AWO Psychiatriezentrum Angst aus Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie Astrid Meinecke, 19.07.2014 Angst ist … normal Ängste sind im Kindesalter weit verbreitet Ängste gehören zu einer normalen Entwicklung eines Kindes dazu und stehen mit der kognitiven Entwicklung des Kindes in Beziehung Es gibt alterstypische Angstinhalte, die für die jeweilige Entwicklungsphase normal sind Page 2 Angst ist … altersspezifisch 0-6 Monate intensive sensorische Reize, laute Geräusche 6-12 Monate fremde Menschen, fremde Gegenstände, Trennung 2-4 Jahre Angst vor Tieren, vor Dunkelheit, vor dem Alleinsein 4-6 Jahre Zunahme der Angst vor Fantasiegestalten, Monstern, Gespenstern sowie Angst vor Naturereignissen (Stürme, Blitz und Donner) 7-10 Jahre zunehmender Bezug zur Schule, Angst vor schlechten schulischen, aber auch sportlichen Leistungen, Angst vor Versagen, vor schlechten Bewertungen, Angst vor Verletzungen, Krankheit, medizinischen Eingriffen 12-18 Jahre Soziale Ängste, Angst vor negativer Bewertung, vor Ablehnung durch Gleichaltrige, Gesundheitsängste Page 3 Angst ist … abnorm wenn sie eine starke und anhaltende Beeinträchtigung für das Kind bedeutet (eigener Leidensdruck) langfristig die normale Entwicklung des Kindes verhindert (Leidensdruck der Umwelt) Probleme in der Familie oder in anderen Lebensbereichen, z.B. der Schule, auslöst („Teilhabe“) Page 4 Angst als Diagnose 10% der Kinder und Jugendlichen leiden unter einer akuten Angststörung (BELLA-Studie, 2007) Angst im Kindesalter hat eine Schrittmacherfunktion für psychische Störungen des Erwachsenenalters Die Behandlung klinisch relevanter Ängste bei Kindern und Jugendlichen dient damit auch der Prävention späterer psychischer Erkrankungen im Erwachsenenalter Die häufigsten klinisch relevanten Ängste im Kindes- und Jugendalter sind Trennungsangst, Phobien und die generalisierte Angststörung Page 5 Exkurs „psychiatrische Diagnose“ Gemäß ICD-10 Angststörungen F40 / F41 Emotionale Störungen im Kindesalter F 93 als „Extra-Kategorie“ Multiaxiale Diagnostik, VI Achsen (Diagnose, Entwicklungsaspekte, Intelligenz, körperliche Symptomatik, psychosoziale Belastungsfaktoren, psychosoziales Funktionsniveau) Page 6 Risikofaktoren „Risiko“ = die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person innerhalb eines bestimmten Zeitraums an der zu untersuchenden Krankheit erkranken wird Genetik Familiäre Häufung Geschlecht Persönlichkeitsfaktoren / Temperament Elterlicher Erziehungsstil Verzerrung der Informationsverarbeitung / kognitive Verzerrung Page 7 Risikofaktor Genetik / familiäre Häufung Familiäre Disposition: ein erhöhtes Risiko, eine Angststörung zu entwickeln, wenn Angehörige (Eltern, Geschwister) betroffen sind Genetische Vulnerabilität: Befunde aus der Zwillingsforschung weisen auf eine gemeinsame genetische Vulnerabilität für Angsterkrankungen und affektive Störungen (z.B. Depressionen) hin Kein „Angst-Gen“ – sondern: bestimmte genetische Marker erhöhen in Verbindung mit individuumsspezifischen Umwelteinflüssen das Risiko dabei scheint es v. a. von nichtgenetischen Faktoren abzuhängen, welche spezifische (Angst)störung sich ausbildet Page 8 Risikofaktor „Temperament“ Verhaltenshemmung (Behaviorale Inhibition) Als Verhaltenshemmung wird eine Temperamenteigenschaft bezeichnet, die ein zurückgezogenes, vorsichtiges, vermeidendes und schüchternes Verhalten in neuen unbekannten Situationen beschreibt (geringes Explorationsverhalten). Verhaltenshemmung kann bereits im Säuglingsalter beobachtet werden und weist eine hohe Stabilität bis in das Erwachsenenalter auf. Nach Schätzungen (Kaplan 1994) weisen ca. 10-15% der amerikanischen Kinder extrem gehemmtes Verhalten auf. Page 9 Potenzierte Schreckreaktion Studien zeigen, dass Personen mit Angststörungen einen erhöhten Schreckreflex aufzeigen Kinder von Angstpatienten weisen ebenfalls im Vergleich zu