Persönlichkeitspsychologie I

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2010
Persönlichkeitspsychologie I
Wendy Wölkchen
Friedrich-Schiller-Universität
29.07.2010
Persönlichkeitspsychologie I
1. Persönlichkeitspsychologie im Alltag
2. Psychoanalytisches Paradigma
3. Behavioristisches Paradigma,
4. Eigenschaftsparadigma
5. Informationsverarbeitungsparadigma
6. Neurowissenschaftliches Paradigma
7. Dynamisch-Interaktionistisches Paradigma
8. Evolutionspsychologisches Paradigma
Wissenschaftsparadigma
Kuhn (1967): Ein in sich kohärentes, von vielen Wissenschaftlern geteiltes Bündel aus
theoretischen Leitsätzen, Fragestellungen und Methoden, das längere Perioden in der
Geschichte einer Wissenschaft überdauert:
2
Persönlichkeitspsychologie I
1. Persönlichkeitspsychologie im Alltag
Wer sich mit der Psychologie als Wissenschaft beschäftigt, tut dies immer vor dem Hintergrund der
Alltagspsychologie - der von den meisten Mitgliedern einer Kultur geteilten Annahmen über das Erleben und
Verhalten von Menschen.
Wir alle nehmen das Verhalten anderer Menschen und unser eigenes Erleben und Verhalten durch die Brille der
Alltagspsychologie wahr.
Wir alle nehmen das Verhalten anderer Menschen und unser eigenes Erleben und Verhalten durch die Brille der
Alltagspsychologie wahr. Suchen wir nach Erklärungen für auffälliges Verhalten oder möchten wir das Verhalten
anderer vorhersagen, weil es wichtig für uns ist, so tun wir das zunächst immer mit Hilfe unseres
alltagspsychologischen Wissens. Dazu gehören auch Vorstellungen darüber, was die Persönlichkeit eines Menschen
ausmacht und wie sie zu erklären ist. Wissenschaftliche Theorien der Persönlichkeit gehen über diese naiven
Vorstellungen hinaus und können zu Ergebnissen führen, die dem alltagspsychologischen Vorverständnis
widersprechen. Deshalb ist es wichtig, Alltagspsychologie und Psychologie klar auseinander zu halten. Kapitel 1, die
Einführung in die Persönlichkeitspsychologie, beginnt deshalb mit einer Analyse des alltagspsychologischen
Persönlichkeitskonzepts.
Es wird dort deutlich, dass das alltagspsychologische Persönlichkeitskonzept Annahmen über stabile
Verhaltensdispositionen, körperliche Merkmale und deren Koppelung enthält. Eine Bewertung dieser "Theorie" nach
Kriterien empirischer Wissenschaften zeigt, dass das alltagspsychologische Persönlichkeitskonzept äußerst praktisch
für die Erklärung von Erleben und Verhalten im Alltag, aber unbrauchbar als psychologische Theorie ist. Auf seiner
Grundlage kann aber am Ende des Kapitels eine erste Definition der Persönlichkeitspsychologie gegeben werden.

Unsere Erfahrungen und Erwartungen engen unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten im Alltag ein.
Das gilt auch für psychologische Fragen. Hier werden wir durch unsere Alltagspsychologie eingeengt.
Was ist eine Alltagspsychologie?
Die Alltagspsychologie ist ein System kulturell tradierter Überzeugungen über menschliches Erleben und
Verhalten und dessen Ursachen.

Im Vergleich z.B. zur Alltagsphysik ist die Alltagspsychologie besonders ausgefeilt und die Skepsis gegenüber der
Psychologie als Wissenschaft deshalb besonders groß. Deshalb ist es im Falle der Psychologie besonders
wichtig, Psychologie und Alltagspsychologie zu unterscheiden. Dazu müssen wir die implizite
Alltagspsychologie explizit machen. Wie sieht die Alltagspsychologie der Persönlichkeit aus? Das
untersuchte Laucken (1974) in seiner Rekonstruktion der deutschen Alltagspsychologie auf der Basis
einer umfangreichen Sammlung alltagspsychologischer Erklärungen.
Struktur der Alltagspsychologie



Nach Lauckens Rekonstruktion ist der Teil der
Alltagspsychologie, der sich auf die Persönlichkeit bezieht,
die naive Persönlichkeitstheorie, im Kern eine naive
Dispositionstheorie:
Persönlichkeit besteht aus mittelfristig stabilen
Dispositionen, die Menschen dazu bringen, in bestimmten
Situationen sich in bestimmter Weise zu verhalten.
Dispositionen beschreiben Verhaltensregelmäßigkeiten,
nicht Verhalten, und sind im Gegensatz zum Verhalten
nicht direkt beobachtbar, sondern nur aus
Verhaltensbeobachtungen erschließbar.
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Persönlichkeitspsychologie I
Dispositionsarten nach Laucken
Die Dispositionen sind nach
alltagspsychologischer Auffassung horizontal
(gemeinsames Auftreten) und vertikal
(Allgemeinheitsgrad) gekoppelt.
Zusätzlich werden körperliche statische
Merkmale auch als
Persönlichkeitseigenschaften betrachtet, wenn
sie psychologisch relevant sind (z.B. Größe,
Schönheit): Gestalteigenschaften.
Persönlichkeit =
Dispositionen + Gestalteigenschaften
Naive Persönlichkeitstheorie
Kluckhohn et al. (1953):Verhalten ist typisch für
-alle Menschen
-einige Menschen
-eine einzige Person
Persönlichkeit bezieht sich auf individuelle Besonderheiten, schließt also universelle Merkmale aus:
Persönlichkeit = Dispositionen + Gestalteigenschaften, in denen sich Menschen derselben Altersgruppe und
Kultur unterscheiden.
Bewertung der naiven Persönlichkeitsteorie
Ist die naive Persönlichkeitstheorie bereits eine Theorie im Sinne der empirischen Wissenschaften(=
Erfahrungswissenschaften), deren Aussagen sich durch Beobachtung bestätigen bzw. widerlegen lassen?
Derartige Theoriensind Systeme von Aussagen, die es erlauben, möglichst viele Beobachtungen in einem
Gegenstandsbereich, z.B. Persönlichkeit, zu beschreiben, vorherzusagen und zu erklären.
Diese Frage kann anhand der 8 zentralen Kriterien für Theorien in den empirischen Wissenschaften überprüft
werden:
1. Explizitheit
2. Empirische Verankerung: Operationalisierung
3. Widerspruchsfreiheit
4. Prüfbarkeit: Widerlegbarkeit, nicht Beweisbarkeit
5. Vollständigkeit
6. Sparsamkeit
7. Produktivität
8. Anwendbarkeit
Die naive Persönlichkeitstheorie ist praktisch für die Erklärung und Vorhersage von Verhalten im Alltag, aber
unbrauchbar als Theorie im Sinne der empirischen Wissenschaften.
Neben diesem Fazit liefert diese Rekonstruktion der naiven Persönlichkeitspsychologie aber auch eine erste
Definition der Persönlichkeitspsychologie als empirische Wissenschaft:
Persönlichkeitspsychologie ist die empirische Wissenschaft von den überdauernden, nichtpathologischen,
verhaltensrelevanten individuellen Besonderheiten von Menschen innerhalb einer bestimmten Population.
4
Persönlichkeitspsychologie I
2. Das psychoanalytische Paradigma
Das psychoanalytische Paradigma mit seiner Betonung unbewusster Abwehrmechanismen und der Charakterbildung
durch unverarbeitete Kindheitskonflikte erwies sich aus methodischen Gründen als ungeeignet für die
Persönlichkeitspsychologie, lieferte jedoch zahlreiche Annahmen über Persönlichkeitsunterschiede und ihre
Entwicklung, die sich zum Teil als unüberprüfbar oder als falsch erwiesen, zum Teil aber auch die spätere empirische
Forschung inspiriert haben.




1.
2.
3.
4.
5.
Menschenbild
Alle menschliche Aktivität und das "Seelenleben" beruht auf der Verarbeitung von psychischer Energie.
Freud hoffte, dass sie sich später einmal physiologisch messen lasse.
Sie wird aus angeborenen Trieben gespeist, die nach Triebbefriedigung an Triebobjekten drängen.
Besonders interessierte sich Freud für den Sexualtrieb, der die Libido(sexuelle Energie) speist, und den
Aggressionstrieb.
Dieses Triebmodell der Energieverarbeitung wird heute von den meisten wissenschaftlich arbeitenden
Psychoanalytikern abgelehnt.
Die Energieverarbeitung wird von 3 psychischen
Instanzengeregelt ("Strukturmodell der Psyche"):
1. Es(Lustprinzip)
2. Ich(Realitätsprinzip)
3. Über-Ich(Gewissen)
Diese Regulation findet auf 3 Ebenen statt, die in ständigem,
psychischen Konflikt zueinander stehen
Freud rekonstruierte aus seinen Therapiesitzungen mit
neurotischen Erwachsenen folgendes Phasenmodell der
psychischen Entwicklung:
orale Phase(1. Lebensjahr)
anale Phase(2.-3. Lebensjahr)
phallische Phase(3.-5. Lebensjahr):-Ödipuskonfliktbei Jungen-Penisneidbei Mädchen
Latenzphase(6. Lebensjahr bis Pubertät)
Genitale Phase(ab Pubertät)
Persönlichkeitsbild
 Freud bezeichnete die Persönlichkeit als Charakter. Der Charakter wird bereits in der frühen Kindheit durch 2
Prozesse geformt:
1.
Fixierung
2.
Entwicklung typischer Abwehrmechanismen
Ad 1: Fixierung: durch zu große Triebbefriedigung
in einer bestimmten Phase oder zu starke
Einschränkung derselben durch die Eltern prägt
dies den Charakter
.
orale: Abhängigkeit von anderen, orale
Tendenzen
.
anale: Zwangscharakter(ordentlich,
pedantisch, geizig)
.
phallische: Ödipuskomplex (Streben nach
Macht, Erfolg)
5
Persönlichkeitspsychologie I
Ad 2: Abwehrmechanismen als Formen der Verarbeitung von Angst durch das Ich:
Reale Gefahren => Realangst (z.B: Rauchen/ Krebs)
Es-Impulse => neurotische Angst
Versagen gegenüber Über-Ich => Moralische Angst (im Rahmen von gesellschaftlichen + relevanten Normen)
Die individualtypische Form der Verarbeitung prägt ebenso wie eine Fixierung den Charakter.
Es werden vielfältige Abwehrmechanismen unterschieden.
Lacan: “Die Verdrängung ist die lebendigste Form der Erinnerung“



Persönlichkeit (resp. Charakter) ist nach Freud die individualtypische Ausformung der weitgehend
unbewusst ablaufenden Triebdynamik.
Die besondere Kombination von Fixierungen und Abwehrmechanismen machen die individuelle Persönlichkeit
des Einzelnen aus, die ab der phallischen Phase weitgehend konstant ist.

