untere Ebene überfordert ist.“ Der WSA versteht
257
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss, Unterausschuss „Die Kommission und die NRO“ (2000): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Diskussionspapier der Kommission „Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen
der Kommission und Nichtregierungsorganisationen“ (KOM (2000) 11 end.). Brüssel, CES
811/2000, S. 3.
258
Siehe ausführlich in: Héritier, Adrienne (2001): New Modes of Governance in Europe: PolicyMaking without Legislating? Bonn (= Preprints aus der Max-Planck-Projektgruppe Recht der
Gemeinschaftsgüter, Nr. 51, (2001/14)), S. 4.
259
Zbinden, Martin (1999): Die Institutionen und die Entscheidungsverfahren der Europäischen
Union nach Amsterdam, S. 109 ff.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
68
Subsidiarität „im Bereich der Zivilgesellschaft“ auch als „extern [...], d.h. als Empfehlung, es den Bürgern zu überlassen, sich selbst mit den sie betreffenden Problemen zu
befassen.“261 Ebenso wie der WSA soll auch der AdR im Rahmen der GovernanceReform gestärkt werden, „um an der Gestaltung der Politik in einem weitaus früheren
Stadium als heute mitzuwirken.“262 Dabei fordert der AdR, ihm den Status eines Organs zuzuerkennen.263
Allerdings so, ZBINDEN (1999: 110), habe sich praktisch in allen Staaten durchgesetzt,
„nur gewählte Vertreter der Gebietskörperschaften“ (z. B. Länder, Gemeinden) zu entsenden. Im Falle der 24 deutschen Mitglieder sind es 21 Ländervertreter und drei der
Gemeindeebene. Die „hochkarätige“ Besetzung des AdR besteht meist aus Ministerpräsidenten der Länder und ihrer Minister.264 Durch die Zusammensetzung des AdR ist
eine adäquate Vertretung der zunehmend in NGOs vertretene Zivilgesellschaft zu bezweifeln. Eine Reform europäischen Regierens für mehr Bürgernähe muss diese Tatsache berücksichtigen und es ist fragwürdig, ob die Änderung seines Status zu einem
Organ der EU ausreicht oder ob nicht gleichzeitig über die Struktur seiner Besetzung
nachzudenken ist.
Ministerpräsidenten, Landesminister und Repräsentanten der Gemeinden vertreten
auch parteipolitische Interessen und haben eben gerade nicht die Qualitäten neuer
Netzwerke, die mit ihrer ‚bottom-up’ Struktur auch für inhaltliche Reformen großes Innovationspotenzial bereitstellen können.265 Es verwundert in diesem Zusammenhang
260
Vgl.: EUV: Präambel und Art. 1; EGV, (neu) Art. 5 (Amsterdam); alt: Art. 3b (Maastricht).
261
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (1999): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, S. 33.
262
Europäische Union: Die Kommission (2001b): Europäisches Regieren. Ein Weissbuch,
S. 20.
263
Europäische Union: Der Ausschuss der Regionen (2001): Bericht des Ausschusses der Regionen über die „Bürgernähe“. Brüssel, CdR 436/2000, S. 18.
264
Vgl.: Zbinden, Martin (1999): Die Institutionen und die Entscheidungsverfahren der Europäischen Union nach Amsterdam, S. 110.
265
Teilweise feiern in Gemeinden die Bürgermeister ihr 20jähriges Dienstjubiläum! (Quelle:
eigene). In Baden-Württemberg etwa werden die Bürgermeister nur alle acht Jahre gewählt.
Vgl.: Götz, Markus (2001): Politische Steuerung in der Kommune. Die Reform der Kommunalpolitik durch Netzwerke und Verhandlungssysteme. Münster (= Schriftenreihe der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik Nordrhein-Westfalen Düsseldorf; Bd. 19),
S. 199.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
69
nicht, dass sich im AdR parteipolitische Fraktionen bilden, die neue Grenzen entstehen
lassen und alte tendenziell nicht zu überwinden in der Lage sind.266
Im herkömmlichen Repräsentationsmodell geben die Einwohner „ihre Entscheidungsmacht ab, aber ebenso ihre Gestaltungsmacht“. Das Modell der Selbststeuerung dagegen folgt einer anderen Logik. Hier bildet sich bei einem zu bearbeitenden Problem
ein Verhandlungssystem, „das Lösungen erarbeitet [...] und Aufgaben verteilt“.267
268
Abb. 1: Kommunale Netzwerksteuerung: Beteiligte Ebenen im politischen Prozess.
„Gesellschaftliche Selbstregelung und Verhandlungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren in neokorporatistischen Strukturen bzw. Politiknetzwerken sind keine
alternativen Governance-Formen, sondern durchdringen und ergänzen sich gegenseitig.“
MAYNTZ (1997: 283)
266
Vgl.: Zbinden, Martin (1999): Die Institutionen und die Entscheidungsverfahren der Europäischen Union nach Amsterdam, S. 113.
267
268
Ebda., S. 199.
Götz, Markus (2001): Politische Steuerung in der Kommune. Die Reform der Kommunalpolitik durch Netzwerke und Verhandlungssysteme, S. 199.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
70
Um Netzwerksteuerung umzusetzen bedarf es einer grundlegenden Veränderung lokaler politisch-administrativer Strukturen. Ihre Merkmale sind u. a. Dezentralität durch
lose gekoppelte autonome Verwaltungseinheiten, eine Beteiligung der Bürger und lokaler Akteure sowie die Bestimmung der Aufgabe der Politik als Initiator von Entscheidungsprozessen und ihrer Funktion als Moderator, diese Prozesse zu koordinieren.
Diese Gestalt der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse führt zum einen zu
verstärkter Demokratisierung und „als Ergebnis entsteht die Strategiefähigkeit der
Kommunalpolitik. Politische Steuerung ist damit auch in einer modernen Gesellschaft
möglich.“269
Als Beispiel dafür kann der lokale Agenda 21 Prozess gelten. Er wird verstanden „als
ein Lern- und Suchprozess nach Wegen für eine nachhaltige Entwicklung.“ Vor allem
zivilgesellschaftliche Elemente wie die NGOs haben diesen Prozess trotz der „Widerstände lokaler Autoritäten“ in Gang gesetzt.270 Der Referenzrahmen für ihr Handeln,
bzw. ihr Mandat, war die von den Nationalstaaten unterzeichnete „Abschlusserklärung
des Erdgipfels von Rio“, der, zusammen mit den anderen Weltkonferenzen der 1990er
Jahre, „die Rolle der lokalen politischen Institutionen [...] erheblich aufgewertet“ hat.271
In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff der Glokalisierung272 seine Bedeutung.
Er beschreibt zunächst „die zunehmende Durchdringung und Beeinflussung örtlicher
Verhältnisse, Gebräuche und Gewohnheiten durch Prozesse [...], die sich in globalen
Referenzrahmen vollziehen.“273 Dabei ist diese Entwicklung keineswegs eine „Einbahnstraße vom Globalen zum Lokalen“. Es geht vielmehr um die Unterstützung der
269
Vgl.: Ebda., S. 223 ff.
270
Hilliges, Gunther (2001): Internationale Vernetzung im Agenda-21-Prozess, in: Berndt, Michael; Sack, Detlef (Hg.): Glocal Governance? Voraussetzungen und Formen demokratischer
Beteiligung im Zeichen der Globalisierung. Wiesbaden, S. 202;
die Agenda 21 fordert ausdrücklich eine „echte Mitwirkung“ und partnerschaftliche Beteiligung
von NGOs, um „ein gemeinsames Zielbewusstsein im Namen aller gesellschaftlichen Bereiche zu aktivieren" (Agenda 21, Kap. 27).
271
Hilliges, Gunther (2001): Internationale Vernetzung im Agenda-21-Prozess, S. 202. Mit Institutionen meint Hilliges hier die Städte und Gemeinden.
272
Eine ausführliche Definition findet sich bei: Albert, Mathias (1998): Entgrenzung und Formierung neuer politischer Räume, in: Kohler-Koch, Beate (Hg.): Regieren in entgrenzten Räumen. (= Politische Vierteljahresschrift; Sonderheft 29/1999), S. 52 ff.
273
Ebda., S. 52.
Europäische Willensbildungsprozesse jenseits der Nationalstaaten
71
„Sichtbarkeit“ lokaler Akteure im globalen Raum. Dabei ist der Vernetzungsgrad entscheidend für die Sichtbarkeit in globalen Netzen.274
‚Glocal Governance’ kann in diesem Zusammenhang als ein Begriff verstanden werden, der die Suche nach neuen demokratischen Partizipationsformen ausdrückt, die
durch die Globalisierung erst möglich geworden sind und auf lokaler Ebene ansetzen,
durch ihre Integration in Netzwerke aber auf – hier: die europäische Ebene, ausstrahlen können.
Bei der Reform u. a. des AdR könnte es so ein Ziel sein, die internationale Vernetzung
zwischen Städten und Gemeinden voranzutreiben, die Kooperation von Kommunen zu
fördern und durch den Austausch etwa von ‚best-practices’ diese Kultur der Kommunikation und Kooperation zu institutionalisieren um somit bei den Akteuren Anerkennung
zu finden als verbindliches Modell des Handelns.275
Konsequenz dieses Modells wäre dann allerdings, dass im AdR sicherlich nicht mehr
nur Ministerpräsidenten, Landesminister und Repräsentanten der Gemeinden sitzen
würden, sondern auch NGO Vertreter.
274
275
Ebda., S. 52 f.
Der AdR kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Vgl.: Europäische Union: Der Ausschuss der
Regionen (2001): Bericht des Ausschusses der Regionen über die „Bürgernähe“, S. 15 f.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
6
72
Europäische Union und ökologische Kommunikation
Abstract: Bis zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986 spielten Fragen des
Umweltschutzes kaum keine Rolle in Europa. Der Integrationsprozess bewirkte aber
eine zunehmende Verankerung von Umweltschutzzielen in die europäische Politik. Im
Vertrag von Amsterdam wurde 1997 das umfassende Ziel der nachhaltigen Entwicklung quasi in Verfassungsrang festgeschrieben. Ökologisch kommunizierende Organisationen der Zivilgesellschaft waren daran maßgeblich beteiligt. Europäische Umweltverbände starteten die „Greening the Treaty Kampagne“ und auch die europäischen
grünen Parteien beeinflussten die Ergebnisse der Regierungskonferenz 1996/97. Mit
dem Vertrag von Amsterdam gelangte die Nachhaltigkeit in das Kommunikationssystem der EU und hat seither begonnen, dessen interne Strukturen zu verändern.
„Die nachhaltige Entwicklung bietet der Europäischen Union die positive langfristige Perspektive einer wohlhabenderen und gerechteren Gesellschaft; sie verspricht eine saubere,
sichere und gesündere Umwelt – eine Gesellschaft, die uns, unseren Kindern und Enkeln
eine bessere Lebensqualität bietet.“
EUROPÄISCHE UNION: DIE KOMMISSION (2001a: 2)
6.1
Ökologische Kommunikation und Umwelt NGOs
„Unter Gesichtspunkten soziokultureller Evolution“, so Luhmann (1981: 21), ist „heute
ein Zustand erreicht, in dem das Gesellschaftssystem seine Umwelt tiefgreifend verändert und damit die Voraussetzungen ändert, auf denen die eigene Ausdifferenzierung
beruht.“ Die damit verbundenen ökologischen Fragen müssen Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung werden. Umweltprobleme müssen kommunikativ angeschlossen werden, um von den Teilsystemen erkannt werden zu können.
