Mathematik für Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 13.4 $Id: komplex.tex,v 1.2 2016/04/13 15:09:53 hk Exp $ §1 Komplexe Zahlen In diesem Kapitel wollen wir erst einmal zusammenstellen was aus den vorigen Semestern über die komplexen Zahlen bekannt ist. Wir beginnen mit der Arithmetik der komplexen Zahlen, kommen dann zur Konvergenz komplexer Folgen und Reihen und schließlich zur Stetigkeit und Differenzierbarkeit komplexer Funktionen. Außerdem wollen wir die komplexen Grundfunktionen einführen. 1.1 Die komplexen Zahlen Die komplexen Zahlen wurden bereits im ersten Semester in I.§4.3 definiert, und wir wiederholen jetzt kurz was damals gemacht wurde. Als Menge der komplexen Zahlen verwenden wir die Ebene R2 , dabei wird der Punkt (a, b) mit x-Koordinate a und y-Koordinate b als die komplexe Zahl z = a + ib aufgefasst, d.h. C = R2 = {a + ib|a, b ∈ R}. Man nennt a den Realteil der komplexen Zahl z = a+ib, geschrieben als a = Re(z), und b den Imaginärteil von z, geschrieben als b = Im(z). Die reellen Zahlen sind dann streng genommen keine Teilmenge der komplexen Zahlen, und um dies zu beheben denken wir uns der x-Achse als die reelle Zahlengerade, wir machen also keinen Unterschied zwischen der reellen Zahl x und dem Punkt (x, 0) beziehungsweise der komplexen Zahlen x + i · 0. Damit ist eine komplexe Zahl z genau dann reell wenn Im(z) = 0 ist. Die Addition komplexer Zahlen wird dann als die Addition von Vektoren der Ebene definiert, also (a, b) + (a0 , b0 ) = (a + a0 , b + b0 ) beziehungsweise (a + ib) + (a0 + ib0 ) = a + a0 + i(b + b0 ) für alle a, b, a0 , b0 ∈ R. In anderen Worten haben wir also Re(z + w) = Re(z) + Re(w) und Im(z + w) = Im(z) + Im(w) für alle z, w ∈ C. Die reelle Zahl 0 ist auch die komplexe Null und additive Inverse sind durch −(a + ib) = (−a) + i(−b) für a, b ∈ R gegeben. Die komplexe Multiplikation ist komplizierter und wird durch die Formel (a, b) · (a0 , b0 ) = (aa0 − bb0 , ab0 + ba0 ) 1-1 Mathematik für Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 13.4 für alle a, b, a0 , b0 ∈ R definiert. Dann wird die Multiplikation mit reellen Zahlen zur gewöhnlichen Multiplikation eines Skalars mit einem Vektor, d.h. für alle a, b, c ∈ R gilt (c, 0) · (a, b) = (ca, cb) = c · (a, b). Die imaginäre Einheit i ist definiert als i := (0, 1) und wir haben i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1. Außerdem passt diese Multiplikation zur Schreibweise (a, b) = a + ib, denn für alle a, b ∈ R haben wir a + ib = (a, 0) + (0, 1) · (b, 0) = (a, 0) + (0, b) = (a, b). Mit dieser Addition und Multiplikation kann man mit komplexen Zahlen normal“ ” rechnen, es gelten all die gewohnten Formeln. Das multiplikative Inverse der komplexen Zahl 0 6= z = a + ib ist dabei 1 a b a − ib a − ib = 2 −i· 2 . = = 2 2 2 2 a + ib (a + ib) · (a − ib) a −i b a +b a + b2 Diese Formel konnte man noch etwas kompakter schreiben, definiert man den Betrag von z als den Abstand des Punktes z = (a, b) ∈ R2 zum Nullpunkt 0 = (0, 0) |z| := √ a2 + b2 und die zu z konjugiert komplexe Zahl als z := a − ib so wird 1 z = 2. z |z| Die komplexe Konjugation verträgt sich mit Addition und Multiplikation, d.h. für alle z, w ∈ C gilt z + w = z + w und z · w = z · w. Schreiben wir die Formel für den Kehrwert um, so ergibt sich auch z · z = |z|2 für alle z ∈ C, erst einmal für z 6= 0 und für z = 0 ist es ebenfalls wahr. Für z, w ∈ C erhalten wir weiter |zw|2 = zw · zw = zw · z · w = zz · ww = |z|2 |w|2 und dies bedeutet |z · w| = |z| · |w|, bei der Multiplikation komplexer Zahlen werden ihre Beträge also miteinander multipliziert. 