Neuere psychoanalytische Ansätze distanzieren sich von Teilen der Trieb-und Phasenlehre Freuds.
Sie betonen die prägende Rolle früher Objektbeziehungen für die Charakterentwicklung(Objekt = enge
Bezugsperson, v.a. Mutter).
Methodik
Freie Assoziationen, Kindheitserinnerungen und z.T. Träume von erwachsenen Patienten in Therapiesitzungen
werden gedeutet, insb. bzgl. Fixierungen und Abwehrmechanismen und deren Entwicklung.
Traum als „Tor zum Bewusstsein“
Kritik (u.a. von Grünbaum1988): Gefahr der Immunisierung der Deutungen des Analytikers:
o akzeptiert Patient Deutung => Bestätigung
o akzeptiert Patient Deutung nicht => Widerstand, Abwehrmechanismus (z.B. Verkehrung ins Gegenteil)
 Analytiker hätte immer Recht
Durch suggestive Wirkungen können Deutungen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden.
Freud war sich des Problems der Scheinbestätigung durch suggestive Wirkungen auf die Patienten bewusst.
Seine Lösung:
o Neurosen lassen sich nur durch Bewusstmachen der zugrundeliegenden Konflikte dauerhaft
beseitigen.
o Nur die psychoanalytische Methode ist dazu in der Lage.
o Deshalb ist jeder Therapieerfolg eine Bestätigung, dass die Deutungen in der Therapie korrekt waren.
Dagegen: Spontanremissionen/ therapieunabhängige Spontanheilungen(waren schon Freud bekannt) und Erfolge
anderer Therapien.

Problem der Erklärung der Charakterentwicklung:
1. Sie beruht auf Kindheitserinnerungen von Erwachsenen und ist von daher wegen der
inzwischen bekannten Erinnerungsverzerrungen inakzeptabel als Methode einer empirischen
Wissenschaft.( wenn man sie ausschließlich verwendet)
2. Problem der verzerrten Stichproben (nur neurotische Patienten, die verbal eloquent sind und die
teure Therapie bezahlen können).
3. Problem der fehlenden empirischen Verankerung der Grundkonzepte Energie, Ich/Es/Über-Ich,
Abwehrmechanismus => deshalb Missbrauchsmöglichkeit in Deutungen!
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Persönlichkeitspsychologie I
 Wegen dieser zahlreichen Problem ist die psychoanalytische Methodik inakzeptabel als Methode für einer
empirischen Wissenschaft.
 Deshalb ist die Psychoanalyse keine empirische Wissenschaft, sondern eher eine hermeneutische
Geisteswissenschaft.
Bewährung
 Trotz der Methodenprobleme könnten Aussagen der Psychoanalyse zur Persönlichkeit oder ihrer Entwicklung
zutreffen. Empirische Überprüfungen in den 1950er und 1960er Jahren ergaben jedoch:
CONTRA:
o Die meisten Aussagen sind empirisch nicht überprüfbar, weil die zu überprüfenden Konzepte unklar definiert
oder nicht operationalisierbar sind.
o Die empirisch überprüfbaren Aussagen erwiesen sich meist als falsch, insbesondere zur
Charakterentwicklung (z.B. gibt es keinen Zusammenhang zwischen Problemen bei der Sauberkeitserziehung
und späterem Zwangscharakter; Kinder mit Gaumenspalten zeigen später nicht vermehrt orale
Charakterzüge).
PRO:
 Einige Konzepte der Psychoanalyse haben sich jedoch als fruchtbar für die heutige empirische
Persönlichkeitspsychologie erwiesen:
o Konzept der unbewussten Kognitionen und Motive;
o Konzept der assoziativen Informationsverarbeitung ("primär prozesshaftes Denken");
o Konzept der Abwehrmechanismen, insbesondere im Umgang mit realen Bedrohungen, auch wenn einige
Mechanismen wie z.B. Verdrängung schwer zu operationalisieren sind;
o Konzept der wichtigen Rolle früher Objektbeziehungen für spätere soziale Beziehungen (zu Freunden,
Partner, eigenen Kindern),
Beispiel für Operationalisierung von Angstverdrängung
Weinberger et al. (1979): niedrige Ängstlichkeit gepaart mit starker Tendenz zu
sozial erwünschten Antworten weist auf Präferenz von Angstverdrängung hin
Repressersollten physiologisch stärker erregt sein als Niedrigängstliche beim
freien Assoziieren zu Sätzen mit sexuellem/aggressivem Inhalt, nicht aber mehr
Angst berichten.



Bewertung
Das klassische psychoanalytische Paradigma ist aus methodischen Gründen ungeeignet als Paradigma der
empirischen Persönlichkeitspsychologie, hat aber immer noch heuristischen Wert(Wert für die
Generierung testbarer Hypothesen).
Überraschenderweise war der Mediziner Freud der Meinung, die Psychoanalyse sei eine Naturwissenschaft.
Insbesondere in der 2. Lebenshälfte vertrat Freud eine orthodoxe, gegen jede
Kritik immunisierte Haltung. Z.B. Antwort auf einen Brief von Rosenzweig:
"Ich habe Ihre experimentellen Arbeiten zur Prüfung psychoanalytischer
Behauptungen mit Interesse zur Kenntnis genommen. Sehr hoch kann ich diese
Bestätigungen nicht einschätzen, denn die Fülle sicherer Beobachtungen, auf
denen jene Behauptungen ruhen, macht sie von der experimentellen Prüfung
unabhängig. Immerhin, sie kann nicht schaden."
7
Persönlichkeitspsychologie I

Das Credo jedes empirischen Wissenschaftlers ist jedoch (Bertold Brecht, Leben des Galileo Galilei):
"Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts
gehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und
erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben...
(Mit einem Zwinkern: )Sollte uns dann aber jede andere Annahme als diese unter den Händen zerronnen sein,
dann keine Gnade mehr mit
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Persönlichkeitspsychologie I
3. Das behavioristische Paradigma
Das behavioristische Paradigma, das sich auf beobachtbares Verhalten beschränkte und innere Prozesse als
empirisch-wissenschaftlich unzugänglich betrachtete, reduzierte Persönlichkeitsunterschiede auf erlernte
Unterschiede und war anfangs äußerst optimistisch, was die Veränderbarkeit der Persönlichkeit durch gezielte
Beeinflussung anging. Später zeigte sich, dass Lernen durch die Persönlichkeit, insbesondere genetisch,
beeinflusst ist, und Persönlichkeit keineswegs immer auf Lernen rückführbar ist.
Menschenbild
 S R statt S  „Black Box“  R (psychische Prozesse existieren, sind aber für wissenschaftliche
Untersuchung uninteressant)
 Reiz-Reaktions-Theorie (funktionale Abhängigkeiten zwischen Reiz und Reaktion)
 Mensch kommt als „unbeschriebenes Blatt“ zur Welt; nur ausgestattet mit Spontanaktivität und Reflexen
 Alle komplexeren Reaktionen auf Situationen sind erlernt!
o 3 Lernmachanismen:
 Klassische Konditionierung (Pawlow)
 Operante Konditionierung (Skinner)
 Nachahmungs-/Beobachtungslernen (Bandura)
o  die Reizbedingungen der Umwelt entscheiden ob ein bestimmtes Verhalten erlernt wird
o Lernen folgt universellen bereichsunspezifischen Lerngesetzen, die für alle Menschen gleich sind
Persönlichkeitsbild
 Individuelle Besonderheiten als Resultat der Lerngeschichte!
 Person als Opfer seiner Umwelt
o Kennt man alle Situationen, denen eine Person ausgesetzt war, kann man Verhalten vohersagen
o Andersrum: durch Schaffung von Umweltbedingungen kann man Verhalten erzeugen (beliebig) [vgl.:
Watsons Optimismus]
 Persönlichkeitsentwicklung ist vollständig erklärbar, vorhersagbar, veränderbar!
Methodik
 Lernexperimente
 PRO:
o Sehr leicht zu operationalisieren
 CONTRA:
o Annahme: Lerneffekte der Lernexperimente überdauern, wird interpretiert als
„Persönlichkeitsänderung“ (in der Praxis aber nicht (selten) der Fall! Lerneffekte nicht stabil!)
o Um Persönlichkeitsunterschiede zu erklären, müsste man komplette Lerngeschichte eines Individuums
kennen ( Rekonstruktion praktisch undurchführbar)
o Experimente sind asymmetrisch: Experimentator kontrolliert Umwelt des Lernenden, aber Einflüsse des
Lernenden auf ihre Lernumwelt werden ignoriert (vielleicht hat auch die Ratte den Experimentator
konditioniert?!) Planvolles Handeln nur schwer operationalisierbar
Bewährung
 Erfolge:
o bei gezielter Modifikation von Verhaltensweisen durch Belohnung/Bestrafung (z.B.
Verhaltenstherapie)
o Offenes Verhalten und auch physiologische Reaktionen erwiesen sich (in bestimmten Grenzen)
konditionierbar
o Reiz-Reaktions-Verbindungen können experimentell hergestellt werden
 kein Beweis dafür, dass Persönlichkeitsunterschiede durch Lernen entstanden sind!
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Persönlichkeitspsychologie I





Grenzen:
o Temperamentsunterschiede bei Neugeborenen (kein „unbeschriebenes Blatt“)
o Wenig stabile Lerneffekte trotz langer Lernphasen und extreme Stabilität nach einmaligem Lernen „one
trial learning“ (nicht erklärbar)
o Planvolles Verhalten, das über unmittelbare Reizkonstellation hinausgeht, ist nicht erklärbar!!!
 kognitive Wende (zum informations-verarbeitungs Paradigma)
 innere, nicht direkt beobachtbare Prozesse („black box“) würden die Phänomene erklären
Lerngesetze gelten weiterhin, sind aber nicht bedeutsam für die Erklärung zielgerichteten Handelns
Bereich-unspezifische Lernprozesse gibt es nicht! Es gibt nur artspezifische Prädispositionen, bestimmte
Reaktionen auf bestimmte Reize hin sehr leicht und auf andere Reize hin sehr schwer zu erlernen.
Teilweise genetische Prädispositionen
Die Persönlichkeit des Lernenden nimmt Einfluss auf den Lernprozess und ist deshalb nicht nur Lernresultat,
sondern auch Lernvoraussetzung!!!
Bewertung
 PRO:
o Gute Operationalisierbarkeit der Grundkonzepte Reiz und Reaktion
 CONTRA:
o Biologische und physiologische Vernachlässigung der verdeckten, im Organismus ablaufenden
Prozesse!
o Beschränkung auf direkt Beobachtbares
o GRUNDANNAHME FALSCH! Persönlichkeitsunterschiede entstehen nicht erst durch Lernen nach der
Geburt!
o Genetische Prädispositionen sprechen gegen Watsons Optimismus
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Persönlichkeitspsychologie I
4. Das Eigenschaftsparadigma
Das Eigenschaftsparadigma knüpfte an das alltagspsychologische Verständnis der Verhaltensdisposition an und
entwickelte ein umfangreiches methodisches Instrumentarium zur empirischen Prüfung der alltagspsychologischen
Annahmen, dass Persönlichkeitseigenschaften zeitlich und von Situation zu Situation und Reaktion zu Reaktion
konsistent seien. Dabei zeigte sich, dass die meisten alltagspsychologisch vermuteten Eigenschaften tatsächlich
zumindest über kürzere Zeiträume stabil sind, von Situation zu Situation und Reaktion zu Reaktion aber deutlich
variieren. Was dabei jedoch meist stabil bleibt, ist das individuelle Profil der situationsspezifischen bzw.
reaktionsspezifischen Eigenschaftsausprägung (individuelle Situations- bzw. Reaktionshierarchien). Dadurch liefert
das Eigenschaftsparadigma ein tragfähiges Fundament für die Persönlichkeitsdiagnostik und langfristige
Verhaltensvorhersagen.