1979 entschieden sich verschiedene ökologisch und friedensbewegte Listen, die seit
Mitte der 1970er Jahre zunehmend entstanden, zur Zusammenarbeit. Im Jahre 1980
gründeten sich auf Bundesebene DIE GRÜNEN.276 Damit erreichte die Organisation der
276
Die GRÜNEN scheinen mittlerweile im Amt tatsächlich ‚nachgedunkelt’, wie Luhmann es
vermutet hatte. Vgl.: Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 236.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
73
alternativen Szene Westdeutschlands ihren ersten Höhepunkt. Auch die zivilgesellschaftlichen Umweltbewegungen waren Bestandteil dieser gesellschaftlichen Veränderungen, die sich wie Greenpeace z. B. durch spektakulären Aktionismus oft auf globaler Ebene die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verschafften und von diesem Trend bis
heute profitieren. Es war der Protest gegen das System und die Auseinandersetzung
mit seinen Folgen. Sie sind in Westdeutschland eng an Namen gekoppelt wie Mutlangen, Startbahn-West, Brokdorf und viele andere mehr. U. a. das Wettrüsten und die
Umweltprobleme wurden zunehmend als so nicht länger hinnehmbare Folgen des
stark ausdifferenzierten Gesellschaftssystems identifiziert.
„Sobald sich Formen der Differenzierung mitsamt ihren Folgen abzeichnen, ist es daher wahrscheinlich, daß sie in der Gesellschaft selbst beobachtet und beschrieben
werden.“277 Luhmann konstatiert, das soziale Systeme zur Selbstbeschreibung278 der
Gesellschaft fähig sind.279 Soziale Systeme der Friedens- und Ökologiebewegungen
der 1970er und 1980er Jahre, formiert als neue Art sozialer Bewegungen und sozialen
Protests, suchten alternative Formen der Artikulation.280 In Bezug auf wohl alle Funktionssysteme hatten sich Sinnzweifel eingestellt, und sorgten so für eine „weithin unorganisierte Resonanz solcher Themen.“281 In diesem Zusammenhang ist eine soziale
Bewegung ein „kommunikatives Geschehen, das quer zu den oder außerhalb der erfolgreich ausdifferenzierten Funktionssysteme(n) stattfindet.“ Soziale Bewegungen sind
beobachtbar als autopoietische soziale Systeme, die der gesellschaftlichen Selbstalarmierung dienen.282 Luhmann erwartete,
„daß die rasch zunehmende Relevanz der Umwelt weitreichende Anpassungen in der internen Differenzierungsstruktur des Gesellschaftssystems erzwingen und insgesamt die Bedeutung der internen Differenzierung wieder mindern, also auch das Anspruchsniveau in
Bezug auf Spezialfunktionen wieder senken wird.“
LUHMANN (1981: 24)
277
Ebda., S. 230.
278
Die Selbstbeschreibung sorgt, sehr knapp formuliert, durch eine Beobachtung zweiter Ordnung für eine System-Umwelt-Differenz und bildet so Reflexionspunkte. Vgl.: Ebda., S. 59.
279
Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 230 f.
280
„Soziale Systeme sind bei primär funktional differenzierten Gesellschaften“ u. a. „auch soziale Bewegungen.“ Vgl.: Krause, Detlef (2001): Luhmann-Lexikon, S. 215.
281
Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 233.
282
Vgl.: Krause, Detlef (2001): Luhmann-Lexikon, S. 201.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
74
Dieser Prozess werde ausgelöst durch Mentalitätsänderungen und ließe sich beobachten „in der Suche nach Lebensformen, die sich von der Differenzierungsschematik der
Gesellschaft insgesamt distanzieren“. Auch im „Aufleben eines politischen Regionalismus“ und „im Rückgang auf relativ schlichte, naturnahe, lokale Präferenzen“ finde diese Entwicklung ihren Ausdruck.283
Hieraus ergibt sich die Frage:
„[...] ob ein als Demokratie ausdifferenziertes Funktionssystem für Politik diesen Anpassungsprozess führen kann, wo es doch zugleich sein Opfer ist, oder ob Hinnahme des Unvermeidlichen der politisch bequemere und auch für die Erhaltung demokratischer Politik
sinnvollere Ausweg ist.“
LUHMANN (1981: 24)
„Politische Resonanz kommt vor allem dadurch zustande, daß die ‚öffentliche Meinung’
als der eigentliche Souverän differentielle Chancen der Wiederwahl suggeriert.“284 Auf
diese Weise können auch ökologische Gefährdungen in das System der Politik zurückgekoppelt werden. Die Aufnahme von Informationen richtet sich nicht nach ihrem
Gehalt, sondern nach bestimmten Filtern, u. a. die öffentliche Meinung, die überwunden werden müssen. „Man muß also einen dieser Eingangsfilter manipulieren, will man
Prozesse in Gang setzen, die Informationen wahrnehmen, verarbeiten und eventuell
Entscheidungen treffen können.“285
Mittlerweile scheint die Resonanz besser organisiert zu sein. Unter anderem die Aufnahme des Ziels zur nachhaltigen Entwicklung in das EU-Rechtssystem schafft entsprechende Informationsverarbeitungsfähigkeiten, die Umweltprobleme entsprechend
codieren können. Ferner haben sich auch die oben erwähnten sozialen Bewegungen
ausdifferenziert und sind ein zunehmend ernstzunehmender und kompetenter Faktor
zivilgesellschaftlicher Interessenvertretungen geworden, deren Organisationen durchaus Steuerungsimpulse erzielen können.
Nun sind bereits 16 Jahre vergangen seit der „Ökologischen Kommunikation“ und ein
gesellschaftlicher Wandel hat stattgefunden. Die Tatsache der funktionalen Differenzierung und der damit verbundenen Problematiken besteht nach wie vor. Was sich aber
entscheidend geändert hat, ist die Organisationsform der ‚sozialen Bewegungen’. Aus
283
Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 24.
284
Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich
auf ökologische Gefährdungen einstellen? S. 175.
285
Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 151.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
75
ihnen sind heute teilweise global operierende Organisationen entstanden, deren Qualität der Problembeschreibungskompetenz sich verbessert hat.
Für Luhmann (1990: 236) stellt sich noch die Frage, „ob die moderne Gesellschaft für
Selbstbeschreibung auf die ganz unzulängliche Basis sozialer Bewegungen angewiesen ist.“ Heute stellt sich vielmehr die Frage, ob die sozialen Bewegungen eine unzulängliche Basis für die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften sind.286
6.2
Die Greening the Treaty – Kampagne
Ein Beispiel für die Umsetzung von Partikularinteressen in die offiziellen Politikziele der
Europäischen Union durch Partizipation von NGOs ist die „Greening the Treaty Kampagne“ europäischer Umweltschutzverbände im Vorfeld der Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam (1997). U. a. die als „Gruppe der Sieben“287 bezeichneten und in
Brüssel etablierten Umwelt NGOs288 European Environmental Bureau (EEB), Friends
of the Earth Europe (FoEE), Greenpeace International, World Wide Fund for Nature
(WWF), Climate Network Europe (CNE), Birdlife International und die European Federation for Transport and Environment (T&E) erreichten mit ihrer Kampagne, dass die
Europäische Union die Verpflichtung zu einer nachhaltigen Entwicklung zu einer ihrer
wichtigsten politischen Aufgaben machte.
Die „Greening the Treaty Kampagne“ basierte zunächst auf einem etwa 25 Seiten starken Pamphlet. „Dort war dargestellt, wie der Maastrichter EU-Vertrag seinerzeit aussah
und wie sich die Umweltorganisationen eine ökologische Ergänzung des Vertrages
vorgestellt haben.“ 289 Die Abstimmungsphase innerhalb der Umweltverbände begann
im Jahre 1996. Innerhalb der G7 als Absprachegremium wurden die Vorschläge diskutiert und es kam eine Einigung zustande auf das Papier als Grundlage der Kampagne.
286
Und ob sie als moderne Organisationen in Form von NGOs und gewandelten Partizipationschancen tatsächlich nur als protestierender „Parasit“ die Position „eingeschlossener ausgeschlossener Dritter in der Gesellschaft“ einnehmen. Vgl.: Luhmann, Niklas (1990): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen
einstellen? S. 232 – 234.
287
288
Mittlerweile G8, weil die „Naturfreunde International“ dazugekommen sind.
Einen ausführlichen Einblick gibt Webster, Ruth (1998): Environmental collective action.
Stable patterns of cooperation and issue alliances at the European level, in: Aspinwall, Mark;
Greenwood, Justin (Ed.): Collective Action in the European Union. London / New York,
S. 178 ff.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
76
Mit der Umsetzung wurde FoEE beauftragt. FoEE ist ein Netzwerk bestehend aus Organisationen in 12 der 15 EU-Länder. Die deutsche FoEE-Organisation ist der BUND.
Alle Organisationen in diesen Ländern haben bei der Kampagne mitgewirkt. „Zur Vorbereitung [...] fand in Brüssel ein Treffen mit allen beteiligten Organisationen statt.“290
Bei der anstehenden Regierungskonferenz waren es die Vertreter der einzelnen Mitgliedsstaaten, die die Verhandlungen führten. Um diesen Prozess beeinflussen zu
können, mussten nicht die Brüsseler Institutionen lobbyiert werden, sondern die zuständigen Personen und Gremien in den nationalen Ministerien und Regierungen. Die
Aufgabe der Kampagne war es nun, „sich in Brüssel zu verabreden und anschließend
in den Außen- und Umweltministerien die jeweilige nationale Position zur Regierungskonferenz zu erfragen.“291
Abb. 2: Deutsche Einwirkung auf den Verhandlungsprozess in der Regierungskonferenz und
292
beteiligte Institutionen.
289
Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 104.
290
Ebda., S. 106.
291
Ebda.
292
Birgelen, Georg (1998): Europapolitische Meinungsbildung in Deutschland. Institutionelle
Struktur der Formulierung europapolitischer Positionen, dargestellt am Beispiel der Regierungskonferenz zur Revision des Maastrichter Vertrages, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Deutsche Europapolitik. Optionen wirksamer Interessenvertretung. Bonn (= Münchner Beiträge zur
europäischen Einigung; Bd. 2), S. 117.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
77
Das organisierte Auftreten der Umwelt NGOs in diesem Prozess sorgte in den nationalen Institutionen für Überraschung. Es entstand so ein Handlungsbedarf in den Ministerien, die nicht damit gerechnet hatten, „dass speziell die Umweltministerien [...] unter
der Beobachtung der Zivilgesellschaft standen.“293 Dass Anliegen der Umwelt NGOs
und der positiv besetzte Wert, sich für Fragen der Umwelt zu engagieren, sorgte in den
Nationalstaaten aber dafür, dass die Forderungen der G7 diskutiert wurden und in die
nationalen Strategien zur Regierungskonferenz eingeflossen sind.294
Bei der Strategieentwicklung war es vor allem wichtig, dass die beteiligten Personen
über gute rechtliche und institutionelle Kenntnisse verfügten. „Profis, die sich wie kein
anderer damit auskennen.“295 Ferner war es das gut abgestimmte Timing der Kampagne, das dafür sorgte, dass die Forderungen der G7 bereits zu Papier gebracht waren,
bevor die Vertreter der Regierungskonferenz zusammentraten. Die Umweltverbände
waren „früher als jedes andere Netzwerk und auch früher als die Regierungen selber
gut vorbereitet im Vorfeld dieser Regierungskonferenz positioniert“.296
Die Kommunikation im Netzwerk verlief zum größten Teil gestützt auf elektronische
Medien. Ferner gab es Workshops, eine große Konferenz und „entsprechenden Bemühungen auch für die Öffentlichkeit.“ Die Abstimmungs- und Koordinationsprozesse
etwa per E-Mail sorgten für den entsprechenden und schnellen Informationsaustausch.