1-2 Mathematik für Ingenieure IV, SS 2016 1.2 Mittwoch 13.4 Folgen und Reihen komplexer Zahlen Konvergenz und Grenzwerte komplexer Zahlenfolgen hatten wir auch bereits in I.§11 eingeführt, eine komplexe Folge (zn )n∈N konvergiert gegen eine komplexe Zahl z, die dann der Grenzwert dieser Folge genannt wird, wenn sie sich für ausreichend große Indizes beliebig gut an z annähert, oder in Quantorenschreibweise ∀( > 0)∃(n0 ∈ N)∀(n ≥ n0 ) : |zn − z| < . Konvergenz und Grenzwerte konnte man an Real- und Imaginärteil ablesen, wie schon in I.§11.2 festgehalten gilt lim zn = z ⇐⇒ lim Re(zn ) = Re(z) und lim Im(zn ) = Im(z). n→∞ n→∞ n→∞ Wir wollen uns zwei Beispiele zur Konvergenz komplexer Folgen anschauen. Zunächst wollen wir den Grenzwert n+i lim n→∞ n − i untersuchen. Hier gibt es zwei mögliche Vorgehensweisen. Zum einen können wir die Folge in ihren Real- und ihren Imaginärteil aufteilen, für jedes n ∈ N rechnen wir mit unserer obigen Formel für Kehrwerte komplexer Zahlen 1− n+i (n + i) · (n + i) n2 − 1 2n = = +i· 2 = 2 2 n−i n +1 n +1 n +1 1+ 1 n2 1 n2 +i· 2 n 1+ 1 n2 , die Realteile konvergieren also gegen 1 und die Imaginärteil gegen 0 und wir haben n+i = 1. n→∞ n − i lim Alternativ können wir den Erweiterungstrick“ auch gleich mit dem komplexen Zähler ” und Nenner durchführen, ohne die Folge in Real- und Imaginärteil aufzuteilen. Hier haben wir dann die Rechnung 1+ n+i = lim n→∞ n − i n→∞ 1 − lim i n i n = 1. Dabei verwenden wir das die Rechenregeln für Folgengrenzwerte im komplexen Fall genau wie im reellen Fall gelten, genauer haben wir I.§11.Satz 2 verwendet. Wir besprechen noch ein zweites Beispiel, dieses wird sich im folgenden als wichtig herausstellen. Gegeben sei eine komplexe Zahl z ∈ C und wir betrachten die Folge (z n )n∈N der Potenzen von z. Die Konvergenz dieser Folge hängt dann von z, und meist sogar nur vom Abstand von z zum Nullpunkt, ab. Im ersten Fall ist dieser Abstand größer als 1, also |z| > 1. Dann ist für jedes n ∈ N auch |z n | = |z|n und da die Potenzen einer reellen Zahl größer als 1 gegen +∞ konvergieren, ist die Folge (z n )n∈N nicht beschränkt und damit auch nicht konvergent. Im zweiten Fall sei |z| < 1. Dann 1-3 Mathematik für Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 13.4 ist wieder für jedes n ∈ N stets |z n | = |z|n und da die Potenzen einen reellen Zahl 0 ≤ r < 1 eine Nullfolge bilden ist auch (z n )n∈N eine Nullfolge, d.h. konvergent mit dem Grenzwert Null. Es verbleibt der Randfall |z| = 1. Im Fall z = 1 ist die Folge konstant 1 und konvergiert damit auch gegen 1. Ist dagegen z 6= 1, so ist für jedes n ∈ N stets |z n+1 − z n | = |z|n |z − 1| = |z − 1| > 0 und damit kann (z n )n∈N nicht konvergieren, denn andernfalls wäre (z n+1 − z n )n∈N eine Nullfolge. Komplexe Reihen lassen sich P genau wie