Teil I Persönlichkeit und Persönlichkeitspathologie

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In diesem Kapitel stellen wir ein psychodynamisches Konzept der Persönlichkeit
und Persönlichkeitspathologie vor; dabei konzentrieren wir uns vor allem auf jene
Störungsgrade, für die die Psychodynamische Therapie höher strukturierter Persönlichkeitsstörungen (PTSP) als spezifisches Therapieverfahren entwickelt wurde
und gehen der Frage nach, welche Patientengruppen von dieser Behandlungsform
am ehesten profitieren. Schwerpunkt unserer Ausführungen ist die für höher strukturierte Persönlichkeitspathologien typische Rigidität der Persönlichkeit, die anhand
klinischer Beispiele illustriert wird. Darüber hinaus gilt unsere Aufmerksamkeit
dem gesamten Spektrum an Abwehroperationen, die uns im Zusammenhang mit
rigiden Persönlichkeitsstrukturen begegnen. Abschließen möchten wir das Kapitel
mit einer Einführung in das Konzept des unbewussten Konflikts und seiner Beziehung zu inneren Objektbeziehungen im Rahmen der Persönlichkeitspathologie.
Persönlichkeit und Persönlichkeitspathologie
Definition
Das Konzept der Persönlichkeit bezeichnet die dynamische Organisation überdauernder und individuell charakteristischer Muster in Verhalten, Kognition, Emotion,
Motivation sowie in der Art und Weise, sich auf andere Menschen zu beziehen. Die
Persönlichkeit eines Individuums ist integraler Bestandteil seines Selbst- und Welterlebens – und dies in einem Ausmaß, das es schwer macht sich vorzustellen, anders
zu sein. Die verhaltensspezifischen kognitiven, emotionalen sowie interpersonellen
Muster, die die Persönlichkeit eines Menschen ausmachen, werden auch als Persönlichkeitszüge bezeichnet. Psychodynamisch orientierte Kliniker verwenden manchmal auch den Begriff des Charakters oder der Charakterzüge, um jene Aspekte der
Persönlichkeit zu benennen, die in erster Linie psychisch und entwicklungspsychologisch determiniert sind – im Gegensatz zu den Aspekten, die vorrangig temperamentsbedingte Faktoren widerspiegeln.
Die Konzeptualisierung von Persönlichkeit umfasst
●
die Art, wie Persönlichkeitszüge organisiert sind und ihr Organisationsniveau,
●
den Grad an Flexibilität oder Rigidität, mit der Persönlichkeitszüge in unterschiedlichen Situationen aktiviert werden,
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das Ausmaß, in dem Persönlichkeitszüge adaptiv wirksam sind oder aber dysfunktional entgleiten und Stress verursachen,
●
die Beschaffenheit ethischer Werte und Ideale des Einzelnen sowie
●
seine gewohnheitsmäßige Art und Weise, sich an psychosoziale Stressoren anzupassen (bzw. daran zu scheitern).
Diese unmittelbar beobachtbaren funktionellen Komponenten zählen zu den deskriptiven Merkmale von Persönlichkeit und Persönlichkeitspathologie.
Im Rahmen normaler Persönlichkeit weisen diese Komponenten keine extreme
Ausprägung auf, sondern zeichnen sich durch Flexibilität und Anpassungsfähigkeit
Teil I
Persönlichkeit und Persönlichkeitspathologie
Teil I
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2 Ein psychodynamischer Ansatz zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen
in unterschiedlichen situativen Kontexten aus. Häufig ist in diesem Zusammenhang
die Rede von einem bestimmten Persönlichkeitsstil, z. B. zwanghaft oder histrionisch. Je extremer und unflexibler sich manche Charakterzüge situationsübergreifend zeigen, desto stärker nähern wir uns einer pathologischen Ausprägung von
Persönlichkeit an, bis hin zu extrem maladapativen und funktionell störenden
Eigenschaften. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine relativ leicht ausgeprägte oder schwere Störung handelt, geht sie per definitionem stets mit einem
gewissen Maß an emotionalem Stress und/oder Beeinträchtigungen im sozialen
oder beruflichen Kontext einher. Die Pathologie einer Persönlichkeit ist über die
Zeit hinweg relativ stabil, wobei der Beginn der Störung im frühen Erwachsenenalter anzusetzen ist.