Die Vernetzung der „Greening the Treaty“ Vertreter mit ihren Kontakten sorgte zudem
für eine höhere Transparenz der Verhandlungen während der Konferenz. „So kam es
vor, dass uns bspw. geheime Verhandlungsprotokolle zugespielt wurden, die sich dann
über unsere Kanäle in ganz Europa verbreitet haben“ und wenn notwendig auch in die
nationalen Ressorts hinein kommuniziert wurden, erinnert sich Philipp Schepelmann,
seinerzeit der Koordinator der Kampagne.297
Der Erfolg der „Greening the Treaty Kampagne“ war das Resultat eines wissensbasierten Netzwerkes, für das der virtuelle Raum eine entscheidende Rolle bei der Kommunikation und Entscheidungsfindung gespielt hat. Die Wettbewerbsnachteile durch die
begrenzten Ressourcen der Umweltverbände im Vergleich etwa mit den großen Indust-
293
Vgl.: Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 107.
294
Vgl.: Ebda., S. 106, S. 108.
295
Ebda., S. 105.
296
Ebda.
297
Ebda., S. 108.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
78
rie-Lobbyverbänden mussten „durch eine effiziente und rechtzeitige Information“ wettgemacht werden. „Wir haben da unsere Tentakeln. Die nehmen die Informationen auf
und bereiten sie so auf, dass sie wieder in die Organisationen zurückgespielt werden
können“, so Schepelmann.298 Das Know-How der G7 über Brüsseler Abläufe, Prozesse
und Institutionen sei in seiner Gesamtheit „sehr, sehr groß und sicherlich auch sehr viel
mehr wert, als dafür eigentlich bezahlt wird. Weil eben auch viele in ehrenamtlicher
Funktion und mit Leidenschaft dabei sind.“299
Es war ein kleine Gruppe von Leuten die zum einen wussten, dass sich die EU im Vertrag von Amsterdam neu konstituieren wird, und zum anderen über die notwendigen
institutionellen und organisatorischen Kenntnisse verfügten und sich zudem das Wissen aneigneten, „wer an den Verhandlungen teilnimmt, welche Positionen diese Personen vertreten und wie man ihnen unsere Positionen näher bringen kann.“300
„Greening the Treaty“ ist ein Beispiel für ökologische Kommunikation. Es ging darum,
ökologisch bedeutsame Informationen „in die juristisch codierte Sprache dieses Apparates, der die Konstitution der EU ausarbeitete“, zu transformieren. So geht es in den
Verträgen auch nicht „explizit um ökologische Inhalte“. Dort findet sich zwar das „ganze
Prisma der Nachhaltigkeit“ wieder und es wird auf „wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele als Ganzes“ verwiesen. Aber „letztlich bleibt es [...] eine rein abstrakte institutionelle Forderung.“301
6.3
Europäische Grüne und der Vertrag von Amsterdam
Auch die grünen Parteien Europas setzten sich im Vorfeld der Amsterdamer Regierungskonferenz für Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit im Vertrag ein – ebenfalls mit dem Ziel, in den Nationalstaaten darauf einzuwirken.302 In ihrem “Green Consultation Paper on the Intergovernmental Conference – 1996” fordern sie, die Agenda
298
Ebda., S. 110.
299
Ebda.
300
Vgl.: Ebda., S. 108.
301
Ebda., S. 110.
302
European Greens (Ed.) (1995): Green Consultation Paper on the Intergovernmental Conference – 1996. Budapest, S. 1.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
79
der Regierungskonferenz “must aim to create stability and sustainability throughout the
continent.”303
Die Forderungen nach der Einbeziehung einer nachhaltigen Entwicklung bezogen sich
im Wesentlichen auf die Regulierung des Binnenmarktes und der vier Basisfreiheiten
(freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) in Artikel 3 c
(EGV) und verlangten dort ihre Integration. “Environmental protection must be incorporated as a higher goal than free competition.”304
Das erste und wichtigste Ziel der Europäischen Grünen für die Regierungskonferenz
war, dass “the EU should include sustainable development among its objectives; environmental policy should become one of the common policies of the EU.”305
Obwohl diese Forderungen der Europäischen Grünen erreicht, bzw. übertroffen wurden, nachdem die EU die nachhaltige Entwicklung tatsächlich in Art. 2 (EUV) als eines
ihrer Ziele formulierte, war die Resonanz zumindest der BÜNDNISGRÜNEN in Deutschland reserviert. Sie kritisierten den Vertrag, weil Antworten auf die soziale und ökologische Krise fehlten:
„Die Einführung des Prinzips der Nachhaltigkeit in den Vertrag droht ebenso symbolische
Politik zu bleiben wie die nochmalige Betonung der Umweltpolitik als Querschnittsaufgabe,
306
da daraus keine konkreten Verpflichtungen abgeleitet werden.”
Der Länderrat von BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN kam auf seiner Sitzung am 26./27. April
1997 so auch zu dem Fazit:
„Betrachtet man die gesamte Richtung, die mit der Regierungskonferenz von Amsterdam
eingeschlagen wird, so müssen wir mit großer Sorge feststellen: Die EU steht am Scheide307
weg, und die Entwicklung geht in die falsche Richtung.“
Entsprechend fiel die Reaktion der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN
aus. Die Bundesdelegiertenkonferenz hatte in Kassel beschlossen, der Ratifizierung
des Amsterdamer Vertrages nicht zuzustimmen mit der politischen Begründung, dass
303
Ebda., S. 4.
304
Ebda., S. 9.
305
Ebda., S. 12.
306
BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, Bundestagsfraktion (Hg.) (1997): Euroinfo. Die Grünen im Europäischen Parlament. Nr. 3/97, 22. Mai 1997, S. 32.
307
Ebda., S. 31.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
80
es zwar „integrationspolitische Fortschritte in Teilbereichen gibt“, die Ergebnisse der
Regierungskonferenz an sich jedoch „unzureichend sind und falsche Weichenstellungen enthalten“.308 Bei der Ratifizierung des Vertrages im Deutschen Bundestag hat
sich – bis auf drei Stimmen – die gesamte Fraktion enthalten. Sie hat nur deshalb nicht
mit Nein gestimmt, um „nicht als ‚anti-europäisch’ wahrgenommen“ zu werden.309
Noch im März 1998 auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Magdeburg steht für die
BÜNDNISGRÜNEN mehrheitlich fest, dass der Vertrag von Amsterdam die Weichen
falsch gestellt habe:
„Im Vordergrund steht die Zusammenarbeit von Polizei und Militär. Entscheidend jedoch sind Schritte in Richtung auf ein soziales und ökologisches Europa.“310
6.4
Von Amsterdam nach Göteborg – Meilensteine der Umweltintegration
Der Erfolg der Bemühungen zur Integration des Zieles einer nachhaltigen Entwicklung
ist im Artikel 2, Absatz 1 (EUV) des Vertrages von Amsterdam nachzulesen: „Die Union
setzt sich folgende Ziele: [...] sowie die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung [...]“.311 Artikel 6 (EGV) des Vertrages ist ebenfalls von großer
Bedeutung, als dass sich hier die Union zur Einbeziehung des Umweltschutzes und
der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung bei „Festlegung und Durchführung der in
Artikel 3 genannten Gemeinschaftspolitiken und –maßnahmen“ verpflichtet.312 Artikel 6
(EGV) fordert somit die Integration von Umweltschutz und Nachhaltigkeit in alle Politikbereiche.
Nach Amsterdam begann die institutionelle Auseinandersetzung mit den neuen politischen Vorgaben. Bereits auf dem Treffen des Europäischen Rates in Luxemburg (Dezember 1997) wurde der Kommission aufgrund der Schwedischen Initiative vorgeschlagen, eine Strategie für die Umweltintegration auszuarbeiten. Im Juni 1998 wurde
308
BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, Bundestagsfraktion (Hg.) (1998): Euroinfo. Die Grünen im Europäischen Parlament. Nr. 2/98, 14. Mai 1998, S. 27, S. 20.
309
Ebda., S. 20.
310
Ebda., S. 39.
311
Quelle: Europäische Union (1999): Vertrag von Amsterdam. Texte des EU-Vertrages und
des EG-Vertrages mit den deutschen Begleitgesetzen, hrsg. v. Thomas Läufer. Bonn, S. 20.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
81
das Kommissionspapier „Partnerschaft für Integration – eine Strategie zur Einbeziehung der Umweltbelange in die EU Politik“, dem Europäischen Rat in Cardiff vorgelegt.313 Unter britischer Ratspräsidentschaft wurde so in Cardiff ein Prozess in Gang
gebracht, „in dessen Rahmen verschiedene Formationen des Ministerrates jeweils eigene Strategien zur Berücksichtigung der Erfordernisse des Umweltschutzes in ihrem
Tätigkeitsbereich erarbeiten.“ Unter diesen Voraussetzungen sollte „zur Erfüllung der
Verpflichtungen des Artikels 6 des EG Vertrages“ die „Berücksichtigung der Erfordernisse des Umweltschutzes“ in alle Politikbereiche sichergestellt werden. Ergebnisse
sollten und wurden in Göteborg präsentiert.314
In Helsinki forderte die Finnische Ratspräsidentschaft die Europäische Kommission im
Dezember 1999 dazu auf, „einen Vorschlag für eine langfristige Strategie auszuarbeiten, wie die verschiedenen Politiken im Sinne einer wirtschaftlich, sozial und ökologisch
nachhaltigen Entwicklung aufeinander abzustimmen sind“. Im Mai 2001 veröffentlichte
die Kommission ihre „Strategie der Europäischen Union für eine nachhaltige Entwicklung“ und schlug sie dem Europäischen Rat im Juni 2001 in Göteborg vor.315
Im März 2000 ist der Europäische Rat in Lissabon zu einer Sondertagung zusammengekommen, um der Europäischen Union ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt zu setzen. Die Union solle zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ gemacht werden. Ein Wirtschaftsraum,
„der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“316 Mit den Lissabonner Zielvorgaben, so Prodi (2001: 3), sollte in Göteborg ein „ambitioniertes, aber den-
312
Ebda., S. 58 f.
313
Eine sehr ausführliche Darstellung des Umweltintegrationsprozesses ist zu finden auf der
Webseite der Kommission: Europäische Union: Die Kommission (2002): Environmental Integration. Webseite: www.europa.eu.int/comm/environment/enveco/integration/integration.-htm;
zuletzt aufgerufen am 11. April 2002.
314
Kraemer, R. Andreas (2001): Ergebnisse des “Cardiff-Prozesses” zur Integration der Erfordernisse des Umweltschutzes in andere Politiken – Bewertung des Zwischenstandes. Bericht
and das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Forschungsbericht (BMU/UBA) Nr. 299 19 120. Berlin, S. 4.
315
Europäische Union: Die Kommission (2001a): Mitteilung der Kommission: Nachhaltige Entwicklung in Europa für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung (Vorschlag der Kommission für den Europäischen Rat in Göteborg). Brüssel,
KOM(2001) 264, S. 2.
316
Europäischer Rat (2000): Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat (Lissabon)
23. und 24. März 2000. SN 100/1/00. Webseite der Online Edition: http://ue.eu.int/de/info/eurocouncil/; zuletzt aufgerufen am 11. April 2002.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
82
noch realistisches Projekt zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung ins Leben gerufen werden.“ Der Kern der Überlegungen ist, dass eine nachhaltige Entwicklung nicht
nur Umweltpolitik betrifft, sondern es müsse vielmehr „sichergestellt werden, dass Wirtschaftswachstum, sozialer Zusammenhalt und Umweltschutz miteinander Schritt halten.“317 Zum Abschluss der Schwedischen Ratspräsidentschaft am 15. und 16. Juni
2001 in Göteborg formulierte der Europäische Rat daher in den „Schlussfolgerungen
des Vorsitzes“ zur „Festlegung politischer Leitlinien“:
„1. Der Europäische Rat ist am 15. und 16. Juni in Göteborg zur Festlegung politischer Leitlinien für die Union zusammengetreten. Er [...] – einigte sich auf eine Strategie für die nachhaltige Entwicklung und gab dem Prozess von Lissabon für Beschäftigung, Wirtschaftsre318
form und sozialen Zusammenhalt eine Umweltdimension [...].
