Skript - Martin-Sebastian Abel

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Ich habe mich über die Einladung sehr gefreut. Es ist eine besondere Herausforderung und
gleichzeitig eine große Ehre, dass ich hier bei Ihrem offenen Abend zu Gast sein darf und außerdem
bin ich Ihnen sehr dankbar. Es ist eine besondere Herausforderung, weil ich zwar als Politiker
öffentliche Reden gewohnt bin, aber Ort und Anlass sind etwas Besonderes. Auch oder gerade mit
einem Theologiestudium als Hintergrund. Eine Herausforderung und eine große Ehre ist es aber
besonders deshalb, weil ich gesehen habe, wer als GastrednerInnen bereits bei Ihnen war. Unter
anderem habe ich dort ehemalige ProfessorInnen wiedergefunden.
Deswegen die Packungsbeilage vorneweg: niemals würde ich den Anspruch erheben, dass dies ein
theologischer Vortrag wird auf dem Niveau, das Sie offensichtlich gewohnt sind. Sollten Professoren
heute Abend anwesend sein: wir sollten trotzdem hinterher über die Anrechnung für meinen Master
reden. Im Ernst: Ich will versuchen, Ihnen Einblicke in die Politik, aber auch einen sehr persönlichen
Einblick in meine Gedanken zum Thema Kirche und Staat, Kirche und Politik zu geben.
Dazu habe ich mir Gedanken gemacht und deswegen meine ich es durchaus ehrlich, wenn ich sage,
dass ich dankbar bin, denn in den letzten Wochen kam ich kaum dazu, mich aus dem Hamsterrad der
Haushaltsberatungen zurückzuziehen und zu besinnen. Ich komme später auf das Problem zu
sprechen, dass wir als PolitikerInnen kaum noch Freiräume haben, anzuhalten, in uns zu gehen. Dieser
Anlass war dann eine willkommene Verpflichtung, sich damit zu beschäftigen.
Zunächst aber die letzte Vorbemerkung: die simple Feststellung, dass wir in außergewöhnlichen
Zeiten leben. Sicher geglaubte Gesetzmäßigkeiten gehen verloren; Trennlinien zwischen den
politischen Lagern werden neu gezogen; der Blick in die Tagesschau lässt uns noch aufgewühlter
zurück als sonst. Manchmal wissen wir mit Blick auf die Politik gar nicht mehr, worin sich die Parteien
unterscheiden und wo sie sich einig sind. Sie haben es vielleicht über das Wochenende
mitbekommen, dass die Parteitage von CSU und Grünen zeitgleich stattfanden. Hinterher war in
einigen Kommentaren zu lesen, dass es auf unserem Parteitag mehr Zuspruch für den Kurs der
Kanzlerin gegeben hätte, als auf dem Parteitag der Schwesternpartei CSU.
Jedenfalls haben uns die Zuwanderung von Flüchtlingen und die Diskussionen über Lösungen in den
letzten Monaten beschäftigt, nicht nur uns Politiker sondern eigentlich alle BürgerInnen. Und zu
allem was man zu diesem Thema sagen kann oder vielleicht sagen muss, möchte ich hier in diesem
Rahmen sagen, dass es ohne die vielen engagierten Gemeinden vor Ort und die vielen
ehrenamtlichen HelferInnen aus den Hilfsorganisationen, aus den Kirchen direkt, nicht mehr ginge.
In diesen Tagen sind die Kirche und die Gemeinschaft der Christen, ihre Solidarität mit den Ärmsten
der Armen und die Bereitschaft, auch unter Inkaufnahme von persönlichen Einschränkungen zu
helfen, spürbar. Und es ist ehrlicherweise für mich auch das erste Mal seit langer Zeit, dass ich die
Gemeinschaft der Christen und die Verbindung als Glaubensgemeinschaft mit einem gemeinsamen
Auftrag wieder spüre.
Das ist es auch, was mich mit der Kirche verbindet und was mir viele aus meinem Umfeld erzählen,
die nicht oder nicht mehr in der Kirche sind, dass es ja tatsächlich funktioniert, das Prinzip für
einander einstehen und füreinander da zu sein. Und da wären wir mittendrin in unserem Thema, was
kann Kirche der Gesellschaft geben; wie können ChristInnen Einfluss nehmen; welche Aufgabe hat
Kirche, welche Aufgabe hat Politik, welche Spannungsfelder gibt es.
