III Handbuch Friedenserziehung interreligiös – interkulturell – interkonfessionell Hrsg. von Werner Haußmann, Hansjörg Biener, Klaus Hock und Reinhold Mokrosch Gütersloher Verlagshaus IV Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 1. Auflage Copyright © 2006 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Init GmbH, Bielefeld Satz: Katja Rediske, Landesbergen Druck und Einband: Těšínská Tiskárna AG, Český Těšín Printed in Czech Republic ISBN-13: 978-3-579-05578-7 ISBN-10: 3-579-05578-X www.gtvh.de II Für Johannes Lähnemann dem die Erziehung zum Frieden zwischen den Religionen stetes Anliegen war und ist im eigenen Leben und Glauben in Forschung und Lehre in Dialog und Begegnung Handbuch Friedenserziehung: Inhaltsverzeichnis V Inhaltsverzeichnis Geleitwort Hans Küng ....................................................................................................... 1 Einleitung: Einführung in das Handbuch Werner Haußmann, Hansjörg Biener, Klaus Hock und Reinhold Mokrosch ..... 4 Themenbereich 1: Allgemeine Grundlagen von und für Friedenserziehung. Indikatoren von Frieden und Unfrieden und die Bedrohung friedlichen Zusammenlebens Einleitung Reinhold Mokrosch .......................................................................................... 8 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.1.7 1.1.8 1.2 1.2.1 1.2.2 Allgemein Ansätze einer Friedenserziehung in der europäischen Geschichte Karl Ernst Nipkow ............................................................................................ Klassische Aggressions-, Gewalt- und Friedenstheorien – im Spiegel friedenspädagogischer Grundfragen Friedrich Schweitzer ......................................................................................... Friedenserziehung aus pädagogischer Sicht Eckart Liebau ................................................................................................... Friedenserziehung aus psychologischer Sicht K. Helmut Reich ............................................................................................... Friedenserziehung aus (religions-)soziologischer Sicht Rolf Schieder..................................................................................................... Friedenserziehung in philosophischen Theorien Arnim Regenbogen ........................................................................................... Ansätze einer »Praktischen Religionswissenschaft« für Friedenserziehung Udo Tworuschka .............................................................................................. Friedenserziehung aus Sicht naturwissenschaftlicher Anthropologie Annette Scheunpflug/Ingrid Kaiser .................................................................. 9 17 21 28 33 39 45 51 Indikatoren von Unfrieden und Bedrohung friedlichen Zusammenlebens im Zeitalter von Globalisierung und Pluralismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Ursachen und/oder Folgen und die Rolle der Religion(sgemeinschaft)en Religionsgeschichte – eine »Schuld«-Geschichte? Hansjörg Biener ............................................................................................... 56 Fundamentalismus und Fanatismus Peter Antes ........................................................................................................ 62 VI 1.2.3 1.2.4 1.2.5 Handbuch Friedenserziehung: Inhaltsverzeichnis Weltfriede und »Clash of Civilisations« Matthias Riedl ................................................................................................ 66 Religion and terrorism Gordon Mitchell ............................................................................................. 72 Ausbeutung der Umwelt Udo Krolzik .................................................................................................... 78 Themenbereich 2: Theologische und religionswissenschaftliche Grundlagen religiöser Friedenserziehung Einleitung Klaus Hock ..................................................................................................... 