Bislang sind zahlreiche Initiativen ergriffen worden, um das anspruchsvolle Ziel der
nachhaltigen Entwicklung in die EU-Politik zu integrieren. Der Europäische Rat in
Stockholm beschloss im März 2001, „dass alle Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung auf der jährlichen Frühjahrstagung des Europäischen Rates überprüft werden sollen.“319 Ferner schlägt die Kommission dem Europaparlament vor, einen Ausschuss für
die nachhaltige Entwicklung ins Leben zu rufen. Auch wird sie „einen ‚Runden Tisch’
für die nachhaltige Entwicklung mit etwa zehn unabhängigen Sachverständigen
einrichten,“ der dem Kommissionspräsidenten Bericht erstattet. Und ab dem Jahre
2002 will die Kommission „ein Forum für die Beteiligten“ zur Bewertung der EUStrategie organisieren, an dem sich ausdrücklich auch der WSA beteiligen solle.320
„Kleine, aber entscheidende Änderungen an diesem Supertanker EU haben dazu geführt, dass er jetzt langsam aber spürbar seine Richtung ändert. Niemand hätte mit
diesem Erfolg gerechnet,“ antwortet Philipp Schepelmann auf die Frage, wie er rückbli-
317
Prodi, Romano (2001): „Was ich von Göteborg erwarte - die Vision muss Realität werden”.
Rede des Präsidenten der Europäischen Kommission vor dem Europaparlament. Straßburg,
13. Juni 2001 (= Speech 01/281), S. 3.
318
Quelle: Europäischer Rat (2001a): Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat
(Göteborg) 15. und 16. Juni 2001. SN 200/1/01.
319
Europäische Union: Die Kommission (2001a): Mitteilung der Kommission: Nachhaltige Entwicklung in Europa für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung (Vorschlag der Kommission für den Europäischen Rat in Göteborg), S. 17.
320
Ebda., S. 18.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
83
ckend die „Greening the Treaty Kampagne“ beurteilt.321 Ob die erzielten Fortschritte zur
Umweltintegration alleine der Erfolg dieser Kampagne waren, muss offen bleiben.
Nachhaltigkeit war auch schon im Vertrag von Maastricht erwähnt. Allerdings erst in
Art. 130 (EGV). Die Umwelt NGOs haben aber sicherlich wesentlich dazu beigetragen,
dass die Verpflichtung zur nachhaltigen Entwicklung eines der wichtigsten Politikziele
der Europäischen Union geworden ist. Sie wäre zwar im Vertragstext von Amsterdam
erschienen; vielleicht aber nicht an so exponierter Stelle.
6.5
Nachhaltigkeit für die EU – Blockaden und Chancen
Das Reformprojekt European Governance ist eine politische Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel und wurde von Kommissionspräsident Romano Prodi zum wichtigsten strategischen Ziel der EU erklärt.322 Die Partizipationsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft sind dabei Ausdruck der von Brüssel postulierten Bürgernähe. Partizipation
sorgt nicht nur für ein höheres Kohärenzgefühl der EU-Bürger, sie ist auch eine grundlegende Bedingung für eine demokratische und nachhaltige Entwicklung. Die Umsetzung der Governancereform und die Nachhaltigkeitsstrategie sind somit eng miteinander verknüpft. Es fragt sich in diesem Zusammenhang, ob die Förderung von NGOs als
wichtiger Säule bürgerschaftlicher Interessenvermittlung mit 1 Mrd. €, also knapp mehr
als 1 % des EU-Budgets ausreichend finanziert ist, oder ob nicht mehr Mittel zugunsten
subsidiärer Interessenvermittlung und den Ausbau von Netzwerken und Kooperationen
und damit zulasten der zentralistischen Brüsseler Verwaltung eingesetzt werden müssten. So bestätigt auch Philipp Schepelmann die noch unzureichende Institutionalisierung von Schnittstellen im Bereich der Umweltintegration und kritisiert die mangelnde
Offenheit, Partikularinteressen adäquat zu berücksichtigen. Es gibt zwar „jede Menge
Schnittstellen, die auch je nach Thema mehr oder weniger professionell besetzt werden.“ Dies ist aber immer abhängig von der Ressourcenfrage der NGO.323 Allerdings
fügt er hinzu, „dass die Kommission für die NGO Arbeit nicht unerhebliche Mittel zur
Verfügung stellt – auch für Arbeit der G7“ (G8). Diese Mittel sind allerdings projektge-
321
Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 109.
322
Prodi, Romano (2000): 2000-2005 : Umrisse des neuen Europas, S. 4; vgl. auch: Europäische Union: Der Ausschuss der Regionen (2001): Bericht des Ausschusses der Regionen
über die „Bürgernähe“, S. 3.
323
Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 107.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
84
bunden – meist an konkrete Arbeit für die Generaldirektion (GD) Umwelt – und stellen
keine institutionelle Förderung dar. „Wie beim ‚Greening the Treaty Prozess’ (für den
die GD-Umwelt die finanziellen Mittel zur Verfügung stellte) wird die finanzielle Ausstattung an konkrete Arbeit und konkrete Ergebnisse gebunden.“324
Umweltintegration findet auch auf der informellen Ebene statt. Die Leute in Brüssel
treffen sich auf Partys und es existieren zahlreiche Netzwerke „aus den verschiedenen
Nationen.“325 Allerdings „sind diese Gruppen meist thematisch gegliedert.“ Interessant
ist der Umstand, dass die Umweltorganisationen einen (heimlichen) strukturellen Bonus haben, wie Schepelmann vermutet. Da viele Menschen auch aus der Brüsseler
Verwaltung und Politik „Unterstützer von Greenpeace oder Mitglieder von FoEE Organisationen sind.“ FoEE Organisationen z. B. sind im Gegensatz zu den vielen anderen
Lobbyingverbänden Mitgliedsorganisationen. „Mitglieder etwa des BUND mit rund
250.000 Mitgliedern findet man ja überall; eben auch in diesen Apparaten.“326
Das komplexe Gebilde EU hat mehrere Gesichter. So findet man auf der einen Seite
„unglaublich innovative Instrumente“ etwa zu Governance oder zu nachhaltiger Entwicklung. Auf der anderen Seite sind aber wieder „die Strukturkonservativen am Werk“;
und es gibt unglaublich scheinende Probleme bei den Abstimmungs- und Kooperationsverfahren innerhalb der Verwaltung.327 Von der Effizienz der Kommission im Vergleich zu nationalen Regierungen dagegen „kann man durchaus angetan sein“. Die
Ursachen für die Fehlentwicklungen etwa „bei der Agrar- oder Strukturpolitik liegen im
Wesentlichen begründet in den Mitgliedsstaaten,“ so Schepelmann, deren Regierungen zum Teil in demokratische Prozesse „mit antidemokratischen Mitteln“ eingreifen.
„Der Regierungsapparat führt in Hinblick auf die EU-Politik ein Eigenleben.“328 Das erklärt u. a. die Befürchtungen der nationalen Parlamente, zu Exekutoren internationaler
Beschlüsse zu werden, die ein Demokratiedefizit nicht nur in Brüssel und Straßburg
selbst, sondern auch in den nationalen Parlamenten der Mitgliedsstaaten entstehen
324
Ebda.
325
Ebda.
326
Ebda., S. 108.
327
Vgl. hierzu die (subjektiven) Eindrücke einer EU-Praktikantin: Mahony, Honor (2002): Leerlauf hinter Glas, in: Experiment Europa. Ein Kontinent macht Geschichte. Spiegel special Nr.
1/2002, S. 134 – 135.
328
Interview mit Philipp Schepelmann. Siehe Anhang A.3, S. 109.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
85
lassen. „Uns geht die Demokratie flöten“, konstatiert VON W EIZSÄCKER in diesem Zusammenhang.329
Es ist anzunehmen, dass die Kommission auch aus diesem Grund im Weißbuch explizit den Wunsch äußert, „die Verantwortung für die Durchführung der Politiken wieder in
die Hände der Kommission zu legen“ und ihr das Initiativrecht zu überlassen.330 Für
eine effiziente Umsetzung einer Politik der Nachhaltigkeit müssen die stark ausdifferenzierten Arbeitsmethoden der EU aber geändert werden:
„In allen Phasen des Gesetzgebungsprozesses der Gemeinschaft werden in den einzelnen
Bereichen politische Vorschläge ausgearbeitet und erörtert, ohne dabei die Verbindungen
zwischen den verschiedenen Politikbereichen in angemessener Form zu berücksichtigen.
Die Struktur von Kommission, Rat und Parlament fördert diesen engen, sektoriellen Ansatz.
Alle drei Institutionen sollten sich Gedanken machen, wie diese Schwäche überwunden
werden kann.“
EUROPÄISCHE UNION: DIE KOMMISSION (2001a: 17)
Damit hat die Kommission das Komplexitätsdilemma erkannt. Eine bessere Vernetzung aller Beteiligten ist daher eine notwendige Konsequenz, die zur Folge hat, potentiell Komplexität zu erhöhen und dadurch eine verbesserte Problemlösungskompetenz
zu erlangen. Nicht die Steigerung der Komplexität durch weitere Ausdifferenzierung
muss daher Ziel der von der Kommission eingeleiteten umfassenden Verwaltungsreform der EU sein, die auch auf eine „Verbesserung der Managementkultur des Organs
abzielt“331, sondern neue Verfahren der Vernetzung und Kooperation.
6.6
Die politische Öffentlichkeit in Europa
Für die Soziologie bezeichnet Öffentlichkeit u. a. „ein Prinzip des allgemeinen Zugangs332 [...] und den Grundsatz der Publizität als Voraussetzung der Transparenz bei
Angelegenheiten von allgemeinem (‚öffentlichem’) Interesse“. Die politische Öffentlich-
329
Weizsäcker, Ernst U. von (2001b): Die Natur lässt sich nicht betrügen – aber wir können sie
viel eleganter nutzen. Vortrag an der Universität Essen. 10. Oktober 2001; zum angeschlagenen Verhältnis zwischen der Kommission und der Deutschen Bundesregierung, namentlich
zwischen Romano Prodi und Gerhard Schröder siehe u. a.: Pinzler, Petra (2002): Kanzlers
Klientel, in: DIE ZEIT Nr. 13/2002, S. 10.
330
Europäische Union: Die Kommission (2001b): Europäisches Regieren. Ein Weissbuch,
S. 41.
331
Europäische Union: Die Kommission (2000): Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen. Diskussionspapier der
Kommission, S. 2 f.