Jesaja 58,7: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn
du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! “ Ist das nicht die
Aufforderung zu sagen „Wir schaffen das?“
Ich werde mich gar nicht grundsätzlich an diesem Thema versuchen, sondern will mich auf einen Teil
beschränken, nämlich welche Zusammenhänge es zwischen christlichen Überzeugungen und
politischem Handeln gibt. Und ich möchte Ihnen auch sehr persönlich schildern, was Christ sein für
mich als Politiker bedeutet, wie es mein politisches Handeln berührt.
Dafür ist es für Sie sinnvoll zu erfahren, wer eigentlich zu Ihnen spricht und ich will deswegen einen
kleinen Teil meiner Biographie herausnehmen, der - so glaube ich das zumindest selber über mich
sagen zu können - maßgeblich dafür war, in die Politik zu gehen:
1985 wurde ich in Leipzig geboren. Meine Mutter war Lehrerin und unterrichtete an einer Schule
Deutsch, Geschichte und Russisch. Sie war also im Staatsdienst. In Leipzig-Markkleeberg ließ sie mich
in der Martin-Luther-Kirche taufen. Ausschlaggebend für diesen Schritt war weniger eine tiefe
Frömmigkeit als die dadurch erwachsende Möglichkeit, dass Sie mich in einen christlichen
Kindergarten schicken konnte. Ihr Misstrauen gegenüber den staatlichen Stellen und insbesondere
der Ausrichtung des Bildungssystems war groß - schließlich kannte sie es aus der Praxis. Sie wollte
vor allem vermeiden, dass ich bereits im Kindergarten vom Sozialismus, der Partei und vor allem der
NVA begeistert und überzeugt werden sollte. Meine Mutter würde sagen, sie wollte nicht, dass ich
indoktriniert und verroht werde.
Die Taufe und die öffentliche Bekanntmachung im Gemeindebrief hat sie schließlich in große
Bedrängnis gebracht: vor einem mehrköpfigen Gremium KollegInnen, die Parteimitglieder waren
oder irgendwelche Fantasie-Funktionen in nachgeordneten Organisationen innehatten, musste sie
sich nicht nur rechtfertigen, sie wurde massiv unter Druck gesetzt. Um es abzukürzen: ständiger
Druck, Erpressungsversuche und Einschüchterungen führten schleichend innerhalb von einer kurzen
Zeit dazu, dass Sie den Staatsdienst mehr oder weniger freiwillig verließ. Wenige Wochen vor dem
Mauerfall floh sie mit mir über die Deutsche Botschaft in Prag in die Bundesrepublik. Sie ließ alles
zurück und baute sich eine neue Existenz auf. Auch mit Hilfe und Unterstützung der evangelischen
Kirche, der sie dann hier offiziell beitrat.
Ich will nicht auf Details eingehen. Meine Mutter arbeitet gerade an einem Buch über diese Zeit. Die
Idee dazu wurde geboren beim 25. Jahrestag des Mauerfalls und sie verfolgt das Projekt sehr
hartnäckig. Vielleicht liegt es an diesem Teil meiner Biographie, dass ich mich schon immer für Politik
und Zeitgeschehen interessiert habe. Das ich nie daran zweifelte, dass die Errungenschaft der
Demokratie als Delegation von Macht auf Zeit ein unglaubliches Geschenk und für jeden die große
Chance ist, selber mitzugestalten. Auch wenn ich das damals als Jungspund mit 16 Jahren noch nicht
so ausdrücken konnte, war für mich in jedem Fall klar, dass ich mich politisch engagieren MUSS.
Ich habe während meines Studiums hier an der Kirchlichen Hochschule, aber auch an der Ruhr-Uni
in Bochum, viele Bücher, Aufsätze und Seminare besucht, auch um der Frage Christentum und Politik
nachzugehen. Freilich bin ich den damit verbundenen Vorsatz, mich intensiv damit zu beschäftigen,
nicht immer nachgekommen. Was einerseits mit altersbedingtem Mangel an Disziplin, andererseits
hat mich der Versuch, das Graecum mit dem Minimalprinzip irgendwie zu überstehen, letztlich Zeit,
Nerven und Muße gekostet, diesen Schwerpunkt zu belegen. Schließlich stand der Entschluss, mich
politisch zu engagieren, für die Gemeinschaft einzutreten, vor meiner Studienwahl fest.