die reellen Reihen auf den Folgenbegriff zurückführen, zu einer Reihe ∞ n=0 an = a0 + a1 + a2 + · · · bildet man die Folge der Partialsummen s0 = a0 , s1 = a0 + a1 , s2 = a0 + a1 + a2 , s3 = a0 + a1 + a2 + a3 und so weiter und nennt die Reihe konvergent wenn die Folge (sn )n∈N der Partialsummen konvergieren. In diesem Fall schreibt man dann ∞ X an := lim sn . n=0 n→∞ Wir bei Folgen ist eine komplexe Reihe genau dann konvergent wenn die aus ihren Real- und Imaginärteilen gebildeten reellen Reihen konvergieren, also ∞ X zn = z ⇐⇒ n=0 ∞ X Re(zn ) = Re(z) und n=0 ∞ X Im(zn ) = Im(z). n=0 P Ist sogar ∞ n=0 |zn | < ∞ so nannte man die Reihe absolut konvergent, hieraus folgte die gewöhnliche Konvergenz. Eines der wichtigsten Beispiele einer komplexen Reihe ist dabei die sogenannte geometrische Reihe, es wird eine komplexe P∞ nZahl z ∈ C vorgegeben und die zu z gehörende geometrische Reihe ist dann n=0 z . Hier lassen sich die Partialsummen explizit berechnen, für jedes n ∈ N erfüllt sn := n X z k = 1 + z + z 2 + · · · + z n−1 + z n k=0 die Gleichung z · sn = z + z 2 + z 3 + · · · + z n + z n+1 also haben wir (1 − z)sn = sn − z · sn = 1 − z n+1 und somit wird für z 6= 1 sn = 1 − z n+1 . 1−z 1-4 Mathematik für Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 13.4 Konvergenz liegt genau dann vor wenn (z n )n∈N konvergiert und da z = 1 bereits ausgeschlossen wurde ist dies genau für |z| < 1 der Fall. Bei z = 1 ist dagegen sn = n + 1 divergent. Die geometrische Reihe konvergiert also genau im Fall |z| < 1 und dann gilt ∞ X n=0 1 − z n+1 1 = . n→∞ 1 − z 1−z z n = lim Die geometrische Reihe ist eine sogenannte Potenzreihe, dies meint Reihen der Form f (z) = ∞ X an (z − z0 )n , n=0 wobei die komplexen Zahlen a0 , a1 , . . . als die Koeffizienten der Potenzreihe und z0 ∈ C als ihr Entwicklungspunkt bezeichnet werden. Die geometrische Reihe hat dann den Entwicklungspunkt z0 = 0 und die Koeffizienten a0 = a1 = a2 = · · · = 1. Die geometrische Reihe konvergiert für alle Punkte im Inneren des Kreises mit Radius r = 1 um den Entwicklungspunkt z0 = 0 und dieses Verhalten stellt sich als typisch für Potenzreihen heraus. Ist f (z) wie oben eine beliebige Potenzreihe so kann man den Kreis mit Mittelpunkt z0 und Radius r := sup{q ≥ 0|Die Folge (|an |q n )n∈N ist beschränkt} betrachten, den sogenannten Konvergenzkreis der Potenzreihe f (z). Dabei können auch die Randfälle r = 0 oder r = ∞ auftreten, im letzteren Fall wird der Konvergenzkreis als die ganze komplexe Ebene interpretiert. Ist dann z ∈ C eine beliebige komplexe Zahl, so konvergiert f (z) im Fall |z − z0 | < r, wenn also z im Inneren des Konvergenzkreises liegt, und divergiert im Fall |z − z0 | > r, wenn also z außerhalb des Konvergenzkreises liegt. Falls z genau auf dem Konvergenzkreis ist, also im Fall |z − z0 | = r, kann f (z) konvergieren oder divergieren und es kommen beide Möglichkeiten vor. Da der Radius r damit die Grenze des Konvergenzbereichs“ festlegt nennt man r = r(f ) ” auch den Konvergenzradius der Potenzreihe f (z). Zum Beispiel hat die geometrische Reihe auf Grund unserer obigen Überlegungen den Konvergenzradius r = 1. Wie wollen uns noch kurz an zwei Beispielen anschauen, dass