Vorlesung 13 Stetige Funktionen, Binomischer Lehrsatz 13.1 Funktionenfolgen Wir verbinden nun den Grenzwertbegriο¬ mit dem Funktionsbegriο¬. Es seien (ππ )π∈β eine reelle Folge und π : β → β eine Funktion. Zur Erinnerung: ππ ist nichts anderes als eine Abbildung π von den natuΜrlichen in die reellen Zahlen π : β → β mit ππ := π(π). Somit koΜnnen wir die Funktionenfolge π β ππ : β →β→β π 7→ ππ → π (ππ ) betrachten. Beispiel. Es seien π: ππ β→β π₯ 7→ π₯2 = 1 π, π >0 Dann ist die Funktionenfolge ππ = π (ππ ) = π1 = 1, π2 = 1 π2 , π >0 1 1 , π3 = , ... 4 9 Deο¬nition 13.1.1. Sei π· ⊂ β und π : π· → β eine Funktion und π ∈ β derart, dass es mindestens eine Folge (ππ )π∈β , ππ ∈ π·, gibt mit lim ππ = π. π→∞ 75 Wir schreiben lim π (π₯) = π π₯→π falls fuΜr jede Folge (π₯π )π∈β ∈ π· mit lim π₯π = π gilt: lim π (π₯π ) = π π→∞ π→∞ Sprechweise: Der Grenzwert der Funktionswerte π (π₯) fuΜr π₯ → π ist π. Deο¬nition 13.1.2. Voraussetzungen wie oben. Falls fuΜr jede Folge (π₯π )π∈β mit π₯π ∈ π· und π₯π > π und lim π₯π = π gilt: π→∞ lim (π₯π ) = π, π→∞ so schreiben wir lim π (π₯) = π π₯→π+ oder π₯→π lim π (π₯) = π π₯>π lim = π ist der rechtsseitige GW von π (π₯) fuΜr π₯ → π. π→π+ Falls fuΜr jede Folge (π₯π ) mit π₯π ∈ π· mit π₯π < π und lim π (π₯π ) = π gilt π→∞ lim π (π₯π ) = π, π→∞ so schreiben wir lim π (π₯) = π π₯→π− oder π₯→π lim π (π₯) = π π₯<π lim = π ist der linksseitige GW von π (π₯) fuΜr π₯ → π. π→π− Bemerkung. lim π (π₯) existiert genau dann, wenn der linksseitige und der π₯→π rechtsseitige GW existieren und uΜbereinstimmen, d.h. lim π (π₯) = lim− π (π₯) = lim π (π₯) π₯→π+ π₯→π π₯→π Beispiel: Wir betrachten die Ganzzahlfunktion entier : β → β β Es gilt lim entier(π₯) = 1 und lim entier(π₯) = 0. Also existiert π₯→1+ π₯→1− lim entier(π₯) nicht. π₯→1 β Es gilt lim+ entier(π₯) = 0 und lim− entier(π₯) = 0. Also existiert π₯→ 12 π₯→ 21 lim entier(π₯) und ist gleich 0. π₯→ 21 13.2 Stetigkeit Wir kommen zu einem fundamentalen Begriο¬. Deο¬nition 13.2.1. Sei π : π· → β eine Funktion und π ∈ π·. Die Funktion π heißt im Punkt π stetig, falls gilt lim π (π₯) = π (π). π₯→π π heißt stetig in π·, wenn π in jedem Punkt von π· stetig ist. 76 Stetigkeit von π in π bedeutet also: FuΜr π₯ → π konvergieren die Bilder π (π₯) gegen das Bild π (π). Intuitiv bedeutet Stetigkeit: β π (π₯) aΜndert sich wenig, wenn π₯ sich wenig aΜndert. β Eine Funktion ist stetig, wenn ihr Graph keine SpruΜnge macht. β Eine Funktion ist zu 99% stetig, wenn man ihren Graphen ohne Absetzen zeichnen