1. Abschnitt Einführung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Mengen Zwischenbetrachtung Abbildungen zwischen Mengen Größenvergleiche Der Vergleichbarkeitssatz Unendliche Mengen Abzählbare Mengen Überabzählbare Mengen Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen Die Mächtigkeit der reellen Funktionen Die Mächtigkeit der Potenzmenge Die Kontinuumshypothese Paradoxien der naiven Mengenlehre Dieser Abschnitt hat geradlinigen Charakter: Wir entwickeln das Cantorsche Konzept der Mächtigkeit einer Menge − ihrer Größe −, und versuchen, alle sich natürlich ergebenden Fragen sofort zu beantworten. Wird dadurch bedingt auch der historische Ablauf etwas durcheinandergerüttelt, so ist diese Einführung doch ganz dem Entdeckergeist der frühen Cantorschen Mengenlehre verpflichtet. Notation und Beweisführung folgen dabei den heutigen Standards, und die Dinge werden im Hinblick auf die Erkenntnisse der Nachwelt kommentiert. 1. Mengen Menge und Element Wir besitzen ein intuitives Verständnis des Begriffs „Menge“ und der Beziehung „a ist ein Element von b“. Für „a ist ein Element von b“ schreiben wir kurz „a ∈ b“. Besonders in dieser Einführung stützen wir uns auf dieses naive Verständnis des Mengenbegriffs. Georg Cantor hat in seiner letzten mengentheoretischen Arbeit die folgende Zusammenfassung oder Beschreibung unserer Intuition formuliert: „Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ‚Elemente‘ von M genannt werden) zu einem Ganzen.“ (Georg Cantor, 1895) Dies ist keine mathematische Definition im heute üblichen Sinne − was genau ist eine „Zusammenfassung“ oder ein „Ganzes“ ? −, und dennoch beschreibt sie recht genau unsere Vorstellung von einer Menge. Und sie enthält eine bemerkenswerte Feinheit: Cantor betont den Akt der Zusammenfassung zu einem Ganzen, zu einem Objekt. Die Mengenbildung verläuft hiernach zweistufig: Zuerst wird eine Vielheit, eine Ansammlung, ein Bereich betrachtet, und in einem zweiten Schritt wird diese Vielheit zu einer Einheit zusammengefaßt. Cantor war lange vor seiner Definition völlig klar, daß man nicht alle Vielheiten zu einer Menge zusammenfassen kann, daß also der zweite objektbildende Schritt nicht in jedem Falle legitim ist. Wir kommen erst später auf diesen wichtigen Punkt zurück, denn der durch die Intuition gewiesene Weg läßt sich soweit verfolgen, bis die Grenzen des Mengenbegriffs sichtbar und erfahrbar werden. Als Kommentar fügen wir der Cantorschen Definition das folgende Gleichheitskriterium hinzu: Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente haben. (Extensionalitätsprinzip) Man kann argumentieren, daß sich dieses Kriterium für die Gleichheit zweier Mengen aus Cantors Definition ableiten läßt. Der Term „Menge“ selbst wurde von Bernard Bolzano (1781 − 1848) eingeführt. Neben „Menge“ wurde auch verwendet: Mannigfaltigkeit, Gesamtheit, 14 1. Abschnitt Einführung Inbegriff, Varietät, Klasse. Bereits Galilei und Bolzano hatten über besondere und zum Teil paradox erscheinende Eigenschaften von unendlichen Mengen philosophiert, ohne aber die wesentlichen Punkte zu erkennen oder gar zu einer systematischen Entwicklung zu gelangen. Die Zeichen „lateinischer Klarheit“ ∈ für die Elementbeziehung und ⊆, ∩, ∪ für Teilmenge, Schnitt, Vereinigung (s.u.) − hatte Giuseppe Peano Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt; Cantor gebrauchte überraschenderweise keine Abkürzung für den Ausdruck „a ist Element von b.“ Heute gilt „Menge“ als ein nicht weiter definierter Grundbegriff − irgendwo muß man anfangen. An einer intuitiven Erläuterung kommt aber kein einführender Text vorbei, und zumeist ist es die Cantorsche Definition von 1895, die hierfür als Ausgangspunkt gewählt wird. Dies ist kein Zufall, und von Vorteil auch nicht nur aus rein historischen Gründen: In seiner Gesamtschau der Mengenlehre hatte Cantor neben einer herausragenden Intuition eine Unbefangenheit, die wir heute, formalistisch und axiomatisch geschult, kaum mehr erreichen können. Der Platonismus in der Mathematik Eine frühere Umschreibung des Mengenbegriffs von Cantor lautete: „Unter einer Mannigfaltigkeit oder Menge verstehe ich nämlich allgemein jedes Viele, welches sich als Eines denken läßt, d. h. jeden Inbegriff bestimmter Elemente, welcher durch ein Gesetz zu einem Ganzen verbunden werden kann, und ich glaube hiermit etwas zu definieren, was verwandt ist dem Platonischen = Łd E ˇ f oder ud E >= j . . . “ (Georg Cantor, 1883, Anmerkung 1) Hier ist der Zusatz „ ... welches sich als Eines denken läßt“ von großer Bedeutung. Dieser Hinweis wäre überflüssig, wenn sich jede Vielheit, jeder Bereich von Objekten als Einheit denken läßt. (Wir betonen diese Feinheiten, weil fälschlicherweise oft der Cantorsche Mengenbegriff mit der inkonsistenten naiven Mengenlehre identifiziert wird.) Die explizite Verbindung der Mengen mit der Platonischen Ideenlehre ist für die Vorstellung, was durch die Mengenlehre beschrieben wird, seit jeher sehr klar und fruchtbar: Mengen existieren als Ideen unabhängig von uns. Und dies gilt allgemein für die Objekte der Mathematik. Wir reden nicht über geometrische Figuren − Kreise, Dreiecke, Geraden −, die wir in den Sand zeichnen, sondern über diese Figuren an sich. Ebenso ist es mit den Zahlen, die nicht das sind, was wir auf einem Papier in bestimmter Art und Weise notieren, sondern die für sich in einer wohldefinierten Realität vorhanden sind. Und erst recht gilt dies für die Mengen, die wir erst bei der Beschäftigung mit mathematischen Objekten entdecken, und die sich dann als fundamental herausstellen. (Der Hinweis, daß die Mathematik abstrahiert, bringt nichts an Klarheit. Gerade als eine Operation muß die Abstraktion auf etwas verweisen, und was sollte das Zielobjekt anderes sein als ein Ding außerhalb der Sinnenwelt.) 