Aber was bedeutet dies für einen Politiker, Christ zu sein? Kann ein Politiker, kann ein Abgeordneter,
überhaupt ein guter Christ sein? Oder ist es eher umgekehrt der Fall: Nur ein Christ, meinetwegen
auch ein Humanist, kann ein ordentlicher Politiker sein? Es scheint mir angebracht, dass wir
gemeinsam die Begriffe vergegenwärtigen. Was ist Politik? Was bedeutet Christ sein überhaupt?
Über Antworten auf diese beiden Fragen sind zehntausende Bücher geschrieben worden. Ich begnüge
mich mit der klassischen Definition aus dem Politiklexikon der Bundeszentrale für Politische Bildung:
Politik: Im klassischen (aus dem griech. »polis« abgeleiteten) Sinne bezeichnet P. Staatskunst, das
Öffentliche bzw. das, was alle Bürger betrifft und verpflichtet, im weiteren Sinne das Handeln des
Staates und das Handeln in staatlichen Angelegenheiten.
Bei der Frage nach einer Definition zum Christentum verweise ich immer sehr gerne auf eine ältere
Ausgabe eines theologischen Standardwerks, der Theologischen Realenzyklopädie. Dort stand unter
dem Stichwort Christentum die sehr wissenschaftliche Definition: „Das Feuer, das Jesus auf die Erde
geworfen hat.“
Es wäre für unsere Zwecke ausreichend, wenn wir uns darüber verständigen können, dass es
Oberbegriffe sind, aber dass es nicht „das Christentum“ in einer einheitlichen Form gibt, genauso
wenig wie „die Politik“. In Wuppertal muss ich glaube ich nicht in Erinnerung rufen, dass es selbst
unter dem überschaubaren Dach der evangelischen Kirche große Unterschiede zwischen den
Bekenntnissen gibt.
Als ich mich 2005 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal immatrikulierte, wurde ich von der
Mitarbeiterin im Studiensekretariat gefragt, welcher Konfession ich angehörte. Ich schaute etwas
verdutzt und fragte, was Sie jetzt von mir wollte. Dann fragte Sie mich, ob ich reformiert, lutherisch
oder uniert sei. Ich wusste natürlich grob, was das ist, aber wusste nicht, dass es auch hier bei uns
eine Rolle spielte. Ich antwortete „Ich bin normal evangelisch“, worauf Sie sagte „Dann sind sie
uniert!“
Die Kirche ist vor allen Dingen für mich eine Gemeinschaft von Gläubigen. Sie kann als Vorbild dienen
und viel bewirken. Ganz aktuell sehen wir das in der Debatte um die Flüchtlinge. Die Kirche ist aber
auch für Parteien und Politiker in einer pluralen Gesellschaft ein wichtiger Ansprechpartner. Über
Jahrhunderte hat die Kirche selber Politik gemacht und war zu den einflussreichsten Zeiten den
durchaus auch herrschsüchtigen Eliten Europas eng verbunden.
Erst die Reformation, dann Absolutismus und schließlich die Aufklärung haben den Einfluss der
Kirche auf den Staat verringert. Die Treue zur Bibel und besonders zur Botschaft Jesu macht es für
die Kirchen schwierig, im Getümmel der Tagespolitik, in einer pluralen Gesellschaft ihre Botschaften
darzustellen. D.h. nicht, dass die Kirche für christliche Politiker Richtungsinstanz ist. Umgekehrt
besprochen: politische Parteien sind keine verlängerten Arme der Kirche. Parteiprogramme sind keine
Übersetzung des Evangeliums in das Politische. Sinngemäß schreibt das der kürzlich verstorbene
Helmut Schmidt in seinem für mich wegweisenden Buch „Als Christ in der politischen Entscheidung.“
„Wir haben die Erde nur von unsern Kindern geborgt“. Dieses Plakat meiner Partei aus dem
Bundestagswahlkampf 1994 ist Ihnen sicherlich bekannt. Die Bewahrung der Schöpfung ist die
Grundlage jeder Umweltpolitik. Eben habe ich Jesaja 58,7 „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im
Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht
deinem Fleisch und Blut!“ genannt und gefragt ob das nicht die Vorlage für die Aussage „Wir schaffen
das“ sein kann. Wo beginnt da das Politische, wo endet das Religiöse?