die beiden Randfälle“ ” r = 0 und r = +∞ tatsächlich auftreten können. Dabei hat man den Konvergenzradius r = 0 wenn die Koeffizienten der Potenzreihe zu schnell“ wachsen, zum Beispiel bei ” ∞ X f (z) = nn · z n . n=0 Ist z 6= 0 irgendeine von Null verschiedene komplexe Zahl, so ist für n ≥ 1/|z| auch n|z| ≥ 1 und somit |nn z n | = (n|z|)n ≥ 1, die Summanden der Reihe f (z) konvergieren also nicht gegen Null und f (z) kann nicht konvergieren. Konvergenz liegt also nur für z = 0 vor, und der Konvergenzradius von f ist damit r = 0. 1-5 Mathematik für Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 13.4 Kommen wir nun zum guten“ Randfall, bei diesem werden Koeffizienten der Po” tenzreihe schnell“ klein. Als ein solches Beispiel betrachten wir ” ∞ X zn f (z) = . n! n=0 Zu Untersuchung der Konvergenz von f (z) bei gegebenen z ∈ C verwenden wir das Quotientenkriterium I.§12.Satz 6 und rechnen, streng genommen für z 6= 0, zn+1 (n+1)! |z| lim zn = lim = 0, n→∞ n→∞ n + 1 n! die Reihe f (z) ist also konvergent. Damit muss der Konvergenzkreis die ganze komplexe Ebene sein und wir haben den Konvergenzradius r = ∞. Es gibt auch eine direkte Formel für den Konvergenzradius r(f ) = 1 lim supn→∞ p n |an | wobei 1/0 als ∞ und 1/∞ als 0 interpretiert werden muss. Diese Formel hatten wir in I.§12.Satz 8 festgehalten. Falls an 6= 0 für alle n ∈ N gilt, oder auch an 6= 0 für alle n ≥ n0 , und falls die Folge (|an |/|an+1 |)n∈N in R≥0 konvergiert, so läßt sich der Konvergenzradius auch über die Formel |an | n→∞ |an+1 | r(f ) = lim berechnen. Wir schauen uns auch hierfür einige Beispiele an, zunächst rechnen wir die bisherigen Beispiel noch einmal mit dieser Formel durch und dannach behandeln wir zwei neue Potenzreihen. P n 1. Betrachte die geometrische Reihe f (z) = ∞ n=0 z mit den Koeffizienten an = 1. Die obige Formel besagt dann 1 = 1, n→∞ 1 r(f ) = lim wie schon früer eingesehen. P n n n 2. Nun sei f (z) = ∞ n=0 n z also an = n . Hier ist die ”Wurzelformel“ bequemer, also 1 1 √ r(f ) = = lim = 0, n lim supn→∞ nn n→∞ n wie bereits oben berechnen. 1-6 Mathematik für Ingenieure IV, SS 2016 3. Bei der Potenzreihe f (z) = P∞ n=0 Mittwoch 13.4 z n /n! ist an = 1/n! und wir rechnen 1 n! 1 n→∞ (n+1)! r(f ) = lim = lim (n + 1) = +∞ n→∞ wie oben. 4. Kommen wir nun zu einem neuen Beispiel, der Potenzreihe ∞ X (−1)n−1 n n=1 (z − 1)n . Dass die Summation hier bei n = 1 startet ist dabei kein Problem, wir können uns einen ersten Summanden 0 dazudenken, d.h. es sind a0 = 0 und an = (−1)n−1 /n für n ≥ 1. Unsere Quotientenformel liefert den Konvergenzradius (−1)n−1 n n+1 = lim = 1. r(f ) = lim n (−1) n→∞ n→∞ n n+1 5. Und ein letztes Beispiel bei dem einmal ein von 0, 1, +∞ verschiedener Wert herauskommt ∞ X 2n n z . f (z) = n + 1 n=0 Der Konvergenzradius berechnet sich als r(f ) = 2n n+1 lim n+1 n→∞ 2 n+2 = lim n→∞ 1 n+2 1 · = . 2 n+1 2 Die Potenzreihen verwenden wir nun dafür die für unsere Zwecke wichtigste Sorte komplexer Funktionen einzuführen, hierzu fassen wir den Parameter z unserer Potenzreihe als ein Funktionsargument auf, betrachten also die Funktion f : Br (z0 ) → C; z 7→ ∞ X n=0 wobei r = r(f ) der Konvergenzradius von f ist. 1-7 an (z − z0 )n