kann. Bemerkung. Stetigkeit einer Funktion ist eine schoΜne“ Eigenschaft, da sich ” stetige Funktionen in vielerlei Hinsicht gutartig verhalten. Angenommen, wir haben eine Messreihe mit endlich vielen Messwerten (siehe Abbildung 13.1). m(x4) m(x5) m(x3) m(x2) m(x6) m(x1) m(x7) x1 x2 x3 x4 x5 x6 x 7 Abbildung 13.1: Messreihe mit endlich vielen Messwerten Unterstellen wir eine stetige Funktion, die die gegebenen Punkte beschreibt, dann koΜnnen wir auch etwas uΜber Punkte sagen, fuΜr die keine Messwerte vorliegen (siehe Abbildung 13.2). m(x4) m(x5) m(x3) m(x2) m(x6) m(x1) m(x7) x1 x2 x3 x4 x5 x6 x 7 Abbildung 13.2: Stetige Funktion, die die Messwerte beschreibt 77 Beispiele. β Die identische Abbildung id : β → β, π₯ 7→ π₯ ist stetig. Beweis. Sei π ∈ β. Sei (π₯π )π∈β eine Folge mit lim π₯π = π. π→∞ Es gilt id(π₯π ) = π₯π . Daher lim (π₯π ) = lim π₯π = π = id(π) π→∞ π→∞ Damit ist die identische Abbildung in jedem Punkt stetig. β Die konstanten Funktionen sind stetig. Beweis. Klar. Satz 13.2.2. Es seien π, π : π· → β Funktionen in π ∈ π· stetig. Sei π ∈ β. Dann sind die Funktionen π +π : ππ : ππ : π : π π·→β π·→β π·→β π·′ → β mit π·′ = {π₯ ∈ π· : π¦(π₯) β= 0} in π ∈ π· stetig. Aus dem Satz folgt: Jede Polynomfunktion ist stetig. Beispiel. Wir betrachten die Funktion { 0 fuΜr π₯ < 0 π (π₯) = 1 fuΜr π₯ ≥ 0. Oο¬enbar ist π (π₯) fuΜr π₯ β= 0 stetig. Zu untersuchen ist π₯ = 0. Behauptung: π ist nicht stetig in π₯ = 0. Beweis. Es gilt lim π (π₯) = 1 und lim π (π₯) = 0. π₯→0+ π₯→0− Damit existiert lim π (π₯) nicht und π (π₯) ist nicht steπ₯→0 tig in π₯ = 0. 78 13.3 Etwas Kombinatorik Zur Erinnerung: FuΜr π ∈ β setzen wir π! := 1 ⋅ 2 ⋅ 2 ⋅ 3 ⋅ . . . ⋅ π und 0! = 1 Zu π! sagen wir π-FakultaΜt. Wir haben die Rekursion π! = (π − 1)!π. Satz 13.3.1. Die Anzahl aller Anordnungen π verschiedener Elemente ist π!. Beweis. Gegeben seien π Elemente und π Felder. Wir besetzen die Felder mit den Elementen. FuΜr das 1. Feld stehen π Elemente zur Auswahl. FuΜr das 2. Feld entsprechend (π − 1), usw. Demnach gibt es π ⋅ (π − 1) ⋅ . . . ⋅ 3 ⋅ 2 ⋅ 1 = π! MoΜglichkeiten π Elemente anzuordnen. Satz 13.3.2 (Satz und Deο¬nition). Die Anzahl der π-elementigen Teilmengen einer nicht-leeren Menge mit π Elementen ist im Fall 0 < π ≤ π : ( ) π π(π − 1) ⋅ . . . ⋅ (π − π + 1) =: π! π und im Fall π = 0 : Die Zahlen (π) π ( ) π 1 := 0 heißen Binomialkoeο¬zienten. Lies π uΜber π“. ” Beweis. Sei zunaΜchst π β= 0. Zur Bildung π-elementiger Teilmengen stehen fuΜr ein erstes Element einer Teilmenge