Kirchen sollen nicht selbst Politik machen aber sie sollen Politik möglich machen. Sie müssen klar
machen, was verantwortungsvolles Handeln ist. Ich bin mir sicher, mit Blick auf die Beschlüsse
unserer Synode, dass es in den Weihnachtspredigten vor allem um die Flüchtlingskrise gehen wird.
Ein aktuelles und gutes Beispiel.
Ein weiteres Beispiel wäre die Eine-Welt-Arbeit der Kirchen. Die Ursachen von Armut, Ausbeutung
und Umweltzerstörung zu bekämpfen. Sind es nicht Themen der Kirche. Dass wir in einer Welt leben?
Auch bei diesem Thema könnte es kein besserer Ort in Deutschland sein als Wuppertal. Hauptsitz der
GEPA. Die Gesellschafter sind Kirchliche Gruppen. „Und tut nicht Unrecht den Witwen, Waisen,
Fremdlingen und Armen, und denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen!“ Sacharja
7,10
Flüchtlinge sind meist Fremde für uns, weil sie aus einem anderen Kulturkreis kommen. Sie
aufzunehmen ist gelebte Gastfreundschaft. Der Begriff ‚Willkommenskultur‘, der seit kurzem von
Politik und Medien gebraucht wird, ist also keine neue Erfindung, sondern ist in der Bibel Auftrag
Gottes an sein Volk und wird auch gelebt. Deswegen ist es wichtig, dass Christen sich nicht vornehm
zurückziehen und sich auf die Aufnahme des verkündeten Worts beschränken, sondern diesen Auftrag
leben. Sie müssen Verantwortung übernehmen in Gesellschaft, Wirtschaft, in Politik. Sie müssen
Ausbeutung, Ungerechtigkeiten und Ausgrenzung offen tadeln, und soziale Spaltungen offen tadeln,
dies beim Namen nennen, auch oder weil sie es direkt nicht ändern können.
Dass sich Gesellschaft verändern kann, das wissen hier. Und das ist keine naive Ansicht eines
Jungpolitikers sondern ich kann Ihnen zwei Beispiele nennen: Als erstes die Energiewende. Nach
meiner Meinung war der Einstieg in die Atomkraft ein unverantwortlicher Schritt mit
unberechenbaren Folgen. Ich nehme hier gerne das Zollstock-Bild unseres ehemaligen
Parteivorsitzenden Wilhelm Knabe: Stellen Sie sich einen Zollstock vor: Atommüll hat eine
Halbwertszeit von mehreren Millionen Jahren. Um in der Relation zu bleiben: Wenn wir im Jahr 0
ansetzen sind wir auf dem Zollstock bei 2cm. Rufen Sie sich in Erinnerung, was seitdem passiert ist.
Wie kann man ernsthaft für die Lagerung und Sicherheit allein des Abfalls, für eine Zeitspanne von
mehreren Millionen Jahren Verantwortung übernehmen? Es ist absurd. Wir können diese Technologie
nicht bändigen, es setzt die Welt großen Risiken aus. Deshalb ist es ein kleines Wunder, dass vor 14
Jahren die damalige Bundesregierung gemeinsam mit der Energiewirtschaft beschlossen hat, aus der
Atomkraft auszusteigen. Ich finde, die Energiewende ist ein gutes Beispiel, dass man nie die Hoffnung
aufgeben sollte und Politik und auch Wirtschaft in der Lage sind, Irrwege zu verlassen.
Ein weiteres Beispiel wäre Barack Obama und die Umsetzung seiner Gesundheitsreform. Es wurde für
unmöglich erachtet, dass ausgerechnet die USA mit ihrer Geschichte gelingen würde, ein öffentlich
finanziertes Health Care Programm durchzusetzen.