83 2.1 2.1.1.1 2.1.1.2 2.1.1.3 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.3.1 2.1.3.2 2.1.3.3 2.1.3.4 2.1.3.5 2.1.4.1 2.1.4.2 2.1.5.1 2.1.5.2 Das Verständnis von Frieden, Unfrieden/Gewalt und Friedenserziehung in den Religionen (im Hinblick auf Erziehung) Das Ethos der Bhagavadgita – konfliktfördernd oder konfliktlösend? Chandrabhal Tripathi .................................................................................... Gewaltlosigkeit als buddhistisches Lernziel Alfred Weil ...................................................................................................... Frieden in Zeugnissen fernöstlicher Religiosität Michael von Brück ......................................................................................... Krieg und Frieden aus den Quellen des Judentums Eveline Goodman-Thau ................................................................................. Peace in Thora and Talmud – Educational Perspectives Jonathan Magonet .......................................................................................... Frieden in der Bibel Klaus Wegenast .............................................................................................. Friedensbildung aus evangelischer Sicht Reinhold Mokrosch ........................................................................................ Friedensbildung aus katholischer Sicht Matthias Bahr ................................................................................................ Friedensbildung aus orthodoxer Sicht Metropolit Joantà Serafim/Georg Tsakalidis .................................................. Friedensbildung aus Sicht historischer Friedenskirchen Fernando Enns/Stephan von Twardowski ...................................................... Frieden im Koran Cemal Tosun/Beyza Bilgin ............................................................................. Friedensbildung aus islamischer Sicht Wolf D. Ahmed Aries ...................................................................................... Friedensbildung aus Sicht der Bahá’í Ulrich Gollmer ............................................................................................... Die Friedensproblematik im Kontext indigener Religionen Anton Quack .................................................................................................. 84 90 97 102 109 114 119 125 130 136 140 147 153 159 Handbuch Friedenserziehung: Inhaltsverzeichnis VII 2.1.5.3 Friedensbildung und neue religiöse Bewegungen Heinz Streib ................................................................................................... 164 2.1.5.4 Religion and Peace Education in the Perspective of the Religions Non-Believer Brian Gates .................................................................................................... 168 2.1.5.5 Frieden und religiöse Menschen »jenseits« religiöser Traditionen Martin Engelbrecht ........................................................................................ 173 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 Ethische Bezugsfelder religiöser Friedenserziehung Ethische Urteilsbildung Karin Ulrich-Eschemann/Hans G. Ulrich ..................................................... Religiöse Rechts- und Moralsysteme Klaus Hock ..................................................................................................... Menschenrechte Claudia Lohrenscheit ..................................................................................... Projekt Weltethos Günther Gebhardt .......................................................................................... Vorbilder Hans Mendl ................................................................................................... 176 181 187 193 198 Themenbereich 3: Handlungsfelder religiöser Friedenserziehung und Praxisbeispiele Einleitung Hansjörg Biener/Werner Haußmann ............................................................ 204 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8 Handlungstheorie Grundformen religiöser Sozialisation und Friedenserziehung Günter R. Schmidt ......................................................................................... Methoden des Friedenstiftens und der Friedenserziehung Reinhold Mokrosch ........................................................................................ Konzeptionen und Grundformen religiöser Friedenserziehung Stephan Leimgruber ....................................................................................... »Spielerische« Friedenserziehung – Hermeneutische Aspekte Heiner Aldebert .............................................................................................. Ein Kommentar aus jüdischer Sicht Marcus Schroll ................................................................................................ Kulturbewusste Friedenserziehung Thorsten Knauth ............................................................................................ Schul-»Kultur« und Friedenserziehung – islamische Perspektiven Harry Harun Behr ......................................................................................... Integration als Friedensprozess Klaus Lefringhausen ...................................................................................... Zum Verständnis von Gewalt Günther Gugel ................................................................................................ 205 210 216 222 228 229 236 242 247 VIII 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.2.9 3.2.10 3.2.11 3.2.12 3.2.13 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 Handbuch Friedenserziehung: Inhaltsverzeichnis Handlungsfelder und religionspädagogische Implikationen Kinder und Gewalt Gottfried Orth ................................................................................................ Jugendliche und Gewalt Heiner Barz/Sylva Panyr ................................................................................ Geschlecht und Gewalt Annegret Reese ............................................................................................... Behinderung und Gewalt Gottfried Adam .............................................................................................. Öffentliche Medien und Gewalt Johanna Haberer ............................................................................................ Staat und Gewalt Hans Grewel ................................................................................................... Gewalt in der Schule Godwin Lämmermann .................................................................................. Erziehung und religiös motivierte/legitimierte Gewalt Norbert Mette ................................................................................................. Fremdenfeindlichkeit und ethnisch begründete Gewalt Martin Rothgangel ......................................................................................... Krieg als religiös gerechtfertigte Gewalt Franz Brendle/Werner Haußmann ................................................................ Soziale Ungerechtigkeit und religiös motivierte/legitimierte Gewalt Folkert Rickers ................................................................................................ Umweltzerstörung und Gewalt gegen Lebensgrundlagen Werner H. Ritter/Michaela Albrecht .............................................................. Can the Religious Fanatic be Educated? John M. Hull .................................................................................................. Beispiele guter Praxis Familie und religiöse Sozialisation Rainer Lachmann .......................................................................................... Friedenserziehung in Kindertagesstätten Susanna Straß/Frieder Harz .......................................................................... Islamische und christliche Perspektiven für Friedenserziehung in der Schule Rabeya Müller/Reinhold Mokrosch ............................................................... Friedenserziehung im christlichen Religionsunterricht Karin Verscht-Biener/Hansjörg Biener .......................................................... Shoah-Education in Unterricht und Erziehung Horst F. Rupp ................................................................................................. Wahrnehmungsorientierte Schulentwicklung als Beitrag zur Friedensbildung Klaus Wild ...................................................................................................... 