2010 Persönlichkeitspsychologie I Wendy Wölkchen Friedrich-Schiller-Universität 29.07.2010 Persönlichkeitspsychologie I 1. Persönlichkeitspsychologie im Alltag 2. Psychoanalytisches Paradigma 3. Behavioristisches Paradigma, 4. Eigenschaftsparadigma 5. Informationsverarbeitungsparadigma 6. Neurowissenschaftliches Paradigma 7. Dynamisch-Interaktionistisches Paradigma 8. Evolutionspsychologisches Paradigma Wissenschaftsparadigma Kuhn (1967): Ein in sich kohärentes, von vielen Wissenschaftlern geteiltes Bündel aus theoretischen Leitsätzen, Fragestellungen und Methoden, das längere Perioden in der Geschichte einer Wissenschaft überdauert: 2 Persönlichkeitspsychologie I 1. Persönlichkeitspsychologie im Alltag Wer sich mit der Psychologie als Wissenschaft beschäftigt, tut dies immer vor dem Hintergrund der Alltagspsychologie - der von den meisten Mitgliedern einer Kultur geteilten Annahmen über das Erleben und Verhalten von Menschen. Wir alle nehmen das Verhalten anderer Menschen und unser eigenes Erleben und Verhalten durch die Brille der Alltagspsychologie wahr. Wir alle nehmen das Verhalten anderer Menschen und unser eigenes Erleben und Verhalten durch die Brille der Alltagspsychologie wahr. Suchen wir nach Erklärungen für auffälliges Verhalten oder möchten wir das Verhalten anderer vorhersagen, weil es wichtig für uns ist, so tun wir das zunächst immer mit Hilfe unseres alltagspsychologischen Wissens. Dazu gehören auch Vorstellungen darüber, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht und wie sie zu erklären ist. Wissenschaftliche Theorien der Persönlichkeit gehen über diese naiven Vorstellungen hinaus und können zu Ergebnissen führen, die dem alltagspsychologischen Vorverständnis widersprechen. Deshalb ist es wichtig, Alltagspsychologie und Psychologie klar auseinander zu halten. Kapitel 1, die Einführung in die Persönlichkeitspsychologie, beginnt deshalb mit einer Analyse des alltagspsychologischen Persönlichkeitskonzepts. Es wird dort deutlich, dass das alltagspsychologische Persönlichkeitskonzept Annahmen über stabile Verhaltensdispositionen, körperliche Merkmale und deren Koppelung enthält. Eine Bewertung dieser "Theorie" nach Kriterien empirischer Wissenschaften zeigt, dass das alltagspsychologische Persönlichkeitskonzept äußerst praktisch für die Erklärung von Erleben und Verhalten im Alltag, aber unbrauchbar als psychologische Theorie ist. Auf seiner Grundlage kann aber am Ende des Kapitels eine erste Definition der Persönlichkeitspsychologie gegeben werden. Unsere Erfahrungen und Erwartungen engen unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten im Alltag ein. Das gilt auch für psychologische Fragen. Hier werden wir durch unsere Alltagspsychologie eingeengt. Was ist eine Alltagspsychologie? Die Alltagspsychologie ist ein System kulturell tradierter Überzeugungen über menschliches Erleben und Verhalten und dessen Ursachen. Im Vergleich z.B. zur Alltagsphysik ist die Alltagspsychologie besonders ausgefeilt und die Skepsis gegenüber der Psychologie als Wissenschaft deshalb besonders groß. Deshalb ist es im Falle der Psychologie besonders wichtig, Psychologie und Alltagspsychologie zu unterscheiden. Dazu müssen wir die implizite Alltagspsychologie explizit machen. Wie sieht die Alltagspsychologie der Persönlichkeit aus? Das untersuchte Laucken (1974) in seiner Rekonstruktion der deutschen Alltagspsychologie auf der Basis einer umfangreichen Sammlung alltagspsychologischer Erklärungen. Struktur der Alltagspsychologie Nach Lauckens Rekonstruktion ist der Teil der Alltagspsychologie, der sich auf die Persönlichkeit bezieht, die naive Persönlichkeitstheorie, im Kern eine naive Dispositionstheorie: Persönlichkeit besteht aus mittelfristig stabilen Dispositionen, die Menschen dazu bringen, in bestimmten Situationen sich in bestimmter Weise zu verhalten. Dispositionen beschreiben Verhaltensregelmäßigkeiten, nicht Verhalten, und sind im Gegensatz zum Verhalten nicht direkt beobachtbar, sondern nur aus Verhaltensbeobachtungen erschließbar. 3 Persönlichkeitspsychologie I Dispositionsarten nach Laucken Die Dispositionen sind nach alltagspsychologischer Auffassung horizontal (gemeinsames Auftreten) und vertikal (Allgemeinheitsgrad) gekoppelt. Zusätzlich werden körperliche statische Merkmale auch als Persönlichkeitseigenschaften betrachtet, wenn sie psychologisch relevant sind (z.B. Größe, Schönheit): Gestalteigenschaften. Persönlichkeit = Dispositionen + Gestalteigenschaften Naive Persönlichkeitstheorie Kluckhohn et al. (1953):Verhalten ist typisch für -alle Menschen -einige Menschen -eine einzige Person Persönlichkeit bezieht sich auf individuelle Besonderheiten, schließt also universelle Merkmale aus: Persönlichkeit = Dispositionen + Gestalteigenschaften, in denen sich Menschen derselben Altersgruppe und Kultur unterscheiden. Bewertung der naiven Persönlichkeitsteorie Ist die naive Persönlichkeitstheorie bereits eine Theorie im Sinne der empirischen Wissenschaften(= Erfahrungswissenschaften), deren Aussagen sich durch Beobachtung bestätigen bzw. widerlegen lassen? Derartige Theoriensind Systeme von Aussagen, die es erlauben, möglichst viele Beobachtungen in einem Gegenstandsbereich, z.B. Persönlichkeit, zu beschreiben, vorherzusagen und zu erklären. Diese Frage kann anhand der 8 zentralen Kriterien für Theorien in den empirischen Wissenschaften überprüft werden: 1. Explizitheit 2. Empirische Verankerung: Operationalisierung 3. Widerspruchsfreiheit 4. Prüfbarkeit: Widerlegbarkeit, nicht Beweisbarkeit 5. Vollständigkeit 6. Sparsamkeit 7. Produktivität 8. Anwendbarkeit Die naive Persönlichkeitstheorie ist praktisch für die Erklärung und Vorhersage von Verhalten im Alltag, aber unbrauchbar als Theorie im Sinne der empirischen Wissenschaften. Neben diesem Fazit liefert diese Rekonstruktion der naiven Persönlichkeitspsychologie aber auch eine erste Definition der Persönlichkeitspsychologie als empirische Wissenschaft: Persönlichkeitspsychologie ist die empirische Wissenschaft von den überdauernden, nichtpathologischen, verhaltensrelevanten individuellen Besonderheiten von Menschen innerhalb einer bestimmten Population. 4 Persönlichkeitspsychologie I 2. Das psychoanalytische Paradigma Das psychoanalytische Paradigma mit seiner Betonung unbewusster Abwehrmechanismen und der Charakterbildung durch unverarbeitete Kindheitskonflikte erwies sich aus methodischen Gründen als ungeeignet für die Persönlichkeitspsychologie, lieferte jedoch zahlreiche Annahmen über Persönlichkeitsunterschiede und ihre Entwicklung, die sich zum Teil als unüberprüfbar oder als falsch erwiesen, zum Teil aber auch die spätere empirische Forschung inspiriert haben. 1. 2. 3. 4. 5. Menschenbild Alle menschliche Aktivität und das "Seelenleben" beruht auf der Verarbeitung von psychischer Energie. Freud hoffte, dass sie sich später einmal physiologisch messen lasse. Sie wird aus angeborenen Trieben gespeist, die nach Triebbefriedigung an Triebobjekten drängen. Besonders interessierte sich Freud für den Sexualtrieb, der die Libido(sexuelle Energie) speist, und den Aggressionstrieb. Dieses Triebmodell der Energieverarbeitung wird heute von den meisten wissenschaftlich arbeitenden Psychoanalytikern abgelehnt. Die Energieverarbeitung wird von 3 psychischen Instanzengeregelt ("Strukturmodell der Psyche"): 1. Es(Lustprinzip) 2. Ich(Realitätsprinzip) 3. Über-Ich(Gewissen) Diese Regulation findet auf 3 Ebenen statt, die in ständigem, psychischen Konflikt zueinander stehen Freud rekonstruierte aus seinen Therapiesitzungen mit neurotischen Erwachsenen folgendes Phasenmodell der psychischen Entwicklung: orale Phase(1. Lebensjahr) anale Phase(2.-3. Lebensjahr) phallische Phase(3.-5. Lebensjahr):-Ödipuskonfliktbei Jungen-Penisneidbei Mädchen Latenzphase(6. Lebensjahr bis Pubertät) Genitale Phase(ab Pubertät) Persönlichkeitsbild Freud bezeichnete die Persönlichkeit als Charakter. Der Charakter wird bereits in der frühen Kindheit durch 2 Prozesse geformt: 1. Fixierung 2. Entwicklung typischer Abwehrmechanismen Ad 1: Fixierung: durch zu große Triebbefriedigung in einer bestimmten Phase oder zu starke Einschränkung derselben durch die Eltern prägt dies den Charakter . orale: Abhängigkeit von anderen, orale Tendenzen . anale: Zwangscharakter(ordentlich, pedantisch, geizig) . phallische: Ödipuskomplex (Streben nach Macht, Erfolg) 5 Persönlichkeitspsychologie I Ad 2: Abwehrmechanismen als Formen der Verarbeitung von Angst durch das Ich: Reale Gefahren => Realangst (z.B: Rauchen/ Krebs) Es-Impulse => neurotische Angst Versagen gegenüber Über-Ich => Moralische Angst (im Rahmen von gesellschaftlichen + relevanten Normen) Die individualtypische Form der Verarbeitung prägt ebenso wie eine Fixierung den Charakter. Es werden vielfältige Abwehrmechanismen unterschieden. Lacan: “Die Verdrängung ist die lebendigste Form der Erinnerung“ Persönlichkeit (resp. Charakter) ist nach Freud die individualtypische Ausformung der weitgehend unbewusst ablaufenden Triebdynamik. Die besondere Kombination von Fixierungen und Abwehrmechanismen machen die individuelle Persönlichkeit des Einzelnen aus, die ab der phallischen Phase weitgehend konstant ist. Neuere psychoanalytische Ansätze distanzieren sich von Teilen der Trieb-und Phasenlehre Freuds. Sie betonen die prägende Rolle früher