Orsolya Friedrich, Michael Zichy (Hrsg.) Persönlichkeit Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellungen mentis MÜNSTER Die Drucklegung unterstützten: Mentoring-Programm der Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof. Dr. Annette Keck Fachbereich Philosophie KTH und die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg Einbandabbildung: Juan Gris (1887–1927), »Portrait der Mutter des Künstlers (1912)« Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier © 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-656-1 (Print) ISBN 978-3-89785-657-8 (E-Book) Orsolya Friedrich und Michael Zichy PERSÖNLICHKEIT UND NEUROWISSENSCHAFTEN – EINLEITUNG Es gehört zu den weitreichenden Nebenwirkungen der Lebenswissenschaften, dass sie auch die philosophische Anthropologie und Ethik unter Zugzwang bringen, und zwar in mindestens dreierlei Hinsicht 1: Erstens schlagen spätestens seit Darwin lebenswissenschaftliche Erkenntnisse direkt auf die anthropologische und ethische Reflexion durch und erzwingen eine Neureflexion althergebrachter Auffassungen. Ein prominentes jüngeres Beispiel dafür sind die Ergebnisse und die zuweilen etwas spekulativen Thesen der Hirnforschung, die eine enorme Diskussion um allfällige anthropologische und ethische Neubestimmungen entfacht haben. Zweitens werfen die auf lebenswissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Verfahren und Eingriffsmöglichkeiten regelmäßig neuartige ethische Fragen auf, für deren Analyse, Reflexion und Beurteilung oft noch gar kein angemessenes Vokabular zur Verfügung steht. Das Bemühen um ein solches Vokabular kann nun ebenfalls eine Reformulierung anthropologischer und ethischer Begriffe nach sich ziehen. Beispielhaft hierfür ist das Ringen um eine angemessene Todesdefinition, das durch die Möglichkeiten der Intensivmedizin und die von ihr aufgeworfenen ethischen Fragen notwendig wurde. Drittens schließlich bringt die Lebensnähe lebenswissenschaftlicher Eingriffe – insbesondere dort, wo sie zu medizinischen Verfahren avancieren – mit sich, dass die Philosophie den Elfenbeinturm der Wissenschaft verlassen und sich in das unübersichtliche Getümmel der Sorgen und Fragen des »wirklichen« Lebens und seiner Akteure begeben muss. Wie sich beispielhaft etwa an den Auseinandersetzungen um die Organspende, die verbrauchende Embryonenforschung, die Gentechnik und die PID zeigt, sind die von diesen Eingriffen aufgeworfenen ethischen Fragen kaum je rein fachliche Fragen, sondern moralisch-gesellschaftliche Fragen. Diese Fragen gehen mit gesellschaftlichen Konflikten einher, die manchmal – wie im Fall der Grünen Gentechnik – sogar auf der Straße ausgetragen werden. 1 Vgl. dazu Zichy /Manzeschke, Zur Einleitung, S. 9 ff. 12 Orsolya Friedrich und Michael Zichy Lebenswissenschaftliche Erkenntnisse und Eingriffe haben von daher eine lebensweltliche, gesellschaftliche Dimension, der die Philosophie gerecht zu werden hat. Dies bedeutet vor allem, dass sich die ethische und anthropologische Reflexion um gesellschaftliche Anschlussfähigkeit bemühen muss. 2 Daraus wiederum erwächst unter anderem das Erfordernis, die ethische und anthropologische Terminologie behutsam sowohl mit dem Vokabular der Alltagssprache als auch mit dem der Lebenswissenschaften abzustimmen bzw. zu vermitteln. 3 Denn dies ist eine Voraussetzung dafür, dass die Überlegungen, Argumente und Lösungsvorschläge, die die Ethik für ethische Problemstellungen erarbeitet, zum einen die gleiche Basis haben, zum anderen auch von denen verstanden werden, die von diesen Problemen betroffen sind und die die Lösungen umzusetzen haben. Ein geradezu paradigmatischer Fall eines solcherart anthropologischen und ethischen Druck erzeugenden lebenswissenschaftlichen Feldes sind die Neurowissenschaften mit ihren von Jahr zu Jahr rasant zunehmenden Erkenntnissen und der damit einhergehenden beständigen Zunahme ihrer Anwendungs- und Therapiemöglichkeiten. Um einige Beispiele zu nennen: Die tiefe Hirnstimulation, bei der Patientinnen und Patienten Elektroden ins Gehirn implantiert werden, wird seit Jahren nicht mehr nur bei motorischen Störungen wie etwa bei Parkinson-Erkrankungen, sondern auch bei psychiatrischen Krankheitsbildern angewendet. Für Patienten, die etwa infolge einer amyotrophen Lateralsklerose nicht mehr kommunizieren können, wurden sogenannte Hirn-Computer-Interfaces entwickelt, die den betreffenden Patienten in die Lage versetzen, zu kommunizieren oder einen Roboter zu bedienen. Darüber hinaus gibt es verschiedene Ansätze, Implantate ins menschliche Gehirn oder in ein beschädigtes Innenohr einzusetzen, um auf diesem Weg Nervenreize zu setzen. Es wird sogar diskutiert, dass es in Zukunft möglich sein könnte, mithilfe neurowissenschaftlicher Methodik neue oder falsche Erinnerungen zu vermitteln. 