Kindern von gesunden Kontrollpersonen eine potenzierte Schreckreaktion auf, auch wenn sie keine eigene Angststörung entwickelt haben Angstsensitivität Beschreibt die Tendenz, Körpergefühle, die oft im Zusammenhang mit Angst erlebt werden, als bedrohlich zu interpretieren AS kann durch verschiedene Faktoren wie z.B. Lernerfahrungen (Umgang von Bezugspersonen mit ängstigenden Situationen) oder das Erleben eines Panikanfalls beeinflusst werden Page 10 Risikofaktor elterlicher Erziehungsstil Nach bisherige Forschungslage (retrospektive Studien korrelativer Natur) kann ein elterlicher Erziehungsstil mit hohem Ausmaß an überbehütendem bzw. kontrollierenden Verhalten sowie wenig emotionaler Wärme bzw. geringer Feinfühligkeit als Risikofaktor gewertet werden. Ganz wichtig: Keine Schuldzuweisung! Genauso wichtig: Therapie geht nur mit den Eltern! Page 11 Verzerrung in der Informationsverarbeitung Patienten mit Angststörungen neigen dazu bedrohlichen Reizen mehr Aufmerksamkeit zu widmen (Aufmerksamkeitsverschiebung, attention bias) angstrelevante Reize als bedrohlicher zu bewerten (interpretation bias) bedrohliche Reize besser zu erinnern (memory bias) Kognitive Komponenten der Angst Page 12 Kognitive Komponenten der Angst Zwei entscheidende Bewertungsprozesse: 1. Bewertung der Situation: „Diese Situation ist bedrohlich“ 2. Bewertung der eigenen Handlungsmöglichkeiten: „Ich habe keine effektiven Handlungsmöglichkeiten“ Ein erfolgreicher Umgang mit bedrohlichen Situationen wird als wenig wahrscheinlich angesehen. Ängstliche Kinder wählen daher eher Vermeidungs- und Fluchtstrategien, um sich sicher zu fühlen. Page 13 Therapieprinzipien 1. Psychoedukation – Vermittlung eines Störungsmodells 2. Selbstbeobachtung und Erstellen einer Angsthierarchie 3. Klärung des Therapieziels (das Kind bzw. der Jugendliche muss das Ziel definieren, Therapeuten und Bezugspersonen können nur unterstützen), ggf. Therapievertrag 4. Konfrontationstherapie (Vorbereitung wichtig mit genauer Auswahl der Situation und richtiger „Dosierung der Angst“) 5. Dran bleiben !!! Page 14 Wie verläuft Angst? – die Angstkurve Page 15 Wie merkt man Angst? Page 16 Wie misst man Angst? Page 17 Kognitive Umstrukturierung Gedanke Gefühl Page 18 Verhalten Dysfunktionale Gedanken Page 19 Mut-Mach-Gedanken Page 20 Beobachte dich - mach es dir klar – schreib es auf Page 21 Konfrontationstherapie Grundlage: Wenn ich der Angst Raum gebe, dehnt sie sich aus. Nach jeder „Flucht“ oder „erfolgreichen“ Vermeidungsstrategie wird die Angst größer (Sensibilisierung) Habituation: Wenn ich die Angst erfolgreich bewältige, baut sie sich ab. („Angst ist anstrengend, das macht der Körper auf Dauer nicht mit“) Therapie: 1. Gib das Vermeidungsverhalten auf und setze dich der angstauslösenden Situation immer wieder und solange aus, bis du spüren kannst, wie die Angst aus dem Körper „von alleine“ schwindet. 2. Überprüfe deine ursprünglichen Vorstellungen und Ideen (Kognitionen) und korrigiere sie. Page 22 Du bist nicht allein - Manuale Page 23 Etappenziele vereinbaren Page 24 Aktiv werden ! Page 25 Fallbeispiel 1 16/17jährige Patientin, Therapie ab Januar Emotionale Störung des Kindesalters mit sozialer Überempfindlichkeit Vordiagnostizierte Dyskalkulie Seit Sommerferien kein Schulbesuch, zuvor nur noch sporadisch Extreme Unsicherheit im Umgang mit Gleichaltrigen, ausgeprägtes Übungsdefizit aufgrund ausgeprägten Vermeidungsverhaltens Starke Selbstzweifel, verstärkt durch Erfahrungen mit der Dyskalkulie Selbstkonzept: Ist doch peinlich, … mit 16/17 nicht selber zu können, will das schaffen Formulierter Wunsch: Mutter solle weniger ängstlich sein Sehr motiviert, hat sich eigenständig Etappenziele gesetzt und diese zielstrebig verfolgt, benötigte v.a. wohlwollende Ermutigung Intensive Elternarbeit mit sehr motivierten Eltern Page 26 Fallbeispiel 2 17jährige Patientin, zunächst stationäre