Objektbeziehungen für die Charakterentwicklung(Objekt = enge Bezugsperson, v.a. Mutter). Methodik Freie Assoziationen, Kindheitserinnerungen und z.T. Träume von erwachsenen Patienten in Therapiesitzungen werden gedeutet, insb. bzgl. Fixierungen und Abwehrmechanismen und deren Entwicklung. Traum als „Tor zum Bewusstsein“ Kritik (u.a. von Grünbaum1988): Gefahr der Immunisierung der Deutungen des Analytikers: o akzeptiert Patient Deutung => Bestätigung o akzeptiert Patient Deutung nicht => Widerstand, Abwehrmechanismus (z.B. Verkehrung ins Gegenteil) Analytiker hätte immer Recht Durch suggestive Wirkungen können Deutungen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden. Freud war sich des Problems der Scheinbestätigung durch suggestive Wirkungen auf die Patienten bewusst. Seine Lösung: o Neurosen lassen sich nur durch Bewusstmachen der zugrundeliegenden Konflikte dauerhaft beseitigen. o Nur die psychoanalytische Methode ist dazu in der Lage. o Deshalb ist jeder Therapieerfolg eine Bestätigung, dass die Deutungen in der Therapie korrekt waren. Dagegen: Spontanremissionen/ therapieunabhängige Spontanheilungen(waren schon Freud bekannt) und Erfolge anderer Therapien. Problem der Erklärung der Charakterentwicklung: 1. Sie beruht auf Kindheitserinnerungen von Erwachsenen und ist von daher wegen der inzwischen bekannten Erinnerungsverzerrungen inakzeptabel als Methode einer empirischen Wissenschaft.( wenn man sie ausschließlich verwendet) 2. Problem der verzerrten Stichproben (nur neurotische Patienten, die verbal eloquent sind und die teure Therapie bezahlen können). 3. Problem der fehlenden empirischen Verankerung der Grundkonzepte Energie, Ich/Es/Über-Ich, Abwehrmechanismus => deshalb Missbrauchsmöglichkeit in Deutungen! 6 Persönlichkeitspsychologie I Wegen dieser zahlreichen Problem ist die psychoanalytische Methodik inakzeptabel als Methode für einer empirischen Wissenschaft. Deshalb ist die Psychoanalyse keine empirische Wissenschaft, sondern eher eine hermeneutische Geisteswissenschaft. Bewährung Trotz der Methodenprobleme könnten Aussagen der Psychoanalyse zur Persönlichkeit oder ihrer Entwicklung zutreffen. Empirische Überprüfungen in den 1950er und 1960er Jahren ergaben jedoch: CONTRA: o Die meisten Aussagen sind empirisch nicht überprüfbar, weil die zu überprüfenden Konzepte unklar definiert oder nicht operationalisierbar sind. o Die empirisch überprüfbaren Aussagen erwiesen sich meist als falsch, insbesondere zur Charakterentwicklung (z.B. gibt es keinen Zusammenhang zwischen Problemen bei der Sauberkeitserziehung und späterem Zwangscharakter; Kinder mit Gaumenspalten zeigen später nicht vermehrt orale Charakterzüge). PRO: Einige Konzepte der Psychoanalyse haben sich jedoch als fruchtbar für die heutige empirische Persönlichkeitspsychologie erwiesen: o Konzept der unbewussten Kognitionen und Motive; o Konzept der assoziativen Informationsverarbeitung ("primär prozesshaftes Denken"); o Konzept der Abwehrmechanismen, insbesondere im Umgang mit realen Bedrohungen, auch wenn einige Mechanismen wie z.B. Verdrängung schwer zu operationalisieren sind; o Konzept der wichtigen Rolle früher Objektbeziehungen für spätere soziale Beziehungen (zu Freunden, Partner, eigenen Kindern), Beispiel für Operationalisierung von Angstverdrängung Weinberger et al. (1979): niedrige Ängstlichkeit gepaart mit starker Tendenz zu sozial erwünschten Antworten weist auf Präferenz von Angstverdrängung hin Repressersollten physiologisch stärker erregt sein als Niedrigängstliche beim freien Assoziieren zu Sätzen mit sexuellem/aggressivem Inhalt, nicht aber mehr Angst berichten. Bewertung Das klassische psychoanalytische Paradigma ist aus methodischen Gründen ungeeignet als Paradigma der empirischen Persönlichkeitspsychologie, hat aber immer noch heuristischen Wert(Wert für die Generierung testbarer Hypothesen). Überraschenderweise war der Mediziner Freud der Meinung, die Psychoanalyse sei eine Naturwissenschaft. Insbesondere in der 2. Lebenshälfte vertrat Freud eine orthodoxe, gegen jede Kritik immunisierte Haltung. Z.B. Antwort auf einen Brief von Rosenzweig: "Ich habe Ihre experimentellen Arbeiten zur Prüfung psychoanalytischer Behauptungen mit Interesse zur Kenntnis genommen. Sehr hoch kann ich diese Bestätigungen nicht einschätzen, denn die Fülle sicherer Beobachtungen, auf denen jene Behauptungen ruhen, macht sie von der experimentellen Prüfung unabhängig. Immerhin, sie kann nicht schaden." 7 Persönlichkeitspsychologie I Das Credo jedes empirischen Wissenschaftlers ist jedoch (Bertold Brecht, Leben des Galileo Galilei): "Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts gehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben... (Mit einem Zwinkern: )Sollte uns dann aber jede andere Annahme als diese unter den Händen zerronnen sein, dann keine Gnade mehr mit 8 Persönlichkeitspsychologie I 3. Das behavioristische Paradigma Das behavioristische Paradigma, das sich auf beobachtbares Verhalten beschränkte und innere Prozesse als empirisch-wissenschaftlich unzugänglich betrachtete, reduzierte Persönlichkeitsunterschiede auf erlernte Unterschiede und war anfangs äußerst optimistisch, was die Veränderbarkeit der Persönlichkeit durch gezielte Beeinflussung anging. Später zeigte sich, dass Lernen durch die Persönlichkeit, insbesondere genetisch, beeinflusst ist, und Persönlichkeit keineswegs immer auf Lernen rückführbar ist. Menschenbild S R statt S „Black Box“ R (psychische Prozesse existieren, sind aber für wissenschaftliche Untersuchung uninteressant) Reiz-Reaktions-Theorie (funktionale Abhängigkeiten zwischen Reiz und Reaktion) Mensch kommt als „unbeschriebenes Blatt“ zur Welt; nur ausgestattet mit Spontanaktivität und Reflexen Alle komplexeren Reaktionen auf Situationen sind erlernt! o 3 Lernmachanismen: Klassische Konditionierung (Pawlow) Operante Konditionierung (Skinner) Nachahmungs-/Beobachtungslernen (Bandura) o die Reizbedingungen der Umwelt entscheiden ob ein bestimmtes Verhalten erlernt wird o Lernen folgt universellen bereichsunspezifischen Lerngesetzen, die für alle Menschen gleich sind Persönlichkeitsbild Individuelle Besonderheiten als Resultat der Lerngeschichte! Person als Opfer seiner Umwelt o Kennt man alle Situationen, denen eine Person ausgesetzt war, kann man Verhalten vohersagen o Andersrum: durch Schaffung von Umweltbedingungen kann man Verhalten erzeugen (beliebig) [vgl.: Watsons Optimismus] Persönlichkeitsentwicklung ist vollständig erklärbar, vorhersagbar, veränderbar! Methodik Lernexperimente PRO: o Sehr leicht zu operationalisieren CONTRA: o Annahme: Lerneffekte der Lernexperimente überdauern, wird interpretiert als „Persönlichkeitsänderung“ (in der Praxis aber nicht (selten) der Fall! Lerneffekte nicht stabil!) o Um Persönlichkeitsunterschiede zu erklären, müsste man komplette Lerngeschichte eines Individuums kennen ( Rekonstruktion praktisch undurchführbar) o Experimente sind asymmetrisch: Experimentator kontrolliert Umwelt des Lernenden, aber Einflüsse des Lernenden auf ihre Lernumwelt werden ignoriert (vielleicht hat auch die Ratte den Experimentator konditioniert?!) Planvolles Handeln nur schwer operationalisierbar Bewährung Erfolge: o bei gezielter Modifikation von Verhaltensweisen durch Belohnung/Bestrafung (z.B. Verhaltenstherapie) o Offenes Verhalten und auch physiologische Reaktionen erwiesen sich (in bestimmten Grenzen) konditionierbar o Reiz-Reaktions-Verbindungen können experimentell hergestellt werden kein Beweis dafür, dass Persönlichkeitsunterschiede durch Lernen entstanden sind! 9 Persönlichkeitspsychologie I Grenzen: o Temperamentsunterschiede bei Neugeborenen (kein „unbeschriebenes Blatt“) o Wenig stabile Lerneffekte trotz langer Lernphasen und extreme Stabilität nach einmaligem Lernen „one trial learning“ (nicht erklärbar) o Planvolles Verhalten, das über unmittelbare Reizkonstellation hinausgeht, ist nicht erklärbar!!! kognitive Wende (zum informations-verarbeitungs Paradigma) innere, nicht direkt beobachtbare Prozesse („black box“) würden die Phänomene erklären Lerngesetze gelten weiterhin, sind aber nicht bedeutsam für die Erklärung zielgerichteten Handelns Bereich-unspezifische Lernprozesse gibt es nicht! Es gibt nur artspezifische Prädispositionen, bestimmte Reaktionen auf bestimmte Reize hin sehr leicht und auf andere Reize hin sehr schwer zu erlernen. Teilweise genetische Prädispositionen Die Persönlichkeit des Lernenden nimmt Einfluss auf den Lernprozess und ist deshalb nicht nur Lernresultat, sondern auch Lernvoraussetzung!!! Bewertung PRO: o Gute Operationalisierbarkeit der Grundkonzepte Reiz und Reaktion CONTRA: o Biologische und physiologische Vernachlässigung der verdeckten, im Organismus ablaufenden Prozesse! o Beschränkung auf direkt Beobachtbares o GRUNDANNAHME FALSCH! Persönlichkeitsunterschiede entstehen nicht erst durch Lernen nach der Geburt! o Genetische Prädispositionen sprechen gegen Watsons Optimismus 10 Persönlichkeitspsychologie I 4. Das Eigenschaftsparadigma Das Eigenschaftsparadigma knüpfte an das alltagspsychologische Verständnis der Verhaltensdisposition an und entwickelte ein umfangreiches methodisches Instrumentarium zur empirischen Prüfung der alltagspsychologischen Annahmen, dass Persönlichkeitseigenschaften zeitlich und von Situation zu Situation und