1. Mengen 15 Existieren die mathematischen Gebilde zwar in einer durch die bloße Sinneswahrnehmung nicht zugänglichen Welt, so haben sie doch oftmals ihre Abbilder in der erfahrbaren Realität, durch die wir sie entdecken können − bei Platon: durch die unsere Seele sich an sie erinnert. Die enge Beziehung der Mengenlehre mit der Metaphysik, der Erkenntnis dessen, was hinter der erfahrbaren Realität existiert, hat Cantor Zeit seines Lebens betont. Jeder Mathematiker, der sich fragt, was er eigentlich tut, kommt an diesen Fragen nicht vorbei. Und die platonisch aufgefaßte Mengenlehre bildet dasjenige Gedankengebäude, an dem sich alle anderen Antworten reiben und verglichen zu dem alle anderen bisher vorgetragenen umfassenden Konzepte doch bloß als Strohhütte neben einem griechischen Tempel erscheinen − zumindest aus der Sicht des Platonikers. Zuweilen liest man, daß der Platonismus heute in der Mathematik und der Mengenlehre nicht mehr aktuell sei. Dies ist keineswegs der Fall. Nicht zuletzt hat er aus ästhetischen und didaktischen Gründen Priorität, und was kann man von einer Sicht der Dinge besseres sagen, als daß sie das Verständnis der Dinge fördert und begünstigt. Wir diskutieren den formalistischen Standpunkt im dritten Abschnitt. Der Leser ist aufgerufen, sich sein eigenes Bild zu machen. Unendliche Mengen Unendliche Mengen bilden das Zentrum der Mengenlehre, und sie werden dort als „fertige Gesamtheiten“ angesehen. Hausdorff (1914): „Eine Menge ist eine Zusammenfassung von Dingen zu einem Ganzen, d. h. zu einem neuen Ding. Man wird dies allerdings schwerlich als Definition, sondern nur als anschauliche Demonstration des Mengenbegriffs gelten lassen, die auf einfache Beispiele verweist: wie etwa die Menge der Einwohner einer Stadt, die Menge der Wasserstoffatome der Sonne. Diese beiden Mengen sind endlich, sie bestehen aus einer endlichen, die zweite freilich aus einer ungeheuer großen Anzahl von Gegenständen. Es ist das Verdienst Georg Cantors, auch unendliche, d.h. nicht endliche Mengen in den Kreis der Betrachtung gezogen und damit, über populäre Vorurteile und philosophische Machtansprüche hinwegschreitend, eine neue Wissenschaft, die Mengenlehre, begründet zu haben; denn eine bloße Theorie der endlichen Mengen wäre ja nichts weiter als Arithmetik und Kombinatorik. Die Menge der natürlichen Zahlen, die Menge der Punkte des Raumes sind die nächstliegenden Beispiele unendlicher Mengen . . . “ Über die Existenzberechtigung „fertiger“ unendlicher Objekte gab es im 19. Jahrhundert eine zuweilen polemische und überhitzte Diskussion. Man unterscheidet hier zwei Konzepte: „aktual unendlich“ und „potentiell unendlich“. Das folgende Beispiel zweier Aussagen über die natürlichen Zahlen erläutert diese beiden Begriffe vielleicht am besten: „Die Menge der natürlichen Zahlen existiert als ein mathematisches Objekt“ (aktual unendlich) bzw. „Es gibt zwar keine größte natürliche Zahl, aber eine fertige Gesamtheit der natürlichen Zahlen existiert nicht“ (potentiell unendlich). 16 1. Abschnitt Einführung Cantor hat mehrmals betont, daß daß potentiell Unendliche das aktual Unendliche (oder Transfinite) voraussetzt. Lesenswert ist hierzu eine Fußnote aus Cantors Aufsatz „Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten“ aus dem Jahre 1887: Georg Cantor (1887): „Nach Herbart soll der Begriff des Unendlichen ‚auf einer wandelbaren Grenze, welche in jedem Augenblick weiter fortgeschoben werden kann bzw. muß‘ beruhen . . . Ist es den Herren gänzlich aus der Erinnerung gekommen, daß, von den Reisen abgesehen, die in der Phantasie oder im Traume ausgeführt zu werden pflegen, daß, sage ich, zum sicheren Wandeln oder Wandern fester Grund und Boden sowie ein geebneter Weg unbedingt erforderlich sind, ein Weg, der nirgends abbricht, sondern überall, wohin die Reise führt, gangbar sein und bleiben muß ? . . . Die weite Reise, welche Herbart seiner ‚wandelbaren Grenze‘ vorschreibt, ist eingestandenermaßen nicht auf einen endlichen Weg beschränkt ; so muß denn ihr Weg ein unendlicher, und zwar, weil er seinerseits nichts Wandelndes, sondern überall fest ist, ein aktualunendlicher Weg sein. Es fordert also jedes potentiale Unendliche (die wandelnde Grenze) ein Transfinitum (den sicheren Weg zum Wandeln) und kann ohne letzteres nicht