332
Zu Versammlungen, Örtlichkeiten; zu Informationen.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
86
keit ist „ein Strukturprinzip moderner Demokratien und damit ein Medium der Kontrolle
von Herrschaft.“333 „Das Subjekt dieser Öffentlichkeit ist das Publikum als Träger der
öffentlichen Meinung; auf deren kritische Funktion ist Publizität [...] bezogen."334 In einer Demokratie leitet sich daraus für eine staatliche Institution eine Pflicht zur Erfüllung
von Interaktionsaufgaben ab, eben um mittels dieser Publizität eine Kontrollmöglichkeit
zu schaffen. Öffentlichkeit ist zugleich „ein Forum, auf dem Interessen und Meinungen
zu Wort kommen [...] und eine Arena, in der um Macht und Einfluß gestritten wird.“
Öffentlichkeit „ist eine kritische Instanz, vor der sich die gesamte Politik [...] zu rechtfertigen hat.“ „Nicht zuletzt trägt eine funktionierende Öffentlichkeit, da sie auch die Opposition zu Wort kommen lässt, zum inneren Frieden bei.“335 Bezogen auf die europäische Politik bedeutet das, dass ein gemeinsames Staatswesen Europa ohne eine europäische Öffentlichkeit „unvernünftig“ wäre.336
„In den personalen und institutionellen Voraussetzungen der politischen Öffentlichkeit ist die
Demokratie mehr als lediglich eine Herrschaftsform. Nach ihrem existenziellen Begriff ist sie
auch eine Lebensform oder gesellschaftliche Praxis, bei der es im Gegensatz zur bloß formalen Demokratie auf den realen Vollzug ankommt: daß alle Bürger ihre politischen und sozialen Rechte wahrnehmen und an der Entscheidung über deren Ausbau teilhaben.“
HÖFFE (1999: 118)
Europäische Willensbildungsprozesse benötigen gegenüber dem nationalstaatlichen
Identitätskriterium der gemeinsamen Nationalität zusätzliche Merkmale der Identifikation. „Identitätskriterien, die in ihrer Gesamtheit auf gemeinsamen Traditionen und den
Wertvorstellungen der Demokratie und der Menschenrechte basieren.“337 Demokratie
auf europäischer Ebene muss also verschiedene „Partizipationsschienen“ anbieten, die
heutige und unzulängliche Partizipationsmöglichkeiten ergänzen und die „der Heterogenität des europäischen Identitätsbegriffs Rechnung tragen.“338 Auch das normative
Konzept nachhaltiger Entwicklung muss auf der Wertebene der Union eingegliedert
333
Ausführlich in: Schäfers, Bernhard (1998): Art. Öffentlichkeit, in: ders. (Hg.): Grundbegriffe
der Soziologie, S. 259 – 261.
334
Habermas, Jürgen (1999): Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, 6. Auflage,
Frankfurt am Main, S. 55.
335
Vgl.: Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 117 ff, S. 320 ff.
336
Angelehnt an ebda., S. 320.
337
Europäische Union: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (1999): Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“, S. 35.
338
Ebda.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
87
werden. Daher erfordert und bietet Nachhaltigkeit zugleich einen Anlass zur Identifikation.
In modernen Gesellschaften wird die „politische Öffentlichkeit in erster Linie von Massenmedien geschaffen, die jedoch in der Regel wenig Interesse am Thema ‚Europa’
haben“ und deren Berichterstattung sich meist auf Tagespolitik oder Unzulänglichkeiten beschränkt.339 Die Chance der verschiedenen „Partizipationsschienen“ liegt nun in
einem reflexiven Verhältnis der Auseinandersetzung zwischen der EU und der Öffentlichkeit durch die Nutzung der Foren und Arenen als Plattformen gesellschaftlicher Diskurse. So kann es möglich werden, ein differenzierteres Bild der EU zu erzeugen, das
nicht mehr hauptsächlich von Negativ-Nachrichten geprägt ist.
Bei der Partizipation der Zivilgesellschaft geht es nicht um die Institutionalisierung von
Protest. Es geht vielmehr um die Implementierung des Konsensprinzips als Leitmotiv
des kommunikativen Handelns der Zivilgesellschaft; um eine veränderte Kultur der
Willensbildung. Nachhaltige Entwicklung kann nur breitenwirksam und sinnstiftend
wirksam werden, wenn ihre Inhalte in die Öffentlichkeit transportiert werden. Und Kultur
bedeutet hier im kommunikationstheoretischen Zusammenhang die Kommunikation
von ‚Sinn.’ Dabei kann die Politik die Funktion als Motor des Wertewandels übernehmen.
Die Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit ist dann die Herstellung von Publizität als Kontrollmedium, auch um Identifikationsanlässe zu schaffen und innerhalb der Union für
mehr Kohärenz zu sorgen.340 Eine adäquate Öffentlichkeitsarbeit wird somit zu einer
funktionalen Dimension europäischer Politik. Soll dieser Prozess demokratisch legitimiert begleitet werden, ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft bei der Formulierung
der Interessen integraler Bestandteil. Konsequenz in diesem Prozess wäre eine andere, vor allem differenziertere Berichterstattung über Europäische Politik.
Die öffentliche Meinung als der „eigentliche Souverän“ ist ein ganz entscheidender
Faktor bei der Gestaltung von Willensbildungsprozessen. Die Defizite in Wahrnehmung
und Berichterstattung über Europa liegen daher vielleicht auch darin begründet, dass
es während des momentanen Transformationsprozesses noch keine voll entfaltete
339
Ebda., S. 34.
340
Vgl.: Habermas, Jürgen (1999): Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer
Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, S. 300.
Europäische Union und ökologische Kommunikation
88
europäische Öffentlichkeit gibt. In der Übergangszeit ist es dann auch die Aufgabe der
Zivilgesellschaft, diese Kommunikation in einem partizipativen Dialog herzustellen.
„Die Strategie für eine nachhaltige Entwicklung sollte in den nächsten Jahren als Katalysator
für politische Entscheidungsträger und die öffentliche Meinung dienen und zur treibenden
Kraft für institutionelle Reformen und ein verändertes Verhalten von Unternehmen und
Verbrauchern werden.“
EUROPÄISCHE UNION: DIE KOMMISSION (2001a: 3)
Mehr Transparenz und eine stärkere Beteiligung von NGOs als Vertreterinnen zivilgesellschaftlicher Interessen hat die Kommission in ihrem Weißbuch postuliert. Dadurch
ist es zu einer institutionellen Forderung mit Geltungsanspruch geworden und verdient
die Chance einer differenzierten Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit. Wird es versäumt, in der Öffentlichkeit auch die positiven Effekte zu betonen, beraubt sie sich
selbst ihrer Chance auf mehr Partizipation und nicht zuletzt vielleicht sogar der Mitgestaltung einer nachhaltigen Entwicklung, die vor allem kommunikativ angeschlossen
werden muss.
Bilanz und Perspektive
7
89
Bilanz und Perspektive
Bilanz: Die vorliegende Arbeit reflektiert die Einflussmöglichkeiten von NGOs als organisierte, wissensbasierte Netzwerke der europäischen Zivilgesellschaft auf Willensbildungsprozesse vor dem Hintergrund der auf ökologische Fragestellungen angewandten Systemtheorie Niklas Luhmanns. Die in NGOs selbstorganisierte Zivilgesellschaft
ist strukturell dazu befähigt, als kompetenter Verhandlungspartner des Staates zu agieren. Ihre Organisation in Netzwerken, die auf der Ressource Wissen basieren, trägt
dazu bei, die hochkomplexen und wissensbasierten Prozesse für eine nachhaltige
Gestaltung der Zukunft zu begleiten und mit zu gestalten.
Unter den Bedingungen der Globalisierung unterliegen die Organisationen der Gesellschaft einem evolutionären Trend. Dieser Trend ist u. a. gekennzeichnet durch eine
Entwicklung hin zur Selbstorganisation341, durch Dezentralität, durch Umwandlung von
Hierarchien in Heterarchien, durch Team- und Projektarbeit und einer zunehmenden
Vernetzung gesellschaftlicher Akteure. Der Vorteil der Vernetzung liegt in der Einbeziehung von Konfliktparteien in Entscheidungsprozesse und sie ermöglicht die notwendigen Kontexte zur Verteilung und Generierung von Wissen. Als Basis einer
ergebnisorientierten Kooperation ist die Vernetzung die Grundlage für partizipativdemokratische Prozesse.
Strategien für eine nachhaltige Entwicklung müssen entwickelt werden in Kenntnis der
strukturellen Besonderheiten einer funktional differenzierten Gesellschaft und ihrer
Kommunikationslogik. Steuerung als Ereignis wird so zu einer Aufgabe politischen
Handelns. In diesem Kontext gewinnen die Organisationen der Gesellschaft ihr Profil.
Als virtuelle Netze gründen sie auf einer wichtigen Steuerungsressource für die Zukunft: Auf Wissen als Ereignis. Für die Steuerungsfähigkeit des europäischen politischen Systems leitet sich daraus die verstärkte Partizipation von NGOs an Entscheidungsprozessen ab. Als virtuelle Wissensnetze vertreten sie die Zivilgesellschaft und
werden zum Korrektiv für die inhaltliche Gestaltung von Spillover-Prozessen.
341
Für die Systemtheorie ist Selbstorganisation „derjenige Aspekt der selbstreferentiellen Erzeugung und Veränderung von Systemen, der mit der Umsetzung von Umweltereignissen in
Strukturen zu tun hat“. Vgl.: Krause, Detlef (2001): Luhmann-Lexikon, S. 197.
Bilanz und Perspektive
90
Die „Greening the Treaty Kampagne“ hat gezeigt, dass als Ergebnis des zivilgesellschaftliches Engagements ökologische Rahmenbedingungen in einem bedeutsamen
Vertragswerk verankert wurden. Ökologische Kommunikation bedeutete hier die Codierung der Ziele der Nachhaltigkeit in die Sprache des juristischen Systems der EU. Ohne einen Steuerungsimpuls von ‚außen’ wäre die Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel im
Vertragswerk von Amsterdam zu verankern, sehr gering gewesen. Erst diese Steuerungsimpulse sorgten für die notwendige Interdependenz und ihre Kommunikation beeinflusste die Selektionskriterien der Vertragsgestaltung. Einmal umgesetzt in die
Sprache des Systems wirkt dieser Impuls nun nachhaltig weiter.
Um das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung auch im gesellschaftlichen Alltag zu implementieren, muss darüber in der Öffentlichkeit kommuniziert werden. Die Massenmedien als Plattformen der öffentlichen Meinung spielen eine entscheidende Rolle für
Willensbildungsprozesse. In dem Maße nämlich, wie sie Themen zum öffentlichen Interesse machen können, hat die Nicht-Berichterstattung zur Folge, dass der Öffentlichkeit Themen entgehen, die ebenfalls ihre Aufmerksamkeit verdienen.
Die täglich und in allen Programmen laufende Börsenberichterstattung macht deutlich,
wie stark das Menschenbild des ‚homo oeconomicus’ nach wie vor prägend in den Alltagsstrukturen verankert ist. So wäre es ein großer Schritt in die richtige Richtung, statt
über Börsennachrichten in der ‚Tagesschau’ eine Minute lang über ‚best-practices’ aus
dem Gebiet nachhaltiger Entwicklung zu berichten, meint Peter Hennicke, amtierender
Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie.342
Nachhaltige Entwicklung legitimiert sich seit dem Vertrag von Amsterdam als Politikziel
der Europäischen Union. Nachhaltige Entwicklung als „Katalysator“ der öffentlichen
Meinung, wie es die Kommission fordert, bedeutet daher eine Allianz mit den europäischen Medien für ihren kommunikativen Anschluss, um sie in den Alltagskulturen zu
festigen und das Menschenbild eines ‚homo sustinens’343 zu gestalten.
Derzeit fehlt es noch an handlungsfähigen Koalitionspartnern für eine Politik der Nachhaltigkeit und an vorgesehenen Rollen innerhalb der gesellschaftlichen Teilsysteme,
die eine notwendige Integration der verschiedenen Problemdimensionen durch ökolo-
342
Hennicke, Peter (2001): Beiträge zur Podiumsdiskussion: Nachhaltige Entwicklung – Leitidee
oder Hemmnis für die Wirtschaft? In: Jahreskongress: Nachhaltigkeit – Ein neues Geschäftsfeld? Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, Wuppertal.
343
Mehr zur Gestalt dieses Menschenbildes in: Siebenhüner, Bernd (2001): Homo sustinens –
Auf dem Weg zu einem Menschenbild der Nachhaltigkeit.