Reaktion zu Reaktion konsistent seien. Dabei zeigte sich, dass die meisten alltagspsychologisch vermuteten Eigenschaften tatsächlich zumindest über kürzere Zeiträume stabil sind, von Situation zu Situation und Reaktion zu Reaktion aber deutlich variieren. Was dabei jedoch meist stabil bleibt, ist das individuelle Profil der situationsspezifischen bzw. reaktionsspezifischen Eigenschaftsausprägung (individuelle Situations- bzw. Reaktionshierarchien). Dadurch liefert das Eigenschaftsparadigma ein tragfähiges Fundament für die Persönlichkeitsdiagnostik und langfristige Verhaltensvorhersagen. Entwickelte sich aus naiver Persönlichkeitspsychologie Genügt den Ansprüchen der empirischen Wissenschaft o Hat Persönlichkeitspsychologie lange dominiert o Übt auch heute noch einen wesentlichen Einfluss aus o Neuere Paradigmen ergänzen es eher Versuch: Eigenschaftsbegriff präzisieren Menschenbild Annahme: Menschen reagieren auf komplexe Reizkonstellationen: Situationen Situation kann einfach oder komplex sein Situation ist derjenige Ausschnitt der aktuellen Umwelt einer Person, der Einfluss auf ihr aktuelles Verhalten ausübt Qualitative Aspekte komplexer Reaktionen sind wichtig o z.B.:Wie wurde die Aufgabe gelöst? Es wird nach funktionalen Abhängigkeiten gesucht (Vgl: Behaviorismus) ABER nicht Lerngeschichte sondern Eigenschaften der Person wichtig Die Eigenschaften einer Person bestimmen, welche Reaktionen sie in einer bestimmten Situation zeigt. Eigenschaften sind nicht beobachtbare, aber aus Verhaltensregelmäßigkeiten erschließbare Verhaltensdispositionen. Sie sind über mittelfristige Zeiträume stabil Verhalten = f ( Eigenschaften, Situation ) [Das Verhalten als Funktion von E und S] „Black Box“ wird gefüllt! Persönlichkeitsbild Ziel: individuelle Besonderheiten einzelner Menschen oder bestimmter Gruppen von Menschen durch Eigenschaften beschreiben Persönlichkeit = organisiertes System aller individualtypischer Eigenschaften 2 fundamental unterschiedliche Ansätze: o INDIVIDUUMZENTRIERTER ANSATZ Eigenschaften eines Individuums werden unabhängig von den Eigenschaften anderer Individuen beschrieben (z.B. Körpergröße, Sehschärfe etc.) o DIFFERENTIELLER ANSATZ (wichtiger) Eigenschaftsdifferenzen innerhalb einer Population werden beschrieben, d.h. individuelle Eigenschaften werden relativ zu den Eigenschaften anderer betrachtet (z.B. IQ, Rangplatz, Abweichungswert) INDIVIDUUMZENTRIERTER ANSATZ: o Alltagspsychologische Beschreibungen listen bestimmte Eigenschaften auf (z.B. dünn, intelligent, aggressiv, nervös usw.); kann beliebig vefeinert werden bis zu ganzer Biografie; gibt Gesamteindruck über eine Person reicht als empirische Wissenschaft nicht aus o Eigenschaften des Individuums müssen operationalisiert werden (Testergebnisse, Skalen etc.) und Stabilität der Eigenschaftsausprägungen muss sicher sein o Aus gesammelten Daten können Verhaltensdispositionen abgeleitet werden (die z.B. Verhaltenstendenzen beschreiben) 11 Persönlichkeitspsychologie I o o o PROBLEM: Aussagen über individuelle Dispositionen sagen nichts über die individuelle Besonderheit von Menschen aus! Es ist unklar ob die gesammelten Daten nur für Individuum oder alle Individuen der Peer-Gruppe gelten Rein individuumzentrierte Eigenschaftsbeschreibungen sagen nichts über die Persönlichkeit aus! Persönlichkeitspsychologische Aussagen müssen Vergleiche mit anderen Menschen mit einschließen! (wichtig, mit wem verglichen wird) DIFFERENTIELLER ANSATZ o Ohne Vergleich mit Referenzpopulation lässt sich nichts über Persönlichkeit aussagen o Streng genommen: keine Aussagen über „die Eigenschaft“, sondern nur Aussagen relativ zur Referenzpopulation (meist Peers (Altersgleiche) derselben Kultur) o Persönlichkeitseigenschaften werden im differentiellen Ansatz durch Variablen (z.B.: Intelligenztest) gemessen, die jeder Person der Population einen Variablenwert (z.B. IQ) zuweisen. Dieser Variablenwert charakterisiert eine Persönlichkeitseigenschaft der Person. 2 Betrachtungsperspektiven (je 2 Möglichkeiten): Variablenorientiert Variationsforschung: 1 Merkmal, viele Personen Korrelationsforschung: 2 Merkmale, viele Personen (je ähnlicher die Verteilungen über Personen sind, desto höher ist ihre Korrelation, d.h. desto ähnlicher differenzieren beiden Variablen zwischen Personen. Viele Personen werden in jeweils einem Merkmal unterschieden Beschreibung einzelner Persönlichkeitsmerkmale Im Mittelpunkt stehen nicht einzelne Personen, sondern Variablen in Populationen Personorientiert Psychographie: 1 Person, viele Merkmale (es entsteht ein Persönlichkeitsprofil, das einen Persönlichkeitsbereich beschreibt) Komparationsforschung: 2 Personen, viele Merkmale (betrachtet Ähnlichkeit der Persönlichkeitsprofile zweier Personen. Verglichen wir Profilgestalt) Personen werden in vielen Merkmalen miteinander verglichen Und lassen sich nach Persönlichkeitstypen (Personen mit ähnlichem Persönlichkeitsprofil) klassifizieren Beschreibung der gesamten Persönlichkeit eines Individuums Methodik Individuumzentrierte Datenerhebung: Merkmale einer Person werden unabhängig von ihrer Ausprägung bei anderen Personen erhoben, „weiche“ Methoden, unbeliebt in der empirischen Wissenschaft z.B.: freie Beschreibungen, Biografie … „Harte“ Methoden erfordern die Messung der Merkmale, d.h. die Zuordnung der Merkmale zu Merkmalswerten derart, dass Unterschiede zwischen den Werten Unterschiede zwischen den Zahlen repräsentieren. Z.B: Reaktionszeitmessungen 2 Beispiele für harte Methoden: Rep-Test (Role Construct Repertory Test): mit welchen Eigenschaften beschreiben einzelne Individuen die Persönlichkeit von sich selbst und anderen Menschen ? Generierung persönlicher Konstrukte des Individuums. Rep-Test erfasst diese Konstrukte: (schwer vergleichbar!) Q-Sort-Verfahren: Sortierung von Eigenschaften einer Person nach Salienz (wie typisch für diese Person), Selbst-, Bekanntenoder Expertenbeurteilung. Eigenschaften werden intraindividuell verglichen. Es entsteht ein Eigenschaftsprofil, 12 Persönlichkeitspsychologie I das die Person individuumzentriert beschreibt. Allerdings gehen auch Überlegungen der Beurteiler mit ein, Person wird mit Peers verglichen, extreme Ausprägungen in einem Merkmal sind salienter. Q-Sorts sind auch differentiell. Differentielle Datenerhebung: Erhebung von eigenschaftsrelevanten Merkmalen im Vergleich zu anderen Personen (Peers) 3 verschiedene Methoden um Dispositionen zu erfassen: 1. Persönlichkeitsskalen: Direkte Beurteilung aufgrund alltagspsychologischer Beschreibungen (oft in Persönlichkeitsinventaren gruppiert) 2. Situations-(Reaktions-)Inventare: Stärke hypothetischer Reaktionen in hypothetisch vorgegebenen Reaktionen erfragt 3. Verhaltensbeobachtung: tatsächliche Reaktionen in realen Situationen Persönlichkeitsskalen o - bestehen aus mehreren Items, die dieselbe Eigenschaft erfassen sollen o - jedes Item wird auf Antwortskala beurteilt z.B.: „ja“ - „nein“ oder „gar nicht“ (1) – „sehr stark“ (5) oder „nie“ (1) – „sehr oft“ (5) o - es gibt mehrere Items um durch Mittelung den Messfehler zu reduzieren o - Persönlichkeitsinventare bestehen aus mehreren P-Skalen, deren Items gemischt werden, z.B. NEOFFI, sie sollen entweder Persönlichkeit möglichst breit erfassen oder viele unterschiedliche Eigenschaften eines engeren Persönlichkeitsbereichs messen PROBLEM: o - Fremdbeurteilung ungenau, da sich Beurteiler an spezielle Reaktionen in bestimmten Situationen erinnern oder bereits ein alltagspsychologisches Urteil über Person gefällt hat (unterschiedliche Urteiler unterschiedliche Ergebnisse) LÖSUNG: Situations-Inventar (hypothetische Reaktionen in vielen hypothetischen Situationen) ODER Situations-(Reaktions)-Inventare (zusätzlich werden auch Reaktionen variiert) In denen Situationen UND Reaktionen systematisch variiert werden und alle Urteile pro Person gemittelt werden o Es lassen sich typische Reaktionsmodelle erstellen o PROBLEM: es handelt sich nur um Beurteilung HYPOTHETISCHER Situationen, die verzerrte Wahrnehmung oder Erinnerungsfehler enthält BESSER Verhaltensbeobachtung („Königsdiziplin“) o Beste aber aufwändigste Methode o In realen Situationen durch anwesende Beobachter oder Beurteilungen von Videoaufnahmen (Person muss Erleben in der Situation anhand der Aufnahme einschätzen) o Prüfung der Stabilität besonders wichtig PROBLEM: o Privates Erleben und intime Situationen lassen sich kaum beobachten 13 Persönlichkeitspsychologie I Beurteilungsfehler o mangelhaftes Verständnis der Items, der Antwortskala, der Person o selektive Kenntnis der relevanten Situationen o Erinnerungsverzerrungen, z.B. optimistischer Bias o Tendenz zu sozial erwünschten Antworten(Kontrolle durch Erwünschtheitsskalen schwierig, Paulhus: Trennung Selbst-und Fremdtäuschung) o Tendenz zu (nicht)extremen Urteilen o Halo-Effekte, z.B. Schönheit –IQ o schlechte Beobachtbarkeit der Eigenschaft BESCHREIBUNG VON VERTEILUNGEN o 2 wichtige Kennwerte: Mittelwert (M) und Streuung (z.B.: Standardabweichung SD) o Lineare Transformationen der Messskala ändern interindividuelle Unterschiede proportional und damit nicht wesentlich o Deshalb z-Transformation zur Standardisierung (M = 0 ; SD = 1) und macht Verteilungen vergleichbar Korrelationen von Eigenschaften beschreiben den Zusammenhang von zwei Variablen X und Y (z.B. Eigenschaftsmessungen