Ich zitiere deshalb noch einmal den EKD Ratsvorsitzenden Schneider: „Das Evangelium rät uns gerade
auch inmitten aller Krisen: Bleibt nüchtern und realistisch. Seid mit dem Maß dessen zufrieden, was
ihr schon jetzt auf dieser Welt leben und erreichen könnt. Darum aber bemüht euch mit aller Kraft
und gebt nicht auf bei Widerständen und Niederlagen.“ An die Verantwortung der Christen für das
Gemeinwesen erinnerte auch die rheinische Oberkirchenrätin Barbara Rudolph. "Gemeindeglieder
sind aufgefordert, sich politisch zu engagieren und Verantwortliche in der Politik auf ihr Christsein
anzusprechen", sagte sie in ihrer Predigt in der Marktkirche Neuwied zum Reformationstag. Kirche
soll nicht so tun, als wenn sie eine einheitliche Meinung hätte. Ratzinger hat als Leiter der römischen
Glaubenskongregation einen Brief an christliche Politiker in Deutschland geschrieben, sie mögen sich
gegen Gesetzesinitiativen der damaligen rot-grünen Bundesregierung zur Wehr setzen, die
Homosexualität „normalisieren“ und eingetragene Lebenspartnerschaften ermöglichen sollen.
Ratzinger hatte dies begründet, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften seien eine „böse“
Verirrungen und sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe seien eine Sünde gegen Gott. Dieses
Beispiel eignet sich deshalb so schön, weil es hier um die katholische Kirche geht.
Wenn ich EKD-Beschlüsse und Papiere lese, die während des Höhepunktes der Finanzmarktkrise
verabschiedet worden, ist es rückblickend völlig unvorstellbar, dass beispielsweise meine
Landeskirche im großen Maße gezockt hat, mehrere Millionen Gelder alleine mit Papieren der
Lehman Brothers verloren hat. Und aktuell finde ich es, bei allem Respekt vor seiner Person und
seinen Amt, bemerkenswert, wenn Präses Rekowski in einem politischen Magazin auf die Frage nach
der Flüchtlingskrise fordert: „Die Politik muss endlich handeln und Konzepte schaffen, die
Fluchtursachen bekämpfen.“ Ist die Kirche sich darin denn einig? Ich wage zu behaupten, dass wir
selbst hier heute Abend keinen Konsens darüber bekommen.
Das bringt uns zu einem weiteren Spannungsfeld: der Glaubwürdigkeit und der Kraft des Wortes.
Unsere Kommunikation geht davon aus, dass wir gegenseitig bereit sind, uns die Wahrheit zu sagen.
Ohne die Wahrheitsfähigkeit funktioniert unsere Kommunikation nicht mehr. Selbst als reine
Zweckgemeinschaft wären wir auf das wechselseitige Vertrauen angewiesen, denn unsere
Gemeinschaften werden durch Sprache konstruiert. Ein kleiner Einschub: das ist für mich einer der
Hauptgründe für die politisch-gesellschaftlichen Brüche in weiten Teilen der neuen Bundesländer.
Politische Verantwortung schließt die Bereitschaft ein, um des Gemeinwohls willen unbequeme
Entscheidungen zu treffen. Die Gründe dafür öffentlich zu kommunizieren, um Zustimmung für den
eingeschlagenen Weg zu werben, ist ein Kernstück politischer Kommunikation. Zur
Gewissenhaftigkeit in der Politik gehört es, zu solchen Entscheidungen auch dann bereit zu sein,
wenn sie die Chance, wiedergewählt zu werden, beeinträchtigen. Die repräsentative Demokratie hat
Politik zum Beruf gemacht. Die ethische Dimension dieses Berufs, so hat Max Weber 1919 dargelegt,
kann nicht nur darin bestehen, in politischen Entscheidungen die eigenen Gesinnungen möglichst
rein darzustellen. Sie muss zugleich darin zum Ausdruck kommen, dass Politiker sich der
Verantwortung für ihr Handeln und die voraussehbaren Folgen dieses, bewusst sind. Insbesondere
dürfen sie nicht davor zurückscheuen, sich den großen Herausforderungen ihrer Zeit zu stellen. Mit
dieser Entgegensetzung von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik hat Max Weber wegweisend
den ethischen Diskurs und die politische Ethik beeinflusst.