Bilanz und Perspektive
91
gische Kommunikation bewältigen und Lösungsstrategien entwickeln können. Mangelnde Vernetzung und Organisation entsprechender Akteure könnten ein Grund dafür
sein, dass ökologische und soziale Anliegen im Vergleich zu ökonomischen Interessen
immer noch relativ schwach vertreten werden. Die Repräsentanz der durch die Nachhaltigkeit entstehenden Interessen durch die Selbstorganisation entsprechender Akteure ist eine wichtige Bedingung, dieses Missverhältnis aufzulösen. Hinreichend organisierte Koalitionspartner und gleichzeitig zu verändernde Partizipationsmöglichkeiten
an politischen Prozessen können in Zukunft eine adäquate Berücksichtigung ökologischer Kommunikation gewährleisten.344
„Die Zukunft unseres Planeten hängt auch von einer weltweit nachhaltigen Entwicklung
ab, und diese kann die EU am besten dadurch fördern, dass sie ihren eigenen Ziele
auch wirklich realisiert und mit gutem Beispiel vorangeht.“345
Die Verwirklichung der Nachhaltigkeit ist eine zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Ihr kommunikativer Anschluss erfordert daher neben der Kommunikation von
Nachhaltigkeit auch die Selbstgefährdung der Gesellschaft durch die Kommunikation
von Nicht-Nachhaltigkeit.
Perspektive: Gerade für die Kommunen und für den lokalen Bezug von Netzwerken ist
es eine große Herausforderung und Chance zugleich, die von der Europäischen Kommission angeregten Vorschläge zu einer Veränderung politischer Willensbildung mit
einer europäischen Dimension zu verwirklichen. Verstärkte Bürgerbeteiligung, Partizipation und der Verbund in transeuropäischen Netzwerken sind nicht nur zugleich eine
Chance für die Sichtbarkeit der Regionen und Städte. Sie ermöglichen darüber hinaus
auch ein anderes Verständnis für Demokratie und sind potentiell befähigt, als eine
mögliche Antwort auf die Parteienkrise die Politikverdrossenheit einzuschränken.
Das Verständnis von Politik und die oft diffusen Ängste im Zeitalter der Globalisierung
könnten sich umwandeln in mehr Engagement und einen konstruktiven Umgang mit
diesen Veränderungen ermöglichen. Lokale Identitäten könnten gewahrt werden und
344
345
Vgl.: Schneidewind, Uwe (2002): Nachhaltige Wissensgesellschaft, S. 194 ff.
Prodi, Romano (2001): „Was ich von Göteborg erwarte - die Vision muss Realität werden”,
S. 4.
Bilanz und Perspektive
92
drohten sich nicht länger aufzulösen in anonymen Datennetzen und supranationalen
Strukturen, die für ein politisches Engagement viel zu komplex erscheinen.
Der lokale Bezug kann die Bemühungen zu einer nachhaltigen Entwicklung unterstützen und die notwendige Umsetzung durch die Wissensressourcen der Netzwerke beschleunigen. Um diese Innovationen zu nutzen, kommt es wesentlich auf die Bereitschaft der lokalen Autoritäten und der Organisationen der Zivilgesellschaft an. Konkrete Ziele müssten daher sein, Wissen über bereits bestehende Strukturen oder über
Beispiele in Europa zu generieren. Voraussetzung dafür ist die Kommunikation und
Multiplikation u. a. der EU-Strategien. Hier ist auch an eine Zusammenarbeit zunächst
mit den lokalen Medien zu denken. Ferner ist es erforderlich, Strukturen anzudenken,
die auch als elektronische Plattformen dem zivilgesellschaftlichen Dialog dienen und
die Gestaltungsmacht von NGOs kritisch begleiten und legitimieren können. Hierfür
sind die Kenntnisse über den Forschungsstand von eGovernment und eDemocracy
nötig und es eröffnet sich die Frage nach der Akzeptanz in der Bevölkerung und potentiellen Anreizsystemen. Schließlich könnten Konzepte für Modellversuche erarbeitet
werden, um die Ideen in der Praxis zu testen. Dieser Prozess bedarf der fundierten
theoretischen Begleitung, um die erforderliche Abstraktion herzustellen.
An diesem Beispiel wird die Notwendigkeit zur Vernetzung der zu beteiligenden Akteure deutlich, um die Herausforderungen bewältigen zu können. Die multidimensionale
Problemstellung erfordert weniger eine strikte funktionale Ausdifferenzierung, sondern
vielmehr Kenntnisse über die wechselseitig in Abhängigkeiten stehenden Dimensionen, die erst miteinander verknüpft als Synthese eine Strategieentwicklung möglich
machen. Die notwendige Komplexität zur Gestaltung dieses wissensintensiven und
komplexen Prozesses kann hier durch Wissensnetze als geeignete Organisationsform
erreicht werden.
Die Ideen aus Brüssel fordern dazu auf, sich am Aufbau ‚glokaler’ Netze zu beteiligen,
Wissen auszutauschen und sich an ‚best-practices’ aus anderen Regionen zu orientieren. Dafür bieten sich die Organisationen der Zivilgesellschaft als subsidiär strukturierte
Steuerungselemente an. Der Prozess der Politik wäre nicht mehr nur noch eine „Spätanpassung an Folgen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung“, wie LUHMANN
(1981: 146) es formulierte, sondern im Gegenteil – Politik hieße die Steuerung
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Zürn, Michael (1998): Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance. Frankfurt am Main.
Anhang
102
Anhang
A.1 Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Kommunale Netzwerksteuerung: Beteiligte Ebenen im politischen Prozess....69
Abb. 2: Deutsche Einwirkung auf den Verhandlungsprozess in der Regierungskonferenz und beteiligte Institutionen.....................................................................76
A.2 Abkürzungsverzeichnis
AdR
Ausschuss der Regionen
CGG
Commission on Global Governance
CNE
Climate Network Europe
CoP
Community of practice
EAG
Europäische Atomgemeinschaft
ECO(s)
Environmental Citizens Organisation(s)
EEA
Einheitliche Europäische Akte
EEB
European Environmental Bureau
EG
Europäische Gemeinschaft
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGV (ECT)
EG-Vertrag (EC-Treaty)
EP
Europäische Parlament
EU
Europäische Union
EUV (EUT)
EU-Vertrag (EU-Treaty)
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
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FoE
Friends of the Earth
FoEE
Friends of the Earth Europe
G7/G8
Gruppe der sieben (jetzt acht) in Brüssel vertretenen Umweltverbände
GD (DG)
Generaldirektion (Directorate General)
IGC
Intergovernmental Conference
NABU
Naturschutzbund Deutschland
NGO(s)
Non-governmental-organisation(s)
NRO
Nicht-Regierungs-Organisation(en)
OECD
Organisation for Economic Cooperation and Development
(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
PEV
Primärenergieverbrauch
SERI
Sustainable Europe Research Institute
T&E
European Federation for Transport and Environment
UN
United Nations (Vereinte Nationen)
UNCED
United Nations Conference on Environment and Development
(Konferenz für Umwelt und Entwicklung der UN)
WSA
Wirtschafts- und Sozialausschuss
WWF
World Wide Fund for Nature
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A.3 Interview zur Greening the Treaty Kampagne
Auswertung des Interviews mit Philipp Schepelmann,
Projektleiter in der Abteilung Stoffströme und Strukturwandel des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt
und Energie.
Wuppertal, 10. Dezember 2001
Teilnehmer: Philipp Schepelmann
Jürgen Schäfer
Befragung zur Verankerung des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung als Politikziel der Europäischen
Union im Vertrag von Amsterdam und insbesondere der
„Greening the Treaty Kampagne“
europäischer Umweltverbände im Vorfeld der Vertragsverhandlungen zur Revision des Maastrichter Vertrages.
Philipp Schepelmann ist Projektleiter in der Abteilung Stoffströme und Strukturwandel des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und Experte für europäische Umweltpolitik.
Was war die Greening the Treaty Kampagne?
Grundlage der Greening the Treaty Kampagne (2) war im Wesentlichen ein etwa 25 Seiten starkes
Pamphlet. Dort war dargestellt, wie der Maastrichter EU-Vertrag seinerzeit aussah und wie sich die Umweltorganisationen eine ökologische Ergänzung des Vertrages vorgestellt haben.
Im Vorfeld der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht hatte es bereits eine Greening the Treaty Kampagne (1) gegeben. Allerdings erzielte diese Kampagne nicht die Ergebnisse der Jahre 1996/97.
Wann hat die Kampagne begonnen und welche Funktion hatten Sie?
Von März 1996 bis Juni 1997 fand die Regierungskonferenz (IGC = Intergovernmental Conference) zur
Revision des Maastrichter Vertrages statt. Diese internationale Konferenz wurde einberufen, um über
einen neuen Vertragstext zu verhandeln.
Im Jahre 1996 bin ich von der Bundesgeschäftsstelle des BUND in Bonn, der deutschen Mitgliedsorganisation von FoEE, engagiert worden für eine europaweite Koordinierung der Kampagne im Netzwerk. Meine Aufgabe bestand darin, mit anderen Umweltnetzwerken zu kommunizieren; Inhalte zu koordinieren und
zu vermitteln. Das erforderte zum einen Kommunikation innerhalb des Netzwerkes und zum anderen den
Kontakt nach draußen. Innerhalb des Netzwerkes ging es auch um die technische Abwicklung der Kommunikation durch E-Mail und Newsletter. Externe Kommunikation fand z. B. mit den Ministerien statt.
Wer hat das Greening the Treaty Programm ausgearbeitet?
In Brüssel haben sich sieben europäische Umweltverbände zur Gruppe der G7 zusammengeschlossen
mit dem Ziel, die Umweltlobby zu stärken. Es waren im Wesentlichen jeweils ein Vertreter von Greenpeace und ein Vertreter des EEB, die die Ziele der Kampagne formuliert und vorgestellt haben. Beide
Personen verfügen über gute rechtliche und institutionelle Kenntnisse. Eine wesentliche Voraussetzung für
den Erfolg waren das gute Timing der Kampagne. Ohne das gute Timing und ohne die institutionellen
Kenntnisse der beteiligten Personen wäre das so nicht möglich gewesen.
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Wie funktionierte der Abstimmungsprozess innerhalb der G7 für diese Pamphlet?
Die Vertreter der G7 trafen sich regelmäßig. Bei diesen Treffen wurden die Vorschläge diskutiert und miteinander abgesprochen. Die G7 ist aber kein Entscheidungsgremium – kein Superverband der Umweltverbände in Brüssel, sondern lediglich ein Absprachegremium. Der erarbeitete Vorschlag wurde ergänzt
durch Positionen der einzelnen Organisationen und letztlich einigte man sich auf einen endgültigen Vertragstext, mit dem alle Mitglieder der G7 einverstanden waren.
Wie gestaltete sich die Umsetzung des Beschlusse?
Die Umsetzung des Beschlusses unterschied sich in zwei Phasen:
Im Jahre 1996 lief die Abstimmungsphase, in der sich alle auf das Greening the Treaty Pamphlet einigten.
Dieses Papier wurde zur Grundlage der Kampagne. In der zweiten Phase erfolgte die Umsetzung, die von
FoEE europaweit koordiniert, getragen und vom BUND ausgeführt wurde.
Wie gestaltete sich die Arbeitsteilung und Bestimmung des ausführenden Partners?
FoEE hatten sich besonders erfolgreich für die Ausführung des Projektes verdient gemacht, da sie Gelder
für die Kampagne von der DG-Umwelt generiert haben. Dennoch gab es durchaus einen Wettbewerb
darum, wer die Kampagne durchführen sollte. U. a. hatte sich auch das EEB darum bemüht. Der WWF hat
eine eigene Kampagne mit dem Schwerpunkt Landwirtschaftspolitik gefahren. Letztlich jedoch bekamen
FoEE den Zuschlag.
