Zahlen aus mathematischer und mathematikdidaktischer Sicht 1

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Pädagogische Hochschule Ludwigsburg – Institut für Mathematik und Informatik
Sonderpädagogische Aspekte des Erstrechnens (Mohr)
Wintersemester 2004/05: Mo, 15.45–17.15 Uhr, L 301
Zahlen aus mathematischer und mathematikdidaktischer Sicht
1. Die natürlichen Zahlen als Fundament des Zahlsystems
Im Moment des Erlernens der Zahlen und des Zählens befindet sich ein Kind in einem völlig
naiven Zustand der Erfahrung, den man sich gar nicht klar genug vor Augen führen kann. Es
gibt noch keinerlei Zahlbeziehungen und schon gar kein Begriff von irgendeiner
Rechenoperation. Es lohnt sich, hierzu einen Blick auf das diesbezügliche Produkt der
mathematischen Wissenschaft zu werfen, das formal genau diesen Zustand der Erfahrung zu
fassen versucht. Es handelt sich dabei um das Axiomensystem der natürlichen Zahlen, das auf
Guiseppe PEANO (1858–1932) zurückgeht. Die Menge N = {1, 2, 3, 4, 5, ...} (Menge der
natürlichen Zahlen)1 wird hierin mit folgenden Axiomen (PEANO-Axiome) beschrieben:
1. 1 ist eine natürliche Zahl.
2. Jeder natürlichen Zahl n ist eine – und nur eine – natürliche Zahl n’ zugeordnet, die der Nachfolger
von n genannt wird.
3. 1 ist kein Nachfolger.
4. Sind die natürlichen Zahlen n, m verschieden, so sind auch ihre Nachfolger n’, m’ verschieden
(kurz: n ∫ m fl n’ ∫ m’).
5. Enthält eine Menge M natürlicher Zahlen die Zahl 1 und folgt aus n e M stets n’ e M, so besteht M
aus allen natürlichen Zahlen (d.h., es ist M = N).
Jede unstrukturierte Menge, der die hier vorgeschriebene Struktur einer injektiven
Nachfolger-Funktion aufgeprägt wird, ist identisch mit der Menge der natürlichen Zahlen.
Dies ist genau das, was ein Kind mit der Menge der a priori unstrukturierten Zahlwörter
machen muss. Es ist dies der erste Schritt der Strukturierung des Zahlenraums, dem weitere
Schritte folgen.
2. Das Erlernen des Zählens
2.1 Ebenen beim Zählenlernen
Man kann bei den allermeisten Kindern folgende sukzessive erreichte Ebenen des
Zählenlernens beschreiben:
1. Zahlwortreihe als Ganzes (string level)
2. Zahlwortreihe mit Unterscheiden der Zahlwörter (unbreakable chain level)
3. Weiterzählen können ohne Mitzählen (breakable chain level)
4. Weiterzählen können mit Mitzählen (numerable chain level)
5. Flexibler Umgang, vor- und rückwärts zählen (bidirectional chain level)
Das eigentliche Zählen, also die eineindeutige Zuordnung zwischen zu zählendem Objekt und
Zahlwort beginnt dabei erst auf Ebene 4. Vorher werden lediglich Wörter gelernt.
1
Bei dieser Festlegung wird N0 = {0, 1, 2, 3, 4, ...} als Menge der natürlichen Zahlen mit Null definiert. Eine
andere Konvention setzt N = {0, 1, 2, 3, 4, ...}, Menge der natürlichen Zahlen, sowie N* = {1, 2, 3, 4, 5, ...},
Menge der natürlichen Zahlen ohne Null.
2.2 Zählprinzipien
1. Eindeutigkeitsprinzip: Jedes zu zählende Objekt wird mit genau einem Zahlwort belegt.
2. Prinzip der stabilen Ordnung: Die Zahlwörter folgen in einer festgelegten Ordnung
aufeinander.
3. Kardinalzahlprinzip: Das letzte genannte Zahlwort ist die Anzahl der zu zählenden
Objekte.
4. Prinzip von der Irrelevanz der Anordnung (Invarianzprinzip): Die Reihenfolge, in der die
zu zählenden Objekte gezählt werden, spielt für das Zählergebnis keine Rolle.
5. Abstraktionsprinzip: Die Zählprinzipien können auf jede beliebige (zählbare) Menge
angewandt werden.
2.3 Zählfehler
1. Elemente werden angetippt, aber nicht mit einer Zahl benannt.
2. Elemente werden mehrmals berührt und jeweils neu benannt.
3. Mehrere Elemente erhalten denselben Zahlnamen.
4. Probleme beim Zählen verschiedenartiger Elemente.
5. Auslassen oder doppeltes Zählen von Elementen bei nichtlinearer Anordnung (ungeordnet
oder im Kreis u.a.)