255 261 269 275 281 286 291 297 302 308 313 319 326 332 338 343 352 356 361 Handbuch Friedenserziehung: Inhaltsverzeichnis 3.3.7 3.3.8 3.3.9 3.3.10 3.3.11 3.3.12 3.3.13 3.3.14 3.3.15 3.3.16 3.3.17 Frieden-Lernen in der Gemeinde Martin Bröcking-Bortfeldt ............................................................................. Erwachsenenbildung und Friedenserziehung Jörg Knoll/Jördis Matjeka ............................................................................... Diakonisches Handeln und Friedenserziehung Helmut Hanisch ............................................................................................. Abrahamische Foren und Islamforen Jürgen Micksch ............................................................................................... Friedensbildung durch weltweite Ökumene Wolfram Weiße/Ulrich Becker........................................................................ Friedensarbeit im internationalen Kontext Norbert Klaes/Johannes Rehm ....................................................................... Friedenserziehung in Minderheitensituationen Frank van der Velden ..................................................................................... Internet und E-Learning: Chancen der Virtualität in der Friedenspädagogik Andreas Mertin .............................................................................................. Bildende Kunst und Friedenserziehung Jochen Krautz ................................................................................................. Musik und Friedenserziehung Peter Bubmann .............................................................................................. Literatur und Friedenserziehung Georg Langenhorst ......................................................................................... Anhang Autorenverzeichnis........................................................................................ Gesamtliteraturverzeichnis ........................................................................... Internet-Links ............................................................................................... Schlagwortregister ......................................................................................... IX 366 370 375 381 387 394 399 404 409 418 423 430 435 462 465 236 Handbuch Friedenserziehung: Religiöse FE – Handlungstheorie 3.1.6 Schul-»Kultur« und Friedenserziehung – islamische Perspektiven Harry Harun Behr »Kultur« im Schulleben »Alle machen mit – auch und ganz besonders die Muslime! Es handelt sich schließlich um eine schulische Veranstaltung. Bitte dito auf Elternproteste zu antworten.« Mit dieser Weisung zur bevorstehenden Weihnachtsfeier wollte die Leitung einer Grundschule im Münchner Hasenbergl, einem sozialen Brennpunkt im Norden der Großstadt, ihre Lehrerinnen und Lehrer in den Unterricht entlassen. Doch es kam zu einer kurzen Diskussion im Lehrerzimmer. Fazit: Hier gehe es um die Kultur. Ja, es gehe um den Kampf zwischen den Kulturen. Die Schule habe die Möglichkeit und somit die Pflicht, die christlich-abendländische Kultur zu verteidigen – Religionsfreiheit hin oder her. Die Weihnachtsfeier sei in diesem Sinne obligatorischer Teil der Schulkultur. Ende der Diskussion. Wie lassen sich die somit implizierten, hier alltagssprachlich verwendeten Begriffe von islamischer vs. nicht-islamischer Kultur integrieren? Für die islamische Theologie wird hier zum Problem, dass die Kultur des Islam seine Kulturen sind. Trotz des Ratschlags von Abdoljavad Falaturi, sich mittels kulturgeographischer Kriterien diesem Begriffsfeld differenzierend zuzuwenden (FALATURI 1990), fallen in derlei Diskursen um islamische Kultur religiöse und nicht-religiöse Bezüge nach wie vor unreflektiert ineinander. Stereotype wie europäische, christliche oder abendländische Kultur scheinen ebenso wie islamische Kultur zu sehr ins Arsenal politischer Kampfbegriffe zu gehören, als dass sie für eine theologische, rechtliche oder pädagogische Erschließung des Kulturbegriffs geeignet wären. Für die islamische Theologie geht es hier aber nicht um Gepflogenheiten, sondern um in moralisch-ethischer Hinsicht für den schulischen Umgang handhabbare Kategorien, insbesondere wo im sog. Schulleben Grundrechte tangiert werden. Dass Kultur auch als Begriff der Rechtssphäre eine Rolle spielt, zeigt die Debatte um die so genannten Koranschulen, die gleichzeitig einen Bezug auf den Islam und den Kulturbegriff aufweist: »Die Koranschulen der örtlichen Moscheegemeinden sorgen in allen Bundesländern für die religiöse Unterweisung der muslimischen Kinder […] Sie leben abgeschottet für sich in einer Art religiöser Subkultur.