www.evimed.ch Therapieresistenz bei chronischer Depression: Wechsel auf eine andere Substanzklasse sinnvoll Frage: Ist bei einer chronischen depressiven Störung mit medikamentöser Therapieresistenz der Wechsel auf eine andere Substanzklasse (von Imipramin auf Sertralin und vice versa) eine wirksame Behandlungsstrategie? Epidemiologischer Hintergrund: Mindestens 40% der Patienten, welche wegen einer Depression behandelt werden, sprechen nicht auf den ersten medikamentösen Therapieversuch an. Depressive Störungen sind in ca. 1/3 der Fälle durch eine unvollständige Remission (Residualsymptomatik) oder einen chronischen Verlauf gekennzeichnet. Einschlusskriterien: • • • Depressive Episode (= major depression) mit chronischem Verlauf nach DSM-III-R, d.h. Dauer der aktuellen Episode ≥ 2 Jahre; Kombination mit einer Dysthymie (sog. „double depression“) möglich Zusätzlich ein Score von ≥ 18 auf der Hamilton Rating Scale for Depression (HAM-D) sowie ein Score von ≥ 3 auf der Skala Clinical Global Impression of Improvement (CGI-I) nach einer einwöchigen Washout-Phase unter Placebo Alter 21- bis 65-jährig Ausschlusskriterien: • • • • • • • • • • • • • • Organische psychiatrische Störung Bipolare affektive Störung incl. Zyklothymie Schizophrenie und andere psychotische Störungen Generalisierte Angst-, Panik- oder Zwangsstörung Posttraumatische Stressstörung Schizotype, dissoziale oder schwere Borderline-Persönlichkeitsstörung Bulimia oder Anorexia nervosa innerhalb der letzten 12 Monate Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol oder anderen Drogen innerhalb der letzten 6 Monate Unmittelbares Suizidrisiko Medizinische Kontraindikationen gegen eine Therapie mit Antidepressiva Instabile somatische Erkrankung Anamnestisch bekannte Non-Response auf eine mind. 4 -wöchigeTherapie mit Sertralin (≥ 50mg) oder Imipramin (≥ 150mg) Medikamentöse Behandlung mit Anxiolytika oder anderen Antidepressiva (innerhalb der letzten 2 Wochen), mit einem MAOI (3 Wochen), Fluoxetin (4 Wochen), Depotneuroleptika (6 Monate) EKT-Behandlung innerhalb der letzten 3 Monate Studiendesign: www.evimed.ch Randomisierte, doppelblinde Studie; intent-to-treat Studienort: 12 Zentren in den USA Intervent ion: • • • Behandlung während 12 Wochen mit Imipramin (50-300mg/d) oder Sertralin (50-200mg/d) Danach Washout, anschliessend überkreuzter Wechsel (cross-over) der Medikation bei NonRespondern und erneut Behandlung während 12 Wochen (wie oben) Die Einnahme von Chloralhydrat oder Temazepam zur Behandlung von schweren Schlafstörungen war als einzige Begleitmedikation erlaubt Outcome: • Primär • CGI-I (Clinical Global Impression of Improvement) • HAM-D (Hamilton Rating Scale for Depression) • Sekundär • CGI-S (Clinical Global Impression of Severity) • Montgomery-Asberg Depression Rating Scale • Cornell Dysthymia Scale • BDI (Beck Depression Inventory) • Spontan oder auf Befragen berichtete unerwünschte Wirkungen Als Behandlungserfolg (‚response‘) wurde ein Wert von 1 oder 2 (stark oder sehr stark gebessert) auf der CGI-I-Skala, eine Reduktion um ≥ 50% auf der HAM-D-Skala sowie ein CGIS-Score ≤ 3 (milde Ausprägung) definiert Eine Vollremission wurde bei einem Wert ≤ 7 auf der HAM-D-Skala sowie einem CGI-I-Score ≤ 2 angenommen • • Resultat: • • • Von den ursprünglich randomisierten 635 Patienten beendeten 509 (80%) vollständig die erste 12-wöchige Behandlungsperiode; davon wurden 302 (59%) Responder ermittelt (intent-totreat: Imipramin 51%, Sertralin 52% Responder) 168 (81%) der 207 Non-Responder stimmten einem Wechsel auf das andere Antidepressivum zu, davon durchliefen 134 (80%) die gesamte zweite 12-wöchige Behandlungsperiode Ergebnisse der zweiten 12-wöchigen Behandlungsperiode siehe Tab. (intent-to-treat Analyse) Outcome (zweite Behandlungseinheit) Behandlungserfolg (‚response‘) Imipramin Sertralin p-Wert NNT 44% 60% 0.03 6 Vollremission 23% 32% 0.13 11 www.evimed.ch • • In beiden Behandlungsperioden lag die Dropout-Rate bei 20%, wobei Sertralin besser toleriert wurde und signifikant mehr Patienten unter Imipramin die Studie wegen Nebenwirkungen frühzeitig abbrachen Die häufigsten Nebenwirkungen (> 25%) in absteigender Reihenfolge waren Mundtrockenheit, Schwindel, Obstipation, Sedation, Insomnie und Kopfschmerzen (Imipramin) bzw. Kopfschmerzen, Mundtrockenheit, Nausea, Insomnie, Diarrhoe und Sedation (Sertralin) Kommentar: • • • • • Bei mehr als 50% der initial therapieresistenten, chronisch depressiven Patienten konnte durch einen Wechsel auf das alternative Antidepressivum nach insgesamt 6 Monaten ein Behandlungserfolg erzielt werden. Sertralin erwies sich hierbei gegenüber Imipramin als signifikant wirksamer, was zumindest teilweise auf die bessere Verträglichkeit zurückgeführt werden kann (weniger vorzeitige Therapieabbrüche) Im klinischen Alltag wird man sich mit dem Kriterium ‚Behandlungserfolg‘ (Definition vgl. oben) allerdings nicht zufrieden geben können, sondern nach Möglichkeit eine vollständige Beschwerdefreiheit anstreben. Die Rate der Vollremissionen lag in der vorliegenden Studie aber nur bei ca. 25% (Tab.), was bei depressiven Störungen auf die Problematik der Residualsymptomatik und ihre Folgen (z.B. erhöhtes Rückfallrisiko) hinweist Aufgrund des gewählten Studiendesigns lässt sich nicht unterscheiden, ob die Besserung der Beschwerden nach 6 Monaten tatsächlich auf den Wechsel der Substanz (Imipramin: noradrenerg/serotonerg; Sertralin: selektiv serotonerg) oder lediglich auf die längere Behandlungsdauer zurückzuführen war; beides ist denkbar Die Übertragbarkeit der präsentierten Studienresultate in den klinischen Alltag (effectiveness) wird durch die hochgradig selegierte Patientengruppe (vgl. Ausschlusskriterien) eingeschränkt. In der Praxis ist man häufig mit komplexen, durch Komorbidität charakterisierten Krankheitsbildern konfrontiert Trotzdem: Mit einer konsequenten Monotherapie (adäquat dosiert, lange genug verabreicht) kann vielen Patienten mit einer chronischen Depression geholfen werden. Versagt hierbei das erste Antidepressivum, empfiehlt sich ein Wechsel auf eine andere Substanz mit alternativem Wirkmechanismus Literatur: Thase M.E. et al.: Double-blind switch study of imipramine or sertraline treatment of antidepressant-resistant chronic depression. Arch Gen Psychiatry, 59, 233-39, 2002 Verfasser: Dr. R. Bridler Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Ambulantes Zentrum Ost Heliosstrasse 32 Postfach 531 8029 Zürich www.evimed.ch E-mail: [email protected]