Das Ziel der PTSP besteht darin, die Persönlichkeitsfaktoren, die in erster Linie auf
einen psychischen Ursprung zurückzuführen sind und eine unflexible und maladaptive Abwehr des Patienten widerspiegeln, in den therapeutischen Fokus zu
rücken. Allerdings muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden,
dass nicht alle Persönlichkeitsaspekte psychologisch determiniert sind. So spiegeln
etwa Schüchternheit und Reizsuche genetisch bedingte Faktoren des Temperaments
wider, während andere unflexibel und starr anmutende Persönlichkeitsmerkmale,
wie beispielsweise Depressivität oder der Hang zu ängstlichem Grübeln, Ausdruck
einer unerkannten affektiven Erkrankung oder Angststörung sein können.
Persönlichkeit und Persönlichkeitspathologie aus psychodynamischer
Sicht
Aus psychodynamischer Sicht umfasst eine vollständige Beschreibung der Persönlichkeitspathologie
●
die deskriptiven Merkmale der Störung (s. S. 19),
●
eine Konzeptualisierung der strukturellen Organisation, die den deskriptiven
Merkmalen zugrunde liegt, sowie
●
eine Theorie über die jeweiligen psychodynamischen Zusammenhänge und
Bedeutungen, in die die deskriptiven und strukturellen Merkmale der Persönlichkeit des Patienten einfließen.
Eine genaue deskriptive Diagnostik (im Sinne des DSM-IV-TR) liefert wichtige
Informationen hinsichtlich manifester Beschwerden und Probleme, maladaptiver
Persönlichkeitszüge sowie Beziehungen zu bedeutsamen Anderen. Eine von strukturellen Gesichtspunkten geleitete Exploration (s. Kap. 9, S. 187) lässt auf den
Schweregrad der Persönlichkeitspathologie schließen, indem wir, neben Objektbeziehungen, Abwehrmechanismen und Realitätsprüfung, das Selbsterleben des Patienten sowie sein Erleben wichtiger Bezugspersonen genau untersuchen (Kernberg
2006a). Die Verknüpfung von deskriptiven und strukturellen Überlegungen ermöglicht eine klare Einschätzung der objektiven und subjektiven Schwierigkeiten des
Patienten und liefert die für eine Diagnosestellung und Therapieplanung notwendigen Informationen.
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Obwohl deskriptive und strukturelle Einschätzungen für die Formulierung einer
Diagnose ausreichen, gehört zu einer umfassenden psychodynamischen Beurteilung auch ein Verständnis der unbewussten Motivationen und innerpsychischen
Konflikte, die der Störung zugrunde liegen. Psychodynamische Behandlungsmodelle gehen von der Vorstellung aus, dass ein Großteil dessen, was Menschen tun und
fühlen, unbewusst motiviert ist. Von daher kann erst durch das Aufdecken dieser
unbewussten Konflikte, die die manifesten Gefühle und Verhaltensweisen bedingen, den vermeintlich irrationalen Schwierigkeiten, unter denen die Patienten leiden und mit denen sie den Therapeuten aufsuchen, Sinn und Bedeutung verliehen
werden. Erst das sorgfältige Explorieren und Durcharbeiten dieser zugrunde liegenden Bedeutungszusammenhänge und Motivationen ebnet im Rahmen einer psychodynamischen Therapie den Weg in Richtung größerer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Patienten.
Persönlichkeitspathologie auf höherem Strukturniveau
Die PTSP ist für die Behandlung von Patienten vorgesehen, deren Persönlichkeit
sich durch Rigidität und Fehlanpassung mit entsprechender Symptombildung auszeichnet, sich strukturell jedoch auf einem höheren Organisationsniveau bewegt.
Im Folgenden wird diese Patientengruppe unter drei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet und näher definiert. Beginnen möchten wir mit diagnostischen
Überlegungen. In einem zweiten Schritt beschäftigen wir uns mit den deskriptiven
Merkmalen höher strukturierter Persönlichkeitspathologie, wobei wir uns auf die
Bedeutung maladaptiver Persönlichkeitsmerkmale konzentrieren werden. Schließlich wird darauf eingegangen, wie die für diese Behandlungsform geeignete Patientengruppe anhand der psychodynamischen und strukturellen Ansätze zur Klassifikation von Persönlichkeitspathologie von Kernberg (2006a) bestimmt werden
kann.
Diagnostische Merkmale höher strukturierter Persönlichkeitspathologie
Bei den für eine PTSP-Behandlung geeigneten Patienten handelt es sich um eine
relativ gesunde Untergruppe von Menschen mit einer Störung ihrer Persönlichkeit.