« (HECKEL 1999, 742) »Andererseits ist der Religionsunterricht eine staatliche Kulturaufgabe, damit – eben durch die Entfaltung der persönlichen Freiheit – zugleich die religiös geprägte Kultur der Gesellschaft gefördert, d.h. traditionsbewusst und zukunftsoffen in pluralistischer Vielfalt weitergetragen werden kann« (a. a. O., 746). »Die Kulturbedeutung des Religionsunterrichts ist bisher nur in seiner christlichen Ausgestaltung aktuell gewesen […] Ein muslimischer Religionsunterricht hingegen wird für die Breite der deutschen Bevölkerung keine damit vergleichbare kulturelle Relevanz erlangen können.« (a. a.O., 747) Behr: Schul-»Kultur« und FE – islamische Perspektiven 237 Es geht also um Kultur in zweierlei Hinsicht: als Kultur des Rechts und als Kulturbezogenheit des Rechts. Begriffe wie Subkultur verweisen demgemäß auf ein Phänomen, das sich entweder auf Grund seines Mangels an Struktur der besonderen rechtlichen Fassbarkeit entzieht, oder auch, nach Ausgleich dieses Mangels, in einer ihm eigenen Sphäre beharrt – und das Recht v.a. dann vor neue Herausforderungen stellt, wenn diese Sphäre in strukturell etablierte gesellschaftliche Teilsysteme wie z. B. in die öffentliche Schule hinein expandiert. Religionsunterricht als Teil der Schulkultur »Gäbe es einen islamischen Religionsunterricht, hätten wir kein Problem mit der Weihnachtsfeier. Aber ständig verlangt man von uns Anpassung, ohne dass man unseren Kindern das gibt was ihnen zusteht.« So eine der Eltern-Repliken auf den WeihnachtsErlass besagter Schulleitung. Gemeint war hier ein Unterricht nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dieser Ruf zieht gewöhnlich die Forderung nach formal-rechtlichem Zusammenschluss der Muslime zu einer Religionsgemeinschaft nach sich. Das muss in diesem Zusammenhang auch als Anliegen des Staates gelesen werden, Kultur sphärisch – d. h. in Abgrenzbarkeit von Nicht-Dazugehörigem beziehungsweise in Verortbarkeit von Dazugehörigem – zu beschreiben. Das indes hat Auswirkung auf die theologische Selbstpositionierung von zugewanderten Muslimen in Deutschland: Die (noch oder vormals) heimatlichen national-islamischen Kulturen, die auch auf deutschem Boden in Form unterschiedlicher vereinsrechtlicher Zusammenschlüsse miteinander konkurrieren, werden ihr Profil zu Gunsten sowohl theologisch objektivierbarer als auch rechtsbegrifflich erfassbarer Kultur verändern müssen. Gelingt ihnen das nicht, wird »die Konkurrenz muslimischer Religionsgesellschaften […] für den Kulturstaat [zum] Problem« (HECKEL 1999, 754). Grundsätzlich aber ist islamischer Religionsunterricht (vgl. 3.3.3) ebenso wie jeder andere Religionsunterricht aus dieser rechtlichen Perspektive weniger ein Unterricht in bestimmter Kultur, sondern zuerst einfach nur Ausdruck einer tradierten und rechtlich bestimmten Kultur von Unterricht, die mit einer bestimmten Kultur des Rechts konform geht: »Der Religionsunterricht ist ein säkulares Institut im säkularen Staat. Aber er dient in der vorurteilsfreien Weite seines Kulturbegriffs zum einen der Verwirklichung der Religionsfreiheit und zum anderen der freien Aneignung der kulturellen, sittlichen und sozialen Wirkungen und Werte […] Staatlicher Unterricht in Religion soll […] die Kinder […] dazu befähigen, ihren Glauben zu leben: Und das heißt, in den Bindungen ihres Glaubens die religiöse Freiheit zu finden, die – wie sie es selbst verstehen – aus der Verkündigung der göttlichen Botschaft zum Heil führen soll. Das gilt […] auch für Muslime.« (a.a. O., 757f.) Von daher ist eine Schulkultur quasi unter Kulturvorbehalt ausgeschlossen. 