in einer Stichprobe von Personen) o Beruhen auf z-Werten z(X), z(Y): o Korrelation ist das mittlere Produkt aller einander zugeordneten z-transformierten X- und Y-Werte in der Stichprobe Maß der mittleren Ähnlichkeit der einander zugeordneten z-Werte der Personen o Sagen nichts über Individuen aus, sondern nur über Populationen! o Messen nur lineare Zusammenhänge (r = .00 heißt also nicht zwangsläufig, dass gar kein Zusammenhang besteht) Stabilität: sind die erfassten Merkmale/ Merkmalsprofile mittelfristig stabil? o Prüfung durch Kovariation von Merkmalen zwischen verschiedenen Messzeitpunkten o Stabilität von einzelnem Merkmal - Merkmal wird an denselben Personen zweimal gemessen - geht um Stabilität einer Variable, nicht um Stabilität der Person (variablenorientiert) o Stabilität von Merkmalsprofil - Person pro Person (personorientiert) - Profil einer Person wird zweimal gemessen Reliabilität bedeutet Messgenauigkeit/ Zuverlässigkeit o Messwert = wahrer Wert + Fehler o Reliabilität = wahre/beobachtete Varianz o Bestimmung durch Korrelation zwischen zwei parallelen Messungen mit gleich großem Fehler oder Schätzung einer solchen Korrelation! PROBLEM: sehr aufwendig, da Personen zweimal getestet werden müssen LÖSUNG: interne Konsistenz wird bestimmt o Korrelation der Skala mit sich selbst zum gleichen Zeitpunkt (nur 1 Messzeitpunkt!) o Cronbach-Alpha schätzt interne Konsistenz des Gesamttests aufgrund der Korrelation zwischen k parallelen Testteilen o Dabei wird die Spearman-Brown-Formel genutzt: 14 Persönlichkeitspsychologie I o Validität = Gültigkeit, d.h. es wird gemessen, was gemessen werden soll o Konvergente Validität: Korrelation mit Außen-Kriterium (sollte hoch sein, je höher die Korrelation, desto sicherer kann man sein, dass die Variable wirklich misst, was sie soll) o Diskriminante Validität: Korrelation mit anderen Variablen (sollte niedrig sein) o PROBLEM: Validierung von Persönlichkeitsmerkmalen ist meist erheblich schwieriger als die Sicherung einer ausreichenden Reliabilität o Gefahr eines Zirkelschlusses bei Kriteriumsvalidierung! (A ist valide, weil A mit B korreliert, B mit C und C wiederum mit A) o Alternative Sichtweise: nomologisches Netzwerk (nicht kausal interpretierbar) Aggregationsprinzip !!! (nie mehr vergessen) o Die Spearman-Brown-Formel beschreibt ganz allgemein das Aggregationsprinzip, nach dem die Reliabilität und deshalb auch die Validität von Eigenschaftsmessungen durch Aggregation (=Mittelung) über viele Messungen erhöht werden kann. o Aggregiert werden kann z.B. über parallele Items eines Tests, Situationen, Reaktionen, Beobachter, Zeitpunkte. (je mehr Items wir aggregieren, desto reliabler wird die Messung) o Grenzen in der Voraussetzung paralleler Messungen (Items auf Skala, die man vergleichen kann) und der Interpretierbarkeit der aggregierten Messungen (Beispiel: Studie von Lasky et al. 1959). Bewährung Beurteilerübereinstimmung bei Verhaltensbeobachtung von relevantem Verhalten zwischen .60 – .80, sodass 1-2 Beurteiler meist ausreichen bei Beurteilungen in Persönlichkeitsskalen und Sorts selten höher als .50, z.B. zwischen Selbst-, Fremd- und Expertenbeurteilung o Liegt vor allem an unterschiedlicher Kenntnis relevanter Situationen o Diskrepanzen können nicht durch Aggregation minimiert werden! Interne Konsistenz Durch Eliminierung von ungeeigneten Items können interne Konsistenzen von .75 -.85 erreicht werden, bei Leistungstests auch .90 -.95. Bei der Itemselektion wird die Trennschärfe jedes Items bestimmt (Korrelation mit Rest der Skala), und Items mit zu geringer Trennschärfe werden weggelassen, bis die interne Konsistenz ausreichend ist. Reliabilität muss erneut in einer weiteren Stichprobe von Personen kreuzvalidiert werden, da insbesondere bei kleinen Stichproben zufällig hohe Trennschärfen die Reliabilität überschätzen Valididtät Die Validitäten von Persönlichkeitsskalen werden durch die Beurteilerübereinstimmung begrenzt und erreichen damit nicht mehr als .50. Tests im Leistungsbereich können höhere Validitäten erreichen. 15 Persönlichkeitspsychologie I Die Validität von Verhaltensbeobachtungen liegen selten höher als die von Persönlichkeitsskalen; dies liegt daran, dass die Eigenschaften meist in nur wenigen Situationen beobachtet werden Zeitliche Stabilität Persönlichkeitsskalen erreichen regelmäßig Retestreliabilitäten über wenige Wochen von .75 -.85. Allerdings wird so eigentlich nur die Stabilität der Urteile erfasst, nicht die Stabilität des Verhaltens. Bei Leistungstests können auch .90 erreicht werden Bei ausreichend langer Beobachtung können auch bei Verhaltensbeobachtungen .75 -.85 erreicht werden Mittelung über mehrere Reaktionen oder Situationen erhöht die Stabilität Transsituative Konsistenz (!!! Klausurrelevant) = Korrelation von Verhaltensdispositionen zwischen VERSCHIEDENEN (ähnliche, aber nicht identische) Situationen Z.B. Ehrlichkeit ist nicht ausreichend konsistent (Hartshorne & May, 1928): Klassische Studie 850 Schulkinder in 8 Situationen (Klassenzimmer, sportliche Wettkämpfe, häusliche Umwelt, unehrliches Verhalten [mogeln, stehlen etc.], Lügenskala [misst die Tendenz zu lügen. Sozial erwünschte aber unwahrscheinliche Items z.B.: „Ich lüge nie“]). Mittlere Korrelation von .19, interne Konsistenz .65 Widerspricht der Grundannahme des Paradigmas, dass eine Eigenschaft das Verhalten in vielen Situationen in vergleichbarer Weise beeinflusst Problem für die Persönlichkeitspsychologie: Behauptung: es gibt keine Eigenschaften Löste eine jahrelange Konsistenzdebatte aus und brachte Persönlichkeitspsychologie in Misskredit ABER Die Kritik von Mischel (1968) beruhte auf dem Missverständnis, dass eine hohe transsituative Konsistenz notwendig für den Eigenschaftsbegriff sei. Notwendig ist jedoch nur eine hohe zeitliche Stabilität; Unterschiede in stabilen Situationsprofilen sind mit dem Eigenschaftsbegriff vereinbar: a) Annähernde transsituative Konsistenz (Klasse) b) stabiles Situationsprofil EINES KINDES (Individuum) LÖSUNG des Problems der mangelnden transsituativen Konsistenz: 1. Unterscheidungen von SituationsprofilTypen, z.B. aggressiver gegenüber Kindern als gegenüber Erwachsenen 2. Differenzierung einer Disposition in untergeordnete situationsspezifischere Dispositionen (Situationstypen), z.B. "aggressiv gegenüber Kindern/Erwachsenen" 16 Persönlichkeitspsychologie I Reaktionskohärenz = Korrelation zwischen eigenschaftstypischen Reaktionen o Oft niedrig, z.B. bei physiologischen Stressreaktionen o Individuelle Reaktionshierarchien o In physiologischen Stress-Studien und bei Induktion sozialer Angst im Labor zeigten gut 50% der Personen zeitlich stabile Reaktionshierarchien (Foerster et al., 1983). Manchmal lassen sich Reaktionshierarchien vorhersagen, z.B. Diskrepanzen zwischen berichteter und physiologisch/mimisch gezeigter Angst bei Repressern (Asendorpf & Scherer, 1983). o Reaktions-Inkohärenzen lassen sich durch Bildung von Profiltypen oder durch reaktionsspezifischere Dispositionen auflösen (analog zu transsituativen Inkonsistenzen). Bewertung !!! PRO: o Es wurde der alltagspsychologische Begriff der Persönlichkeitseigenschaft präzisiert und empirisch messbar gemacht o Grundbegriffe sind explizit und operational definiert o Wird klar zwischen Verhalten und Eigenschaften unterschieden, ist der Eigenschaftsbegriff nicht zirkulär (= Eigenschaft erklärt durch andere Eigenschaft) Da Persönlichkeitseigenschaften individuelle Besonderheiten beschreiben, ist eine rein individuumzentrierte Erfassung nicht möglich; notwendig sind Vergleiche mit anderen Personen einer Referenzpopulation. Dadurch werden alle Aussagen im Eigenschaftsparadigma populationsabhängig CONTRA: o Keine Aussagen über Prozesse der Situationsverarbeitung: die "Black Box" des Behaviorismus enthält Eigenschaften, nicht aber Prozesse, die Situationen in Reaktionen umsetzen. o Der Eigenschaftsbegriff ist statisch: keine Aussagen über Persönlichkeitsveränderungen. o Eigenschaften werden oft aus der Alltagspsychologie entlehnt oder diagnostischen Anforderungen entnommen, z.B. Fahrtüchtigkeit. Keine Begründung dafür, warum sich Menschen in bestimmten Eigenschaften unterschieden 17 Persönlichkeitspsychologie I 5. Das Informationsverarbeitungsparadigma !!! Die "kognitive Wende" führte Verhalten auf Informationsverarbeitungsprozesse zurück und wandte sich damit wieder denjenigen inneren Prozessen zu, die der Behaviorismus und z.T. auch das Eigenschaftsparadigma ausgeklammert hatten. Dadurch können Persönlichkeitseigenschaften in Form stabiler Parameter von informationsverarbeitenden Prozessen in Modelle der Informationsverarbeitung eingebettet werden. Eigenschaften sind damit nicht mehr auf direkt Beobachtbares oder verbal Berichtbares beschränkt. Die psychoanalytische Annahme, dass die meisten persönlichkeitsrelevanten Prozesse unbewusst bleiben, erfuhr im Informationsverarbeitungsparadigma eine klare Bestätigung und wurde in Mehrebenenmodellen aufgegriffen, in denen z.B. zwischen impulsiven versus reflektiven Prozessen, implizitem versus explizitem Wissen und spontanem versus kontrolliertem Verhalten unterschieden wird. Dabei blieb die Frage, wie bewusste Prozesse zustande kommen, bis heute unbeantwortet. Behaviorismus: Mensch als Black Box Eigenschaftsparadigma: Eigenschaften aus der