gedacht werden. Da wir uns aber durch unsere Arbeiten der breiten Heerstraße des Transfiniten versichert, sie wohlfundiert und sorgsam gepflastert haben, so öffnen wir sie dem Verkehr und stellen sie als eiserne Grundlage, nutzbar allen Freunden des potentialen Unendlichen, im besonderen aber der wanderlustigen Herbartschen ‚Grenze‘ bereitwillig zur Verfügung; gern und ruhig überlassen wir die Rastlose der Eintönigkeit ihres durchaus nicht beneidenswerten Geschicks; wandle sie nur immer weiter, es wird ihr von nun an nie mehr der Boden unter den Füßen schwinden . . . “ Heute hat sich das aktual unendliche Konzept in der Mathematik erfolgreich durchgesetzt. Die Gefahr, daß der Begriff einer fertigen unendlichen Gesamtheit letztendlich widersprüchlich ist, besteht zwar weiterhin, und ein kritisches Bewußtsein ist sicher angebracht, zumal in der Natur die Endlichkeit − entgegen allem Anschein − vorzuherrschen scheint (vgl. auch die Diskussion und das Hilbert-Zitat im Kapitel6 über unendliche Mengen). Andererseits wird nun seit fast hundert Jahren intensiv und erfolgreich in den meisten Teilgebieten der Mathematik mit unendlichen Objekten gearbeitet, und die Grundlagenforschung ist, im Gegensatz zur Situation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, erwachsen geworden. Mit einem einfachen Widerspruch ist nicht zu rechnen, und das aus dem Konzept der aktual unendlichen Mengen heraus bewiesene Resultat „eine unendliche Menge existiert nicht“ oder „die Menge der reellen Zahlen existiert nicht“ wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Katastrophe, sondern vielmehr eine der tiefsten Erkenntnisse der Mathematik und auch des menschlichen Verstandes. Gegen eine solche Götterdämmerung und die Widersprüchlichkeit der Theorie aktual unendlicher Mengen sprechen viele Argumente. Nicht zuletzt sind die Resultate der Mengenlehre von einer derart ergreifenden Schönheit, daß ein Zusammenbrechen des Gebäudes zusammen mit der Wahrung des Vertrauens, daß uns Natur und Verstand nicht an der Nase herum führen, schwer vorstellbar ist. Die philosophische Frage nach der Unendlichkeit bleibt aber bestehen. Aller- 1. Mengen 17 dings scheint es, daß sie auf einem gewissen Niveau nur auf dem Boden der mengentheoretischen Resultate diskutiert werden kann, und sich in Vagheiten verliert, wenn sie sich zu weit davon entfernt. Sicher der beste jüngere Beitrag zur Unendlichkeit ist das durch mengentheoretische Forschung errichtete Gebäude der großen Kardinalzahlaxiome, das wir im zweiten Teil des Buches besprechen werden, und dessen Bedeutung für die Mathematik noch nicht abzusehen ist. Stellvertretend für die andere Seite sei Carl Friedrich Gauß zitiert mit seinem Verdikt des aktual Unendlichen, das, so ernst es aus solchem Munde zu nehmen ist, doch zu jenen „Vorurteilen und Machtansprüchen“ gehört hat, die Cantor das Leben schwer gemacht haben: „So protestiere ich zuvörderst gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe als einer vollendeten, welches in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur eine façon de parler [Sprechweise], indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen als man will, während anderen ohne Einschränkung zu wachsen gestattet ist.“ (Gauß an Schumacher, 12. Juli 1831) (Diese Briefstelle kann man − allerdings nur mit viel Wohlwollen − auch als berechtigte Kritik daran lesen, mit den damals unzureichend definierten infinitesimalen Größen so zu rechnen, als wären sie wohldefinierte Objekte.) Abraham Fraenkel (1959): „In der ‚klassischen‘ Mathematik des 19. Jahrhunderts tritt das Unendliche im allgemeinen in ‚potentieller‘ Form auf. Mittels dieses potentiellen Unendlichkeitsbegriffs haben A. L. Cauchy und seine Nachfolger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Infinitesimalrechnung streng begründet, dann K. Weierstraß, G. Cantor und H. Méray in der zweiten Hälfte den Zahlbegriff, insbesondere die irrationalen Zahlen, und auf dieser Grundlage die Funktionentheorie aufgebaut. Es wird genügen ein ganz einfaches Beispiel zu geben: die Aussage lim n → ∞ 1/n = 0 (gelesen: der Limes von 1/n, wenn n nach Unendlich strebt, ist Null [ oder auch unendlichklein ]) ist nichts als eine symbolische Verkürzung der Behauptung: der Quotient 1/n, wo n eine natürliche Zahl bedeutet, kann mit beliebiger Genauigkeit an Null angenähert werden dadurch, daß n genügend groß gewählt wird. Offensichtlich ist in dieser Behauptung von Unendlichgroßem oder -kleinem nicht die Rede . . . Ungeachtet gewisser tastender Ansätze einiger Mathematiker in den 70er und 80er Jahren, wie H. Hankel, A . Harnack, P. du Bois Reymond, ist es erst Georg Cantor (1845 − 1918), der Schöpfer der Mengenlehre, gewesen, der das aktuale Unendlich sorgfältig begründet, systematisch in Mathematik und Philosophie eingeführt und zur Grundlage einer eigenen Disziplin, eben der Mengenlehre, gemacht hat, die seit der Jahrhundertwende siegreich fast alle mathematischen Disziplinen infiltriert und weitgehend umgestaltet hat. Indes ist die Schöpfung der Lehre vom aktualen Unendlich nicht etwa zielbewußt vom Anfang an beabsichtigt gewesen. Seit 1870 ging Cantor, der zeitlebens in Halle lehrte, von konkreten mathematischen Problemen der Theorie der reellen Funktionen aus, bei denen es auf die Unterscheidung endlich- oder unendlichvieler ‚Ausnahmepunkte‘ ankam, und rang sich nur allmählich, über eigene Hemmungen hinweg und dem heftigen Widerstand seiner mathematischen Zeitgenossen zuwider, zu einer allgemeinen revolutionären Begriffsbildung durch . . .