238 Handbuch Friedenserziehung: Religiöse FE – Handlungstheorie Kultur(en) als Vokabel in den Schriftgrundlagen des Islam Der Kulturbegriff lässt sich an die Schriftgrundlagen des Islam anlehnen und mit einer Reihe von koranarabischen Begriffen in Verbindung bringen – hier nur einige der wichtigsten mit Übersetzungsvariationen, auch wenn es noch andere Begriffe gibt, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden könnten, beispielsweise adâb (= Kultur, Finesse, Benehmen, Menschlichkeit) oder der Begriff der sunna, der seiner ursprünglichen Wortbedeutung her dazugezählt werden müsste, aber sekundär (theologisch) mit Gepflogenheiten Muhammads belegt ist und von daher sein integratives Potenzial in systematischer, nicht aber in inhaltlicher Hinsicht verloren hat. c âda(tun) = Gepflogenheit, Praxis, Usus, Regel… macrûf = was gut bekannt und akzeptiert ist, Konventionen, aber auch Nutzen, Erfolg – das Stammverb carifa bedeutet wissen, kennen. Zum Begriff câda(tun) Der Begriff câda(tun) trägt die Konnotation rechtlich bindend und bezeichnet in seinem Plural auch Steuern. Als adat gilt in islamischen Kulturräumen, die auf eine Tradition als islamisches Rechtsterritorium verweisen können, diejenige Sphäre von rechtlichen Regelungen, die aus ihrer Zeit vor der Ankunft des Islam stammen und weiterhin Gültigkeit haben. Ihre Gültigkeit endet theoretisch dort, wo sie einer rechtlichen Bestimmung des Islam widersprechen – parallel zum allgemein anerkannten Grundsatz des islamischen Rechts, wonach erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist. Die Begegnung zwischen unterschiedlichen kulturellen Gepflogenheiten in islamischen Kulturräumen kann heute noch zu erheblichen Reibungen führen. Aber auch wenn sich diese innerhalb eines religiösen Bezugsrahmens artikulieren, bedeutet das nicht, dass die Religion alleinige oder maßgebliche Ursache für sie ist. Sie tritt vielmehr als kulturelles Agens zu den Szenarien hinzu. Für einen islamischen Religionsunterricht (IRU) im Rahmen schulischer Kultur bedeutet dies: Er sollte ebenso auf die Theologie wie auf Kultur(en) bezogen erteilt werden. Es wäre ein struktureller Fehler seines Fachprofils, würden die möglichen kulturellen Diversifikationen der muslimischen Schülerschaft einerseits und die Umgebungskulturen der Mehrheitsgesellschaft andererseits nur entlang eines theologischen Bezugshorizonts thematisiert. Zur unterrichtlichen Aufarbeitung von vordergründig religiös bestimmbaren Themen wie Bekleidungsvorschriften oder festlichen Riten gehört ihre vielfach unterschiedliche Handhabung innerhalb einer kulturell inhomogenen muslimischen Schülerschaft. Hier könnte mit Blick auf Fragen der Integration ein besonderer Vorzug eines gemeinsamen IRU für alle muslimischen Kinder in der deutschen Schule liegen. Der didaktische Nutzen liegt in der paritätischen Vielfalt und in der Chance, den persönlichen Bezugsrahmen der einzelnen Schüler zu den einzelnen Varitäten des gelebten Islam zu erhellen – und gelten zu lassen nach dem Motto Einheit der Vielfalt. Oder: »›Einheit und Vielfalt‹ im Islam ist keine These, sondern eine Realität.« (TIBI 2001b, 91) Dies kann ein Bezugsrahmen sein, der stark von elterlichen Herkunftskulturen her geprägt ist, aber auch in zunehmendem Maß (und mit zunehmendem Alter) von persön- Behr: Schul-»Kultur« und FE – islamische Perspektiven 239 lichen, bewusst vollzogenen Entscheidungen darüber, wer man sein und wie man leben möchte. Fragen der Kultur im Sinne von câda(tun) sind kein Randaspekt irgendeines Zugeständnisses an muslimische Schüler unterschiedlicher Herkunft, sondern sowohl didaktisch wertvolles Kapital als auch theologisch gerechtfertigt. Zum Begriff macrûf Als ein Beispiel für macrûf gilt das Abkommen von cAqaba, das Muhammad mit Emissären aus der Stadt Yathrib (dem späteren Madina) schloss, um die so genannte hijra (Auswanderung) vorzubereiten. Es ging dabei um die allgemein als gut und sittlich anerkannten Verhaltensweisen (vgl. Koran Sure 31:15), insbesondere Gott nichts zur Seite zu stellen, nicht zu töten, nicht Unzucht zu treiben, neugeborene Kinder (v. a. Mädchen) nicht zu töten, den Nachbarn nicht zu verleumden und Muhammad in allem, was