Black Box werden durch beobachtbares Verhalten erschlossen, keine Angabe welche Prozesse eine Situations-Reaktions-Beziehung erzeugen Psychoanalyse: Mensch als energieverarbeitendes System Informationsverarbeitungsparadigma: Mensch als informationsverarbeitendes System o Analogie zu sequentieller und später auch paralleler Verarbeitung in Computern und neurowissenschaftlich orientierte Modelle (neuronale Netzwerke) o Verarbeitungsprozesse sind weitestgehend unbewusst; Problem ist nicht Unbewusstes, sondern was Bewusstsein ist. Menschenbild Erleben und Verhalten beruht auf der Verarbeitung von Information Information = Bedeutung eines Zustandes von Materie oder Energie für ein informationsverarbeitendes System Beruht auf Informationsübertragung im Nervensystem, das über Rezeptoren Reize aus der Umwelt und dem eigenen Körper empfangen und in andere Information umwandeln kann, die u.a. verantwortlich für bewusstes Erleben sind und über motorische Aktivität Informationen auf die Umwelt übertragen kann (Verhalten). Es werden Informationen genutzt, die die aktuelle Situation überdauern (=Wissen) In allen Informationsverarbeitungsmodellen spielt das Langzeitgedächtnis eine zentrale Rolle; es beeinflusst nahezu alle Verarbeitungsprozesse Je stärker Informationsverarbeitungsmodelle neurowissenschaftlich orientiert sind, desto größeren Raum geben sie unbewussten Verarbeitungsprozessen und unbewussten Ergebnissen solcher Prozesse. o Unterscheidung zwischen zwei Modi der Informationsverarbeitung: emotional –rational affektiv –kognitiv intuitiv –analytisch impulsiv –reflektiv spontan –willentlich implizit –explizit (Unterscheidungen sind ähnlich, aber nicht identisch) Beispiel: Modell von Strack und Deutsch (2004): o Fundamentale Unterscheidung zwischen reflektiver und impulsiver Informationsverarbeitung o Impulsives System ständig aktiv o Reflektives System kann an-/ausgeschaltet werden 18 Persönlichkeitspsychologie I Die beiden Systeme laufen parallel ab und haben Verhalten als gemeinsames Ziel. Sie können unterschiedliches, teilweise sich widersprechendes Verhalten anregen. 3 Arten der Verhaltenssteuerung o spontan(durch impulsives System) o automatisiert(Delegation an impulsives System) o willentlich(reflektivesSystem) Beispiel: lateralisierteswillentliches, nicht lateralisiertesspontanes Lächeln bei zentraler Lähmung der Gesichtsmuskulatur (Rinn, 1984) Persönlichkeitsbild Im Informationsverabeitungsparadigma können Persönlichkeitsunterschiede beruhen auf: 1. Architektur der Informationsverarbeitung („Hardware“) 2. Parametern der Informationsverarbeitung („Software“) 3. Wissen 1. Architektur der Informationsverarbeitung Annahme ist, dass die grundlegende Architektur der Informationsverarbeitung bei allen Menschen gleich ist (bestenfalls werden Geschlechtsunterschiede zugestanden). Biologisches Argument hierfür: Architektur beruht auf sehr vielen Genen. Würde es grundlegende Unterschiede geben, würde es bei der Durchmischung der Gene von Vater und Mutter zu Problemen kommen. Allerdings kann es Unterschiede in der Feinstruktur des Gehirns geben: 1. Stärker vernetzte Neurone bei Ratten, die in anregenderer Umwelt aufwuchsen (neuronale Plastizität; Kolb & Whishaw, 1998) 2. Hypothese von Garlick(2002): Intelligenzunterschiede beruhen auf Unterschieden in der neuronalen Plastizität (bisher nicht empirisch bestätigt) 2. Parameter von Informationsverarbeitungsprozessen 1. Individuelle Unterschiede in der allgemeinen Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung("mental speed"), z.B. bedingt durch unterschiedliche Myelinisierung: Bezug zu allgemeiner Intelligenz. (laut Neyer ist Intelligenz ein Teil der Persönlichkeit) 2. Unterschiede im Zugriff zum Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis usw.: Bezug zu allgemeiner Intelligenz. 3. Schwellen für Wahrnehmung, Einspeichern, Erinnern (z.B. Experiment von Asendorpf et al. 1994 zum Wiedererkennen peripherer aggressions-relevanter Reize: Bezug zu Aggressivität.) (unterschiedliche Wahrnehmung aufgrund von Persönlichkeit) 4. Unterschiedliche Schwellen für die Aktivierung physiologischer Erregungs/Hemmungsprozesse: Bezug zu Temperament (z.B. EysencksHypothese einer schnelleren Übererregung bei Introvertierten). 5. Unterschiedliche Sollwerte für die Regulation von Bedürfnissen (z.B. neugierige Personen suchen andere Reize) 3. Wissen Stabiles Wissen ist Grundlage für Persönlichkeitsunterschiede. Individuelle Besonderheiten im Wissen sind Persönlichkeitseigenschaften. Relevante Unterscheidungen: 1. deklaratives Wissen("was"), z.B. Selbstkonzept, - wer bin ich? 2. prozedurales Wissen("wie"), z.B. Bewältigungsstiloder – Vorgänge, Prozesse, „wenn…dann“ oder 1. explizites Wissen (propositionales Format) – Wissensbestände logisch gegliedert 2. implizites Wissen (Assoziationsstruktur) – mehr oder weniger willkürlich 19 Persönlichkeitspsychologie I Methodik es wird von einer universellen Architektur des informationsverarbeitenden Systems ausgegangen Methodik ist darauf ausgerichtet, Parameter in informationsverarbeitenden Prozessen zu bestimmen und unterschiedliches Wissen zu testen Erfassung allgemeiner Verarbeitungsgeschwindigkeit: 1. Mental Speed Tests: welche Linie ist länger? Reaktionszeit erfasst Langsamkeit 2. Zugriff zum Kurzzeitgedächtnis: Sternberg Paradigma a k n d k i b -kam b vorher vor? Reaktionszeit erfasst Schnelligkeit des Zugriffs 3. Zugriff zum verbalen Langzeitgedächtnis: NI-PI Paradigma AA AaAB -semantisch oder physikalisch gleich? Differenz NI -PI erfasst Schnelligkeit des Zugriffs sehr einfache Tests, Reliabilität sehr gut + valide Erfassung Fähigkeit zum komplexen Problemlösen: Dynamisches komplexes System. Z.B. „Bürgermeister-Spiel“ Gemeinde (Lohhausen, Dörner et al., 1983) wird auf Computer simuliert; Versuchsperson ("Bürgermeister") soll System, dessen Funktionsweise zunächst unbekannt ist, hinsichtlich mehrerer Kriterien optimieren (z.B. Gewerbesteuer, Zahl Übernachtungen, Luftqualität, Verschuldung). Ergebnis nach vielen Entscheidungen ist Maß der Problemlösefähigkeit Erfassung expliziten Wissens Fragebogen, Interview (z.B. "wer bin ich?") Erfassung impliziten Wissens o Erschließung aus Verhalten z.B. durch kognitive Modellierung Beispiel: physikalisches Wissen (Opwis et al.,1994) o Z.B. durch affektives oder semantisches Priming. Beispiel impliziter Rassismus (soziale Erwünschtheit) (Fazio et al., 1995):Gesichter von Schwarzen und Weißen als Primes für positive/negative Worte. Zusammenhang zwischen implizitem explizitem Rassismus wurde moderiert durch Motiv zur Vorurteilskontrolle: o Z.B. durch Impliziten Assoziationstest (IAT). Beispiel Asendorpf et al. (2002): Assoziationich andere mit schüchtern -nichtschüchtern Bewährung Die zeitliche Stabilität von Parametern, die aus typischen allgemeinpsychologisch orientierten Experimenten gewonnen werden, ist oft unzureichend. Beispiel: Komplexes Problemlösen: Retestreliabilität nur ca. .50. Lösung: mehrere strukturell sehr ähnliche, inhaltlich aber verschiedene (d.h. parallele) Szenarien verwenden. Beispiel: Priming. Die interne Konsistenz und Retestreliabilität ist meist sehr niedrig (unter .50). Beim IAT ist die interne Konsistenz ausreichend (um .80), die Retestreliabilität aber regelmäßig deutlich niedriger (um .65). Lösung steht noch aus. Bewertung PRO: o Es werden letztlich Eigenschaften bestimmt, aber diese sind als Prozessparameter eingebettet in ein Modell der Informationsverarbeitung. 20 Persönlichkeitspsychologie I CONTRA: o Wegen dieses Vorzugs wird das Problem der Parameterstabilität oft übersehen, gerade in der primär allgemeinpsychologisch orientierten Forschung. So werden unreliable Maße der Fähigkeit zum komplexen Problemlösen oft in der Personalauswahl und -entwicklung verwendet. o Problem der Unverbindlichkeit der gegenwärtigen Informationsverarbeitungs-modelle – kaum Aussagen über Persönlichkeitsmerkmale o Problem der statischen Eigenschaften 21 Persönlichkeitspsychologie I 6. Das neurowissenschaftliche Paradigma Das neurowissenschaftliche Paradigma versucht, Persönlichkeitsunterschiede auf physiologischer und anatomischer Ebene zu untersuchen. Biologistische Auffassungen, wonach Ursachen für psychologische Phänomene primär in neurowissenschaftlichen Phänomenen zu suchen seien, und psychologistische Auffassungen, wonach das Umgekehrte gilt, sind dabei zu einseitig. Vielmehr dominiert je nach Phänomen eher die eine oder die andere Kausalrichtung. Der Ansatz, individuelle Parameter des Nervensystems, des hormonellen Systems oder des Immunsystems mit Persönlichkeitseigenschaften zu korrelieren, erwies sich weitgehend als Sackgasse, weil die Korrelationen fast immer sehr niedrig ausfielen, u.a. bedingt durch ausgeprägte individuelle Reaktions- und Situationshierarchien. Neuere Ansätze versuchen, physiologische Systeme zu isolieren und deren Aktivität auf Persönlichkeitsunterschiede hin zu untersuchen (systemorientierter Ansatz) oder die physiologische Aktivität unter Alltagsbedingungen längerfristig zu untersuchen (ambulantes Monitoring). Trotz des rasanten Fortschritts der Neurowissenschaften ist ihr Ertrag für das Verständnis von Persönlichkeitsunterschieden derzeit aber gering. Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass Erleben und Verhalten emergente Eigenschaften hat, die sich neurowissenschaftlich nicht oder nur äußerst umständlich beschreiben lassen. Menschenbild Das neurowissenschaftliche Paradigma versucht, menschliches Erleben und Verhalten neurowissenschaftlich zu beschreiben und zu erklären. Erleben, Verhalten und Informationsverarbeitung wird untersucht im Nervensystem und anderen damit in Wechselwirkung stehenden Systemen, vor allem: 1. Motorisches (Muskeltonus, Bewegungen) 2. Hormonelles (Psychoneuroendokrinologie) 3. Herz-Kreislauf (kardiovaskuläre Psychophysiologie) 4. Immunsystem (Psychoneuroimmunologie) Funktionelle Gliederung des Nervensystems Hormonelles System 22 Persönlichkeitspsychologie I Anatomie des Gehirns – „Kommandozentrum“ des Nervensystems und des hormonellen Systems Informationsübertragung innerhalb und zwischen den Neuronen mit Hilfe von elektrischen Impulsen und biochemischen Botenstoffen Jedes der ca. 100 Milliarden Neurone im intakten Gehirn ist im Prinzip mit jedem anderen Neuron verbunden (im Mittel nur 4 Neurone dazwischen). Emotionen finden im ganzen Körper statt, nicht nur im limbischen System; am rationalen Denken sind rechte und linke Hirnhälfte beteiligt usw. An komplexeren psychischen Funktionen sind weiträumige Erregungs-und Hemmungsprozesse im Nervensystem beteiligt, die oft in Wechselwirkung mit anderen Systemen jenseits des Nervensystems stehen. Große Komplexität und Plastizität des Gehirns Alternativ zur räumlichen Zuordnung: Psychoneuroendokrinologie Hormone (über Blutbahn) vs. Neutransmitter (über Nervenzellen) Die Substanzwirkung variiert stark räumlich und zeitlich (z.B. Testosteron im Blut versus Speichel)und steht in Wechselwirkung mit anderen Substanzen (z.B. Hormone mit Neurotransmittern). Deshalb ist eine einfache Zuordnung zu Funktionen nicht möglich. (Beziehungen erst ansatzweise erforscht und noch nicht vollständig erklärbar) Der Vorteil des biochemischen Ansatzes besteht vor allem in der experimentell-pharmakologischen Beeinflussbarkeit. Beispiel: Behinderung der Dopaminaufnahme durch Rezeptorenblocker in Experimentalgruppe, Placebo in Kontrollgruppe. Biologistische Auffassungen (Ursachen psychischer Phänomene sind primär biologisch) und psychologistische Auffassungen (Ursachen biologischer Phänomene sind primär psychologisch) sind zu verkürzt. Beispiel 1: Sex vergrößert daran beteiligte Neurone! Beispiel 2: Es gibt keine „Krebspersönlichkeit“! Vielmehr gilt interaktionistische Sichtweise 23 Persönlichkeitspsychologie I Persönlichkeitsbild Im neurowissenschaftlichen Paradigma können Persönlichkeitsunterschiede beruhen auf der 1. Architektur der biologischen Systeme 2. anatomischen Feinstruktur der biolog. Systeme 3. physiologischen Aktivität der biolog. Systeme Die Architektur der biologischen Systeme wird als universellangenommen mit Ausnahme der Geschlechtsunterschiede (z.B. Hoden/Eierstöcke). Die Feinstruktur variiert dagegen deutlich. Beispiel 1: Umweltabhängige Vernetzung von Neuronen (mehr Synapsen und Dendriten in anregenderen Umwelten) neuronale Plastizität Beispiel 2:Myelinisierungshypotheseder Intelligenz Am meisten wird nach Unterschieden in physiologischen Aktivierungsparametern gesucht Z.B.: Autonomes Nervensystem bei Stress Anatomische und physiologische individuelle Besonderheiten stehen in enger Wechselwirkung Methodik Vier grundlegende methodische Zugänge zu Persönlichkeitsunterschieden: 1. Korrelativer Ansatz 2. Multivariate Psychophysiologie 3. Systemorientierter Ansatz 4. Ambulantes Monitoring 1. Korrelativer Ansatz Bei größerer Stichprobe werden Persönlichkeitseigenschaften durch Selbst- oder Fremdbeschreibung gemessen und mit neuroanatomischen oder physiologischen Merkmalen korreliert Wichtig: Parameter der Physiologie und des Erlebens und Verhaltens müssen zeitstabil sein. (mehrere Messungen an mehreren Tagen erforderlich) Messung muss in eigenschaftsrelevanten Situationen erfolgen (z.B. bei Aggressivität). Nicht kausal interpretierbar Beispiel 1: Herz-Kreislauf-Reaktionen auf Ärger Beispiel 2: Immunaktivität bei Stress 2. Multivariate Psychophysiologie Erweiterung des korrelativen Ansatzes 24 Persönlichkeitspsychologie I Mehrere physiologische Reaktionen; mehrere eigenschaftsrelevante Situationen ( so kann die transsituative Konsistenz untersucht werden) 1. Intraindividuell 2. interindividuell 2. Die Korrelationen unterhalb der Diagonale geben an, wie eng die Reaktionen über die 22 Situationen hinweg miteinander korrelieren. 1. Oberhalb der Diagonale stehen die Korrelationen, die angeben, ob sich die Personen auf einem Kontinuum der physiologischen Aktivierung anordnen lassen. Systemorientierter Ansatz Alternative zum multivariaten Ansatz, bei dem es um die Kohärenz von Reaktionen über Personen geht Ausgangspunkt ist ein möglichst genau umschriebenes System (Anatomie, Biochemie, Physiologie). Interindividuelle Unterschiede in der Reaktivität des Systems werden auf beurteilte oder beobachtete Persönlichkeitsdispositionen bezogen. Dies wird geprüft, indem die Systemparameter experimentell situativ und/oder pharmakologisch manipuliert werden, wobei abhängige Variablen die Systemparameter und das aktuelle Erleben und Verhalten in der Situation sind: Beispiel: Wacker et al. (2006) o Dopaminerges System wurde aktiviert durch Belohnung bei Bearbeitung kognitiver Aufgaben o „Challenge-Test“ behinderte pharmakologischin Experimentalgruppe Dopaminausschüttung,Kontrollgruppe erhielt Placebo. o Positive Emotionalität wurde vorher selbstbeurteilt. o AV: EEG-und Reaktionszeitmaße o Wie auf der Basis von Vorläuferstudien erwartet, bearbeiteten unter Placebo die positiv Emotionalen die Aufgaben schneller als die weniger positiv Emotionalen, während es bei Dopamin-Blockierung zu einer Umkehrung kam; entsprechendes ergab sich für linksfrontale EEG-Aktivierung. beim multivariaten Verfahren bestimmt die Technik, was gemessen wird, beim systemorientierten Ansatz die Systemfunktionen (soweit bekannt und messbar) 25 Persönlichkeitspsychologie I 4. Ambulantes Monitoring Systemorientiert Ansatz bezieht Persönlichkeitsunterschiede im Erleben und Verhalten auf die Reaktivität eines bestimmten biologischen Systems in maßgeschneiderten Situationen. Es ist aber grundsätzlich davon auszugehen, dass Alltagssituationen viele solche Systeme simultan ansprechen Laborbefunde sind nicht einfach auf Alltag übertragbar Beispiel: o Kaganet al. (1987): gehemmte Kinder reagieren mit erhöhter Herzrateauf unbekannte Situationen im Labor; o Asendorpf & Meier (1993): An normalen Schultagen sprachen gehemmte Kinder in Schulpausen und auf Spielpätzenweniger, aber Herzratewar normal; Sprechen erhöhte im Alltag Herzrateum 9 Schläge/min. Widerspruch zwischen Labor und Feld erklärbar? o Kein Widerspruch, da die gehemmten Kinder in hemmenden Situationen einerseits weniger sprechen, andererseits vermutlich stärker erregt waren: Trade-off von 2 Wirkungen auf Herzrate. o Ohne Überprüfung von Laborbefunden im Feld können deren Ergebnisse nicht auf den Alltag verallgemeinert werden. o So sind bei Panik-Patienten subjektiv als lebensbedrohlich erlebte Herzattacken im Alltag nicht in Protokollen des ambulanten Herz-Monitoring nachweisbar, wobei aber Gehen versus Sitzen oder Gehen versus Treppensteigen klar nachweisbar ist. Beim ambulanten Monitoring werden physiologische Reaktionen im Alltag kontinuierlich aufgezeichnet und mit beurteilten oder beobachteten Persönlichkeitseigenschaften korreliert. Dadurch werden lebensnähere Resultate erzielt als bei physiologischer Messung unter Laborbedingungen Bewährung Nach den vier methodischen Ansätzen gegliedert 1. Korrelativer Ansatz CONTRA o Ergibt meist nur niedrige oder gar keine Korrelationen zwischen einer bestimmten beurteilten oder beobachteten Persönlichkeitseigenschaft, da o physiologische Messungen oft nicht ausreichend aggregiert sind (nicht genügend Messungen für Mittelwert) o Selbstbeurteilungen Verzerrungstendenzen unterliegen (z.B. zu sozial erwünschten Antworten); o individuelle Reaktionshierarchien die Korrelationen dämpfen (z.B. niedrige Herzratebei Sportlern); o Messungen oft dem technisch Machbaren folgen anstatt systemspezifisch zu sein und so meistdurch viele unterschiedliche physiologische Systeme beeinflusst werden (z.B. Herzrate). 2. Multivariater Ansatz CONTRA o Haupteffekt der Personen ist meist gering relativ zu statistischen Interaktionen Personen x Reaktionen, bei situationaler Variation auch Interaktion mit Situation Beispiel: Wechselwirkungen zwischen: Situation Reaktion Person 26 Persönlichkeitspsychologie I 3. Systemorientierter Ansatz CONTRA o Noch zu wenig verfolgt, auch wegen fehlenden Wissens über physiologische Systeme und deren Wechselwirkungen PRO o Erscheint aber vielversprechend! (komplexe Versuchsaufbauten) 4. Ambulantes Monitoring CONTRA o Intraindividuelle Variabilität im Alltag ist größer als im Labor. o Nach statistischer Kontrolle der Bewegungseffekte sind Effekte kognitiver und emotionaler Belastung ähnlich schwach wie im Labor. o Interindividuelle Nullkorrelationen zwischen subjektivem Erleben oder selbsteingeschätzter Persönlichkeit und physiologischen Messungen im Alltag bestätigen Laborbefunde (z.B. Subjektive Beschwerden und Herz-Kreislauf-Parameter sind meist unkorreliert). Bewertung Hauptproblem: Graben zwischen dem neurowissenschaftlich Messbaren und dem subjektiv-verbalen Berichtbaren erscheint derzeit unüberwindlich. Überwindung erfordert Lösung des Bewusstseinsproblems und des Gedächtnisproblems (was ist Bewusstsein? Was ist Gedächtnis?), und selbst dann verbleiben vermutlich klare Unterschiede aufgrund emergenter* Eigenschaften der psychologischen Ebene. (Trotz rasanten Fortschritts!) Ertrag der Neurowissenschaft für das inhaltliche Verständnis von Persönlichkeitsunterschieden ist derzeit gering. * Emergenz ist die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. 