Entwickelte sich aus naiver Persönlichkeitspsychologie
Genügt den Ansprüchen der empirischen Wissenschaft
o Hat Persönlichkeitspsychologie lange dominiert
o Übt auch heute noch einen wesentlichen Einfluss aus
o Neuere Paradigmen ergänzen es eher
Versuch: Eigenschaftsbegriff präzisieren
Menschenbild
 Annahme: Menschen reagieren auf komplexe Reizkonstellationen: Situationen
 Situation kann einfach oder komplex sein
 Situation ist derjenige Ausschnitt der aktuellen Umwelt einer Person, der Einfluss auf ihr aktuelles Verhalten
ausübt
 Qualitative Aspekte komplexer Reaktionen sind wichtig
o z.B.:Wie wurde die Aufgabe gelöst?
 Es wird nach funktionalen Abhängigkeiten gesucht (Vgl: Behaviorismus) ABER nicht Lerngeschichte sondern
Eigenschaften der Person wichtig
 Die Eigenschaften einer Person bestimmen, welche Reaktionen sie in einer bestimmten Situation zeigt.
 Eigenschaften sind nicht beobachtbare, aber aus Verhaltensregelmäßigkeiten erschließbare
Verhaltensdispositionen. Sie sind über mittelfristige Zeiträume stabil
 Verhalten = f ( Eigenschaften, Situation ) [Das Verhalten als Funktion von E und S]
 „Black Box“ wird gefüllt!
Persönlichkeitsbild
 Ziel: individuelle Besonderheiten einzelner Menschen oder bestimmter Gruppen von Menschen durch
Eigenschaften beschreiben
 Persönlichkeit = organisiertes System aller individualtypischer Eigenschaften
 2 fundamental unterschiedliche Ansätze:
o INDIVIDUUMZENTRIERTER ANSATZ
Eigenschaften eines Individuums werden unabhängig von den Eigenschaften anderer Individuen
beschrieben (z.B. Körpergröße, Sehschärfe etc.)
o DIFFERENTIELLER ANSATZ (wichtiger)
Eigenschaftsdifferenzen innerhalb einer Population werden beschrieben, d.h. individuelle Eigenschaften
werden relativ zu den Eigenschaften anderer betrachtet (z.B. IQ, Rangplatz, Abweichungswert)

INDIVIDUUMZENTRIERTER ANSATZ:
o Alltagspsychologische Beschreibungen listen bestimmte Eigenschaften auf (z.B. dünn, intelligent,
aggressiv, nervös usw.); kann beliebig vefeinert werden bis zu ganzer Biografie; gibt Gesamteindruck
über eine Person reicht als empirische Wissenschaft nicht aus
o Eigenschaften des Individuums müssen operationalisiert werden (Testergebnisse, Skalen etc.) und
Stabilität der Eigenschaftsausprägungen muss sicher sein
o Aus gesammelten Daten können Verhaltensdispositionen abgeleitet werden (die z.B.
Verhaltenstendenzen beschreiben)
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Persönlichkeitspsychologie I
o
o
o

PROBLEM: Aussagen über individuelle Dispositionen sagen nichts über die individuelle Besonderheit
von Menschen aus! Es ist unklar ob die gesammelten Daten nur für Individuum oder alle Individuen der
Peer-Gruppe gelten
Rein individuumzentrierte Eigenschaftsbeschreibungen sagen nichts über die Persönlichkeit aus!
 Persönlichkeitspsychologische Aussagen müssen Vergleiche mit anderen Menschen mit
einschließen! (wichtig, mit wem verglichen wird)
DIFFERENTIELLER ANSATZ
o Ohne Vergleich mit Referenzpopulation lässt sich nichts über Persönlichkeit aussagen
o Streng genommen: keine Aussagen über „die Eigenschaft“, sondern nur Aussagen relativ zur
Referenzpopulation (meist Peers (Altersgleiche) derselben Kultur)
o Persönlichkeitseigenschaften werden im differentiellen Ansatz durch Variablen (z.B.: Intelligenztest)
gemessen, die jeder Person der Population einen Variablenwert (z.B. IQ) zuweisen. Dieser
Variablenwert charakterisiert eine Persönlichkeitseigenschaft der Person.

2 Betrachtungsperspektiven (je 2 Möglichkeiten):

Variablenorientiert

Variationsforschung: 1 Merkmal, viele Personen

Korrelationsforschung: 2 Merkmale, viele Personen (je ähnlicher die
Verteilungen über Personen sind, desto höher ist ihre Korrelation, d.h. desto
ähnlicher differenzieren beiden Variablen zwischen Personen.
Viele Personen werden in jeweils einem Merkmal unterschieden
 Beschreibung einzelner Persönlichkeitsmerkmale
Im Mittelpunkt stehen nicht einzelne Personen, sondern Variablen in
Populationen

Personorientiert

Psychographie: 1 Person, viele Merkmale (es entsteht ein
Persönlichkeitsprofil, das einen Persönlichkeitsbereich beschreibt)

Komparationsforschung: 2 Personen, viele Merkmale (betrachtet
Ähnlichkeit der Persönlichkeitsprofile zweier Personen. Verglichen wir
Profilgestalt)
Personen werden in vielen Merkmalen miteinander verglichen
Und lassen sich nach Persönlichkeitstypen (Personen mit ähnlichem
Persönlichkeitsprofil) klassifizieren
 Beschreibung der gesamten Persönlichkeit eines Individuums
Methodik
Individuumzentrierte Datenerhebung:
 Merkmale einer Person werden unabhängig von ihrer Ausprägung bei anderen Personen erhoben,
 „weiche“ Methoden, unbeliebt in der empirischen Wissenschaft z.B.: freie Beschreibungen, Biografie …
 „Harte“ Methoden erfordern die Messung der Merkmale, d.h. die Zuordnung der Merkmale zu Merkmalswerten
derart, dass Unterschiede zwischen den Werten Unterschiede zwischen den Zahlen repräsentieren. Z.B:
Reaktionszeitmessungen
 2 Beispiele für harte Methoden:
 Rep-Test (Role Construct Repertory Test): mit welchen
Eigenschaften beschreiben einzelne Individuen die
Persönlichkeit von sich selbst und anderen Menschen ?
Generierung persönlicher Konstrukte des Individuums. Rep-Test
erfasst diese Konstrukte:
(schwer vergleichbar!)
 Q-Sort-Verfahren: Sortierung von Eigenschaften einer Person
nach Salienz (wie typisch für diese Person), Selbst-, Bekanntenoder Expertenbeurteilung. Eigenschaften werden
intraindividuell verglichen. Es entsteht ein Eigenschaftsprofil,
12
Persönlichkeitspsychologie I
das die Person individuumzentriert beschreibt. Allerdings gehen auch Überlegungen der Beurteiler mit ein,
Person wird mit Peers verglichen, extreme Ausprägungen in einem Merkmal sind salienter.  Q-Sorts sind
auch differentiell.
Differentielle Datenerhebung:
 Erhebung von eigenschaftsrelevanten Merkmalen im Vergleich zu anderen Personen (Peers)
 3 verschiedene Methoden um Dispositionen zu erfassen:
1. Persönlichkeitsskalen: Direkte Beurteilung aufgrund alltagspsychologischer Beschreibungen (oft in
Persönlichkeitsinventaren gruppiert)
2. Situations-(Reaktions-)Inventare: Stärke hypothetischer Reaktionen in hypothetisch vorgegebenen
Reaktionen erfragt
3. Verhaltensbeobachtung: tatsächliche Reaktionen in realen Situationen
 Persönlichkeitsskalen
o - bestehen aus mehreren Items, die dieselbe Eigenschaft erfassen sollen
o - jedes Item wird auf Antwortskala beurteilt z.B.: „ja“ - „nein“ oder „gar nicht“ (1) – „sehr stark“ (5)
oder „nie“ (1) – „sehr oft“ (5)
o - es gibt mehrere Items um durch Mittelung den Messfehler zu reduzieren
o - Persönlichkeitsinventare bestehen aus mehreren P-Skalen, deren Items gemischt werden, z.B. NEOFFI, sie sollen entweder Persönlichkeit möglichst breit erfassen oder viele unterschiedliche
Eigenschaften eines engeren Persönlichkeitsbereichs messen
PROBLEM:
o - Fremdbeurteilung ungenau, da sich Beurteiler an spezielle Reaktionen in bestimmten Situationen
erinnern oder bereits ein alltagspsychologisches Urteil über Person gefällt hat (unterschiedliche Urteiler
 unterschiedliche Ergebnisse)
LÖSUNG: Situations-Inventar (hypothetische Reaktionen in vielen hypothetischen Situationen)


ODER
Situations-(Reaktions)-Inventare (zusätzlich werden auch Reaktionen variiert)
In denen Situationen UND Reaktionen systematisch variiert werden und alle Urteile pro Person gemittelt
werden
o Es lassen sich typische Reaktionsmodelle erstellen
o PROBLEM: es handelt sich nur um Beurteilung HYPOTHETISCHER Situationen, die verzerrte
Wahrnehmung oder Erinnerungsfehler enthält
BESSER
Verhaltensbeobachtung („Königsdiziplin“)
o Beste aber aufwändigste Methode
o In realen Situationen durch anwesende Beobachter oder Beurteilungen von Videoaufnahmen (Person
muss Erleben in der Situation anhand der Aufnahme einschätzen)
o Prüfung der Stabilität besonders wichtig
PROBLEM:
o Privates Erleben und intime Situationen lassen sich kaum beobachten
13
Persönlichkeitspsychologie I

Beurteilungsfehler
o mangelhaftes Verständnis der Items, der Antwortskala, der Person
o selektive Kenntnis der relevanten Situationen
o Erinnerungsverzerrungen, z.B. optimistischer Bias
o Tendenz zu sozial erwünschten Antworten(Kontrolle durch Erwünschtheitsskalen schwierig, Paulhus:
Trennung Selbst-und Fremdtäuschung)
o Tendenz zu (nicht)extremen Urteilen
o Halo-Effekte, z.B. Schönheit –IQ
o schlechte Beobachtbarkeit der Eigenschaft
BESCHREIBUNG VON VERTEILUNGEN
o 2 wichtige Kennwerte: Mittelwert (M) und Streuung (z.B.: Standardabweichung
SD)
o Lineare Transformationen der Messskala ändern interindividuelle Unterschiede
proportional und damit nicht wesentlich
o Deshalb z-Transformation zur Standardisierung (M = 0 ; SD = 1) und macht Verteilungen
vergleichbar