3. Aspekte des Zahlbegriffs
Maßzahlaspekt
Ordinalzahlaspekt
Kardinalzahlaspekt
Zahlen kommen in unterschiedlicher Bedeutung bzw. Verwendung vor. Man spricht von
Zahlaspekten (nach Radatz, H. u. Schipper, W., 1983)
Beschreibung,
ggf. Unterteilung
Zahlen beschreiben
die Anzahl der
Elemente einer
Menge, ihre
Mächtigkeit
Beispiele
Addition
Subtraktion
„3 Äpfel“
„1013 Möglichkeiten“
Vereinigung
disjunkter
Mengen
Restmengenbildung
Zählzahl: Folge der
natürlichen Zahlen,
die beim Zählen
durchlaufen werden
Ordnungszahl: Gibt
den Rangplatz eines
Elements in einer total
geordneten Reihe an
Natürliche Zahlen dienen als Maßzahlen für
Größen in Verbindung
mit einer gewählten
Einheit
„eins, zwei, drei, …“
„Zehn kleine Negerlein
…“
Weiterzählen
Rückwärtszählen
Aneinandersetzen
zugehöriger
Repräsentanten
Abtrennen
zugehöriger
Repräsentanten
„Klaus ist beim
Wettlauf fünfter
geworden.“
„5 Meter“
„3 Stunden“
„4 kg“
„100 Schritt“
Operatoraspekt
Rechenzahlaspekt
Codierungsaspekt
Beschreibung,
ggf. Unterteilung
Zahlen werden zur
Bezeichnung einer
Vielfachheit einer
Handlung oder eines
Vorgangs benutzt
Beispiele
Algebraischer Aspekt:
(N, +) ist eine
algebraische Struktur
mit gewissen Eigenschaften
Algorithmischer
Aspekt: Die natürlichen Zahlen lassen
sich durch Ziffernreihen darstellen
(Rechnen mit Ziffern)
Zahlen werden zur
Bezeichnung von
Objekten benutzt
3+4=4+3 wegen
Kommutativität
(36+17)+3=36+(17+3)
Addition
„Zur Strafe schreibst du Verkettung
5-mal: Ich darf meinen von
Lehrer nicht ärgern.“
Operatoren
(Hintereinanderausführung
365
+ 218
Subtraktion
Aufsuchen des
Umkehroperators
(zur Addition)
Rechnen mit Ziffern im Gegensatz
zum Kopfrechnen bzw. zum
halbschriftlichen Rechnen
583
71346 Ludwigsburg
Tel. 07141/140-383
e2-e4, e7-e5
ISBN: 3471207511
kein sinnvolles Rechnen möglich
Radatz, H./Schipper, W. (1983): Handbuch für den Mathematikunterricht an Grundschulen, Hannover:
Schroedel
4. Umfassender Zahlbegriff – Strukturierung des Zahlenraums
Zahlbegriff
(Zahlenraum 20)
Zahlwortreihe
• Zählen
• Weiterzählen
• Rückwärtszählen
• Zählen in Schritten
• Zahlen ordnen
Zahlbedeutungen
• Kardinales Verständnis
• Ordinales Verständnis
Zahlbeziehungen
• größer-kleiner/weniger-mehr
• Invarianzurteile
• Teil-Ganzes-Verständnis
• Teil-Teil-Ganzes-Verständnis
• Vorgänger-Nachfolger
• Halb-Doppelt-Beziehung
Zahlen lesen und schreiben
Zahlauffassung und –darstellung
(quasi-)simultanes Erfassen (Zehnerstruktur/“Kraft der Fünf“)
5. Beispiel: Das Konzept der Sieben
Ein entwickeltes Konzept der Sieben umfasst ganz unterschiedliche Aspekte:
• Sieben ist das letzte Wort in der Zahlwortreihe von 1 bis 7.
• Sieben kommt nach Sechs.
• Sieben kommt vor Acht.
• Sieben ist die Anzahl der Zahlwörter von eins bis sieben.
• Sieben ist die Anzahl einer bestimmten Menge gestreckter Finger.
• Sieben ist die Anzahl der Wochentage.
• Sieben ist die Anzahl einer bestimmten Menge Plättchen im Zehnerfeld (die
unterschiedlich angeordnet sein können).
• Sieben ist eine Primzahl.
Beziehungen zu anderen Zahlen:
• 7 ist eins mehr als 6:
• 7 ist zwei mehr als 5:
• 7 ist drei weniger als 10:
• 7 kann zerlegt werden:
• 7 ist die Wurzel aus 49:
7 = 6 +1
7 = 5+2
7 = 10 − 3
7 = 4 + 3, 7 = 3 + 3 +1
7 = 49
Das Konzept der Sieben entwickelt sich, indem nach und nach die Vielfalt der obigen (und
weiterer) Beziehungen hergestellt wird.
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