Vor Umsetzung der Kampagne wurde eine Strategie entwickelt. Wer war an der Strategieentwicklung beteiligt und wie?
Zwei wichtige Aspekte der Strategie waren zum einen die rechtzeitige Formulierung des Positionspapiers
und damit verbunden das Timing. Die G7 trifft sich ja regelmäßig. Sie werden bei diesen monatlichen
Treffen in Brüssel repräsentiert von den Generalsekretären der Umweltverbände, die bestimmte Strategien absprechen. Profis, die sich wie kein anderer damit auskennen. Wie gesagt, diese besonderen
Kenntnisse waren ein wichtiger Grund für das gute Timing, dem zu verdanken war, das die Position der
G7 bereits 1996 in gedruckter Form vorgelegen hat. Das allerdings bereits, bevor die Vertreter der Regierungskonferenz zusammengetreten waren.
D. h., dass die Umweltverbände früher als jedes andere Netzwerk und auch früher als die Regierungen
selber gut vorbereitet im Vorfeld dieser Regierungskonferenz positioniert waren.
War diese Strategieentwicklung also ein Top-Down Prozess, der von den Funktionären entwickelt
und dann in die Verbände hineingetragen wurde?
Ja. Das wäre auch gar nicht anders möglich gewesen. Die Kampagne war hier insofern eine Ausnahme,
da sie sehr stark an einem europäischen Prozess ausgerichtet war, den auch fast niemand zur Kenntnis
genommen hat. Unser Problem mit der Kampagne war auch immer, dass sich eigentlich niemand für die
Regierungskonferenz interessierte. Die wenigsten wussten überhaupt, dass es Verhandlungen zu einer
Revision des Maastrichter Vertrages gab. Auch in Deutschland wurde das erst höchstens 14 Tage vor der
Amsterdamer Vertragskonferenz überhaupt wahrgenommen. Daher war die Strategieentwicklung eine
sehr elitäre – nicht undemokratische – aber doch sehr elitäre Geschichte, die sich in kleinem Rahmen
abspielte.
Und selbst wenn die G7 solche demokratischen Strukturen hätte – anders als Top-Down wäre es auch
kaum vermittelbar gewesen, weil eben nur sehr wenige davon wussten. Dennoch gibt es Unterschiede bei
den Verbänden. Im Vergleich zu FoEE, wo es demokratische Strukturen zwar gibt, sind Greenpeace und
WWF sowieso Top-Down Organisationen.
Wie sind die Kommunikationsstrukturen innerhalb der G7 organisiert?
Die G7, mittlerweile G8, weil die Naturfreunde International dazugekommen sind, bilden keine Superorganisation. Darauf wird auch Wert gelegt. Sie bilden tatsächlich nur ein informelles Gremium. Die Direktoren
und Generalsekretäre der verschiednen Organisationen tauschen sich auf mehr oder weniger informellen
Treffen aus. Normalerweise kommt es auch gar nicht dazu, dass solche Kampagnen entstehen. Die G8
gibt es in erster Linie dafür, um Doppelarbeit der Umweltverbände zu vermeiden und natürlich um die
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Umweltlobby in Brüssel zu repräsentieren. Die Unverhältnismäßigkeit der Interessenvertretung wird dadurch deutlich, dass etwa 30 Umweltlobbyisten der G8 einer tausendfachen Menge von Umweltnutzerlobbyisten gegenüberstehen.
Wie erfolgte die Umsetzung, d. h. die Vermittlung der Strategie in die jeweiligen Umweltverbände
und Nationen?
FoEE ist ja ein Dachverband europäischer Umweltverbände mit Organisationen in 12 der 15 Mitgliedsländer der EU. Die Organisationen in den Ländern haben alle bei der Kampagne mitgewirkt und somit konnte
flächendeckend agiert werden. Zur Vorbereitung der Kampagne fand in Brüssel ein Treffen mit allen beteiligten Organisationen statt.
Was war Ihre Aufgabe bei der Umsetzung?
Ich habe die Aktivitäten der 12 FoEE Organisationen in 12 EU Mitgliedsländern koordiniert.
Wie konkret verlief die Koordinierung?
Nachdem die Inhalte vorab geklärt wurden, herrschte inhaltlich Konsens. Es ging in erster Linie um das
Lobbying. Die Vertreter der 12 FoEE Organisationen kamen nach Brüssel und wurden über den Prozess
informiert. Eine Agitation in Brüssel war nicht mehr erforderlich. Maßgebliches Instrument war die Regierungskonferenz, die sich aus Vertretern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. D. h. europäische Institutionen in Brüssel waren an dem Prozess nicht mehr beteiligt.
Um die Vertragsrevision zu beeinflussen war es also nötig, mit den einzelnen Mitgliedsstaaten zu reden.
Inhalt der Kampagne war nun genau dass, sich in Brüssel zu verabreden und anschließend in den Außenund Umweltministerien die jeweilige nationale Position zur Regierungskonferenz zu erfragen.
Da sind die natürlich aus allen Wolken gefallen, weil das kein Thema war und alle Regierungen dachten,
sie könnten und würden in einem luftleeren Raum agieren. Das da plötzlich die zivile Gesellschaft aktiv
wurde war für viele neu und sie waren erst einmal überrascht. Das führte zunächst dazu, dass dann viele
auch sagten: ja, gegen Umwelt hat ja keiner was – ist eine gute Sache; dann nehmen wir diese Forderungen mit an Bord.
Es ging also nicht um Lobbyismus europäischer Institutionen sondern darum, Institutionen der
Mitgliedsstaaten zu beeinflussen?
Ja. Und das war institutionell auch besonders geschickt. Weil es tatsächlich nicht darum ging, europäische
Institutionen zu lobbyieren. Zumal diese ja auch lobbyiert waren. Schließlich hatte ja die Europäische
Kommission durch die Generaldirektion- Umwelt die finanziellen Mittel für die Kampagne bewilligt. Also die
GD-Umwelt hat den größten Teil der Kosten dafür getragen, dass die Mitgliedsstaaten lobbyiert wurden im
Sinne einer nachhaltigen Entwicklung.
Somit war die GD-Umwelt also die institutionelle Schnittstelle in der EU, die diesen Prozess finanziell ermöglichte und der über die Nationalstaaten auf die EU zurückwirkte?
Ja.
Dies ist aber keine institutionalisierte Schnittstelle, um Umweltfragen in die EU Gremien zu vermitteln?
Genau das war ja das besondere am Prozess der Regierungskonferenz und dieser Kampagne. Dass von
den Umweltverbänden erkannt wurde, die einzige Möglichkeit, Umweltfragen in der Vertragsrevision stärker zu verankern, nur über die Regierungskonferenz und somit über die Hauptstädte der Mitgliedssaaten
zu realisieren ist.
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Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der G7, in Brüssel Entscheidungen zu
beeinflussen?
Also man hat ja gemerkt, dass die GD-Umwelt dieses Geld nicht zur Verfügung gestellt hätte, wenn sie
kein Vertrauen in die Arbeit der G7 und kein Interesse am Ergebnis gehabt hätte. Das spricht eben auch
für die G7, dass überhaupt soviel Geld freigesetzt wurde dafür. Das Parlament in Strassburg wie auch die
grün angehauchte Szene in Brüssel wussten auch Bescheid, dass es Greening the Treaty gibt.
Gibt es für NGOs institutionalisierte Schnittstellen im EU Meinungsbildungsprozess; oder läuft die
Einflussnahme vielmehr über die Ergebnisse von Forschungs- und Projektarbeiten?
Die NGO werden nur teilweise so betrachtet, dass sie eine demokratische Funktion erfüllen. Die meisten
Menschen in Brüssel – Entscheidungsträger im Parlament und in der Kommission –, aber auch die der
Regierungsorganisationen, sehen zumindest die ECOs (Environmental Citizens Organisations) als eine
Lobbying-Gruppe wie jede andere auch, obwohl die ECOs keine kommerziellen Interessen vertreten.
Es gibt jede Menge Schnittstellen, die auch je nach Thema mehr oder weniger professionell besetzt werden. Das ist natürlich auch immer eine Ressourcenfrage. Der WWF z. B. macht im Bereich Landwirtschaft
eine sehr gute Politik und ist auch in wichtigen Gremien vertreten. Schnittstellen sind zahlreich, aber das
ist noch eine eigene Wissenschaft – die Komitologie.
Weiterhin gibt es jede Menge informelle Netzwerke z. B. aus den verschiedenen Nationen. Aber man trifft
sich auch auf Partys. Jedoch sind diese Gruppen meist thematisch gegliedert.
Oft haben die Umweltorganisationen auch einen Bonus, weil viele Leute eben Unterstützer von Greenpeace oder Mitglieder von FoEE Organisationen sind. Aber formell gibt es das eigentlich nicht. Eigentlich
gibt es nur den Wirtschafts- und Sozialausschuss, wo zumindest ein deutscher NGO Vertreter der Umweltorganisationen vertreten ist. Aber das wird leider auch noch nicht so gesehen, dass es sinnvoll ist, so
etwas zu institutionalisieren und auch mit Geld auszustatten. Umwelt NGOs werden eher als eine normale
Lobbyorganisation betrachtet.
Jedoch muss auch gesagt werden, dass die Kommission für die NGO Arbeit nicht unerhebliche Mittel zur
Verfügung stellt – auch für Arbeit der G7. Das läuft dann allerdings projektgebunden – leider ist es keine
institutionelle Förderung. Wie beim Greening the Treaty Prozess wird die finanzielle Ausstattung an konkrete Arbeit und konkrete Ergebnisse gebunden.
Wer war der Ansprechpartner in der Kampagne?
Die Koordination habe ich übernommen. Die Ansprechpartner in den Ländern waren natürlich die jeweiligen FoEE Mitgliedsorganisationen.
Wie verlief die Kommunikation in diesem Netzwerk?
Zum größten Teil war es E-Mail gestützte Kommunikation. Natürlich hat man sich auch persönlich getroffen. Es gab Workshops und auch eine große Konferenz mit ca. 200 Teilnehmern aus ganz Europa; zwei
Umweltministern und entsprechenden Bemühungen auch für die Öffentlichkeit.
Das Thema wurde so in der „Szene“ besetzt und auch in den Ministerien entstand ein Handlungsbedarf.
Gerade weil auch registriert wurde, dass speziell die Umweltministerien – wenn auch von ihnen nicht erwartet – unter der Beobachtung der Zivilgesellschaft standen.
Wie beurteilen Sie die Rolle der demokratisch nicht legitimierten Akteure und deren Einflussmöglichkeiten auf nationale Regierungen?
Das ist ja der Standardeinwand, wo die demokratische Legitimität von ECOs oder überhaupt von Organisationen der zivilen Gesellschaft in Frage gestellt wird. Da halte ich allerdings nicht viel von. Es setzt sich
immer mehr die Meinung durch, dass die Organisationen der zivilen Gesellschaft ein wichtiges demokratisches Korrektiv darstellen. Und gerade wenn man Brüssel kennt und die Prozesse die dort ablaufen, ist
das Demokratiedefizit vor Ort zweifelhafter als die Legitimität der Organisationen, die dort vertreten sind ...
... die es natürlich aber auch nicht besser machen, das Demokratiedefizit ...
... ich denke schon. Alleine dadurch dass sie dort vertreten sind machen sie es besser. Ich hielte es für
einen herben Verlust für die demokratische Landschaft in Brüssel, wenn die G7 plötzlich nicht mehr vertreten wären.
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Welche Rolle spielte die Vernetzung der verschiedenen Teilnehmer der Greening the Treaty Kampagne für den Erfolg?