Korrelationen von Eigenschaften beschreiben den Zusammenhang von zwei Variablen
X und Y (z.B. Eigenschaftsmessungen in einer Stichprobe von Personen)
o Beruhen auf z-Werten z(X), z(Y):
o Korrelation ist das mittlere Produkt aller einander zugeordneten z-transformierten
X- und Y-Werte in der Stichprobe
 Maß der mittleren Ähnlichkeit der einander zugeordneten z-Werte der Personen
o Sagen nichts über Individuen aus, sondern nur über
Populationen!
o Messen nur lineare Zusammenhänge (r = .00 heißt also nicht
zwangsläufig, dass gar kein Zusammenhang besteht)
Stabilität: sind die erfassten Merkmale/ Merkmalsprofile mittelfristig
stabil?
o Prüfung durch Kovariation von Merkmalen zwischen
verschiedenen Messzeitpunkten
o Stabilität von einzelnem Merkmal
- Merkmal wird an denselben Personen zweimal gemessen
- geht um Stabilität einer Variable, nicht um Stabilität der
Person (variablenorientiert)
o Stabilität von Merkmalsprofil
- Person pro Person (personorientiert)
- Profil einer Person wird zweimal gemessen
Reliabilität bedeutet Messgenauigkeit/ Zuverlässigkeit
o Messwert = wahrer Wert + Fehler
o Reliabilität = wahre/beobachtete Varianz
o Bestimmung durch Korrelation zwischen zwei
parallelen Messungen mit gleich großem Fehler oder
Schätzung einer solchen Korrelation!
PROBLEM: sehr aufwendig, da Personen zweimal
getestet werden müssen
LÖSUNG:
interne Konsistenz wird bestimmt
o Korrelation der Skala mit sich selbst zum gleichen
Zeitpunkt (nur 1 Messzeitpunkt!)
o Cronbach-Alpha schätzt interne Konsistenz des
Gesamttests aufgrund der Korrelation zwischen k
parallelen Testteilen
o Dabei wird die Spearman-Brown-Formel genutzt:
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Persönlichkeitspsychologie I

o
Validität = Gültigkeit, d.h. es wird gemessen, was gemessen werden soll
o

Konvergente Validität: Korrelation mit Außen-Kriterium (sollte hoch sein, je höher die Korrelation, desto
sicherer kann man sein, dass die Variable wirklich misst, was sie soll)
o Diskriminante Validität: Korrelation mit anderen Variablen (sollte niedrig sein)
o PROBLEM: Validierung von Persönlichkeitsmerkmalen ist meist erheblich schwieriger als die Sicherung
einer ausreichenden Reliabilität
o Gefahr eines Zirkelschlusses bei Kriteriumsvalidierung! (A ist valide,
weil A mit B korreliert, B mit C und C wiederum mit A)
o Alternative Sichtweise: nomologisches Netzwerk 
(nicht kausal interpretierbar)
Aggregationsprinzip !!! (nie mehr vergessen)
o Die Spearman-Brown-Formel beschreibt ganz allgemein das
Aggregationsprinzip, nach dem die Reliabilität und deshalb auch die
Validität von Eigenschaftsmessungen durch Aggregation (=Mittelung)
über viele Messungen erhöht werden kann.
o Aggregiert werden kann z.B. über parallele Items eines Tests,
Situationen, Reaktionen, Beobachter, Zeitpunkte. (je mehr
Items wir aggregieren, desto reliabler wird die Messung)
o Grenzen in der Voraussetzung paralleler Messungen (Items
auf Skala, die man vergleichen kann) und der
Interpretierbarkeit der aggregierten Messungen (Beispiel:
Studie von Lasky et al. 1959).
Bewährung
Beurteilerübereinstimmung
 bei Verhaltensbeobachtung von relevantem Verhalten zwischen .60 – .80, sodass 1-2 Beurteiler meist
ausreichen
 bei Beurteilungen in Persönlichkeitsskalen und Sorts selten höher als .50, z.B. zwischen Selbst-, Fremd- und
Expertenbeurteilung
o Liegt vor allem an unterschiedlicher Kenntnis relevanter Situationen
o Diskrepanzen können nicht durch Aggregation minimiert werden!
Interne Konsistenz
 Durch Eliminierung von ungeeigneten Items können interne Konsistenzen von .75 -.85 erreicht werden, bei
Leistungstests auch .90 -.95.
 Bei der Itemselektion wird die Trennschärfe jedes Items bestimmt (Korrelation mit Rest der Skala), und Items
mit zu geringer Trennschärfe werden weggelassen, bis die interne Konsistenz ausreichend ist.
 Reliabilität muss erneut in einer weiteren Stichprobe von Personen kreuzvalidiert werden, da insbesondere
bei kleinen Stichproben zufällig hohe Trennschärfen die Reliabilität überschätzen
Valididtät
 Die Validitäten von Persönlichkeitsskalen werden durch die Beurteilerübereinstimmung begrenzt und erreichen
damit nicht mehr als .50.
 Tests im Leistungsbereich können höhere Validitäten erreichen.
15
Persönlichkeitspsychologie I

Die Validität von Verhaltensbeobachtungen liegen selten höher als die von Persönlichkeitsskalen; dies liegt
daran, dass die Eigenschaften meist in nur wenigen Situationen beobachtet werden
Zeitliche Stabilität
 Persönlichkeitsskalen erreichen regelmäßig Retestreliabilitäten über wenige Wochen von .75 -.85.
Allerdings wird so eigentlich nur die Stabilität der Urteile erfasst, nicht die Stabilität des Verhaltens.
 Bei Leistungstests können auch .90 erreicht werden
 Bei ausreichend langer Beobachtung können auch bei Verhaltensbeobachtungen .75 -.85 erreicht werden
 Mittelung über mehrere Reaktionen oder Situationen erhöht die Stabilität
Transsituative Konsistenz (!!! Klausurrelevant)
= Korrelation von Verhaltensdispositionen zwischen VERSCHIEDENEN (ähnliche, aber nicht identische) Situationen
 Z.B. Ehrlichkeit ist nicht ausreichend konsistent
(Hartshorne & May, 1928):
Klassische Studie
850 Schulkinder in 8 Situationen (Klassenzimmer,
sportliche Wettkämpfe, häusliche Umwelt,
unehrliches Verhalten [mogeln, stehlen etc.],
Lügenskala [misst die Tendenz zu lügen. Sozial
erwünschte aber unwahrscheinliche Items z.B.: „Ich
lüge nie“]).
 Mittlere Korrelation von .19, interne Konsistenz .65
 Widerspricht der Grundannahme des Paradigmas,
dass eine Eigenschaft das Verhalten in vielen
Situationen in vergleichbarer Weise beeinflusst
Problem für die Persönlichkeitspsychologie: Behauptung: es gibt keine Eigenschaften
Löste eine jahrelange Konsistenzdebatte aus und brachte Persönlichkeitspsychologie in Misskredit
ABER
 Die Kritik von Mischel (1968) beruhte auf dem Missverständnis, dass eine hohe transsituative
Konsistenz notwendig für den Eigenschaftsbegriff sei.
 Notwendig ist jedoch nur eine hohe zeitliche Stabilität; Unterschiede in stabilen Situationsprofilen sind mit dem
Eigenschaftsbegriff vereinbar:
a) Annähernde
transsituative
Konsistenz (Klasse)
b) stabiles
Situationsprofil
EINES KINDES
(Individuum)
LÖSUNG des Problems der mangelnden transsituativen Konsistenz:
1. Unterscheidungen von SituationsprofilTypen, z.B. aggressiver gegenüber Kindern als gegenüber
Erwachsenen
2. Differenzierung einer Disposition in untergeordnete situationsspezifischere Dispositionen
(Situationstypen), z.B. "aggressiv gegenüber Kindern/Erwachsenen"
16
Persönlichkeitspsychologie I

Reaktionskohärenz
= Korrelation zwischen eigenschaftstypischen Reaktionen
o Oft niedrig, z.B. bei physiologischen Stressreaktionen
o Individuelle Reaktionshierarchien 
o In physiologischen Stress-Studien und bei Induktion
sozialer Angst im Labor zeigten gut 50% der Personen
zeitlich stabile Reaktionshierarchien (Foerster et al., 1983).
Manchmal lassen sich Reaktionshierarchien vorhersagen,
z.B. Diskrepanzen zwischen berichteter und
physiologisch/mimisch gezeigter Angst bei Repressern
(Asendorpf & Scherer, 1983).
o Reaktions-Inkohärenzen lassen sich durch Bildung von Profiltypen oder durch reaktionsspezifischere
Dispositionen auflösen (analog zu transsituativen Inkonsistenzen).
Bewertung !!!
 PRO:
o Es wurde der alltagspsychologische Begriff der Persönlichkeitseigenschaft präzisiert und empirisch
messbar gemacht
o Grundbegriffe sind explizit und operational definiert
o Wird klar zwischen Verhalten und Eigenschaften unterschieden, ist der Eigenschaftsbegriff nicht zirkulär
(= Eigenschaft erklärt durch andere Eigenschaft)

Da Persönlichkeitseigenschaften individuelle Besonderheiten beschreiben, ist eine rein
individuumzentrierte Erfassung nicht möglich; notwendig sind Vergleiche mit anderen Personen einer
Referenzpopulation.
 Dadurch werden alle Aussagen im Eigenschaftsparadigma populationsabhängig
 CONTRA:
o Keine Aussagen über Prozesse der Situationsverarbeitung: die "Black Box" des Behaviorismus enthält
Eigenschaften, nicht aber Prozesse, die Situationen in Reaktionen umsetzen.
o Der Eigenschaftsbegriff ist statisch: keine Aussagen über Persönlichkeitsveränderungen.
o Eigenschaften werden oft aus der Alltagspsychologie entlehnt oder diagnostischen Anforderungen entnommen,
z.B. Fahrtüchtigkeit. Keine Begründung dafür, warum sich Menschen in bestimmten Eigenschaften
unterschieden
17
Persönlichkeitspsychologie I
5. Das Informationsverarbeitungsparadigma !!!
Die "kognitive Wende" führte Verhalten auf Informationsverarbeitungsprozesse zurück und wandte sich damit
wieder denjenigen inneren Prozessen zu, die der Behaviorismus und z.T. auch das Eigenschaftsparadigma
ausgeklammert hatten. Dadurch können Persönlichkeitseigenschaften in Form stabiler Parameter von
informationsverarbeitenden Prozessen in Modelle der Informationsverarbeitung eingebettet werden.
Eigenschaften sind damit nicht mehr auf direkt Beobachtbares oder verbal Berichtbares beschränkt. Die
psychoanalytische Annahme, dass die meisten persönlichkeitsrelevanten Prozesse unbewusst bleiben, erfuhr im
Informationsverarbeitungsparadigma eine klare Bestätigung und wurde in Mehrebenenmodellen aufgegriffen, in
denen z.B. zwischen impulsiven versus reflektiven Prozessen, implizitem versus explizitem Wissen und
spontanem versus kontrolliertem Verhalten unterschieden wird. Dabei blieb die Frage, wie bewusste Prozesse
zustande kommen, bis heute unbeantwortet.