“ 18 1. Abschnitt Einführung Mengen aus mathematischen Objekten Anstatt mit beliebigen „Objekten der Anschauung oder unseres Denkens“ wollen wir uns hier nur mit Objekten der Mathematik beschäftigen. In „a ∈ b“ sollen also a und b mathematische Objekte bezeichnen. Es wäre nicht nötig, neben den Mengen andere Objekte zuzulassen − sogenannte Grund- oder Urelemente −, denn es hat sich gezeigt, daß man alle in der Mathematik gebrauchten Objekte, insbesondere auch die natürlichen Zahlen, geeignet als Mengen interpretieren kann. Für die ersten zwei Abschnitte machen wir der Einfachheit halber die folgende Konvention. Eine gewisse Kenntnis der Grundzahlen setzen wir dabei voraus. Konvention Wir setzen für diesen und den nächsten Abschnitt die natürlichen, ganzen, rationalen und reellen Zahlen samt ihren üblichen Rechenoperationen und den natürlichen Ordnungsbeziehungen < und ≤ als gegeben voraus. Mathematische Objekte (innerhalb dieser Einführung) (i) Die mathematischen Grundobjekte (Urelemente) sind: Natürliche Zahlen, ganze Zahlen, rationale Zahlen, reelle Zahlen. (ii) Jede Menge ist ein mathematisches Objekt. Die mathematischen Objekte bestehen also aus den Grundobjekten und den Mengen. (Die Rechenoperationen und die Ordnungsbeziehung auf den Grundzahlen sind Funktionen und Relationen, die wir als Mengen von geordneten Paaren auffassen, siehe Kapitel 3.) Wir halten noch fest: Ist b eine Menge und a ∈ b, so ist a ein Grundobjekt oder eine Menge. Die bescheidene Auswahl der Grundobjekte in (i) geschah lediglich aus Gründen der Definitheit. Insbesondere die natürlichen und die reellen Zahlen werden für die ersten Schritte zur Erkundung unendlicher Mengen eine zentrale Rolle spielen. Wir diskutieren unten wichtige Eigenschaften dieser Zahlen. Der Leser, dem obige Konvention zu eng erscheint, kann zusätzlich beliebige Objekte der Mathematik betrachten, um sich Beispiele für Mengen und Mengen von Mengen zu konstruieren. Im dritten Abschnitt werden wir auf Urelemente ganz verzichten. 1. Mengen 19 Die Grundobjekte Wir können die Grundobjekte zu Mengen zusammenfassen: Definition Wir setzen: ⺞ = „die Menge der natürlichen Zahlen“, ⺪ = „die Menge der ganzen Zahlen“, ⺡ = „die Menge der rationalen Zahlen“, ⺢ = „die Menge der reellen Zahlen“. Da wir ⺞, ⺪, ⺡, ⺢ schlicht als gegeben voraussetzen, sind einige Bemerkungen angebracht. Natürliche und ganze Zahlen Die natürlichen Zahlen sollen die 0 als Element enthalten. Wir schreiben natürliche Zahlen wie üblich zumeist in Dezimalschreibweise: 0, 1, 2, 3, . . . , 10, 11, . . . Eine ganze Zahl schreiben wir in der Form + n oder − n wobei n eine natürliche Zahl ist: + 0, − 0, + 1, − 1, + 2, − 2, . . . Es gilt + 0 = − 0. Eine wichtige Eigenschaft der natürlichen Zahlen ist: Jede nichtleere Menge von natürlichen Zahlen hat ein kleinstes Element. Ist A eine Menge von natürlichen Zahlen, so sei min(A) = „das (eindeutig bestimmte) kleinste Element von A“. [ gelesen: Minimum von A ]. Ist also z. B. A die Menge bestehend aus 8, 11, 5, 7, so ist min(A) = 3. Rationale Zahlen Die rationalen Zahlen schreiben wir entweder als Brüche in der Form + n/m oder − n/m, wobei n, m natürliche Zahlen sind mit m ≠ 0 oder als endlichen oder periodisch endenden unendlichen Dezimalbruch in der Form ± n, a1 . . . ak oder ± n, b1 . . . bm a1 . . . ak a1 . . . ak a1 . . . ak . . . , wobei n, m, k natürliche Zahlen sind, und 0 ≤ ai < 10 gilt für alle 1 ≤ i ≤ k. So gilt etwa: − 17/8 = −2,125, 1/3 = 0,333 ..., 1/7 = 0,142857142857142857 .. . , 1/700 = 0,00142857142857142857 . . . 20 1. Abschnitt Einführung Reelle Zahlen und kanonische Darstellung Reelle Zahlen schreiben wir als Dezimalbruch ± n, a1 a2 a3 ..., wobei n eine natürliche Zahl und 0 ≤ ai < 10 gilt für alle i ≥ 1. Ist die Dezimaldarstellung einer reellen Zahl x von der Form ± n, a1 . . . ak 0 0 0 . . . , so sagen wir, daß diese Dezimaldarstellung von x trivial endet. Jede reelle Zahl x − außer der Null ! − hat eine eindeutige nicht trivial endende Dezimaldarstellung. So gilt etwa: 1,000 = 0,999..., 1,1245000... = 1,1244999..., − 1,01000 = − 1,00999 . . . Die nicht trivial endende Dezimaldarstellung von x ∈ ⺢, x ≠ 0 bezeichnen wir als die kanonische (unendliche) Dezimaldarstellung von x. Weiter nennen wir 0,000 . . . die kanonische (unendliche) Dezimaldarstellung der 0. Für jede natürliche Zahl b ≥ 2 und jede reelle Zahl x existiert weiter eine b-adische Darstellung von x: x = ± n, a1 a2 a3 . . . mit 0 ≤ ai < b. (Dann ist x = ± (n + a1 /b + a2 /b2 + a3 /b3 + . . . ).) Wie für die 10-adische = Dezimaldarstellung