Obwohl auf einige von ihnen die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung im Sinne
des DSM-IV-TR zutreffen, ist dies bei vielen nicht der Fall. Die Mehrzahl der Patienten mit Persönlichkeitsstörungen auf höherem Organisationsniveau zeigt klinisch
signifikante Störungen, die sich diagnostisch jedoch unterhalb der Schwelle einer
Persönlichkeitsstörung bewegen oder deren Pathologie von den Kriterien einer
Achse-II-Störung im DSM-IV-TR kaum abgedeckt wird.
Die Achse II im DSM-IV-TR sieht Diagnosen nach kategoriellen Gesichtspunkten
vor. Für jede Persönlichkeitsstörung wird ein Cluster an bekannten diagnostischen
Teil I
Persönlichkeitspathologie auf höherem Strukturniveau
Teil I
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2 Ein psychodynamischer Ansatz zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen
Kriterien aufgelistet und die Diagnose wird dann gestellt, wenn eine spezifische
Anzahl von Kriterien (z. B. fünf von neun im Fall einer Borderline-Persönlichkeitsstörung) erfüllt ist. Die Grenze, an der eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert
wird, ist bis zu einem gewissen Grad willkürlich (erfüllt eine betroffene Person x
Kriterien, liegt diagnostisch eine Persönlichkeitsstörung vor, erfüllt sie x–1 Kriterien, liegt keine Persönlichkeitsstörung vor), wobei die diagnostische Schwelle im
DSM-IV, wie auch schon im DSM-III, relativ hoch angesetzt ist (Widiger 1993).
Dies hat zur Folge, dass zahlreiche mildere Formen von Persönlichkeitsstörungen
und Persönlichkeitspathologie auf der Ebene von Achse-II-Störungsbildern kaum
abgedeckt sind – eine Tatsache, die an anderer Stelle ausführlich diskutiert wird
(Westen u. Arkowitz-Westen 1998; Widiger u. Mullins-Sweatt 2005).
Es gibt empirische Belege dafür, dass es sich bei der Existenz höher strukturierter
Persönlichkeitsstörungen um ein sowohl allgemein als auch klinisch signifikantes
Phänomen handelt. Westen und Arkowitz-Westen (1998) befragten 238 praktizierende Psychiater und klinische Psychologen, die berichteten, dass 60% der Patienten
mit klinisch signifikanter Persönlichkeitspathologie nicht nach der herkömmlichen
DSM-IV-TR-Klassifikation diagnostiziert werden konnten. Nichtsdestotrotz kommt
es auch im Rahmen dieser unterhalb der diagnostischen Schwelle des DSM-IV-TR
liegenden Persönlichkeitsstörungen zu Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit sowie der sozialen Anpassung (Skodol et al. 2005; Widiger 1993). Untersuchungen, die von einem Kontinuum zwischen normaler und pathologischer
Persönlichkeit ausgehen, sprechen dafür, dass auch ein nicht übermäßig ausgeprägtes maladaptives Funktionsniveau der Persönlichkeit sich negativ auf Anpassung und Lebensqualität auswirken kann (Costa u. Widiger 1994; Kendler et al.
2004).
Es gibt jedoch auch Patienten mit einer höher strukturierten Persönlichkeitspathologie, die die Kriterien der im DSM-IV-TR aufgeführten Persönlichkeitsstörungen
erfüllen (Tab. 2-1). Dies trifft besonders auf die Zwanghafte Persönlichkeitsstörung,
die Depressive Persönlichkeitsstörung, wie sie in Anhang B des DSM-IV-TR
beschrieben ist, sowie eine auf relativ hohem Funktionsniveau angesiedelte Untergruppe von Patienten mit Histrionischer, Vermeidender und Abhängiger Persönlichkeitsstörung zu. Diese Patienten stellen eine Gruppe von höher strukturierten
Persönlichkeitsstörungen innerhalb des Achse-II-Klassifikationssystems im DSMIV-TR dar.
Tab. 2-1 Persönlichkeitsstörungen nach DSM-IV-TR, die bei Patienten mit höher strukturierter
Persönlichkeitspathologie diagnostiziert wurden.
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Vermeidende Persönlichkeitsstörung
Abhängige Persönlichkeitsstörung
Depressive Persönlichkeitsstörung (nach Forschungskriterien)
Histrionische Persönlichkeitsstörung
Zwanghafte/Anankastische Persönlichkeitsstörung
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