Behaviorismus: Mensch als Black Box
Eigenschaftsparadigma: Eigenschaften aus der Black Box werden durch beobachtbares Verhalten erschlossen,
keine Angabe welche Prozesse eine Situations-Reaktions-Beziehung erzeugen
Psychoanalyse: Mensch als energieverarbeitendes System
Informationsverarbeitungsparadigma: Mensch als informationsverarbeitendes System
o Analogie zu sequentieller und später auch paralleler Verarbeitung in Computern und neurowissenschaftlich
orientierte Modelle (neuronale Netzwerke)
o Verarbeitungsprozesse sind weitestgehend unbewusst; Problem ist nicht Unbewusstes, sondern was
Bewusstsein ist.
Menschenbild
 Erleben und Verhalten beruht auf der Verarbeitung von Information
 Information = Bedeutung eines Zustandes von Materie oder Energie für ein informationsverarbeitendes System
 Beruht auf Informationsübertragung im Nervensystem, das über Rezeptoren Reize aus der Umwelt und dem
eigenen Körper empfangen und in andere Information umwandeln kann, die u.a. verantwortlich für bewusstes
Erleben sind und über motorische Aktivität Informationen auf die Umwelt übertragen kann (Verhalten).
 Es werden Informationen genutzt, die die aktuelle Situation überdauern (=Wissen)
 In allen Informationsverarbeitungsmodellen spielt das Langzeitgedächtnis eine zentrale Rolle; es beeinflusst
nahezu alle Verarbeitungsprozesse
 Je stärker Informationsverarbeitungsmodelle neurowissenschaftlich orientiert sind, desto größeren Raum geben
sie unbewussten Verarbeitungsprozessen und unbewussten Ergebnissen solcher Prozesse.
o Unterscheidung zwischen zwei Modi der Informationsverarbeitung:
 emotional –rational
 affektiv –kognitiv
 intuitiv –analytisch
 impulsiv –reflektiv
 spontan –willentlich
 implizit –explizit
(Unterscheidungen sind ähnlich, aber nicht
identisch)
 Beispiel: Modell von Strack und Deutsch
(2004):
o Fundamentale Unterscheidung zwischen
reflektiver und impulsiver
Informationsverarbeitung
o Impulsives System ständig aktiv
o Reflektives System kann an-/ausgeschaltet
werden
18
Persönlichkeitspsychologie I




Die beiden Systeme laufen parallel ab und haben Verhalten als gemeinsames Ziel.
Sie können unterschiedliches, teilweise sich widersprechendes Verhalten anregen.
3 Arten der Verhaltenssteuerung
o spontan(durch impulsives System)
o automatisiert(Delegation an impulsives System)
o willentlich(reflektivesSystem)
Beispiel: lateralisierteswillentliches, nicht lateralisiertesspontanes Lächeln bei zentraler Lähmung der
Gesichtsmuskulatur (Rinn, 1984)
Persönlichkeitsbild
 Im Informationsverabeitungsparadigma können Persönlichkeitsunterschiede beruhen auf:
1. Architektur der Informationsverarbeitung („Hardware“)
2. Parametern der Informationsverarbeitung („Software“)
3. Wissen
1. Architektur der Informationsverarbeitung
 Annahme ist, dass die grundlegende Architektur der Informationsverarbeitung bei allen Menschen gleich
ist (bestenfalls werden Geschlechtsunterschiede zugestanden).
 Biologisches Argument hierfür: Architektur beruht auf sehr vielen Genen. Würde es grundlegende
Unterschiede geben, würde es bei der Durchmischung der Gene von Vater und Mutter zu Problemen
kommen.
 Allerdings kann es Unterschiede in der Feinstruktur des Gehirns geben:
1.
Stärker vernetzte Neurone bei Ratten, die in anregenderer Umwelt aufwuchsen (neuronale
Plastizität; Kolb & Whishaw, 1998)
2.
Hypothese von Garlick(2002): Intelligenzunterschiede beruhen auf Unterschieden in der
neuronalen Plastizität (bisher nicht empirisch bestätigt)
2. Parameter von Informationsverarbeitungsprozessen
1.
Individuelle Unterschiede in der allgemeinen Geschwindigkeit der
Informationsverarbeitung("mental speed"), z.B. bedingt durch unterschiedliche Myelinisierung: Bezug zu
allgemeiner Intelligenz. (laut Neyer ist Intelligenz ein Teil der Persönlichkeit)
2.
Unterschiede im Zugriff zum Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis usw.:
Bezug zu allgemeiner Intelligenz.
3.
Schwellen für Wahrnehmung, Einspeichern, Erinnern (z.B. Experiment von Asendorpf et al.
1994 zum Wiedererkennen peripherer aggressions-relevanter Reize: Bezug zu Aggressivität.)
(unterschiedliche Wahrnehmung aufgrund von Persönlichkeit)
4. Unterschiedliche Schwellen für die Aktivierung physiologischer Erregungs/Hemmungsprozesse:
Bezug zu Temperament (z.B. EysencksHypothese einer schnelleren Übererregung bei Introvertierten).
5. Unterschiedliche Sollwerte für die Regulation von Bedürfnissen (z.B. neugierige Personen suchen
andere Reize)
3. Wissen
 Stabiles Wissen ist Grundlage für Persönlichkeitsunterschiede.
 Individuelle Besonderheiten im Wissen sind Persönlichkeitseigenschaften.
Relevante Unterscheidungen:
1.
deklaratives Wissen("was"), z.B. Selbstkonzept, - wer bin ich?
2.
prozedurales Wissen("wie"), z.B. Bewältigungsstiloder – Vorgänge, Prozesse, „wenn…dann“
oder
1. explizites Wissen (propositionales Format) – Wissensbestände logisch gegliedert
2. implizites Wissen (Assoziationsstruktur) – mehr oder weniger willkürlich
19
Persönlichkeitspsychologie I
Methodik
 es wird von einer universellen Architektur des informationsverarbeitenden Systems ausgegangen
 Methodik ist darauf ausgerichtet, Parameter in informationsverarbeitenden Prozessen zu bestimmen und
unterschiedliches Wissen zu testen
 Erfassung allgemeiner Verarbeitungsgeschwindigkeit:
1. Mental Speed Tests:
welche Linie ist länger? Reaktionszeit erfasst Langsamkeit
2. Zugriff zum Kurzzeitgedächtnis: Sternberg Paradigma a k n d k i b -kam b vorher vor? Reaktionszeit
erfasst Schnelligkeit des Zugriffs
3. Zugriff zum verbalen Langzeitgedächtnis: NI-PI Paradigma AA AaAB -semantisch oder physikalisch
gleich? Differenz NI -PI erfasst Schnelligkeit des Zugriffs
 sehr einfache Tests, Reliabilität sehr gut + valide
 Erfassung Fähigkeit zum komplexen Problemlösen: Dynamisches komplexes System.
 Z.B. „Bürgermeister-Spiel“ Gemeinde (Lohhausen, Dörner et al., 1983) wird auf Computer simuliert;
Versuchsperson ("Bürgermeister") soll System, dessen Funktionsweise zunächst unbekannt ist, hinsichtlich
mehrerer Kriterien optimieren (z.B. Gewerbesteuer, Zahl Übernachtungen, Luftqualität, Verschuldung).
Ergebnis nach vielen Entscheidungen ist Maß der
Problemlösefähigkeit
 Erfassung expliziten Wissens
Fragebogen, Interview (z.B. "wer bin ich?")
 Erfassung impliziten Wissens
o Erschließung aus Verhalten z.B. durch kognitive
Modellierung
Beispiel: physikalisches Wissen (Opwis et al.,1994)
o Z.B. durch affektives oder semantisches Priming.
Beispiel impliziter Rassismus (soziale Erwünschtheit)
(Fazio et al., 1995):Gesichter von Schwarzen und
Weißen als Primes für positive/negative Worte.
Zusammenhang zwischen implizitem explizitem Rassismus wurde moderiert durch
Motiv zur Vorurteilskontrolle:
o Z.B. durch Impliziten Assoziationstest (IAT).
Beispiel Asendorpf et al. (2002): Assoziationich andere mit schüchtern -nichtschüchtern
Bewährung
 Die zeitliche Stabilität von Parametern, die aus typischen
allgemeinpsychologisch orientierten Experimenten
gewonnen werden, ist oft unzureichend.
 Beispiel: Komplexes Problemlösen: Retestreliabilität nur ca. .50. Lösung: mehrere strukturell sehr
ähnliche, inhaltlich aber verschiedene (d.h. parallele) Szenarien verwenden.
 Beispiel: Priming. Die interne Konsistenz und Retestreliabilität ist meist sehr niedrig (unter .50). Beim
IAT ist die interne Konsistenz ausreichend (um .80), die Retestreliabilität aber regelmäßig deutlich
niedriger (um .65). Lösung steht noch aus.
Bewertung
 PRO:
o Es werden letztlich Eigenschaften bestimmt, aber diese sind als Prozessparameter eingebettet in ein
Modell der Informationsverarbeitung.
20
Persönlichkeitspsychologie I

CONTRA:
o Wegen dieses Vorzugs wird das Problem der Parameterstabilität oft übersehen, gerade in der primär
allgemeinpsychologisch orientierten Forschung.
 So werden unreliable Maße der Fähigkeit zum komplexen Problemlösen oft in der Personalauswahl
und -entwicklung verwendet.
o Problem der Unverbindlichkeit der gegenwärtigen Informationsverarbeitungs-modelle – kaum Aussagen
über Persönlichkeitsmerkmale
o Problem der statischen Eigenschaften
21
Persönlichkeitspsychologie I
6. Das neurowissenschaftliche Paradigma
Das neurowissenschaftliche Paradigma versucht, Persönlichkeitsunterschiede auf physiologischer und
anatomischer Ebene zu untersuchen. Biologistische Auffassungen, wonach Ursachen für psychologische
Phänomene primär in neurowissenschaftlichen Phänomenen zu suchen seien, und psychologistische
Auffassungen, wonach das Umgekehrte gilt, sind dabei zu einseitig. Vielmehr dominiert je nach Phänomen eher
die eine oder die andere Kausalrichtung. Der Ansatz, individuelle Parameter des Nervensystems, des
hormonellen Systems oder des Immunsystems mit Persönlichkeitseigenschaften zu korrelieren, erwies sich
weitgehend als Sackgasse, weil die Korrelationen fast immer sehr niedrig ausfielen, u.a. bedingt durch
ausgeprägte individuelle Reaktions- und Situationshierarchien. Neuere Ansätze versuchen, physiologische
Systeme zu isolieren und deren Aktivität auf Persönlichkeitsunterschiede hin zu untersuchen (systemorientierter
Ansatz) oder die physiologische Aktivität unter Alltagsbedingungen längerfristig zu untersuchen (ambulantes
Monitoring). Trotz des rasanten Fortschritts der Neurowissenschaften ist ihr Ertrag für das Verständnis von
Persönlichkeitsunterschieden derzeit aber gering. Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass Erleben und
Verhalten emergente Eigenschaften hat, die sich neurowissenschaftlich nicht oder nur äußerst umständlich
beschreiben lassen.
Menschenbild
 Das neurowissenschaftliche Paradigma versucht, menschliches Erleben und Verhalten neurowissenschaftlich zu
beschreiben und zu erklären.
 Erleben, Verhalten und Informationsverarbeitung wird untersucht im Nervensystem und anderen damit in
Wechselwirkung stehenden Systemen, vor allem:
1.
Motorisches (Muskeltonus, Bewegungen)
2.
Hormonelles (Psychoneuroendokrinologie)
3.
Herz-Kreislauf (kardiovaskuläre Psychophysiologie)
4.
Immunsystem (Psychoneuroimmunologie)
 Funktionelle Gliederung des Nervensystems

