Wiss. Mitarbeiterin Bärbel Junk Wintersemester 2008/2009 Fall 11 – Lösung Ein Abgeordneter gehört in der Regel einer politischen Partei an, und die politischen Parteien bilden im Bundestag Fraktionen. Sinn und Zweck der Fraktionen liegt unter anderem in der einheitlichen Willensbildung. Aber es besteht ein Spannungsfeld: Die einheitliche Willensbildung führt dazu, dass der einzelne Abgeordnete sich unter Umständen dem Willen der Fraktion beugen muss, obwohl er selbst eine andere Meinung vertritt. Dies kann wiederum mit seinem freien Mandat aus Art. 38 I 2 GG kollidieren, wonach der Abgeordnete nur seinem Gewissen unterliegt. • Beachte: Art. 38 I 2 GG gilt auch hier, „rechtlich“ können Mehrheitsentscheidungen der Fraktion den einzelnen Abgeordneten nicht binden. Der Abgeordnete kann rechtlich immer abweichend von der Fraktion abstimmen! Problematisch sind nur die Folgen solcherlei abweichenden Abstimmungsverhaltens und die Frage, welche Sanktionen durch die Fraktion zulässig sind! Daraus, dass schon das GG die Freiheit des Mandates nicht unbegrenzt vorsieht, sondern in Art. 21 GG Grenzen zieht, ergibt sich, dass der Konflikt „Freies Mandat“ – „Parteizugehörigkeit“ nicht einseitig gelöst werden darf. Im Laufe der Zeit haben sich daher Grundsätze für die Einwirkungsmöglichkeiten der Parteien auf den einzelnen Abgeordneten entwickelt. Diese sind Ausfluss des „demokratischen Prinzips“ des GG und sichern eine effektive und gleichmäßige Arbeit des Bundestages. Könnte der einzelne Abgeordnete stets nach eigenem Willen abstimmen, so wäre die Mehrheitsfindung im Bundestag äußerst unsicher. Das parlamentarische System wäre dann höchst instabil. Ausgangsfall Weisungen, die das Abstimmungsverhalten betreffen Nach einhelliger Auffassung sind Weisungen der Fraktion, die das Abstimmungsverhalten des Abgeordneten betreffen, zulässig. Eine effektive Arbeit des Parlaments erfordert auch die sog. Fraktionsdisziplin, d.h. die Möglichkeit Entscheidungen der Fraktion gegenüber dem einzelnen Abgeordneten anzuordnen und gegebenenfalls auch durchzusetzen. Grenzen findet diese Anordnungsbefugnis der Fraktion in Art. 38 I S. 2 GG. Die Freiheit des Mandates muss grundsätzlich unberührt bleiben. Die Fraktion kann sich eine Ordnung geben, die vorsieht, dass ein Abgeordneter verpflichtet ist in einer bestimmten Weise abzustimmen, sofern die Fraktionsmehrheit dies beschließt. Demnach kann die Fraktion den P durchaus anweisen, in einer bestimmten Weise abzustimmen. P steht es aber, und dies ist Ausfluss des Art. 38 I S. 2 GG – frei – sich daran zu halten. 1 Wiss. Mitarbeiterin Bärbel Junk Wintersemester 2008/2009 Abwandlung 1 Sanktionen bei Abweichungen von der Fraktionsdisziplin Wie bereits dargelegt, kann die Fraktion zur Durchsetzung des Fraktionszwanges Maßnahmen vorsehen, die abweichendes Verhalten des Abgeordneten sanktionieren. Dabei darf das „freie Mandat“ des Abgeordneten grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden. Im vorliegenden Fall droht P der Ausschluss aus der Fraktion, sollte er erneut abweichend abstimmen. Doch bleibt P nach Ausschluss der Fraktion weiterhin Mitglied des Bundestages, er wird an der Ausübung seines Mandates nicht gehindert. Aus Art. 38 I S. 2 GG in Verbindung mit der Geschäftsordnung des Bundestages ergibt sich jedoch, dass die Ausübung eines „freien“ Mandates auch bedeutet, dass der einzelne Abgeordnete die „effektive“ Möglichkeit haben muss, seine Meinung in den parlamentarischen Prozess einzubringen. Dies ist dem Mitglied einer Fraktion aber eher möglich als dem einzelnen Abgeordneten, da die Geschäftsordnung des Bundestages die Fraktionen vielfach privilegiert. Beispiele: • § 42 GOBT – Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung auf Antrag einer Fraktion. • § 57 II S. 1 GOBT – Die Fraktionen benennen die Mitglieder der Ausschüsse. • § 76 GOBT – Vorlagen von Mitgliedern des Bundestag müssen von einer Fraktion unterzeichnet sein. Der Ausschluss aus einer Fraktion ist die „ultima ratio“ der möglichen Sanktionsmaßnahmen und nur unter engen Voraussetzungen möglich. So wäre es unzulässig, den Abgeordneten schon wegen geringfügiger Abweichungen von der Fraktionsdisziplin aus der Fraktion auszuschließen (Bsp.: Abgeordneter P hat die Angewohnheit, regelmäßig 2 Minuten zu spät zu Fraktionssitzungen zu erscheinen). In bestimmten Fragen des Gesetzgebungsverfahrens, insbesondere bei „Gewissensentscheidungen“ sind Weisungen generell unzulässig. (Bsp.: Diskussion um § 218 StGB, Abtreibung). Abwandlung 2 Grenzen von Sanktionsmaßnahmen Die Grenze von Sanktionsmaßnahmen bildet Art. 38 I S. 2 GG. Das heißt: Sanktionen sind zulässig, sofern sie den Rahmen des Art. 38 I S. 2 GG „Freies Mandat“ nicht beschränken, daher: (1) Der Abgeordnete ist Vertreter des gesamten Volkes und vom Volk gewählt. Die Legitimation seines Mandates rührt daher nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fraktion her, sondern aus dem Votum der Wähler. Ein Zwang zur Aufgabe des Bundestagsmandates durch die eigene Fraktion ist daher unzulässig. Damit würde der Status des Abgeordneten 2 Wiss. Mitarbeiterin Bärbel Junk Wintersemester 2008/2009 nach Art. 38 I S. 2 GG gerade aufgehoben. Zulässig ist es aber, wenn der Abgeordnete durch seine Fraktion zum Verzicht aufgefordert ist. Diese Aufforderung ist allerdings wiederum für den Abgeordneten rechtlich nicht bindend. (2) Auch massive finanzielle Sanktionen durch die Fraktion sind unzulässig. Dadurch werden die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Abgeordneten beschränkt. Verfügt der Abgeordnete aber nicht mehr über die notwendigen wirtschaftlichen Mittel, kann er sein freies Mandat nicht mehr ausüben. Freiheit des Mandats heißt auch „wirtschaftliche Unabhängigkeit“ des Abgeordneten. Gleiches gilt für die Abtretung von Bezügen. Soweit die finanzielle Ausstattung des Abgeordneten massiv tangiert wird, werden dessen wirtschaftliche Möglichkeiten zur Ausübung des „freien“ Mandates beschränkt. Daher ist auch eine Regelung, die Strafzahlungen in einer Höhe vorsieht, die die Tätigkeit des Abgeordneten behindern könnten, unzulässig. 3