rechtens (macrûf) ist, Folge zu leisten. Der Islam lehrt, solch ethisches Weltwissen in das religiöse Sonderwissen zu integrieren, es auszubauen und entsprechend zu handeln. Gemeint sind Dinge wie der Schutz des Lebens, die Achtung von Besitz und Ehre des anderen, Wahrheitsliebe oder der Verzicht auf Gewaltanwendung. Das Abkommen von cAqaba wird von muslimischen Religionsgelehrten, aber auch von Völker- und Staatsrechtlern als ein Dokument gegenseitigen Einvernehmens auf der Grundlage einer vertragsähnlichen Verpflichtung gelesen. Somit ist über die sozialethische Dimension des Begriffs macrûf auch eine theologische Zuordnung des Muslim als Bürger der Bundesrepublik Deutschland möglich. Auf dieser Grundlage sind Verfassungstreue und Zugehörigkeit zum Islam nicht nur nebeneinander herlaufende Bezugsnormen, die nach Belieben gegeneinander aufgewogen werden können: Muslime leben in Deutschland in einer nicht-islamischen Rechtstradition und in einem nicht-islamischen Rechtsterritorium. Diesen Status bezeichnen muslimische Gelehrte als musta’min – einer, der sich in der Sicherheit anderer befindet, und sie weisen dabei auf den universellen Charakter dieses Rechtsstatus hin. In der Rechtsphilosophie des Islam gilt die Einteilung der Welt in das (islamische) Gebiet des Friedens (dârul-islâm) und das außerhalb dessen liegende Gebiet des Kriegs (dârul-harb) schon länger als eine anachronistische Grenzziehung. Trotzdem wird sie auch heute noch in den Diskurs eingebracht oder dient anderen der Beschwörung eines vermeintlichen Kampfes der Kulturen. Sie lässt sich – wenn überhaupt – nicht mehr auf Territorien beziehen, sondern bestenfalls abstrahiert und als theologisch-qualitatives Kriterium auf Handlungsfelder, in denen sich Muslime geborgen, und andere, in denen sie sich herausgefordert oder gar bedroht fühlen. Für das auf Integration bezogene Aufgabenprofil eines IRU wie auch schulischer Kultur indes muss jede Polarisierung dieser Art in Frage gestellt werden. Das frühe islamische Recht verlangt für eine Verhältnisbestimmung dieser beiden Gebiete vertragliche Regelungen. Unabhängig davon aber, ob Muslime bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme oder die Gesellschaft insgesamt als dârul-harb bezeichnen wollen oder umgekehrt die Gesellschaft ihre muslimischen Minderheiten als Parallelgesellschaft, deren Entfaltung besondere Regelungen erfordert, muss über Wege nachgedacht werden, Kompetenzbereiche auszuhandeln und vertraglich zu fixieren. Also ein neues Abkommen von cAqaba für den Islam in Deutschland und für Muslime in der öffentlichen Schule? 240 Handbuch Friedenserziehung: Religiöse FE – Handlungstheorie Frieden zwischen den Kulturen auf der Basis vertraglicher Regelungen und von Achtsamkeit Weder cAqaba noch andere Programmatiken aus der Geschichte des Islam lassen sich in ihrer Reinform ins 21. Jahrhundert übertragen, aber es gibt Parallelen: Die gegenwärtige Debatte um Muslime in der bundesdeutschen Gesellschaft im Allgemeinen und um den Islam in der Schule im Besonderen verlangt eine konkrete und operationalisierbare Verständigung über verbindliche Standards moralischer und ethischer Art für alle Beteiligten. Die alleinige Berufung auf diese Standards reicht aus islamisch-theologischer Sicht nicht aus; es bedarf vertragsähnlicher Sicherungen – um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und um mögliche Konfliktfälle zu regeln. Für die Schule stellen Lehrpläne solche vertragsähnlichen Regelungen dar. Dabei geht es um die sittliche Qualität der pädagogischen Zielsetzungen. Etwas altertümlich, aber provokativ kann man Tugenden dem viel bemühten Kompetenzbegriff gegenüberstellen. Islamisch-theologisch präzisiert: Mit koran-arabischen Begriffen wie hay’a(tun) (normal gehauchtes Anlaut-h; gute Form, Erscheinung), hayâ’ (Kehlkopf-h; Zurückhaltung, Bescheidenheit, Scham) oder ihyâ’ (der selbe Wortstamm; Pflege, Kultivierung, Belebung) sowie synonym dafür gebrauchten Begriffen wie ‘adâb (Pl., gute Sitten) oder ‘akhlâq (guter Charakter) lässt sich in etwa aufzeigen, welche Aussagen Koran und Sunna zum Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Natur einerseits sowie Tugenden andererseits