Hormonelles System
22
Persönlichkeitspsychologie I

Anatomie des Gehirns – „Kommandozentrum“ des
Nervensystems und des hormonellen Systems

Informationsübertragung innerhalb und zwischen den Neuronen mit Hilfe von elektrischen Impulsen und
biochemischen Botenstoffen
Jedes der ca. 100 Milliarden Neurone im intakten Gehirn ist im Prinzip mit jedem anderen Neuron verbunden (im
Mittel nur 4 Neurone dazwischen).
Emotionen finden im ganzen Körper statt, nicht nur im limbischen System; am rationalen Denken sind rechte und
linke Hirnhälfte beteiligt usw.
An komplexeren psychischen Funktionen sind weiträumige Erregungs-und Hemmungsprozesse im Nervensystem
beteiligt, die oft in Wechselwirkung mit anderen Systemen jenseits des Nervensystems stehen.
Große Komplexität und Plastizität des Gehirns











Alternativ zur räumlichen Zuordnung:
Psychoneuroendokrinologie
Hormone (über Blutbahn) vs. Neutransmitter (über
Nervenzellen)
Die Substanzwirkung variiert stark räumlich und zeitlich
(z.B. Testosteron im Blut versus Speichel)und steht in
Wechselwirkung mit anderen Substanzen (z.B. Hormone
mit Neurotransmittern).
Deshalb ist eine einfache Zuordnung zu Funktionen
nicht möglich. (Beziehungen erst ansatzweise erforscht
und noch nicht vollständig erklärbar)
Der Vorteil des biochemischen Ansatzes besteht vor
allem in der experimentell-pharmakologischen
Beeinflussbarkeit.
Beispiel: Behinderung der Dopaminaufnahme durch
Rezeptorenblocker in Experimentalgruppe, Placebo in
Kontrollgruppe.
Biologistische Auffassungen (Ursachen psychischer Phänomene sind primär biologisch) und psychologistische
Auffassungen (Ursachen biologischer Phänomene sind primär psychologisch) sind zu verkürzt.
Beispiel 1: Sex vergrößert daran beteiligte Neurone!
Beispiel 2: Es gibt keine „Krebspersönlichkeit“!
Vielmehr gilt interaktionistische Sichtweise
23
Persönlichkeitspsychologie I
Persönlichkeitsbild
 Im neurowissenschaftlichen Paradigma können Persönlichkeitsunterschiede beruhen auf der
1.
Architektur der biologischen Systeme
2.
anatomischen Feinstruktur der biolog. Systeme
3.
physiologischen Aktivität der biolog. Systeme
 Die Architektur der biologischen Systeme wird als universellangenommen mit Ausnahme der
Geschlechtsunterschiede (z.B. Hoden/Eierstöcke).
 Die Feinstruktur variiert dagegen deutlich.
Beispiel 1: Umweltabhängige Vernetzung von Neuronen (mehr Synapsen und Dendriten in anregenderen Umwelten)
neuronale Plastizität
Beispiel 2:Myelinisierungshypotheseder Intelligenz
 Am meisten wird nach Unterschieden in physiologischen Aktivierungsparametern gesucht Z.B.: Autonomes
Nervensystem bei Stress
 Anatomische und physiologische individuelle Besonderheiten stehen in enger Wechselwirkung
Methodik
 Vier grundlegende methodische Zugänge zu Persönlichkeitsunterschieden:
1. Korrelativer Ansatz
2. Multivariate Psychophysiologie
3. Systemorientierter Ansatz
4. Ambulantes Monitoring
1. Korrelativer Ansatz
 Bei größerer Stichprobe werden Persönlichkeitseigenschaften durch Selbst- oder Fremdbeschreibung gemessen
und mit neuroanatomischen oder physiologischen Merkmalen korreliert
Wichtig:
 Parameter der Physiologie und des Erlebens und Verhaltens müssen zeitstabil sein. (mehrere Messungen an
mehreren Tagen erforderlich)
 Messung muss in eigenschaftsrelevanten Situationen erfolgen (z.B. bei Aggressivität).
 Nicht kausal interpretierbar
Beispiel 1: Herz-Kreislauf-Reaktionen auf Ärger
Beispiel 2: Immunaktivität bei Stress
2. Multivariate Psychophysiologie
 Erweiterung des korrelativen Ansatzes
24
Persönlichkeitspsychologie I

Mehrere physiologische Reaktionen; mehrere eigenschaftsrelevante Situationen ( so kann die transsituative
Konsistenz untersucht werden)
1. Intraindividuell
2. interindividuell
2.
Die Korrelationen
unterhalb der Diagonale
geben an, wie eng die
Reaktionen über die 22
Situationen hinweg
miteinander korrelieren.
1.
Oberhalb der Diagonale
stehen die Korrelationen,
die angeben, ob sich die
Personen auf einem
Kontinuum der
physiologischen
Aktivierung anordnen
lassen.





Systemorientierter Ansatz
Alternative zum multivariaten Ansatz, bei dem es um die Kohärenz von Reaktionen über Personen geht
Ausgangspunkt ist ein möglichst genau umschriebenes System (Anatomie, Biochemie, Physiologie).
Interindividuelle Unterschiede in der Reaktivität des Systems werden auf beurteilte oder beobachtete
Persönlichkeitsdispositionen bezogen.
Dies wird geprüft, indem die Systemparameter experimentell situativ und/oder pharmakologisch manipuliert
werden, wobei abhängige Variablen die Systemparameter und das aktuelle Erleben und Verhalten in der Situation
sind:
Beispiel: Wacker et al. (2006)
o Dopaminerges System wurde aktiviert durch Belohnung bei Bearbeitung kognitiver Aufgaben
o „Challenge-Test“ behinderte pharmakologischin Experimentalgruppe Dopaminausschüttung,Kontrollgruppe
erhielt Placebo.
o Positive Emotionalität wurde vorher selbstbeurteilt.
o AV: EEG-und Reaktionszeitmaße
o Wie auf der Basis von Vorläuferstudien erwartet, bearbeiteten unter Placebo die positiv Emotionalen die
Aufgaben schneller als die weniger positiv Emotionalen, während es bei Dopamin-Blockierung zu einer
Umkehrung kam; entsprechendes ergab sich für linksfrontale EEG-Aktivierung.
 beim multivariaten Verfahren bestimmt die Technik, was gemessen wird, beim systemorientierten Ansatz
die Systemfunktionen (soweit bekannt und messbar)
25
Persönlichkeitspsychologie I
4. Ambulantes Monitoring
 Systemorientiert Ansatz bezieht Persönlichkeitsunterschiede im Erleben und Verhalten auf die Reaktivität
eines bestimmten biologischen Systems in maßgeschneiderten Situationen.
 Es ist aber grundsätzlich davon auszugehen, dass Alltagssituationen viele solche Systeme simultan ansprechen
 Laborbefunde sind nicht einfach auf Alltag übertragbar
Beispiel:
o Kaganet al. (1987): gehemmte Kinder reagieren mit erhöhter Herzrateauf unbekannte Situationen
im Labor;
o Asendorpf & Meier (1993): An normalen Schultagen sprachen gehemmte Kinder in Schulpausen und
auf Spielpätzenweniger, aber Herzratewar normal; Sprechen erhöhte im Alltag Herzrateum 9
Schläge/min.
Widerspruch zwischen Labor und Feld erklärbar?
o Kein Widerspruch, da die gehemmten Kinder in hemmenden Situationen einerseits weniger
sprechen, andererseits vermutlich stärker erregt waren: Trade-off von 2 Wirkungen auf
Herzrate.
o Ohne Überprüfung von Laborbefunden im Feld können deren Ergebnisse nicht auf den Alltag
verallgemeinert werden.
o So sind bei Panik-Patienten subjektiv als lebensbedrohlich erlebte Herzattacken im Alltag nicht in
Protokollen des ambulanten Herz-Monitoring nachweisbar, wobei aber Gehen versus Sitzen oder Gehen
versus Treppensteigen klar nachweisbar ist.
 Beim ambulanten Monitoring werden physiologische Reaktionen im Alltag kontinuierlich aufgezeichnet und mit
beurteilten oder beobachteten Persönlichkeitseigenschaften korreliert.
 Dadurch werden lebensnähere Resultate erzielt als bei physiologischer Messung unter Laborbedingungen
Bewährung
Nach den vier methodischen Ansätzen gegliedert
1. Korrelativer Ansatz
CONTRA
o Ergibt meist nur niedrige oder gar keine Korrelationen zwischen einer bestimmten beurteilten oder
beobachteten Persönlichkeitseigenschaft, da
o physiologische Messungen oft nicht ausreichend aggregiert sind (nicht genügend Messungen für
Mittelwert)
o Selbstbeurteilungen Verzerrungstendenzen unterliegen (z.B. zu sozial erwünschten Antworten);
o individuelle Reaktionshierarchien die Korrelationen dämpfen (z.B. niedrige Herzratebei Sportlern);
o Messungen oft dem technisch Machbaren folgen anstatt systemspezifisch zu sein und so meistdurch
viele unterschiedliche physiologische Systeme beeinflusst werden (z.B. Herzrate).
2. Multivariater Ansatz
CONTRA
o Haupteffekt der Personen ist meist gering relativ zu statistischen Interaktionen Personen x Reaktionen,
bei situationaler Variation auch Interaktion mit Situation
Beispiel:
Wechselwirkungen
zwischen:
Situation
Reaktion
Person
26
Persönlichkeitspsychologie I
3. Systemorientierter Ansatz
CONTRA
o Noch zu wenig verfolgt, auch wegen fehlenden Wissens über physiologische Systeme und deren
Wechselwirkungen
PRO
o Erscheint aber vielversprechend! (komplexe Versuchsaufbauten)
4. Ambulantes Monitoring
CONTRA
o Intraindividuelle Variabilität im Alltag ist größer als im Labor.
o Nach statistischer Kontrolle der Bewegungseffekte sind Effekte kognitiver und emotionaler Belastung
ähnlich schwach wie im Labor.
o Interindividuelle Nullkorrelationen zwischen subjektivem Erleben oder selbsteingeschätzter
Persönlichkeit und physiologischen Messungen im Alltag bestätigen Laborbefunde (z.B. Subjektive
Beschwerden und Herz-Kreislauf-Parameter sind meist unkorreliert).
Bewertung
 Hauptproblem: Graben zwischen dem neurowissenschaftlich Messbaren und dem subjektiv-verbalen
Berichtbaren erscheint derzeit unüberwindlich.
 Überwindung erfordert Lösung des Bewusstseinsproblems und des Gedächtnisproblems (was ist Bewusstsein?
Was ist Gedächtnis?), und selbst dann verbleiben vermutlich klare Unterschiede aufgrund emergenter*
Eigenschaften der psychologischen Ebene.
 (Trotz rasanten Fortschritts!) Ertrag der Neurowissenschaft für das inhaltliche Verständnis von
Persönlichkeitsunterschieden ist derzeit gering.
* Emergenz ist die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines
Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente.
27
Persönlichkeitspsychologie I
7. Das dynamisch-interaktionistische Paradigma
Das dynamisch-interaktionistische Paradigma erweitert die zeitliche Perspektive auf langfristige Prozesse der
Persönlichkeitsentwicklung im Kontext der Umweltentwicklung. Während früher die Persönlichkeit primär als
Funktion ihrer Umweltbedingungen verstanden wurde, beziehen die neueren dynamisch-interaktionistischen
Ansätze Wirkungen der Persönlichkeit auf ihre Umwelt mit ein, z.B. die Beeinflussung des Erziehungsstils der
Eltern durch die Persönlichkeit ihres Kindes. Entsprechende Entwicklungsmodelle werden diskutiert und die
Methodik der längsschnittlichen Prüfung von Einflüssen auf die Persönlichkeits- und Umweltentwicklung wird in
Grundzügen dargestellt.
Persönlichkeit  Umwelt
Umwelt  Persönlichkeit
Menschenbild
 3 Grundannahmen
o Organisation des Verhaltens einer Person und die Organisation ihrer Umwelt sind mittelfristig konstant
(Voraussetzung der Persönlichkeitspsychologie überhaupt!!!)
o Person und Umwelt können sich langfristig ändern (Voraussetzung der Entwicklungs-psychologie)
o Änderungen beruhen auf
1. Veränderungen innerhalb der Person
2. Veränderungen innerhalb der Umwelt
3. Einflüssen der Umwelt auf die Person
4. Einflüssen der Person auf die Umwelt
Diese Annahme ist die entscheidendste, die das Paradigma von anderen unterscheidet
 Modell der Umwelt von Bronfenbreener
Die Umwelt einer Person ist wie eine Zwiebel in
verschiedene Schalen gegliedert. Umwelteinflüsse können
von allen Schalen indirekt auf die Person wirken, wobei sie
jedoch durch die dazwischenliegenden Schalen vermittelt
werden
 direkt auf die Person kann nur das Mikrosystem wirken
(z.B. bedingt die Kultur die Existenz schichttypischer
Familiensysteme, die die Struktur der Familie eines Kindes
bedingen; auf das Kind selbst wirkt nur das Verhalten
einzelner Familienmitglieder)
4 Entwicklungsmodelle im Kontrast (andere Modelle lassen sich
als Spezialfälle des dynamisch-interaktionistischen Paradigmas
auffassen)
Gegeben sei eine Person, die im Verlauf der Zeit verschiedene
Zustände ihrer Persönlichkeit P0, P1, P2, P3 durchläuft. P0 ist der
Anfangszustand zum Zeitpunkt der Zeugung (nur eine befruchtete
Eizelle, Verhalten gibt es noch nicht, wohl aber ein hoch stabiles
körperliches Merkmal, das relevant für späteres Verhalten ist).
Umwelt der Person durchläuft parallel zur Persönlichkeit
Zustände. Je nach Modell gibt es kausale Wirkungen zwischen U
und P.
28
Persönlichkeitspsychologie I