existiert für jede reelle Zahl x ≠ 0 eindeutig die nicht trivial endende kanonische b-adische Darstellung von x. Die 2-adische Darstellung heißt auch Binärdarstellung. So ist z. B. 0,111 . . . die kanonische Binärdarstellung der 1. Für alle b ≥ 2 sei wieder 0,000 . . . die kanonische b-adische Darstellung der 0. In diesem Buch brauchen wir neben der Dezimaldarstellung und der Binärdarstellung nur noch die 3-adische oder Ternärdarstellung (bei der Diskussion der Cantormenge). Konvention Wir identifizieren: n ∈ ⺞ mit + n ∈ ⺪, + n bzw. − n ∈ ⺪ mit + n/1 bzw. − n/1 ∈ ⺡, ± n, a1 . . . ak ∈ ⺡ mit ± n, a1 . . . ak 0 0 0 . . . ∈ ⺢. Somit ist jede natürliche Zahl eine ganze Zahl, jede ganze Zahl eine rationale Zahl und jede rationale Zahl eine reelle Zahl. Wir brauchen noch einige Notationen. Der Betrag |x| einer reellen Zahl x ist definiert durch: x, falls x ≥ 0, |x| = −x, falls x ≤ 0. 1. Mengen 21 Die gleiche Notation verwenden wir später für Mengen, wo |M| die Mächtigkeit einer Menge bezeichnet. Dies ist aber ungefährlich. Sind x1 , . . . , xn reelle Zahlen, so bezeichnen wir mit min(x1 , . . . , xn ) die kleinste der Zahlen x1 , . . . , xn . Analog bezeichnet max(x1 , . . . , xn ) die größte der Zahlen a1 , . . . , an . So ist z. B. min(0, −1) = −1, max(2, 4, 3) = 4. Einfache Mengenbildungen Wir bezeichnen Mengen mit lateinischen, griechischen, deutschen, Skriptur-, usw. Buchstaben (z. B. a, b, N, M, γ, Γ, ᑛ, Ꮽ, ᏹ, . . . ). Welche Mengen diese Buchstaben bezeichnen, ist abhängig vom Kontext. Für bestimmte Mengen, die häufig auftauchen, gibt es feste, kontextunabhängige Zeichen, wie etwa ⺞ für die Menge der natürlichen Zahlen. Viele von diesen variablen Bezeichnungen suggerieren einen bestimmten Bereich ihrer Bedeutung: Die Variablen n, m, k werden zumeist für natürliche Zahlen verwendet; ist von reellen Zahlen die Rede, so sind x, y, z erste Wahl; weiter ist A ein strukturell komplizierteres Objekt als a, ᑛ oder Ꮽ komplizierter als A. (Warnung: In der Mengenlehre bedeuten häufig auch kleine Buchstaben reichhaltige Mengen.) Das ständige Wiederholen dieser suggestiven Bedeutung hat eine erstaunliche − und erwünschte! − psychologische Wirkung: Man vergleiche: „seien n ∈ ⺞ und x1 , . . . , xn ∈ ⺢“ mit dem formal gleichwertigen „seien x ∈ ⺞ und n1 , . . . , nx ∈ ⺢“. Irgendwann sind aber im Kopf eines Mathematikers alle Zeichen belegt, und somit sind Überschneidungen nicht zu vermeiden. Den Ausdruck „a ∈ b“ lesen wir als: „a ist Element von b“, kurz „a Element b“, oder auch „a in b“ Für „nicht a ∈ b“ oder scholastischer „non (a ∈ b)“, schreiben wir auch „a ∉ b“. Wir können jede konkrete Liste mathematischer Objekte a1 , . . . , an zu einer Menge zusammenfassen. Zur Bezeichnung verwenden wir die geschweiften Mengenklammern „ { “ und „ } “: Definition (direkte Angabe der Elemente; Einermengen, Paarmengen) Seien n ∈ ⺞, n ≥ 1 und a1 , . . . , an Objekte. Wir setzen { a1 , . . . , an } = „die Menge, die genau a1 , . . . , an als Elemente enthält“. Speziell heißen für Objekte a, b die Menge { a } die Einermenge von a, und { a, b } die (ungeordnete) Paarmenge von a, b. Es gilt also für alle x: x ∈ { a1 , . . . , an } gdw x = ai für ein i ∈ ⺞ mit 1 ≤ i ≤ n. „gdw“ steht für „genau dann, wenn“, und meint dasselbe wie das schwerfällige „dann und nur dann“. 22 1. Abschnitt Einführung Für die Bildung der Paarmenge ist a ≠ b nicht vorausgesetzt! Nach dem Extensionalitätsprinzip gilt: { a } = { a, a } = { a, a, . . . , a } , { a, b } = { b, a } , { a, b } = { a } gdw a = b. Allgemein können wir den folgenden nicht besonders spektakulären Sachverhalt konstatieren: Übung Seien n, m ∈ ⺞ und a1 , . . . , an , b1 , . . . , bm Objekte mit den Eigenschaften: (α) Für alle 1 ≤ i ≤ n existiert ein 1 ≤ j ≤ m mit ai = bj , (β) Für alle 1 ≤ j ≤ m existiert ein 1 ≤ i ≤ n mit bj = ai . Dann gilt { a1 , . . . , an } = { b1 , . . . , bm } . Es genügt, wenn der Leser verinnerlicht, daß eine Menge M = { a, b } nicht notwendig zwei Elemente haben muß. Weiter definieren wir: Definition (leere Menge) Wir setzen ∅ = „die Menge, die keine Element enthält“. ∅ heißt die leere Menge oder die Nullmenge. Wir verwenden auch { } als Bezeichnung für die leere Menge, in Erweiterung der Schreibweise { a1 , . . . , an } . Die leere Menge kann Element einer anderen Menge sein. M = { ∅ } = { { } } hat ein Element, nämlich die leere Menge. M = { ∅, { ∅ } } hat zwei Elemente: ∅ und { ∅ } sind verschieden, wie man mit dem Extensionalitätsprinzip sofort sieht. Hausdorff (1914): „Außer den Mengen, die Elemente haben, lassen wir auch eine Menge 0, die Nullmenge, zu, die kein Element hat; die Gleichung A = 0 bedeutet also, daß auch die Menge A kein Element hat, verschwindet, leer ist. Auch hierzu ist die analoge Bemerkung zu machen wie im allgemeinen Fall: die Gleichung A = 0 kann eine bedeutungsvolle Aussage sein, wenn nämlich die Definition der Menge A ihr Verschwinden nicht unmittelbar erkennen läßt. Der Fermatsche Satz behauptet: die Menge der natürlichen Zahlen n > 2, für welche die Gleichung xn + yn = zn in natürlichen Zahlen x, y, z lösbar ist, ist die Nullmenge.