27 Persönlichkeitspsychologie I 7. Das dynamisch-interaktionistische Paradigma Das dynamisch-interaktionistische Paradigma erweitert die zeitliche Perspektive auf langfristige Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung im Kontext der Umweltentwicklung. Während früher die Persönlichkeit primär als Funktion ihrer Umweltbedingungen verstanden wurde, beziehen die neueren dynamisch-interaktionistischen Ansätze Wirkungen der Persönlichkeit auf ihre Umwelt mit ein, z.B. die Beeinflussung des Erziehungsstils der Eltern durch die Persönlichkeit ihres Kindes. Entsprechende Entwicklungsmodelle werden diskutiert und die Methodik der längsschnittlichen Prüfung von Einflüssen auf die Persönlichkeits- und Umweltentwicklung wird in Grundzügen dargestellt. Persönlichkeit Umwelt Umwelt Persönlichkeit Menschenbild 3 Grundannahmen o Organisation des Verhaltens einer Person und die Organisation ihrer Umwelt sind mittelfristig konstant (Voraussetzung der Persönlichkeitspsychologie überhaupt!!!) o Person und Umwelt können sich langfristig ändern (Voraussetzung der Entwicklungs-psychologie) o Änderungen beruhen auf 1. Veränderungen innerhalb der Person 2. Veränderungen innerhalb der Umwelt 3. Einflüssen der Umwelt auf die Person 4. Einflüssen der Person auf die Umwelt Diese Annahme ist die entscheidendste, die das Paradigma von anderen unterscheidet Modell der Umwelt von Bronfenbreener Die Umwelt einer Person ist wie eine Zwiebel in verschiedene Schalen gegliedert. Umwelteinflüsse können von allen Schalen indirekt auf die Person wirken, wobei sie jedoch durch die dazwischenliegenden Schalen vermittelt werden direkt auf die Person kann nur das Mikrosystem wirken (z.B. bedingt die Kultur die Existenz schichttypischer Familiensysteme, die die Struktur der Familie eines Kindes bedingen; auf das Kind selbst wirkt nur das Verhalten einzelner Familienmitglieder) 4 Entwicklungsmodelle im Kontrast (andere Modelle lassen sich als Spezialfälle des dynamisch-interaktionistischen Paradigmas auffassen) Gegeben sei eine Person, die im Verlauf der Zeit verschiedene Zustände ihrer Persönlichkeit P0, P1, P2, P3 durchläuft. P0 ist der Anfangszustand zum Zeitpunkt der Zeugung (nur eine befruchtete Eizelle, Verhalten gibt es noch nicht, wohl aber ein hoch stabiles körperliches Merkmal, das relevant für späteres Verhalten ist). Umwelt der Person durchläuft parallel zur Persönlichkeit Zustände. Je nach Modell gibt es kausale Wirkungen zwischen U und P. 28 Persönlichkeitspsychologie I Das dynamisch-interaktionistische Paradigma unterscheidet sich von alltagspsychologischen, psychoanalytischen und behavioristischen Entwicklungskonzepten vor allem durch die Berücksichtigung von Einflüssen der Person auf ihre Umwelt. Dadurch kann es zu einer kontinuierlichen Wechselwirkung (Transaktion) kommen. Drei Einflussarten: o Auswahl, z.B. Partnerwahl o Herstellung, z.B. Beziehung knüpfen: Dating, Mating, Relating…. o Veränderung, z.B. heiraten, sich scheiden Persönlichkeitsbild Die Persönlichkeit verändert sich nur, wenn es differentielle Veränderungengibt. Beispiel: differentielle Veränderung bei individuell konstanten Aggressivitätswerten (verglichen werden also Menschen desselben Geburtsjahrgangs in ihrer individuellen Veränderung der Aggressivität) Individuelle Entwicklungsänderungen relativ zur Altersgruppe können durch differentielle Entwicklungsfunktionen auf der Basis von ztransformierten Werten innerhalb der Altersgruppe beschrieben werden Das dynamisch-interaktionistische Paradigma thematisiert nur differentielle Veränderungen der Persönlichkeit und der Umwelt. Denn auch die Umwelt ändert sich Methodik Unterschied zwischen einem individuenzentrierten und einem differentiellen Ansatz Im Individuumzentrierten Ansatz führt eine gezielte Intervention zu einer Veränderung der Merkmalsausprägung einer Person Die Linie repräsentiert viele Messergebnisse derselben Person Im differentiellen Fall entspricht diese Interventionslogik dem Ansatz, Umweltwirkungen auf die Persönlichkeit anhand gezielter Umweltveränderungen zu untersuchen Die Kreuze repräsentieren die einmalige Messung von Personen 29 Persönlichkeitspsychologie I Nutzung „natürlicher Experimente“ (Quasiexperimente) Beispiel: Wirkung erster stabiler Partnerschaft auf Neurotizismus PRO: die Ursache ist relativ klar (Kausalität), es lassen sich Effekte der Umwelt auf die Persönlichkeit und umgekehrt prüfen, obwohl die Kausalaussagen nicht so stark sind wie bei „echten“ Experimenten PROBLEM: Mehrdeutigkeit von Korrelationen Beispiel 1: Storchenzahl und Geburtenrate Beispiel 2: kindliche Aggressivität und rigide-autoritärer Erziehungsstil der Mutter Es gibt vier Interpretationsmöglichkeiten einer Korrelation: Tückische Fehlinterpretation: bei Korrelation zwischen zwei Eigenschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten muss die früher gemessene die später gemessene beeinflusst haben Fortpflanzung eines Persönlichkeitseinflusses auf nachfolgende Korrelationen zwischen Umwelt und Persönlichkeit. Verbesserung: Korrelationen über die Zeit Wenn X(1) => Y(2) gilt, kann Y(2) nicht X(1) beeinflusst haben. Trotzdem Problem: Fortpflanzung von Einflüssen bei stabilen Merkmalen muss kontrolliert werden! Kreuzkorrelationen können nicht direkt interpretiert werden, wenn Stabilitäten unterschiedlich sind. Vielmehr müssen Pfadkoeffizienten(rechts) interpretiert werden. Die Koeffizienten der direkten Pfade liefern eine Schätzung der Einflussstärke im Rahmen des betrachteten Modells Bewährung Beispiel: Umwelteffekte auf die Intelligenzentwicklung Beispiel 2: Persönlichkeitseffekte auf soziale Beziehungen Insgesamt mehr Persönlichkeitseffekte auf Beziehungen als umgekehrt ab dem Jugendalter 30 Persönlichkeitspsychologie I Vereinfachung: Katapultmodell Frühe Umwelt --> späte Persönlichkeit PROBLEM: Fehlende Kontrolle früher Persönlichkeit. Ist angemessen, wenn es sensitive Perioden in der Entwicklung gibt. Beispiel: Unterscheidung r/l bei japanischen Kindern Bewertung Dynamisch-interaktionistisches Paradigma ist umfassendes Modell der Persönlichkeitsentwicklung. Die empirische Analyse von Einflüssen durch (naturalistische) Experimente und Kreuzkorrelationsstudien ist aber sehr aufwändig, deshalb dominieren einfache korrelative Designs, z.B. Katapultmodell. Es gibt bisher wenig Untersuchungen zu den Prozessen, die zwischen Persönlichkeit und Umwelt vermitteln. 31 Persönlichkeitspsychologie I 8. Das Evolutionspsychologische Paradigma Das evolutionspsychologische Paradigma schließlich fragt nach den "Letztursachen" von Persönlichkeitsunterschieden: warum gibt es sie überhaupt, warum sind sie so groß wie sie sind und weshalb wirken Umwelt und Persönlichkeit so aufeinander, wie sie es tun? Die Ursache hierfür wird in evolutionären Anpassungsprozessen an frühere Umwelten im Verlauf der Jahrmillionen dauernden Evolution der Arten gesucht, z.B. natürliche Selektion, intra- und intersexuelle Selektion, frequenzabhängige Selektion und die Selektion konditionaler Entwicklungsstrategien. Derartige ultimate Erklärungen werden von proximaten Erklärungen unterschieden, die Persönlichkeitsunterschiede und Umwelteffekte auf die Persönlichkeit und umgekehrt durch evolvierte psychologische Mechanismen (EPMs) erklären. Dabei müssen die ultimaten Erklärungen recht spekulativ bleiben, weil sie auf Annahmen über unsere evolutionäre Vergangenheit beruhen, die sich oft nur schwer überprüfen lassen. Menschenbild Menschliches Erleben und Verhalten ist Resultat der Evolution, d.h. des Prozesses der genetischen Anpassung der Lebewesen an die jeweils vorherr-schenden Umweltbedingungen. Deshalb sind wir der Umwelt unserer Vorfahren besser angepasst als der heutigen Umwelt (Beispiel: Fettkonsum, Ängste). Menschen = lebende Fossilien Darwin (1859): Entstehung der Arten (Phylogenese) durch Variation und Selektion. o Variation wird durch Genetik (Darwin noch unbekannt) erklärt. o Selektion nicht durch "survival of the fittest", sondern durch Fortpflanzungserfolg in einer bestimmten Umweltauf der Ebene einzelner Gene: o Fitness=f(Gen,Umwelt) (Dawkins: "selfish gene") Gene teilen wir auch mit anderen Arten (99% mit Schimpansen) Allele teilen wir nur mit Eltern und Geschwistern (50%) Falsch ist Annahme, angesichts medizinischer Fortschritte spielten heutzutage evolutionäre Prozesse bei Menschen keine Rolle mehr: Einfluss auf Kinderzahl über Partnerwahl, Schwangerschaftsverhütung, Investition in die eigenen Kinder. Reproduktionsrelevant sind nicht nur Klima, Nahrungsangebot, Krankheitserreger usw., sondern vor allem soziale Umweltbedingungen, z.B. Partnerpräferenzen des anderen Geschlechts, Rivalität mit eigenem Geschlecht auf Partnermarkt. Darwin (1871): intersexuelle und intrasexuelle Selektion Hamilton (1964): inklusive Fitnessunter Einschluss des Reproduktionserfolgs genetisch Verwandter (z.B. aufopfern für 3 Geschwister) Der Reproduktionserfolg eines Gens eines Individuums beruht auf seinem Vorkommen in den Nachkommen des Individuums und seiner Verwandten. Von daher kann es adaptiv sein, sich für Verwandte zu opfern. Soziobiologie vs. Evolutionsbiologie Wilson wandte evolutionsbiologische Erklärungsprinzipien auf das Sozialverhalten verschiedener Tierarten an und prägte den Begriff der Soziobiologie im Sinne einer Evolutionsbiologie des Sozialverhaltens Soziobiologieauf der Grundlage rein ultimater Erklärungen(Angepasstheit unter vermuteten Umweltbedingungen der Vergangenheit) lange Kontroverse mit Sozialwissenschaften Ultimate Erklärungen von Verhalten begründen es durch Reproduktionsvorteile in der evolutionären Vergangenheit; proximale Erklärungen geben an, wie das Verhalten konkret zustande kommt. 