Das dynamisch-interaktionistische Paradigma unterscheidet sich von alltagspsychologischen,
psychoanalytischen und behavioristischen Entwicklungskonzepten vor allem durch die Berücksichtigung von
Einflüssen der Person auf ihre Umwelt.
Dadurch kann es zu einer kontinuierlichen Wechselwirkung (Transaktion) kommen.
Drei Einflussarten:
o Auswahl, z.B. Partnerwahl
o Herstellung, z.B. Beziehung knüpfen: Dating, Mating, Relating….
o Veränderung, z.B. heiraten, sich scheiden
Persönlichkeitsbild
 Die Persönlichkeit verändert sich nur, wenn es differentielle Veränderungengibt.
 Beispiel: differentielle Veränderung bei individuell konstanten Aggressivitätswerten (verglichen werden also
Menschen desselben Geburtsjahrgangs in ihrer individuellen Veränderung der Aggressivität)
Individuelle Entwicklungsänderungen relativ
zur Altersgruppe können durch differentielle
Entwicklungsfunktionen auf der Basis von ztransformierten Werten innerhalb der
Altersgruppe beschrieben werden
Das dynamisch-interaktionistische Paradigma
thematisiert nur differentielle Veränderungen
der Persönlichkeit und der Umwelt. Denn auch
die Umwelt ändert sich
Methodik
Unterschied zwischen einem individuenzentrierten und einem differentiellen Ansatz
Im Individuumzentrierten Ansatz führt eine gezielte Intervention zu einer
Veränderung der Merkmalsausprägung einer Person
Die Linie repräsentiert viele Messergebnisse derselben Person
Im differentiellen Fall entspricht diese Interventionslogik dem Ansatz,
Umweltwirkungen auf die Persönlichkeit anhand gezielter Umweltveränderungen
zu untersuchen
Die Kreuze repräsentieren die einmalige Messung von Personen
29
Persönlichkeitspsychologie I





Nutzung „natürlicher Experimente“
(Quasiexperimente)
Beispiel: Wirkung erster stabiler Partnerschaft auf
Neurotizismus
PRO: die Ursache ist relativ klar (Kausalität),
es lassen sich Effekte der Umwelt auf die
Persönlichkeit und umgekehrt prüfen, obwohl die
Kausalaussagen nicht so stark sind wie bei „echten“
Experimenten
PROBLEM: Mehrdeutigkeit von Korrelationen
Beispiel 1: Storchenzahl und Geburtenrate
Beispiel 2: kindliche Aggressivität und rigide-autoritärer Erziehungsstil der
Mutter
Es gibt vier Interpretationsmöglichkeiten einer Korrelation:
Tückische Fehlinterpretation: bei Korrelation zwischen zwei Eigenschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten
muss die früher gemessene die später gemessene beeinflusst haben
Fortpflanzung eines Persönlichkeitseinflusses auf nachfolgende Korrelationen
zwischen Umwelt und Persönlichkeit.
Verbesserung: Korrelationen über die Zeit
Wenn X(1) => Y(2) gilt, kann Y(2) nicht X(1) beeinflusst haben.
Trotzdem Problem: Fortpflanzung von Einflüssen bei stabilen Merkmalen
muss kontrolliert werden!
Kreuzkorrelationen können nicht direkt
interpretiert werden, wenn Stabilitäten
unterschiedlich sind. Vielmehr müssen
Pfadkoeffizienten(rechts) interpretiert werden.
Die Koeffizienten der direkten Pfade liefern eine
Schätzung der Einflussstärke im Rahmen des
betrachteten Modells
Bewährung
Beispiel: Umwelteffekte auf die Intelligenzentwicklung
Beispiel 2: Persönlichkeitseffekte auf soziale Beziehungen
 Insgesamt mehr Persönlichkeitseffekte auf Beziehungen als umgekehrt ab dem Jugendalter
30
Persönlichkeitspsychologie I