“ Hier wird eine wichtige Vorstellung über die Welt der Mengen ausgedrückt: Wir können Mengen definieren und mit ihnen operieren, ohne genau über ihren Umfang, ihre Extension, Bescheid zu wissen. Die Menge A aller n ∈ ⺞, n > 2, für die xn + yn = zn in natürlichen Zahlen x,y,z lösbar ist, ist wohldefiniert. A existiert. (Ende des 20. Jahrhunderts hat Andrew Wiles das Fermatsche Problem gelöst: Es gilt A = ∅.) 1. Mengen 23 Wir kommen nun allgemeiner zu Mengenbildungen durch definierende Eigenschaften. Mengenbildung über Eigenschaften Oft will man Objekte mit einer bestimmten Eigenschaft zu einer Menge zusammenfassen, z. B. die Menge der ungeraden natürlichen Zahlen bilden. Hier lautet die zugehörige Eigenschaft Ᏹ(x) = „x ∈ ⺞ und x ist ungerade“. Definition Sei Ᏹ(x) eine Eigenschaft. Wir setzen: { x | Ᏹ(x) } = „die Menge aller Objekte x, auf die Ᏹ(x) zutrifft“. [ Die Menge { x | Ᏹ(x) } wird gelesen als: „Menge aller x mit Ᏹ(x)“. ] Statt „Ᏹ(x) trifft auf x zu“ sagen und schreiben wir kurz „Ᏹ(x)“. Es gilt also für alle z: z ∈ { x | Ᏹ(x) } gdw Ᏹ(z). Eine genaue Definition von „Eigenschaft“ geben wir im dritten Abschnitt. Hier genügt uns die Intuition: Eine Eigenschaft Ᏹ ist eine mathematische Aussage über mathematische Objekte. Es gilt dann für jedes Objekt z: Ᏹ(z) oder non(Ᏹ(z)). Zuweilen gefährlich aber suggestiv sind Schreibweisen der Form U = { 1, 3, 5, 7, . . . } für U = { x | x ∈ ⺞ und x ist ungerade } . Oft gibt man Mengen { x | Ᏹ(x) } auch in Form der Aussonderung von bestimmten Elementen aus einer anderen Menge an, z. B. U = { x ∈ ⺞ | x ist ungerade } . Allgemein: Definition (Aussonderung) Sei M eine Menge und Ᏹ(x) eine Eigenschaft. Wir setzen: { x ∈ M | Ᏹ(x) } = { x | x ∈ M und Ᏹ(x) } . Wir sammeln hier alle Objekte x mit Ᏹ′(x) auf, wobei Ᏹ′(x) = „x ∈ M und Ᏹ(x)“. Wir betonen schon hier diese Form der Mengenbildung, die aus einer gegebenen Menge bestimmte Elemente aussondert, da sie auch in der axiomatischen Mengenlehre stets legitim ist, während die unbeschränkte Form M = { x | Ᏹ(x) } bei genauerer Inspektion zu Widersprüchen führt (siehe Kapitel 13). Die Eigenschaft Ᏹ darf fixierte Objekte enthalten: 24 1. Abschnitt Einführung Definition (Parameter einer Eigenschaft) Sei Ᏹ eine Eigenschaft. Die Parameter von Ᏹ sind die in Ᏹ vorkommenden mathematischen Objekte. So ist z.B. ist in Ᏹ(x) = „x ∈ ⺞ und x ungerade“ die Menge ⺞ ein Parameter und x eine „Variable“. In M = { x | x ist kleiner als 11 und x ∈ U } werden die natürliche Zahl 11 und die kontextabhängige Menge U (hier: der ungeraden Zahlen) als Parameter verwendet. Jede Menge der Form { a1 , . . . , an } können wir auch mittels „|“ schreiben, nämlich als { a1 , . . . , an } = { x | x = a1 oder . . . oder x = an } . Hierbei sind dann a1 , . . . , an Parameter. Das naive Komprehensionsprinzip Lesen wir die Cantorsche Mengendefinition in dem Sinne unvorsichtig, daß sie uns beliebige Zusammenfassungen zu einem Ganzen erlaubt, so können wir das folgende Komprehensionsprinzip für unseren Objektbegriff ableiten: naives Komprehensionsprinzip für Eigenschaften Ist Ᏹ(x) eine Eigenschaft über mathematische Objekte, so existiert die Menge { x | Ᏹ(x) } aller Objekte x, für die Ᏹ(x) zutrifft. Das naive Komprehensionsprinzip ist aber nicht haltbar, es führt zu Widersprüchen. Diese wesentliche Entdeckung besprechen wir im letzten Kapitel der Einführung. Cantor war, wie wir aus Briefen und verschiedenen Bemerkungen in seinen Arbeiten wissen, bereits sehr früh aufgefallen, daß manche sehr große Vielheiten nicht zu Mengen zusammengefaßt werden dürfen; leider hat er aber diese wichtige Erkenntnis nicht besonders betont, und die Lösung der damit verbundenen Schwierigkeiten blieb der nächsten Generation vorbehalten. Teilmengen Die neben „a ∈ b“ wichtigste Relation zwischen Mengen a und b ist die Teilmengen-Relation. b a a ⊆ b, b ⊇ a 1. Mengen 25 Definition (Teilmenge und Obermenge) Seien a und b zwei Mengen. (i) a ist Teilmenge von b, in Zeichen a ⊆ b, falls: Für alle x ∈ a gilt x ∈ b. (ii) a ist echte Teilmenge von b, in Zeichen a ⊂ b, falls a ⊆ b und a ≠ b. (iii) Ist a ⊆ b, so heißt b Obermenge von a, in Zeichen b ⊇ a. Ist a ⊂ b, so heißt b echte Obermenge von a, in Zeichen b ⊃ a. Beispiele: { 1, 3 } ⊆ { 1, 2, 3 } , { } ⊆ { 1 } , non({ 1, { } } ⊆ { 1, 2, 3 }). Übung ⊆ ist transitiv: Seien a, b, c Mengen mit a ⊆ b und b ⊆ c. Dann gilt a ⊆ c. Statt „a ⊆ b und b ⊆ c“ schreiben wir auch kürzer „a ⊆ b ⊆ c“. Für die Grundobjekte haben wir nach obiger Konvention ⺞ ⊆ ⺪ ⊆ ⺡ ⊆ ⺢. Für alle Mengen M gilt M ⊆ M und ∅ ⊆ M. Für Letzteres ist zu überprüfen, daß jedes x ∈ ∅ auch in M ist. Es gibt aber gar keine x in ∅. Also ist jedes x ∈ ∅ in M. Hausdorff (1914): „Wenn alle Elemente der Menge A auch Elemente der Menge B sind, so sagen wir: A ist in B enthalten, A ist eine Teilmenge von B, eine Menge unter B, oder B enthält A, B ist eine Menge über A . Wir bringen dies durch eine der beiden Formeln A ⊆ B oder B ⊇ A zum Ausdruck; wobei die Zeichen ⊂ und ⊃ an die üblichen Zeichen < > für kleiner und größer erinnern, aber doch von ihnen unterschieden werden sollen. Zu den Teilmengen von B rechnen wir auch die Menge B selbst und die Nullmenge: eine wichtige Verabredung, deren Zweckmäßigkeit sich vielfach bewähren wird. Die Teilmengen der aus 4 Elementen bestehenden Menge { a, b, c, d } sind: 0 {a}{b}{c}{d} { a, b } { a, c } { a, d } { b, c } { b, d } { c, d } { a, b, c } { a, b, d } { a, c, d } { b, c, d } { a, b, c, d } Ihre Anzahl ist 1 + 4 + 6 + 4 + 1 = 16 = 24 .