Er war jedoch selbst keineswegs der Meinung, wie mir das immer wieder begegnet, dass beide
einander ausschließen müssten. Vielmehr schreibt er - besser gesagt - sagte er in seinem Vortrag
Politik als Beruf: „Während es unermesslich erschütternd ist, wenn ein reifer Mensch – einerlei ob
jung oder alt an Jahren-, der diese Verantwortung für die Folgen real mit voller Seele empfindet und
verwantwortungsethisch handelt, an irgendeinem Punkte sagt: „hier steh ich nun und kann nicht
anders“. Das ist etwas, was menschlich echt ist und ergreift. Denn diese Lage muss freilich für jeden
von uns, der nicht innerlich tot ist, irgendwann eintreten können. Insofern sind Gesinnungsethik und
Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den
echten Menschen ausmachen, den, der „Beruf zur Politik“ haben kann.“
Überzeugungstreue und Verantwortung für die Folgen des eigenen Handels können sich durchaus
miteinander zu verbinden. Und es ist auch diese ethische Verbindung, die ich erstrebenswert finde
und die ich für mich suche und als Prüfmaßstab anlege. Ich hatte die große Ehre Fangmeier in einem
Seminar über Karl Barth ein Semester an der KiHo zu hören. Auch wenn ich abstreiten würde, Karl
Barth auch nur im Ansatz verstanden zu haben, hat er mir doch einige Ideen gegeben und vor allem
viele Fragen wachsen lassen. Vor allem hat er mich mit seinem Engagement für die
Gefängnisseelsorge und seiner Hingabe beeindruckt, jungen Studenten und Studentinnen aus
wohlbehütetem Hause die Biographien, Nöte und existentiellen Fragen von Inhaftierten näher zu
bringen.
Jürgen Fangmeier gebrauchte die Bibel nicht als Brücke zu eigenen Ideen und Lieblingsthemen,
sondern es ging ihm darum, den Text in der Predigt zu Wort kommen zu lassen und ihm Raum zu
geben. Auch in schwierigen Situationen: Als in einer kleinen Dorfgemeinde plötzlich eine große Zahl
Sinti und Roma als Asylbegehrende zugewiesen werden, hält Fangmeier eine Predigtreihe zum Buch
Rut „eine Asylantengeschichte“ wie er sie damals nannte. Auf die existentiellen Fragen, die bei der
Konfrontation mit Leid, Sterben und Tod aufbrechen, versucht er von dem Gesamttext Antwort zu
geben, den Sitz im Leben rauszuarbeiten.
2. Mose 23,9: „Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz,
weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid.“ Als politisch wirkender Mensch stelle ich
mir oft die Frage, ob das, was ich tue und wie ich es tue, im Einklang steht mit dem Wort „alles nun,
was ihr wollt, das heutige heute tun soll dass tut Ihnen auch“. Das Besinnen auf das notwendige, das
mögliche, das erdenkliche. Die Gefahr, in der jeder politische Mensch schwebt, gleichgültig in
welchem Bereich er arbeitet, ist der Terminkalender - Allzu rasch ist das Leben gefüllt mit
Verpflichtungen und vor allen Dingen Sitzungen, die teilweise Selbstzweck geworden sind. Ehe man
es richtig begreift, wird man zum Gefangenen von Routine, Protokoll und Selbstrechtfertigung.
Rechtfertigung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Aber vor allen Dingen gegenüber der
eigenen Partei und seinen unmittelbaren Kollegen. Es beschreibt mich nicht in meiner Arbeit als
Politiker. Ich bin Bündnisgrüner Politiker und Christ.
Ich hoffe, dass dies in meinem politischen Handeln nicht untergeht. Denn Fragen der Gerechtigkeit
spielen in Politik und Kirche eine große Rolle. Es gibt auch politische Entscheidungen oder
Gesetzgebungsverfahren, bei denen mein christlicher Hintergrund ausdrücklich eine gewichtige Rolle
gespielt hat. Gerade habe ich mit einem ehemaligen Dozenten einen Aufsatz über ethische und
tierschutzpolitische Perspektiven der Nutzung von Tieren zu Unterhaltungszwecken abgeschlossen.
Gerade im Tierschutz ist die Frage nach der Ethik allgegenwärtig.
Aber würde ich mich selbst als christlichen Politiker bezeichnen? Eher nicht. Christsein beschreibt
mich als Menschen, unabhängig vom jeweiligen Beruf oder Amt. Entscheidend ist, ob jemand einen
funktionierenden Kompass an Werten hat. Um mit Max Weber zu sprechen: Politiker brauchen
Verantwortungsgefühl, Leidenschaft und Augenmaß. Wenn es daran fehlt, wird es gefährlich, weil
beliebig. Ich hoffe, dass meine Ausführungen Ihnen einen kleinen Einblick in die Gedankenwelt und
Handlungsmaximen eines Politikers vermitteln konnten.
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