Vereinfachung: Katapultmodell
Frühe Umwelt --> späte Persönlichkeit
PROBLEM: Fehlende Kontrolle früher Persönlichkeit.
Ist angemessen, wenn es sensitive Perioden in der Entwicklung gibt.
Beispiel: Unterscheidung r/l bei japanischen Kindern
Bewertung
 Dynamisch-interaktionistisches Paradigma ist umfassendes Modell der Persönlichkeitsentwicklung.
 Die empirische Analyse von Einflüssen durch (naturalistische) Experimente und Kreuzkorrelationsstudien
ist aber sehr aufwändig, deshalb dominieren einfache korrelative Designs, z.B. Katapultmodell.
 Es gibt bisher wenig Untersuchungen zu den Prozessen, die zwischen Persönlichkeit und Umwelt vermitteln.
31
Persönlichkeitspsychologie I
8. Das Evolutionspsychologische Paradigma
Das evolutionspsychologische Paradigma schließlich fragt nach den "Letztursachen" von
Persönlichkeitsunterschieden: warum gibt es sie überhaupt, warum sind sie so groß wie sie sind und weshalb
wirken Umwelt und Persönlichkeit so aufeinander, wie sie es tun? Die Ursache hierfür wird in evolutionären
Anpassungsprozessen an frühere Umwelten im Verlauf der Jahrmillionen dauernden Evolution der Arten
gesucht, z.B. natürliche Selektion, intra- und intersexuelle Selektion, frequenzabhängige Selektion und die
Selektion konditionaler Entwicklungsstrategien. Derartige ultimate Erklärungen werden von proximaten
Erklärungen unterschieden, die Persönlichkeitsunterschiede und Umwelteffekte auf die Persönlichkeit und
umgekehrt durch evolvierte psychologische Mechanismen (EPMs) erklären. Dabei müssen die ultimaten
Erklärungen recht spekulativ bleiben, weil sie auf Annahmen über unsere evolutionäre Vergangenheit beruhen,
die sich oft nur schwer überprüfen lassen.
Menschenbild
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Menschliches Erleben und Verhalten ist Resultat der Evolution, d.h. des Prozesses der genetischen Anpassung
der Lebewesen an die jeweils vorherr-schenden Umweltbedingungen.
Deshalb sind wir der Umwelt unserer Vorfahren besser angepasst als der heutigen Umwelt (Beispiel:
Fettkonsum, Ängste). Menschen = lebende Fossilien
Darwin (1859): Entstehung der Arten (Phylogenese) durch Variation und Selektion.
o Variation wird durch Genetik (Darwin noch unbekannt) erklärt.
o Selektion nicht durch "survival of the fittest", sondern durch Fortpflanzungserfolg in einer bestimmten
Umweltauf der Ebene einzelner Gene:
o Fitness=f(Gen,Umwelt) (Dawkins: "selfish gene")
Gene teilen wir auch mit anderen Arten (99% mit Schimpansen)
Allele teilen wir nur mit Eltern und Geschwistern (50%)
Falsch ist Annahme, angesichts medizinischer Fortschritte spielten heutzutage evolutionäre Prozesse bei
Menschen keine Rolle mehr:
Einfluss auf Kinderzahl über Partnerwahl, Schwangerschaftsverhütung, Investition in die eigenen Kinder.
Reproduktionsrelevant sind nicht nur Klima, Nahrungsangebot, Krankheitserreger usw., sondern vor allem
soziale Umweltbedingungen, z.B. Partnerpräferenzen des anderen Geschlechts, Rivalität mit eigenem
Geschlecht auf Partnermarkt.
Darwin (1871): intersexuelle und intrasexuelle
Selektion
Hamilton (1964): inklusive Fitnessunter Einschluss
des Reproduktionserfolgs genetisch Verwandter
(z.B. aufopfern für 3 Geschwister)
Der Reproduktionserfolg eines Gens eines
Individuums beruht auf seinem Vorkommen in den
Nachkommen des Individuums und seiner
Verwandten. Von daher kann es adaptiv sein, sich
für Verwandte zu opfern.
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Soziobiologie vs. Evolutionsbiologie
Wilson wandte evolutionsbiologische Erklärungsprinzipien auf das Sozialverhalten verschiedener Tierarten an
und prägte den Begriff der Soziobiologie im Sinne einer Evolutionsbiologie des Sozialverhaltens
Soziobiologieauf der Grundlage rein ultimater Erklärungen(Angepasstheit unter vermuteten
Umweltbedingungen der Vergangenheit)
 lange Kontroverse mit Sozialwissenschaften
Ultimate Erklärungen von Verhalten begründen es durch Reproduktionsvorteile in der evolutionären
Vergangenheit; proximale Erklärungen geben an, wie das Verhalten konkret zustande kommt.
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Persönlichkeitspsychologie I
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Evolutionspsychologie(Cosmides et al., 1992): immer auch Angabe proximater Mechanismen in Form von
bereichs-und kontextspezifischen, genetisch fixierten evolvierten psychologischen Mechanismen (EPM).
= Mechanismus, der über viele Generationen das gleiche Verhalten erhält(z.B. Ängste)
Beispiel: starke Schlangenangst bei 25% der Mitteleuropäer
Beispiel für ultimate vs. proximate Erklärungen: Studie von Neyer & Lang (2003):
Eingeschätzte emotionale Nähe zu Bezugspersonen korreliert intraindividuell im Mittel .50 mit dem
genetischen Verwandtschaftsgrad r. (je genetisch ähnlicher, desto emotional näher)
Emotionale Nähe wiederum scheint enger mit der
Vertrautheit zusammenzuhängen als mit der
genetischen Verwandtschaft. Deshalb Hypothese:
Hypothese erklärt proximat den Zusammenhang zwischen genetischer Verwandtschaft und Hilfeleistung,
der aus Überlegungen zur inklusiven Fitness ultimat abgeleitet wird.
Tatsächlich ist Zusammenhang der Hilfeleistung mit emotionaler Nähe stärker als mit genetischer
Verwandtschaft: proximate und ultimate Erklärungen können teilweise divergieren.
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Aus ultimaten Überlegungen können neue psychologische Mechanismen abgeleitet werden.
Beispiel: Unterstützung durch Verwandte: Unterstützung
durch mütterliche Linie sollte stärker sein wegen
Vaterschaftsunsicherheit(in westlichen Kulturen ca. 10%
"Kuckuckskinder„) (Euler & Weitzel, 1996; Gaulinet al.,
1997):
 tatsächlich sind Verwandte eher bereit die mütterliche
Linie zu unterstützen.
Persönlichkeitsbild
 Warum unterscheiden Menschen sich?
1. Genetische Variation: Rekombination, Mutation, flukturierende Umwelt
2. Umweltunterschiede: durch EPM vermittelt, geht über Interaktionismus hinaus
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Drei spezifischere Erklärungsprinzipien:
1. frequenzabhängige Selektion
2. konditionale Entwicklungsstrategie
3. strategische Spezialisierung
1. Bei der frequenzabhängigen Selektion hängt die Fitness eines Gens von seiner Häufigkeit in der Population
(Fortpflanzungsgemeinschaft) ab. (Anzahl des männlichen Geschlechts ist abhängig von der Anzahl des
weiblichen Geschlechts )
Beispiel: Geschlechterverhältnis ist 1:1 zum Zeitpunkt der maximalen Fruchtbarkeit um 18 Jahre (vorher
mehr Jungen, später mehr Frauen wegen höherer Sterblichkeit des männlichen Geschlechts).
Frequenzabhängige Auslese muss nicht in 1:1 Verhältnis resultieren, führt aber zu evolutionär stabilem
Verhältnis.
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Bei sonstigen Umweltänderungen kann sich aber auch dieses Verhältnis ändern.
Beispiel: Soziosexualität(Anzahl Sexpartner)von Frauen (Gangestad& Simpson, 1990)
2 Kriterien für Partnerwahl von Frauen
a. Investition des Mannes in die Kinder
b. "gute Gene" bzgl. Gesundheit und sexuellerAttraktivität (beides fördert Reproduktionserfolg)
Problem: sexuell attraktive Männer sind weniger treu und investieren deshalb weniger in ihre Kinder.
Wegen intrasexueller Rivalität führt das zu zwei alternativen, frequenzabhängigen Strategien:
a. restriktiv: Sicherung eines investierenden Mannes
b. unrestriktiv: viele Männer mit "guten Genen"
Wenn es frequenzabhängige Auslese gibt, bedeutet dies, dass es keine absolute Fitness einer
Persönlichkeitseigenschaft gibt.
Fitness muss vielmehr relativ zu alternativen Eigenschaften gesehen werden.
2. Konditionale Entwicklungsstrategien sind genetisch fixierte EPM, die die Individualentwicklung in
Abhängigkeit von alternativen Umweltbedingungen der Kindheit in jeweils adaptive Richtungen lenken:
Umwelt 1 --> Eigenschaft 1
Umwelt 2 --> Eigenschaft 2
Beispiel väterliche Investition in eigene Kinder:
reiche Umwelten --> geringe Investition
arme Umwelten --> starke Investition
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Hypothese von Draper & Harpending(1982):Väterliche Anwesenheit (=Umweltmerkmal)in der frühen
Kindheit ist Umweltmerkmal, das zu erwartende väterliche Investition signalisiert und deshalb zu
konditionaler Entwicklungsstrategie bei Mädchenführe:
Vater anwesend --> späte Geschlechtsreife, späterer erster Sex, weniger Sexpartner.
Vater abwesend --> frühe Geschlechtsreife, früher erster Sex, viele Sexpartner.
Bei Jungen seien keine Unterschiede zu erwarten, weil mütterliche Investition immer hoch sein sollte.
Wurde in mehreren Kulturen bestätigt (Geary, 2000). Z.B. Korrelation .43 zwischen positive Vater-TochterBeziehung in Kindheit und Zeitpunkt 1. Regelblutung
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Mögliche proximate Mechanismen (Ellis et al., 1999)
1. Beschleunigung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe nichtverwandter männlicher Artgenossen
bei vielen Tierarten und auch beim Menschen (Korrelation des Zeitpunktes der 1. Regelblutung stärker
mit Anwesenheit von Stiefvätern und Freunden der Mutter als mit Abwesenheit des Vaters)
2. Hemmung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe des eigenen Vaters(weniger gut bei
anderen Tierarten belegt)
3. Alternative Erklärung durch interindividuell variierende Gene, die Väter und Töchter teilen. Kann durch
Adoptionsstudien entschieden werden.
3. Strategische Spezialisierung
 Hierunter wird die Tendenz zu alternativen Reproduktionsstrategien verstanden, z.B. in Form
frequenzabhängiger Selektion oder konditionaler Entwicklungsstrategien.
Beispiel: Geschwisterposition (Sulloway, 1997): Erstgeborene besetzen "Nischen" innerhalb der Familie
und zwingen so spätergeborene zu höherer sozialer Kompetenz und größerer Offenheit gegenüber
neuen Erfahrungen.
Diese Tendenzen sind nach Sulloways Auffassung auch nach Verlassen des Elternhauses nachweisbar:
konditionale Entwicklungsstrategie.
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Empirische Belege:
1. Korrelation zwischen Geschwisterposition und Offenheit versus Konservativismus.20
(Problem: Altersunterschiede beeinflussen Beurteilungen)
2. Historische Analysen der Akzeptanz
wissenschaftlicher Neuerungen, z.B.
Akzeptanz der Evolutionstheorie von
Darwin durch 405 Wissenschaftler seiner
Zeit (Sulloway, 1997).
Problem der historischen Analysen: Bisher
keine unabhängige Bestätigung
Alternativerklärung:
Geburtspositionseffekt: Nach der 1. Geburt verschiebt sich der Hormonstatus der Mutter durch
Immunisierung gegenüber den männlichen Hormonen des 1. Kindes in weibliche (deshalb mehr
homosexuelle Männer, wenn Bruder vorher geboren und Geburtsabstand bis 2 Jahre).
Hierfür sprechen 2 Adoptionsstudien, in denen nur biologisch Erstgeborene untersucht wurden, wobei der
Zusammenhang zwischen Geschwisterposition (Position des adoptierten Kindes) und Offenheit etc. jeweils
minimal war.
Methodik
 Entscheidend ist die Qualität des Nachweises, dass ein psychologischer Mechanismus ein EPM ist. Denn
da die Umwelten der Vergangenheit wenig bekannt sind, sind ultimateErklärungen recht spekulativ.
 Kriterien für EPM:
1. Angabe des gelösten adaptiven Problems der Vergangenheit
2. Angabe des psychologischen/physiologischen Mechanismus
3. Plausibilität der genetischen Fixiertheit des Mechanismus
4. Kriterien für adaptives Design erfüllt, z.B. Ökonomie, Effizienz, Zuverlässigkeit
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Förderlich, nicht aber notwendig für den Nachweis eines EPM ist auch der Nachweis homologer EPM bei
verwandten Arten, z.B. Menschenaffen (Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans, Gorillas) und anderen
Primaten (z.B. Rhesus-Affen).
Homologie= Ähnlichkeit und Vorkommen bei gemeinsamen Vorfahren, schwer nachzuweisen für
Verhalten.
Nicht erforderlich für den Nachweis eines EPM ist, dass er unter heutigen Umweltbedingungen adaptiv ist.
Interessant sind gerade EPM, die ehemals adaptiv waren, heute aber nicht mehr adaptiv sind, z.B. Präferenz
für fette und süße Nahrung.
Bewährung
Das evolutionspsychologische Paradigma ist noch zu jung, um definitive Aussagen über seine Eignung für die
Persönlichkeitspsychologie zu machen. Jedenfalls derzeit sehr aktives und innovatives Forschungsfeld.
Bewertung
PRO:
 Chance, Persönlichkeitsunterschiede und ihre Abhängigkeit von Gen-Verteilungen und Umweltbedingungen
besser zu verstehen.
CONTRA:
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Anforderungen an Erklärung gehen über alltagspsychologische Überlegungen zu Kosten und Nutzen von
Persönlichkeitseigenschaften und Einräumung eines Stellenwerts in Informationsverarbeitungsmodellen
hinaus.
Risiko von Scheinerklärungen: Bekanntes wird evolutionär verständlich gemacht durch Erfindung adaptiver
Erfolgsgeschichten
EPM schwer zu trennen von zufälligen, selektiv neutralen Varianten, relativ seltenen nicht adaptiven
Varianten und nicht adaptiven Ergebnissen seltener oder neuer Umweltbedingungen
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