“ Das Extensionalitätsprinzip können wir nun auch so ausdrücken: Gleichheitskriterium Für alle Mengen a, b gilt: a = b gdw a ⊆ b und b ⊆ a. Das Gleichheitskriterium in dieser Form vereinfacht in der Praxis sehr oft den Beweis einer Behauptung a = b für zwei Mengen a,b. In einem ersten Schritt zeigt man a ⊆ b, danach zeigt man b ⊆ a, und zusammengenommen ergibt sich dann a = b. 26 1. Abschnitt Einführung Einfache Operationen mit Mengen (Öde für Leser und Autor ist die Einführung der Schnitt- und Vereinigungsmenge und ähnlicher Dinge. Die elementaren Lehrbücher sind voll von Listen von Gleichungen in größter Allgemeinheit. Hierauf wollen wir ganz verzichten, und hinsichtlich der Beweise solcher Gleichungen raten wir dem Leser, bewehrt mit Papier und Bleistift, sich anhand der bekannten Mengen-Diagramme bestehend aus sich überlappenden Kreisen von der Richtigkeit der Identitäten zu überzeugen. In den folgenden Kapiteln wird es wesentlich spannender . . . ) Beim Umgang mit Mengen tauchen die Operationen der Vereinigung, des Durchschnitts und der Subtraktion zweier Mengen besonders häufig auf. Definition (Vereinigung, Schnitt, Subtraktion und Disjunktheit) Seien a und b zwei Mengen. Die Vereinigung a ∪ b [ a vereinigt b ], der Schnitt a ∩ b [ a geschnitten b ] und die Subtraktion a − b [ a minus b oder a ohne b ] von a und b sind definiert durch: a ∪ b = { x | x ∈ a oder x ∈ b } . a ∩ b = { x | x ∈ a und x ∈ b } . a − b = { x | x ∈ a und x ∉ b } = { x ∈ a | x ∉ b } . Zwei Mengen a, b heißen disjunkt, falls a ∩ b = ∅. Beispiele: { 1, 2 } ∪ { 1, 3 } = { 1, 2, 3 }, { 1, 2 } ∩ { 1, 3 } = { 1 }, { 1, 2 } − { 1, 3 } = { 2 }, { } ∪ { 1 } = { 1 }. { } ∩ { 1 } = { }. { } − { 1 } = { }. Hausdorff (1914): „A und B seien zwei beliebige Mengen. Unter ihrer Summe S = ᑭ(A, B) verstehen wir die Menge der Elemente, die mindestens einer der beiden Mengen angehören; unter ihrem Durchschnitt D = ᑞ(A, B) die Menge der Elemente, die beiden Mengen zugleich angehören.“ Für die Subtraktion a − b ist b ⊆ a nicht vorausgesetzt. Außerhalb der Mengenlehre schreibt man auch oft a\b für a − b. Übung Seien a, b Mengen. Dann gilt: (i) a − b = a − (a ∩ b), (ii) a − b = a gdw a ∩ b = ∅, (iii) a − b = ∅ gdw a ⊆ b, (iv) a − (b − c) = (a − b) ∪ (a ∩ c), (v) (a − b) − c = a − (b ∪ c). 1. Mengen 27 Zur Veranschaulichung zeichne man Diagramme; zum (strengeren) Beweis kann man sich am Beweis von (iii) im Satz unten orientieren. Übung (Assoziativgesetze für Vereinigung und Durchschnitt) Seien a, b, c Mengen. Dann gilt: (i) (a ∪ b) ∪ c = a ∪ (b ∪ c), (ii) (a ∩ b) ∩ c = a ∩ (b ∩ c). Definition (relative Komplemente) Seien a, b Mengen und a ⊆ b. Dann heißt b − a das relative Komplement von a in b. Ist b fixiert, so nennen wir b − a kurz das Komplement von a, und setzen ac = b − a. Satz (Eigenschaften der relativen Komplemente) Sei d eine Menge. Weiter seien a, b ⊆ d. Dann gilt für die relativen Komplemente in d: (i) a ∪ ac = d, (ii) a ∩ ac = ∅, (iii) (a ∩ b) c = ac ∪ bc , (iv) (a ∪ b) c = ac ∩ bc . Die beiden letzten Aussagen werden auch als de Morgansche Regeln bezeichnet. Beweis zu (i) und (ii): Nach Definition von ac = d − a. zu (iii): (Beweistechnik nach dem bekannten Motto: If it’s madness, there is some method in it.) zu ⊆: Sei x ∈ (a ∩ b) c . Also gilt (1) x ∈ d und (2) x ∉ a oder x ∉ b. Im ersten Fall von (2) x ∉ a ist wegen (1) x ∈ d − a = ac . Im zweiten Fall von (2) x ∉ b ist wegen (1) x ∈ d − b = bc . Also gilt immer: x ∈ ac oder x ∈ bc , also x ∈ ac ∪ bc . zu ⊇: Sei x ∈ ac ∪ bc . Dann gilt x ∈ d − a oder x ∈ d − b. Im ersten Fall x ∈ d − a ist x ∈ d − (a ∩ b) wegen d − a ⊆ d − (a ∩ b). Im ersten Fall x ∈ d − b ist x ∈ d − (a ∩ b) wegen d − b ⊆ d − (a ∩ b). Also in beiden Fällen x ∈ d − (a ∩ b) = (a ∩ b) c . Also gilt (a ∩ b) c ⊆ ac ∪ bc und (a ∩ b) c ⊇ ac ∪ bc . Nach dem Gleichheitskriterium folgt die Behauptung. zu (iv): Analog zu (iii). Spät, aber nicht ungelegen kommen an dieser Stelle die Distributivgesetze. 