trifft (vgl. dazu auch im Koran Sure 25:63ff). Mit Blick auf diese und andere, ähnlich lautende Textpassagen habe ich mich für Achtsamkeit als positiven Gegenbegriff zum koran-arabischen ghafla (Unachtsamkeit; vgl. im Koran Sure 2:74) entschieden. Hier sei an den Begriff der Achtung in der Kant’schen Ethik erinnert. Über das bloße Kriterium der sensorischen Aufmerksamkeit und Wachheit (in diesem Sinne gehört Achtsamkeit auch zu den Faktoren religiöser Intelligenz) hinaus geht es um Wertschätzung und Billigung, um eine Anerkennung des inneren Werts, die sich am praktischen Handeln messen lassen muss. Achtsamkeit als Kernbegriff islamischer Kultur Im Kontext einer Kultur schulischen Zusammenlebens wäre es ratsam, dieses Begriffsfeld sowohl philosophisch als auch islamisch-theologisch aufzuarbeiten. Es geht hier nicht um einen abstrakten Mitmenschen, sondern um das lebendige Du gegenüber dem lebendigen Ich. Zielkompetenz soll die des vorsichtigen und abwartenden In-ErwägungZiehens sein, ob nicht auch hinter dem vordergründig Minderwertigen, dem NichtDazugehörigen oder dem scheinbar Nicht-Relevanten eine Lehre, ein Sinn, ein Nutzen oder gar eine Inpflichtnahme stehen. Achtung ließe sich für die islamische Religionspädagogik wie auch für eine pädagogisch verantwortungsvolle Pflege der Schulkultur vielleicht als subjektives Handlungsmotiv bezeichnen, hinter dem Achtsamkeit als Fähigkeit (wahrnehmen können) und als Haltung (wahrnehmen wollen) stehen muss (vgl. zur Bedeutung der Philosophie Kants für isla- Behr: Schul-»Kultur« und FE – islamische Perspektiven 241 misch-theologisches Denken auch die entsprechenden Veröffentlichungen Abdoljavad Falaturis). Hier ist eine erzieherische Dimension betroffen, die alle sozial-kommunikativen Prozesse berührt, auf welche das übergeordnete Ziel einer gelungenen Integration aufbaut. Somit wäre eine erste, vorläufige Annäherung an einen islamisch-religionspädagogisch begründbaren Kulturbegriff möglich. Dieser Schritt ist aus zwei Gründen notwendig: einerseits um islamischen Religionsunterricht theologisch gesichert in einen Kulturbezug zu stellen, andererseits um die Lehrerschaft für den Umgang mit Muslimen zu sensibilisieren. Kultur, verstanden als Hort konsensualer Gepflogenheiten, beruht auf nicht mehr bewussten, da überlieferten und durch persönlichen Lebensbezug internalisierten Werteund Ordnungssystemen. Sie kann sich der kognitiven Erfassung entziehen. Das betrifft auch die in ethischer Hinsicht kritischen Elemente von Kultur, die eventuell einer Neubewertung und damit der kognitiven Rekapitulation bedürfen; diese kann nur dadurch geleistet werden, dass Handlungsweisen, die als Kultur identifiziert werden, nach ihren Motiven und Wirkungen befragt werden. Dazu müssen sie wieder aktiv wahrgenommen und ins denkende Bewusstsein zurückgeholt werden (Achtsamkeit). Die Güte der Achtsamkeit liegt nicht in ihrer objektiv beschreibbaren Sittlichkeit oder Tugendhaftigkeit begründet, sondern im Grad der Willentlichkeit, Zielgerichtetheit und Bewusstheit als theologisch maßgebliche spirituelle Wertkriterien achtsamen Handelns (Achtung). Interkulturelles Lernen, das heute auch mit Blick auf den Islam in Deutschland nicht selten synonym genannt wird mit interreligiösem Lernen, beruht weder auf der Wahrnehmung und Beschreibung von kulturellen oder theologischen Beständen noch allein auf den Imperativen der Achtung, sondern auf den Kommunikationsprozessen, die die hier beschriebene Form von Bewusstmachung ermöglichen. Dabei geht es weniger um die Wahrnehmung des Fremden von der eigenen Warte aus, sondern um die Revision des jeweils Eigenen zufolge veränderter Perspektiven. Für die Didaktik des Schullebens bedeutet das die Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit und der Befähigung, veränderte Standpunkte einnehmen zu können. Zur Vertiefung FALATURI, A. (1990 Hg.): Der islamische Orient, Köln. HECKEL, M. (1999): Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte zu einem Religionsunterricht für muslimische Schülerinnen und Schüler, in: Theologische Beiträge 30, 277-285. TIBI, B. (2001): Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, Stuttgart-München.