alle π Elemente der gegebenen Menge zur Auswahl, usw. Insgesamt gibt es also π(π − 1) ⋅ . . . ⋅ (π − π + 1) MoΜglichkeiten, π-elementige Teilmengen herzustellen. Unter diesen MoΜglichkeiten sind auch π-elementige Teilmengen, die sich nur in der Reihenfolge der Elemente unterscheiden. Es gibt genau π! verschiedene Anordnungen einer π-elementigen Menge. Durch diese Anzahl muΜssen wir dividieren; demnach gibt π(π−1)⋅...⋅(π−π+1) die Anzahl der π! π-elementigen Teilmengen eine π-elementigen Menge an. FuΜr π = 0 : Die leere Menge ist die einzige 0-elementige Teilmenge. Damit ist die gesuchte Zahl 1. Bemerkung. Es gilt ( ) ( ) π π! π = = π!(π − π)! π−π π Beweis. Einfaches Nachrechnen! Beispiel. 6 aus 49“. Aus einer Menge mit 49 Elementen koΜnnen wir ” ( ) 49 ⋅ 48 ⋅ ⋅47 ⋅ 46 ⋅ 45 ⋅ 44 49 = 13.983.816 = 1⋅2⋅3⋅4⋅5⋅6 6 6-elementige Teilmengen bilden. Die Wahrscheinlichkeit beim Lotto 6 aus 49“ die ” richtigen 6 Zahlen zu raten, ist also ungefaΜhr 1:14 Millionen. 79 13.4 Der Binomische Lehrsatz Es gilt der Satz 13.4.1 (Binomischer Lehrsatz). FuΜr π₯, π¦ ∈ β und π ∈ β gilt: π ( ) ∑ π π−π π π π₯ π¦ (π₯ + π¦) = π π=0 ( ) ( ) ( ) π π−1 π π−2 2 π = π₯π + π₯ π¦+ π₯ π¦ + ... + π₯π¦ π−1 + π¦ π . 1 2 π−1 ( ) Beweis. Es gibt ππ MoΜglichkeiten, π Faktoren (π₯ + π¦) aus (π₯ + π¦)π auszuwaΜhlen. Eine solche Auswahl ist zum Beispiel (π₯ + π¦)π = (π₯ + π¦) ⋅ . . . ⋅ (π₯ + π¦) ⋅(π₯ + π¦) ⋅ . . . ⋅ (π₯ + π¦) . {z }| {z } | π−πππ (π−π)−πππ FuΜr jede Auswahl erhalten wir nach Ausmultiplizieren von (π₯ + π¦)π je einmal als (π) π hoΜchste Potenz von π₯ genau π₯( .)Es gibt π solche AuswahlmoΜglichkeiten, also tritt die Potenz π₯π insgesamt ππ -mal auf. Jeder Faktor (π₯ + π¦)π korrespondiert π−π zu einem Faktor (π₯ + π¦)π−π . Im letzteren ist die . (π)hoΜchste Potenz π¦ genau π¦ π π−π Demnach tritt der Faktor π₯ π¦ insgesamt π auf. Daraus ergibt sich der Binomische Lehrsatz. Bemerkung. Der Binomische Lehrsatz laΜsst sich auch mittels vollstaΜndiger Induktion beweisen. FuΜr die ersten π erhalten wir fuΜr den Binomischen Lehrsatz (π₯ + π¦)0 = 1 (π₯ + π¦) = π₯ + π¦ (π₯ + π¦)2 = π₯2 + 2π₯ + π¦ 2 (π₯ + π¦)3 = π₯3 + 3π₯2 π¦ + 3π₯π¦ 2 + π¦ 3 (π₯ + π¦)4 = π₯4 + 4π₯3 π¦ + 6π₯2 π¦ 2 + 4π₯π¦ 3 + π¦ 4 Die Koeο¬zienten koΜnnen im Pascalschen Dreieck angeordnet werden. 1 1 1 1 1 1 2 3 4 5 1 1 3 6 10 1 4 10 1 5 1 Aufgrund der Beziehung ( ) ( ) ( ) π π−1 π−1 = + π π−1 π (siehe UΜbungsaufgabe 63, Blatt 13) ist jede Zahl im Innern des Dreiecks die Summe der beiden unmittelbar uΜber ihr stehenden. 80