28 1. Abschnitt Einführung Übung (Distributivgesetze) Für alle Mengen a, b, c gilt: (i) (a ∪ b) ∩ c = (a ∩ c) ∪ (b ∩ c). (ii) (a ∩ b) ∪ c = (a ∪ c) ∩ (b ∪ c). Dem Leser ist vielleicht die Symmetrie zwischen (i) und (ii) aus dem Satz oben, den de Morganschen Regeln und den beiden Distributivgesetzen aufgefallen. Anstelle einer umständlichen Diskussion zitieren wir zur Auflockerung des in dieser Umgebung begrenzt aufregenden Stoffs noch einmal Hausdorff, nämlich über die Dualität von ∪/∩, alles/nichts und ⊆/⊇. Hierbei ist ᑭ(A1 , A2 , ..., Am ) = A1 ∪ . .. ∪ Am , ᑞ(A1 , . .. , Am ) = A1 ∩ . .. ∩ Am , und Ā = Ac = M − A . Das Zeichen „+“ steht für die disjunkte Vereinigung. Hausdorff (1914): „Sind A1 , . . . , Am Teilmengen einer Menge M und Ā1 , . . . , Ām ihre Komplemente in M, also M = Ai + Āi so ist M = ᑭ(A1 , A2 , . . . , Am ) + ᑞ( Ā1 , . . . , Ām ) = ᑞ(A1 , A2 , . . . , Am ) + ᑭ( Ā1 , . . . , Ām ); denn die Elemente von M gehören entweder mindestens einem Ai oder keinem, d. h. entweder der Summe der Ai oder dem Durchschnitt der Āi an, und das gleiche gilt, wenn man die Ai mit den Āi vertauscht. Wir können diese Formeln kurz so aussprechen: das Komplement einer Summe ist der Durchschnitt der Komplemente, das Komplement eines Durchschnitts die Summe der Komplemente. Ist also P eine Menge, die aus den Mengen Ai durch wiederholte Summen- und Durchschnittsbildung entsteht, so erhält man ihr Komplement P̄, indem man die Ai durch ihre Komplemente Āi , das Zeichen ᑭ durch ᑞ und das Zeichen ᑞ durch ᑭ ersetzt. Da ferner aus P = Q, P ⊂ Q, P ⊃ Q resp. P̄ = Q̄, P̄ ⊃ Q̄, P̄ ⊂ Q̄ folgt, so bleibt jede Gleichung zwischen Mengen richtig, wenn man alle Mengen durch ihre Komplemente ersetzt und die Zeichen ᑭ und ᑞ vertauscht; jede Ungleichung bleibt richtig, wenn man außerdem noch die Zeichen ⊂ und ⊃ vertauscht [ Dualitätsprinzip ]. Eine identisch, d. h. für beliebige Mengen richtige Relation liefert eine zweite solche auch ohne Übergang zu den Komplementen, also durch bloße Vertauschung der Zeichen ᑭ, ᑞ und eventuell der beiden Ungleichheitszeichen. Z. B. folgt auf diese Weise die zweite Formel des assoziativen oder distributiven Gesetzes unmittelbar aus der ersten. Als Beispiel für eine Ungleichung zitieren wir die einfache A ⊆ ᑭ(A, B), aus der durch Dualität A ⊇ ᑞ(A, B) folgt.“ Obwohl wir in der Einführung kaum davon Gebrauch machen, halten wir die Versionen von Durchschnitt und Vereinigung für Mengensysteme fest. Sie werden später häufig verwendet. Definition (Mengensysteme) Ein Mengensystem M ist eine Menge, deren Elemente alle Mengen sind, d. h. M enthält keine Grundobjekte als Elemente. 1. Mengen 29 Definition (Großer Durchschnitt und große Vereinigung) Sei M ein Mengensystem. Dann sind der Durchschnitt von M, in Zeichen 傽 M, und die Vereinigung von M, in Zeichen 艛 M, wie folgt definiert. 傽 M = { x | für alle a ∈ M ist x ∈ a } , 艛 M = { x | es existiert ein a ∈ M mit x ∈ a } . M a b c Beispiele: Für alle Mengen a, b, c gilt 傽 { a, b } = a ∩ b, 艛 { a, b, c } = a ∪ b ∪ c, 傽 { a } = 艛 { a } = a. b a c d a c e 傽 M = { a, c } 艛 M = { a, b, c, d, e } Streng nach Definition gilt 艛 ∅ = ∅ und 傽 ∅ = { x | x ist Objekt } . [ Zu letzterer Aussage sei x beliebig. Wir zeigen x ∈ 傽 ∅. Hierzu ist zu zeigen: Für alle a ∈ ∅ gilt x ∈ a. Es gibt aber gar keine a ∈ ∅, also ist die Aussage sicher richtig. ] Übung Es gilt 傽 { { m ∈ ⺞ | m ≥ n } | n ∈ ⺞ } = ∅. Erfahrungsgemäß ist der Umgang mit großen Vereinigungen und Schnitten und die Rolle der leeren Menge bei Erstkontakt etwas unangenehm. Diese Dinge werden aber mit der Zeit trivial. Wir kommen nun zu einer harmlos aussehenden Operation, die zu den interessantesten der Mengenlehre gehört, weil sie für unendliche Mengen schlecht verstanden ist − wie wir sehen werden. Die Potenzmenge Eine entscheidende Rolle bei der Untersuchung der Größe einer Menge wird die Potenzmengenoperation spielen: Definition (Potenzmenge) Sei M eine Menge. Dann ist die Potenzmenge von M, in Zeichen P(M), die Menge aller Teilmengen von M: P(M) = { a | a ⊆ M } . Beispiele: P(∅) = { ∅ } , P({ x }) = { ∅, { x } } , P({ ∅, { ∅ } }) = { ∅, { ∅ } , { { ∅ } } , { ∅, { ∅ } } } . Für alle Mengen M gilt ∅ ∈ P(M) und M ∈ P(M). Weiter gilt für alle Mengen a: a ∈ P(M) folgt M − a ∈ P(M). 30 1. Abschnitt Einführung Übung (i) Man bestimme die Potenzmenge von { 1 } , { 1, 2 } , { 1, 2, 3 }, und zähle ihre Elemente. (ii) Wieviele Elemente hat P({ 1, . . . , n }) für n ∈ ⺞ ? Obwohl die Anekdote mit großer Vorsicht zu genießen ist, beenden wir dieses Kapitel mit einem Bericht von Felix Bernstein, die uns einen Aspekt überliefert, wie sich Cantor und Dedekind Mengen vorgestellt haben. (Das Zitat findet sich in den „Gesammelten Werken“ von Richard Dedekind, und wurde dort von der Herausgeberin Emmy Noether innerhalb eines Kommentars eingefügt.) Georg Cantors Vorstellung von Mengen, berichtet von Felix Bernstein „F. Bernstein übermittelt noch die folgenden Bemerkungen: ‚ . . . Von besonderem Interesse dürfte folgende Episode sein: Dedekind äußerte, hinsichtlich des Begriffes der Menge: er stelle sich eine Menge vor wie einen geschlossenen Sack, der ganz bestimmte Dinge enthalte, die man aber nicht sähe, und von denen man nichts wisse, außer daß sie vorhanden und bestimmt seien. Einige Zeit später gab Cantor seine Vorstellung einer Menge zu erkennen: Er richtete seine kolossale Figur hoch auf, beschrieb mit erhobenem Arm eine großartige Geste und sagte mit einem ins Unbestimmte gerichteten Blick: ‚Eine Menge stelle ich mir vor wie einen Abgrund.‘ ‘ “ (in: Dedekind 1930 − 1932, Gesammelte Werke, Bd. III, S. 449) http://www.springer.com/978-3-540-42948-7