Aufnahme, dann teilstationär Panikattacken, „Angst vor der Angst“ Extreme Angst vor/ Vermeidung von Bus- und Autofahrten, Familie in Vermeidungsverhalten bereits extrem involviert „War schon immer so“ (Selbstkonzept einer „sehr ängstlichen Person“) Trotz intensiver Psychoedukation und sehr engmaschiger Begleitung extrem zäher Behandlungsverlauf Wenn sie „muss“, schafft sie deutlich mehr, als alle denken … Hat einen Schulabschluss, plant ein FSJ (hat sich gekümmert) Wichtiges Thema: Welchen Vorteile hast du durch deine Angst – bist du wirklich bereit, diese aufzugeben Eltern wenig präsent, Veränderungsmotivation fraglich Page 27 Fallbeispiel 3 13/14-jähriger Patient Emotionale Störung des Kindesalters mit Anpassungsstörung (schwierige Familiensituation) und sozialer Unsicherheit Therapiewunsch: „Ich möchte nicht mehr umfallen“ Seit einer Synkope (in der Schule umgefallen) kein Schulbesuch mehr, wurde krankgeschrieben, ausgeprägtes Schwindelgefühl mit dem Gedanken umzufallen mehrfach täglich (Erstkontakt „muss hier weg/ Fluchtreflex“ – dann setz dich einfach auf den Boden, um dich nicht zu verletzen)- Aufnahme in Tagesklinik sehr angstbesetzt Angsthierarchie/ Ziel?: „Ballerspiele spielen können ohne umzufallen“ – altersentsprechender Wunsch nach „Normalität“ Intensive Psychoedukation – zuletzt im Rahmen schulischer Wiedereingliederung erneute Synkope – Mist, bin doch wieder umgefallen, ist aber nichts passiert – klar gehe ich morgen wieder hin, wieso denn nicht …(Schule wurde ärztlich beraten und unterstützt) Page 28 Fallbeispiel 4 16/17- jähriger Patient, langer Behandlungsverlauf (Nov-Mai) Aufnahme wegen Impulsivität, „Ausraster“ mit Sachbeschädigungen, Regellosigkeit, geringer Belastbarkeit mit schulischem Leistungseinbruch, Cannabiskonsum mit drohender Abhängigkeitsentwicklung Vielfältige familiäre Belastungsfaktoren mit im Verlauf immer deutlicher werdender emotionaler Überforderung (musste viel „selbst regeln“) Großspurige Fassade (bin hier falsch, bin kein Kind mehr, sollte vielleicht lieber nebenan – Erw.psychiatrie – behandelt werden) Dahinter massive Ängste , insb. Versagensängste (viele gebahnte Kontakte nicht wahrgenommen – hat gedauert, bis zugrundeliegende Angst tatsächlich deutlich wurde, in Begleitung dann gut umgesetzt, hinterher stolz) Page 29 Literatur (Auswahl) Ahrens-Eipper, Leplow (2004): Mutig werden mit Til Tiger. Ein Trainingsprogramm für sozial unsichere Kinder. Göttingen: Hogrefe. Barrett, Webster, Turner (2003): Freunde für Kinder. Arbeitsbuch für Kinder. Deutsche Bearbeitung von Essau u. Conradt. München: Reinhard. Borg-Laufs (2006): Störungsübergreifendes Diagnostik-Systen (SDS-KJ). Tübingen: dgvt-Verlag. Cavelius (1997). Angst und Panikattacken überwinden: Das Selbsthilfe-Programm. Augsburg: Midena. Fegert, Eggers, Resch (Hrsg.) (2012): Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Berlin: Springer Ravens-Sieberer, Klasen, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (2007): BELLA-Studie (BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten), Modul zur psychischen Gesundheit des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts. www.child-public-health.org Schneider, Borer (2007). Nur keine Panik! Was Kids über Angst wissen sollten. 2. aktualisierte Auflage. Basel: Karger. Suhr-Dachs, Döpfner (2005): Leistungsängste, THAZ Band 1(Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen). Göttingen: Hogrefe. Tuschen-Caffier, Kühl, Bender (2009): Soziale Ängste und soziale Angststörung im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe Vogt-Hillmann, Burr (Hrsg) (1999). Kinderleichte Lösungen. Lösungsorientierte Kreative Kindertherapie. Basel by SolArgent Media AG, 5. Aufl. 2006 veröffentlicht in der Edition borgmann publishing, Dortmund Walter et al. (2007): Grundlagen der Selbstmanagementtherapie bei Jugendlichen (selbst). Göttingen: Hogrefe. . Page 30