Die Erfolgsrezepte waren die üblichen Erfolgsrezepte eines guten Managements. Es wurde rechtzeitig ein
Ziel bestimmt und ein Papier lag vor. Es wurde in alle wichtigen Sprachen übersetzt und es war auch allen
klar, um was es dabei ging. Ferner war jedem der Prozess klar und die Rolle, die sie da zu spielen hatten
über die nationalen Regierungen. Das war natürlich verbunden mit dem entsprechenden Informationsaustausch über elektronische Medien. So kam es vor, dass uns bspw. geheime Verhandlungsprotokolle
zugespielt wurden, die sich dann über unsere Kanäle in ganz Europa verbreitet haben ...
... wer hat Ihnen diese Informationen zugespielt?
...
... aber schon aus offizielle Kanälen ...
Ja ...
... informelle offizielle Kanäle sozusagen ...
... genau. Das ist ja eben das Ding, dass gerade die FoEE Organisationen Mitgliedsorganisationen sind im
Gegensatz zu vielen anderen. Mitglieder etwa des BUND mit rund 250.000 Mitgliedern findet man ja überall; eben auch in diesen Apparaten.
Und das ist übrigens ein sehr gutes Beispiel für die Frage der demokratischen Legitimität und für meine
These, es könnte schlimmer sein. In einem Fall wurden uns aus Empörung über einen Vertreter eines
Mitgliedsstaates Informationen zugespielt, der in der Regierungskonferenz die offizielle Position seines
Landes nicht adäquat vertreten hatte. Die offizielle Position des Mitgliedsstaates sympathisierte damals
eindeutig mit den Inhalten der Greening the Treaty Kampagne. Der Repräsentant jedoch war ein knallharter Vertreter neoliberaler Wirtschaftsinteressen.
Und der hatte dann auch nationale Interessen ziemlich bereitwillig verkauft. Und das hätte nie jemand
erfahren, wenn wir es nicht publik gemacht hätten und Druck auf diesen Regierungsvertreter ausgeübt
hätten. Gerade die Regierungskonferenz ist ein sehr hochrangiger Club der Staats- und Regierungschefs
und den Außenministerien. Da spielen die Interessen der Ressorts auch kaum noch eine Rolle. In einem
solchen Prozess muss auch mit diplomatischen Finessen und Tricks gearbeitet werden, um die Transparenz zu gewährleisten. Zumal das Umweltministerium des Landes auch nicht mehr in diesen Delegationen
vertreten war und es sich für die Ministerien teilweise schwieriger gestaltete an Informationen zu kommen,
als für die Vertreter der Greening the Treaty Kampagne mit ihren Kontakten. Ist der Eindruck entstanden,
dass Regierungsvertreter von Ihren Mandaten abweichen und in der Öffentlichkeit etwas anderes darstellen als in den Verhandlungen, haben wir das auch in die nationalen Ressorts hinein kommuniziert.
Haben Sie als Koordinator der Kampagne auch Lobbying betrieben?
Ja. Und das war richtig harte Arbeit. Es ging darum herauszufinden, wer an den Verhandlungen teilnimmt,
welche Positionen diese Personen vertreten und wie man ihnen unsere Positionen näher bringen kann.
Bei den Gesprächen war diplomatisches Feingefühl notwendig. Teilweise war es eben auch erforderlich,
bestimmte Positionen über Bord zu werfen um einen Konsens zu erreichen und sich mit den Ministerialvertretern auf bestimmte Verfahren zu einigen.
Bei der Umsetzung von Partikularinteressen in europäische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse scheint also viel mit Feingefühl und Diplomatie, aber auch mit Tricks erreicht zu werden.
Wie steht es in diesem Zusammenhang mit der Offenheit der Brüsseler Gremien für Partikularinteressen?
Die Brüsseler Institutionen – und das ist ja auch schon zur genüge wissenschaftlich erforscht worden –
bringen diese Offenheit eben nicht mit. Jede Institution, die sich auf die öffentlichen und vermeintlich
transparenten Prozesse und auch auf das europäische Parlament verlassen würde, wäre früher oder später verlassen. Gerade die Landwirtschaftspolitik ist ein sehr guter Beleg dafür, dass es nicht klug wäre,
eben diese Mittel nicht einzusetzen, weil man sonst mit ziemlicher Sicherheit übervorteilt würde.
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In Hinblick auf eine Nachhaltige Entwicklung wird die Forderung nach einem veränderten Institutionenverständnis immer lauter. Multidimensionale Problemlagen erfordern mehr denn je die Fähigkeit zur Reflexivität auch der Institutionen und somit die Notwendigkeit der Herauslösung aus immanenten Logiken der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme. Wie beurteilen Sie die Reflexivitätsfähigkeiten der Brüsseler Institutionen?
Die EU ist doch so komplex das man sagen kann, sie macht das eine und das andere. Im Bereich der
Organisationsentwicklung sind die Ideen, die die Kommission zu Governance vertritt, sicherlich „state of
the art“ und man findet kaum etwas Fortschrittlicheres. Auch im Bereich nachhaltige Entwicklung findet
man unglaublich innovative Instrumente. Aber auf der anderen Seite ist die alte Kommission zurückgetreten weil sich bestimmte undemokratische und sogar verbrecherische Interessen durchgesetzt haben. Es
sind sowohl die Strukturkonservativen am Werk als auch sehr innovativen Kräfte.
Ist die institutionelle Struktur der EU innovativ genug zur Bewältigung multidimensionaler Problemlagen oder besteht die Gefahr eines strukturell verankerten Komplexitätsdilemmas?
Betrachtet man die Kommission als treibende Initiativkraft kann man durchaus angetan sein von der Effizienz des Apparates im Vergleich zu nationalen Verwaltungen. Die Ursachen für die Fehlleistungen allerdings bei der Agrar- oder Strukturpolitik liegen im Wesentlichen begründet in den Mitgliedsstaaten. Die
klassische Klientelbedienung geht meistens von den Mitgliedsstaaten aus, die die Kommission dann auch
unter Druck setzen. Bei der BSE-Problematik z. B. hat die britische Regierung Angehörige der Kommission mehr oder weniger dazu aufgefordert, die Gesetze zu brechen und Vorschriften zu missachten; aufgrund des Lobbyings der britischen Interessensverbände. Die Altautoverordnung wäre ein weiteres Beispiel. In Brüssel einigte man sich auf fortschrittliche Instrumente, allerdings hat Herr Piëch einen guten
Draht zum Bundeskanzler, der in diesen demokratischen Prozess mit antidemokratischen Mitteln eingegriffen hat.
Es gibt Stimmen wie die von Ernst U. v. Weizsäcker, die bei der nationalen Europapolitik erhebliche
Demokratiedefizite beklagen. Wie beurteilen Sie diesen Sachverhalt?
Der Regierungsapparat führt in Hinblick auf die EU-Politik ein Eigenleben. Das ist oft nicht ausreichend
demokratisch kontrolliert. Es gab sogar Stimmen von deutschen Regierungsvertretern nach dem Machtwechsel von 1998 die in diesem Zusammenhang sagten, ob rot-grün an der Macht sei oder schwarz-gelb,
mache im Prinzip keinen Unterschied. Allerdings haben die nationalen Parlamente auch selbst Schuld an
dieser Entwicklung, wenn man sich anschaut, wie dilettantisch dort teilweise Europapolitik gemacht wird.
Absprachen innerhalb von Fraktionen gibt es so gut wie nicht, die dann in ausreichendem Masse korrigierend wirken könnten.
Wie beurteilen Sie rückblickend die Greening the Treaty Kampagne?
Rückblickend würde ich sagen, es ist bis dato die erfolgreichste Kampagne gewesen, die die G7 jemals
gemacht haben. Und wenn man sich vor Augen hält, was die Vertragsänderung bewirkt haben, also Artikel
2 (EU Vertrag) und Artikel 6 (EG-Vertrag) – und das ist ja im Wesentlichen das Ergebnis von Greening the
Treaty; der Cardiff-Prozess und jetzt auch die Beeinflussung des Lissabonner Prozesses. Dieser Prozess
hat eine Dynamik gewonnen, mit der niemand gerechnet hätte.
Kleine, aber entscheidende Änderungen an diesem Supertanker EU haben dazu geführt, dass er jetzt
langsam aber spürbar seine Richtung ändert. Niemand hätte mit diesem Erfolg gerechnet.
War es das Ergebnis eines wissensbasierten Netzwerkes?
Ja. Denn der größte Teil der Mitglieder in den nationalen Organisationen der Umweltverbände wussten
nicht, um was es ging. Da aber die Vertreter der G7 – eine ganz kleine Gruppe von G7 Leuten – die
Kenntnis hatten, dass sich die EU im Vertrag von Amsterdam neu konstituieren wird, war es der Erfolg
eines zwar kleinen, aber wissensbasierten Netzwerkes. Die entscheidenden Stellen wussten Bescheid.
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Welche Rolle hat der virtuelle Raum bei Kommunikation und Entscheidungsfindung gespielt?
Eine ganz entscheidende. Wir verfügen ja nicht über die Ressourcen der großen Industrie-Lobbyverbände.
Diesen Wettbewerbsnachteil müssen wir durch eine effiziente und rechtzeitige Information wettmachen.
Wir haben da unsere Tentakeln. Die nehmen die Informationen auf und bereiten sie so auf, dass sie wieder in die Organisationen zurückgespielt werden können. Wie bei Greening the Treaty werden die Leute
aufgeklärt, um was es dabei geht und dann wird so etwas gemacht.
Kann die G7 als virtuelles Wissensnetz bezeichnet werden?
Ja. Das kann man so sagen. In seiner Gesamtheit ist das Know-How über Brüsseler Abläufe, Prozesse
und Institutionen sehr, sehr groß und sicherlich auch sehr viel mehr wert, als dafür eigentlich bezahlt wird.
Weil eben auch viele in ehrenamtlicher Funktion und mit Leidenschaft dabei sind.
War der Prozess demokratisch?
Nein. Nicht in Bezug auf die Partizipation der Basis der Verbände in den jeweiligen Mitgliedsorganisationen der einzelnen Länder.
Demokratisch nur insofern, dass natürlich die Organisation und die Fachleute der Organisationen mit in
die Positionsfindung von Greening the Treaty eingebunden waren. Nicht irgendwelche Direktoren haben
etwas entschieden was letztlich angenommen wurde. Es war ein demokratischer Meinungsfindungsprozess; allerdings auf einem elitärem Niveau. Im Prinzip wie im Parlament ja auch.
Hätte etwas verbessert werden können?
Bei Greening the Treaty war es tatsächlich so, dass wir eher vom Erfolg überrascht waren. Daher wüsste
ich jetzt kaum, was hätte besser laufen können. Manche Dinge im Management vielleicht. Aber im großen
und ganzen ist es eine runde Sache gewesen.
War Greening the Treaty Ökologische Kommunikation?
Prinzipiell schon. Obwohl es ja nicht explizit um ökologische Inhalte ging. Sondern es ging nur darum: wie
übersetze ich ökologische Ziele in die juristisch codierte Sprache dieses Apparates, der die Konstitution
der EU ausarbeitet. Von daher war das schon irgendwie eine ökologisch bedeutsame Information. Zwar
definieren Artikel 2 und 6 die Nachhaltigkeit als Ziel der Europäischen Union, aber es steht ja nirgends
etwas über ökologische Inhalte.
Wo und wie ist denn seit Amsterdam die nachhaltige Entwicklung definiert für die EU?
Ich verweise da immer auf Artikel 2 als Ganzes. Wo eben auf wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele
als Ganzes verwiesen wird und sich dort alle Dimensionen, auch die institutionelle, wiederfinden. Also das
ganze Prisma der Nachhaltigkeit. Und in Artikel 6 wird gesagt, es müssen eben Umweltbelange in alle
Politikbereiche integriert werden.
Letztlich bleibt es aber eine rein abstrakte institutionelle Forderung.
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