4 Ein Überblick über die ständig neu auf den Markt kommenden und immer raffinierter wirkenden Psychopharmaka, die ebenfalls zum Spektrum neuer neurowissenschaftlicherTherapiemöglichkeiten zu zählen sind, ist kaum noch zu behalten. Angesichts einer derart boomenden Entwicklung kann es kaum verwundern, dass die Euphorie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mitunter groß ist. Gleichzeitig mehren sich jedoch auch die Zweifel, ob tatsäch2 3 4 Was dies für die angewandte Ethik bedeutet, ist ausgeführt in Zichy, Gut und praktisch. Vgl. hierzu auch Habermas’ Verständnis der Philosophie als Platzhalterin und Interpretin, der die Aufgabe zukommt, zwischen Wissenschaft und Alltagspraxis sowie zwischen den wissenschaftlichen Expertenkulturen zu vermitteln; vgl. Habermas, Philosophie. Diese neurowissenschaftlichen Entwicklungen sind auch Gegenstand populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen, so etwa in Grolle, Die Hirningenieure. Persönlichkeit und Neurowissenschaften – Einleitung 13 lich alle neurowissenschaftlichen Entwicklungen positiv zu beurteilen sind. Dementsprechend kam es in den Bereichen der Neuroethik und Neurophilosophie in den letzten Jahren zu einer Zunahme kritischer Publikationen. Im Zentrum vieler dieser Untersuchungen steht dabei die Frage, wie viele und welche Veränderungen des Menschen mit den Mitteln der Neurowissenschaften als gut zu bewerten sind. Bei den meisten der durch neurowissenschaftliche Eingriffe bewirkbaren Veränderungen des Menschen geht es um die Veränderung von bestimmten Eigenschaften, die auch dann eine Rolle spielen, wenn es um die Beschreibung der Persönlichkeit eines Menschen geht; das Phänomen der Persönlichkeit scheint daher bei Erfassung und Bewertungen neurowissenschaftlicher Maßnahmen relevant zu sein. Aus diesem Grund steht der Begriff der Persönlichkeit auch häufig im Fokus aktueller ethischer Auseinandersetzungen. Kommt es durch den Einsatz neurowissenschaftlicher Therapien zu einer Veränderung der Persönlichkeit? Wie lassen sich diese Veränderungen beschreiben? Darf es oder soll es zu diesen Veränderungen kommen? Ist eine Veränderung bestimmter Eigenschaften eines Menschen bzw. seiner Persönlichkeit also geboten oder ist sie vielmehr verboten? Nach welchen Kriterien könnte dies entschieden werden? Geht es beispielsweise um die Frage, ob die tiefe Hirnstimulation im Allgemeinen oder für spezielle Krankheitsbilder ethisch gerechtfertigt ist, folgt häufig eine Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit dieser Eingriff die Persönlichkeit des Patienten in gewollter und in ungewollter oder unvorhersehbarer Weise verändert. Aus der Bedeutung des Phänomens der Persönlichkeit und ihrer Veränderungen im Rahmen neurowissenschaftlicher Techniken und aus einem gehäuften rechtfertigenden Bezug auf die Persönlichkeit bei normativen Fragen im Kontext der Neurowissenschaften ergeben sich jedoch verschiedene Schwierigkeiten: Zunächst müsste geklärt werden, was überhaupt unter einer Persönlichkeit zu verstehen ist. Denn erst auf Basis eines hinreichend geklärten Persönlichkeitsbegriffs lassen sich Veränderungen der Persönlichkeit erfassen und beurteilen. Und erst auf Basis eines Konzeptes von Persönlichkeit lässt sich klären, warum Persönlichkeit normativ relevant ist, worin der moralische Wert von Persönlichkeit bzw. Persönlichkeitseigenschaften liegt und weswegen ihre Veränderung bzw. Beibehaltung moralisch geboten oder verboten sein könnte. Bislang jedoch gibt es keine einheitliche, unstrittige Konzeption von Persönlichkeit; die Konzepte der Persönlichkeit sind sowohl innerhalb einzelner Disziplinen als auch disziplinübergreifend höchst verschieden. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen verfolgt der vorliegende Band das Ziel, zur Klärung des Persönlichkeitsbegriffs, so wie er für die ethische Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlichen Fragestellungen relevant ist, beizutragen. Er macht dies in drei inhaltlichen Schwerpunk- 14 Orsolya Friedrich und Michael Zichy ten: Der erste Schwerpunkt vermittelt einen Überblick über verschiedene – auch disziplinäre – Zugänge und Definitionen von Persönlichkeit. Im zweiten Schwerpunkt werden die für die ethische Auseinandersetzung wichtigen Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Identität, Personalität und Autonomie ausgelotet. Im dritten Schwerpunkt werden schließlich Herausforderungen und Implikationen des Persönlichkeitsbegriffs in konkreten