32 Persönlichkeitspsychologie I Evolutionspsychologie(Cosmides et al., 1992): immer auch Angabe proximater Mechanismen in Form von bereichs-und kontextspezifischen, genetisch fixierten evolvierten psychologischen Mechanismen (EPM). = Mechanismus, der über viele Generationen das gleiche Verhalten erhält(z.B. Ängste) Beispiel: starke Schlangenangst bei 25% der Mitteleuropäer Beispiel für ultimate vs. proximate Erklärungen: Studie von Neyer & Lang (2003): Eingeschätzte emotionale Nähe zu Bezugspersonen korreliert intraindividuell im Mittel .50 mit dem genetischen Verwandtschaftsgrad r. (je genetisch ähnlicher, desto emotional näher) Emotionale Nähe wiederum scheint enger mit der Vertrautheit zusammenzuhängen als mit der genetischen Verwandtschaft. Deshalb Hypothese: Hypothese erklärt proximat den Zusammenhang zwischen genetischer Verwandtschaft und Hilfeleistung, der aus Überlegungen zur inklusiven Fitness ultimat abgeleitet wird. Tatsächlich ist Zusammenhang der Hilfeleistung mit emotionaler Nähe stärker als mit genetischer Verwandtschaft: proximate und ultimate Erklärungen können teilweise divergieren. Aus ultimaten Überlegungen können neue psychologische Mechanismen abgeleitet werden. Beispiel: Unterstützung durch Verwandte: Unterstützung durch mütterliche Linie sollte stärker sein wegen Vaterschaftsunsicherheit(in westlichen Kulturen ca. 10% "Kuckuckskinder„) (Euler & Weitzel, 1996; Gaulinet al., 1997): tatsächlich sind Verwandte eher bereit die mütterliche Linie zu unterstützen. Persönlichkeitsbild Warum unterscheiden Menschen sich? 1. Genetische Variation: Rekombination, Mutation, flukturierende Umwelt 2. Umweltunterschiede: durch EPM vermittelt, geht über Interaktionismus hinaus Drei spezifischere Erklärungsprinzipien: 1. frequenzabhängige Selektion 2. konditionale Entwicklungsstrategie 3. strategische Spezialisierung 1. Bei der frequenzabhängigen Selektion hängt die Fitness eines Gens von seiner Häufigkeit in der Population (Fortpflanzungsgemeinschaft) ab. (Anzahl des männlichen Geschlechts ist abhängig von der Anzahl des weiblichen Geschlechts ) Beispiel: Geschlechterverhältnis ist 1:1 zum Zeitpunkt der maximalen Fruchtbarkeit um 18 Jahre (vorher mehr Jungen, später mehr Frauen wegen höherer Sterblichkeit des männlichen Geschlechts). Frequenzabhängige Auslese muss nicht in 1:1 Verhältnis resultieren, führt aber zu evolutionär stabilem Verhältnis. 33 Persönlichkeitspsychologie I Bei sonstigen Umweltänderungen kann sich aber auch dieses Verhältnis ändern. Beispiel: Soziosexualität(Anzahl Sexpartner)von Frauen (Gangestad& Simpson, 1990) 2 Kriterien für Partnerwahl von Frauen a. Investition des Mannes in die Kinder b. "gute Gene" bzgl. Gesundheit und sexuellerAttraktivität (beides fördert Reproduktionserfolg) Problem: sexuell attraktive Männer sind weniger treu und investieren deshalb weniger in ihre Kinder. Wegen intrasexueller Rivalität führt das zu zwei alternativen, frequenzabhängigen Strategien: a. restriktiv: Sicherung eines investierenden Mannes b. unrestriktiv: viele Männer mit "guten Genen" Wenn es frequenzabhängige Auslese gibt, bedeutet dies, dass es keine absolute Fitness einer Persönlichkeitseigenschaft gibt. Fitness muss vielmehr relativ zu alternativen Eigenschaften gesehen werden. 2. Konditionale Entwicklungsstrategien sind genetisch fixierte EPM, die die Individualentwicklung in Abhängigkeit von alternativen Umweltbedingungen der Kindheit in jeweils adaptive Richtungen lenken: Umwelt 1 --> Eigenschaft 1 Umwelt 2 --> Eigenschaft 2 Beispiel väterliche Investition in eigene Kinder: reiche Umwelten --> geringe Investition arme Umwelten --> starke Investition Hypothese von Draper & Harpending(1982):Väterliche Anwesenheit (=Umweltmerkmal)in der frühen Kindheit ist Umweltmerkmal, das zu erwartende väterliche Investition signalisiert und deshalb zu konditionaler Entwicklungsstrategie bei Mädchenführe: Vater anwesend --> späte Geschlechtsreife, späterer erster Sex, weniger Sexpartner. Vater abwesend --> frühe Geschlechtsreife, früher erster Sex, viele Sexpartner. Bei Jungen seien keine Unterschiede zu erwarten, weil mütterliche Investition immer hoch sein sollte. Wurde in mehreren Kulturen bestätigt (Geary, 2000). Z.B. Korrelation .43 zwischen positive Vater-TochterBeziehung in Kindheit und Zeitpunkt 1. Regelblutung Mögliche proximate Mechanismen (Ellis et al., 1999) 1. Beschleunigung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe nichtverwandter männlicher Artgenossen bei vielen Tierarten und auch beim Menschen (Korrelation des Zeitpunktes der 1. Regelblutung stärker mit Anwesenheit von Stiefvätern und Freunden der Mutter als mit Abwesenheit des Vaters) 2. Hemmung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe des eigenen Vaters(weniger gut bei anderen Tierarten belegt) 3. Alternative Erklärung durch interindividuell variierende Gene, die Väter und Töchter teilen. Kann durch Adoptionsstudien entschieden werden. 3. Strategische Spezialisierung Hierunter wird die Tendenz zu alternativen Reproduktionsstrategien verstanden, z.B. in Form frequenzabhängiger Selektion oder konditionaler Entwicklungsstrategien. Beispiel: Geschwisterposition (Sulloway, 1997): Erstgeborene besetzen "Nischen" innerhalb der Familie und zwingen so spätergeborene zu höherer sozialer Kompetenz und größerer Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen. Diese Tendenzen sind nach Sulloways Auffassung auch nach Verlassen des Elternhauses nachweisbar: konditionale Entwicklungsstrategie. 34 Persönlichkeitspsychologie I Empirische Belege: 1. Korrelation zwischen Geschwisterposition und Offenheit versus Konservativismus.20 (Problem: Altersunterschiede beeinflussen Beurteilungen) 2. Historische Analysen der Akzeptanz wissenschaftlicher Neuerungen, z.B. Akzeptanz der Evolutionstheorie von Darwin durch 405 Wissenschaftler seiner Zeit (Sulloway, 1997). Problem der historischen Analysen: Bisher keine unabhängige Bestätigung Alternativerklärung: Geburtspositionseffekt: Nach der 1. Geburt verschiebt sich der Hormonstatus der Mutter durch Immunisierung gegenüber den männlichen Hormonen des 1. Kindes in weibliche (deshalb mehr homosexuelle Männer, wenn Bruder vorher geboren und Geburtsabstand bis 2 Jahre). Hierfür sprechen 2 Adoptionsstudien, in denen nur biologisch Erstgeborene untersucht wurden, wobei der Zusammenhang zwischen Geschwisterposition (Position des adoptierten Kindes) und Offenheit etc. jeweils minimal war. Methodik Entscheidend ist die Qualität des Nachweises, dass ein psychologischer Mechanismus ein EPM ist. Denn da die Umwelten der Vergangenheit wenig bekannt sind, sind ultimateErklärungen recht spekulativ. Kriterien für EPM: 1. Angabe des gelösten adaptiven Problems der Vergangenheit 2. Angabe des psychologischen/physiologischen Mechanismus 3. Plausibilität der genetischen Fixiertheit des Mechanismus 4. Kriterien für adaptives Design erfüllt, z.B. Ökonomie, Effizienz, Zuverlässigkeit Förderlich, nicht aber notwendig für den Nachweis eines EPM ist auch der Nachweis homologer EPM bei verwandten Arten, z.B. Menschenaffen (Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans, Gorillas) und anderen Primaten (z.B. Rhesus-Affen). Homologie= Ähnlichkeit und Vorkommen bei gemeinsamen Vorfahren, schwer nachzuweisen für Verhalten. Nicht erforderlich für den Nachweis eines EPM ist, dass er unter heutigen Umweltbedingungen adaptiv ist. Interessant sind gerade EPM, die ehemals adaptiv waren, heute aber nicht mehr adaptiv sind, z.B. Präferenz für fette und süße Nahrung. Bewährung Das evolutionspsychologische Paradigma ist noch zu jung, um definitive Aussagen über seine Eignung für die Persönlichkeitspsychologie zu machen. Jedenfalls derzeit sehr aktives und innovatives Forschungsfeld. Bewertung PRO: Chance, Persönlichkeitsunterschiede und ihre Abhängigkeit von Gen-Verteilungen und Umweltbedingungen besser zu verstehen. CONTRA: 35 Persönlichkeitspsychologie I Anforderungen an Erklärung gehen über alltagspsychologische Überlegungen zu Kosten und Nutzen von Persönlichkeitseigenschaften und Einräumung eines Stellenwerts in Informationsverarbeitungsmodellen hinaus. Risiko von Scheinerklärungen: Bekanntes wird evolutionär verständlich gemacht durch Erfindung adaptiver Erfolgsgeschichten EPM schwer zu trennen von zufälligen, selektiv neutralen Varianten, relativ seltenen nicht adaptiven Varianten und nicht adaptiven Ergebnissen seltener oder neuer Umweltbedingungen 36