neurowissenschaftlichen Handlungs- und Anwendungsfeldern diskutiert. I. Persönlichkeit: Unterschiedliche Zugänge und Bestimmungen Das erste Anliegen des Buches besteht darin, unterschiedliche Konzepte der Persönlichkeit zusammenzuführen und zu diskutieren, um ein umfassenderes Bild von den Möglichkeiten entstehen zu lassen, aus denen Ethikerinnen und Ethiker schöpfen können, wenn sie sich auf einen interdisziplinär anschlussfähigen Persönlichkeitsbegriff berufen und darauf aufbauend neurowissenschaftliche Entwicklungen normativ beurteilen möchten. Die verschiedenen Konzepte von Persönlichkeit sollen darüber hinaus auch dazu anregen, eigene forschungsleitende Vorstellungen von Persönlichkeit kritisch zu überdenken und neue Untersuchungsansätze zu entwickeln. Zichy zeichnet in seinen Überlegungen zur alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs wesentliche Aspekte von Persönlichkeit nach, die auch in anderen Kontexten, beispielsweise persönlichkeitspsychologischen, angesprochen werden. Er diskutiert die Bedeutung von stabilen Elementen der Persönlichkeit, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil diese für eine soziale Identität von großer Bedeutung sind. Zichy erörtert darüber hinaus aber auch, wie wesentlich veränderbare und angestrebte »eigentliche« Aspekte der Persönlichkeit für ein umfassendes, aber auch alltägliches Verständnis von Persönlichkeit sind. Zudem verweist er auf die unterschiedlichen Konsequenzen der Redeweise von »Persönlichkeit haben« und »Persönlichkeit sein« sowie auf die Debatte um die Differenz zwischen Person und Persönlichkeit und verbindet seine Überlegungen somit auch mit Fragen nach der Autonomie. Die Bestimmung des Autonomie- und Freiheitsbegriffs hängt für Beck und Zabel auch im juristischen Kontext eng mit der Definition von Persönlichkeit und Person zusammen. In ihrem Beitrag zu den juristischen Perspektiven von Person, Persönlichkeit und Autonomie zeigen sie, wie im Rahmen einer juristischen Begriffsbestimmung zentrale Überzeugungen menschlichen Zusammenlebens trotz ihrer Wandelbarkeit geschützt werden sollen. Solche Überzeugungen schlagen sich auch in aktuellen juristischen Versuchen Persönlichkeit und Neurowissenschaften – Einleitung 15 nieder, den Begriff der Persönlichkeit zu definieren. An der juristischen Begriffsbestimmung von Persönlichkeit und dem dort verorteten Ausmaß des Schutzes der Persönlichkeit kommen auch die Neurowissenschaften nicht vorbei. Sie müssen sich in ihrem Handlungsspielraum gewissermaßen an die juristischen Vorgaben halten. Im Anschluss an den Beitrag von Beck und Zabel eröffnet sich die Frage, inwieweit neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die Persönlichkeit die evolutionär-genealogische Perspektive juristischer Begriffsbestimmung ihrerseits prägen dürfen und werden. Schwaiger reflektiert die Begriffsbestimmung innerhalb der Psychologie. Er untersucht verschiedene Entwicklungen innerhalb der Persönlichkeitspsychologie und konstatiert, dass diese jeweils über alltagspsychologische Intuitionen hinausweisen. Daneben betont er aber auch, dass die einzelnen Theorien keine hinreichende Basis dafür liefern, die im Rahmen neurowissenschaftlicher Eingriffe auftretenden drängenden Fragen über die Persönlichkeit zweifelsfrei zu beantworten. Am ehesten sieht Schwaiger im Anschluss an ein Mentalisierungskonzept die Möglichkeit, Antworten auf Fragen zu geben, die durch neurowissenschaftliche Eingriffe entstehen. Dieses Konzept erlaubt seiner Ansicht nach auch die Integration anderer Aspekte der Persönlichkeitspsychologie und ist zudem verbunden mit neurowissenschaftlichen Forschungsarbeiten zur Mentalisierung. Sautermeister behandelt den Begriff der Person in seinem Beitrag aus theologischer Perspektive und verbindet ihn mit einer sozialpsychologisch fundierten, identitätstheoretischen Perspektive, um so eine kritische Beurteilung von Persönlichkeitsveränderungen im Rahmen neurowissenschaftlicher Eingriffe zu ermöglichen. Diese Verbindung dient seiner Aussage nach dazu, den theologischen Personenbegriff, der prinzipiell zwar eine normative Orientierung bieten kann, für Fragen der angewandten Ethik jedoch zu abstrakt ist, so zu rekonstruieren, dass er für konkrete ethische Fragen hilfreich sein kann. Bedingt durch seinen identitätstheoretischen Zugang rückt er die biopsychosoziale Bedingtheit des Menschen vermehrt in den Fokus seiner Untersuchung. Wichtig wird für ethische Überlegungen damit, ob dem Menschen durch einen neurowissenschaftlichen Eingriff die Fähigkeit zur Identitätsarbeit und eine verantwortliche Lebensführung im sozialen Kontext bewahrt bleiben.